Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[641]

No. 41.   1865.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Die Locke der Charlotte Corday.
(Fortsetzung.)

Melanie streckte ihre kleine Hand lebhaft nach Gaston aus. „O, das war ein böser Zufall, ein schauerliches Zusammentreffen,“ sagte sie. „Trotzen wir solchem Zufall! Ich fürchte mich gar nicht – nicht ein Bischen – und da, denke ich, können Sie es getrost wagen! Bitte, bitte, sagen Sie Ja!“

„Dringen Sie nicht in mich, ich kann und darf Ihren Wunsch nicht erfüllen, es ist eine Unmöglichkeit! Versprechen Sie, mich nie wieder darum zu bitten!“

Er stand dicht vor ihr und sah auf sie herab. Aber ihre Augen blieben gesenkt, sie spielte mit dem Stift in ihren Händen und sagte nur langsam und traurig: „Sie sind ungalant!“

„Melanie!“

Hatte er wirklich ihren Namen mit diesem unbeschreiblichen Accent der Trauer und Leidenschaft genannt? Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte es ihr Herz, ihr Athem flog, ihre Hände zitterten. Eine Empfindung, wie sie nie gekannt, durchdrang mit diesem einen Laut ihr Inneres. War es denn möglich, daß dies eine kleine Wort, ihr eigener Name, solche Wirkung hervorbrachte?! Wie im Traume flüsterte sie: „Es ist gut – ich werde nie wieder bitten!“

„Später erzähle ich Ihnen Alles – nur jetzt, nur heute nicht. Sie vor allen Frauen der Welt würde ich nicht malen!“ sprach Gaston mit einem eigenthümlich wehmüthigen Ausdruck in seinem Gesicht.

Ein Schauer überflog sie bei diesen hastigen, leidenschaftlichen Worten. Eine glühende Röthe stieg in ihre Wangen, sie beugte sich über ihre Zeichnung. In diesem Augenblick trat Herr M. ein. „Ich habe ein kleines Geschäft im Bade D.,“ sagte er, „haben Sie Lust mich zu begleiten, so wird es mir eine Freude sein – vorausgesetzt, daß Sie Nichts dagegen haben, wenn ich meinen Wildfang hier und die gute Köhler mitnehme!“

Eine Stunde später war man auf dem Wege nach dem reizenden Curorte.




Aus dem Tagebuche Ludmilla Köhler’s.

Köstliches Wetter, Fahrt nach D. Hochgefühl des Daseins! Weicher Wagen, beim Einsteigen mir aufs Kleid getreten, gute Pferde. Welt, wie bist du so schön! Melanie sah recht hübsch aus in ihrem braunen Hütchen, obgleich sie ohne Zweifel besser in einem schwarzen mit rothem Federbusch ausgesehen haben würde, zu welchem ich sie vergeblich beredete. Sie ist eben eigensinnig und ihre Seele hat keine Flügel! Dies ist der Abgrund zwischen uns Beiden. Ein Erdenkind ist sie, aber in Weiß wirklich reizend. Ich begreife den Maler nicht, daß er sich nicht in sie verliebt. Es wäre so natürlich gewesen! Eben so natürlich, wenn er mich dann zur Vertrauten gewählt. O, ich würde ihn so sanft zur Entsagung geführt haben! Aber die Romantik ist ausgestorben. Heut verliebt sich Niemand mehr in’s Blaue hinein, weder Mann noch Mädchen. Wo ist sie geblieben, jene himmelstürmende, titanenhafte Liebe? Sollte sie sich wirklich in ein gewisses keusches, streng verschlossenes Frauenherz geflüchtet haben? Ja, ich, Ludmilla Köhler, die schlichte Pfarrerstochter vom grünen Rhein, würde so geliebt haben, und wenn der Mann mit dem unersättlichen Herzen, mein angebeteter Lord Byron, von dem ich zwar nur einige Kleinigkeiten gelesen, mir begegnet wäre, er würde zur Ruhe gekommen sein. Aber er hat mich nicht gekannt! Später freilich, wenn die glühenden Träumereien meiner bis zur Stunde noch verkannten Seele flügge geworden sind, würde er, der große Brite, eingesehen haben, daß nur ein deutsches Frauenherz ihn zu begreifen vermocht. Die Engländer – o, wie ich für diese reinlichen Menschen mit der tadellosen Wäsche furchtsam schwärme, bei deren Händen man allezeit denken muß: wie leicht könnten sie dich erschlagen! – haben das ausdrucksvolle Wort: fall in love (in Liebe fallen). Melanie lachte darüber wie ausgelassen, mir ist es immer rührend gewesen. Die starke Nation so kindlich demüthig in der Liebe zu sehen, hat etwas mächtig Ergreifendes. Sie fallen in die Liebe. Ja, ich verstehe sie! Es ist himmlisch, in Liebe zu fallen; aber, es muß doch eigentlich immer eine Hand da sein, die da aufhebt. Ludmilla, sei ehrlich und gestehe hier in deinem Tagebuche, daß du sehr oft wieder allein aufstehen mußtest! Seit jener rührenden, fast Jean Paul’schen Idylle meiner Jugend, wo ich mich mit dem im Hause meiner Eltern wohnenden Unterlehrer an der Armenschule verlobte, hat mein Herz nie wieder Glück gehabt in der Liebe. Zwölf Jahre lang war ich seine treue Braut. Anfangs liebte ich ihn nur, weil er blaß war und die Leute von ihm sagten, er würde die Schwindsucht bekommen. Ach, einen schwindsüchtigen Geliebten haben, welch’ Entzücken für ein poetisches Gemüth! Leiser Husten, verklärter Blick, ätherische Ernährung! Du stehst wieder vor mir, stille Gestalt mit dem blonden, scharf zurückgestrichenen Haar. Er hieß – noch jetzt sträubt sich meine Feder, diesen prosaischen Namen niederzuschreiben: Christian Wurm. Aber nur vor den Menschen nannte er sich so, ich rief ihn Arthur Vermis. Es ist unmöglich für ein höher begabtes Wesen, einen Christian zu lieben! Aber Arthur ist der echte Heldenname! Alle Helden meiner Romane heißen Arthur!

Ach, er war so geduldig, mein Arthur, und trank ohne Klage den furchtbaren Kräuterthee, er lächelte so verklärt, wenn ich ihm [642] meine Gedichte vorlas, die alle nur ihn zum Gegenstande hatten. Und zuletzt sagte er doch: ‚Liebe Milla, ich hätte Dich zwar gern geheirathet und zur stattlichen Oberlehrerin gemacht, aber es ist doch vielleicht besser, daß es nicht dazu kommt. Du bist zu etwas Anderem bestimmt. Du mußt in einem reichen Hause leben, wo Niemand Strümpfe zerreißt und Keiner sich selber Etwas zu kochen braucht.‘

Es ist doch eine tiefliegende, unüberwindliche Abneigung, die wir Frauen gegen die Zahlen haben. Still davon. Ich kann es beschwören, daß ich einmal achtzehn Jahre alt war. Das genüge. Ich kenne ein reizendes Wort:

‚Was kümmert mich die Zahl der Jahre,
Das Herz bleibt jung, doch Schelme sind die Haare.‘

Man sollte es als Motto über alle Frauenbiographien schreiben! Nun, Gott sei Dank, von weißen Haaren zeigt sich noch keine Spur in dem Scheitel Ludmilla Köhler’s. Heut in D. sagte der prosaische Sanitätsrath L., der auch unser Hausarzt: ‚Liebes Fräulein, der blaue Hut mit dem kleinen Schleier steht Ihnen zwar sehr gut, aber Sie kommen mir doch etwas gelblich vor. Sollten Magen und Leber wieder ihre bekannten kleinen Streiche zu spielen Lust haben? Ich rathe, wieder zu unsern Pillen zu greifen!‘ Voll Entrüstung wies ich ihn in seine Schranken. O, diese Worte! wie ich ihn hasse, den Magen, wie ich sie verachte, die Leber! Der Kurzsichtige ahnt freilich nicht, daß ich heut in dem eilften Capitel des ersten Bandes meines Romanes bereits zwei Mordthaten beging. Und dabei soll man rothwangig aussehen! O, diese Dichterarbeit! Wie sie aufreibt und verzehrt! –

Melanie hat mit ihrem Lehrer und Vater einen Besuch bei der kranken Mutter des Herrn Dumont gemacht. Sie kam sehr bleich zurück und war gewaltig schweigsam. Jedenfalls hat sie sich sehr gelangweilt. Herr M. wurde von der Kranken nicht empfangen. Nach einem sehr guten Souper fuhren wir wieder heim. Herr Dumont kommt erst morgen nach. In einem Monat reist er mit seiner Mutter nach Frankreich zurück. Sie wollen sich dann in Lyon oder Marseille niederlassen. Melanie hatte Kopfweh, sie hat jetzt öfter Kopfweh. Das macht die Sehnsucht nach Alphons. Gott sei Dank, sie liebt ihn. Ich habe das vorausgesehen. Er paßt vortrefflich zu ihr und ist der angenehmste Mensch, den man sich denken kann. Poetisch freilich nicht, aber sie hat ja auch keine Flügel. Noch drei Monate, und wir feiern eine Hochzeit. Warum kann ich dies Wort nicht ohne ein gewisses Zittern niederschreiben? Seltsamer Zauber! Ich will schlafen gehen, heut kann ich nicht mehr schreiben – meine Prinzessin und der schöne, räthselhafte Jäger müssen warten.




In den Romanen braucht die Entwickelung von Herzensneigungen, die Wandlung von Empfindungen viel mehr Zeit und bedarf des Decorationswechsels weit häufiger, als in der Wirklichkeit. Je stiller und einförmiger das wirkliche Dasein, je gleichmäßiger der Verlauf der Stunden, desto tiefer und gewaltiger wirken die Eindrücke, die von außen an uns herantreten, ein Tag schafft Wunder und eine Woche vermag unser ganzes bisheriges Leben mit all’ seinen Consequenzen umzuwerfen. Melaniens Seele und Herz erfuhren solche Wandlung, sie wendeten sich, wie die Blumen dem Licht, allmählich einer Erscheinung zu, welche dem bisherigen Schmetterlingssein des jungen Mädchens eine andere Richtung gegeben. Zuerst war es der männliche Ernst, die ruhige Festigkeit seines Wesens im Contraste mit der Ruhelosigkeit und Oberflächlichkeit ihres Verlobten, die ihr imponirten, dann kam das Mitleid mit dem so zärtlichen Sohne einer kranken Mutter, darauf der Reiz des Geheimnißvollen, der Beide wie ein dunkler Schleier umhüllte. Das Leben auf dem Lande bringt die Menschen ohnedies viel rascher und näher zusammen, als das zersplitternde Stadtleben, wo man sich nur gleichsam in voller Toilette sieht. Auf dem Lande zeigen sich die Naturen sehr bald offen und ungekünstelt, man kann sich wohl auf Stunden, aber nicht auf Tage und Wochen beherrschen und anders geben, als man ist. Niemand hält es aus, vom frühen Morgen bis zum späten Abend en grande tenue zu erscheinen; ein loses, bequemes Kleid braucht der äußere wie der innere Mensch. Melanie und der Gast ihres Vaters waren sehr viel aufeinander angewiesen, da Herr M. viel malte und schlief und ungern spazieren ging, und die Köhler alle ihre häuslichen Geschäfte mit großer Peinlichkeit zu vollbringen pflegte. Man las zusammen, man plauderte, zeichnete, unternahm weite Spaziergänge, und es war dem jungen Mädchen oft zu Muthe, als habe sie bis zur Stunde eine Brille getragen, die das köstliche helle Licht matt und farblos erscheinen ließ. Wie leer und nichtssagend erschienen ihr Alphons’ Briefe, wie schwer und immer schwerer wurde es ihr, sie zu beantworten, ohne von jenem Einen zu sprechen, dessen Sein und Wesen jetzt ihr äußeres und inneres Leben ausfüllte! Mit Entsetzen dachte sie an den Tag seiner Abreise, was dann? Wie eine Wüste lag die nächste Zukunft vor ihr. Wohin war die Freude auf Paris, auf das glänzende Leben, das ihr Alphons immer zu schildern sich bemühte? Eine tödtliche Angst nahm ihr oft den Athem, wenn sie weiter zu denken versuchte. Sie wagte nicht, sich die Empfindungen ihres Herzens klar zu machen, sie betete zu ihrer Mutter, sie schrieb zärtliche Briefe an ihren Verlobten, sie versicherte ihm, daß sie sich nach ihm sehne, und bat ihn dennoch flehentlich, den Termin ihrer Hochzeit noch bis zum nächsten Frühjahr hinauszuschieben. Hätte der Vater nur einmal gesagt, daß er sich schwer von ihr zu trennen vermöchte! Aber er hatte auf alle ihre Fragen nur die eine Antwort: „Ich freue mich, Dich in Paris als glückliche kleine Frau besuchen zu können, dann erst sind wir Alle glücklich.“

War es nicht seltsam, daß es dem Vater nie auffiel, wie unruhig und haltlos Alphons sich zeigte? Und wie oft hatte er doch gesagt: „Du mußt einst eine feste Hand über Dir fühlen, Wildfang, sonst geht Dein Glück in die Brüche!“ Feste Hand?! Zu weiß und weich und wohlgepflegt war die Hand ihres Verlobten, die konnte nicht sicher und fest durch’s Leben führen, die hielt nicht fest bis in’s Grab! Da war eine andere, feste, ernste, bräunliche Hand, Melanie hätte sich von ihr über den schwindelnden Steg eines Abgrundes leiten lassen, ohne zu zittern. Zuweilen meinte sie, es müsse irgend ein Wunder geschehen, das Alles rings umher veränderte; was aber jenes Wunder verändern sollte, gestand sie sich nur in ihren Träumen. O, diese Träume! Sie ängstigte sich oft, daß seine forschenden, tiefen Augen am Morgen auf den Grund ihrer Seele blicken und diese Träume erkennen möchten! Und er? Nun, er war ein Mann, in dem einen Augenblick sich rückhaltlos einer glühenden Leidenschaft hingebend, im nächsten voll bitterer Selbstvorwürfe sich zurückziehend. In einem jener Momente war es, wo er seine Abreise festsetzte und dem Schloßherrn anzeigte, daß die Gesundheit seiner Mutter die schleunigste Rückkehr nach Frankreich nothwendig mache und er mit ihr deshalb schon in drei Tagen D. zu verlassen gedenke. Er hatte dies Alles hastig in fremdem, fast hartem Tone gesprochen, kein Blick fiel dabei auf Melanie, die wenige Schritte von ihm in der Thür zur Terrasse saß. Die Rosen blühten, die Bäume wiegten ihre Wipfel im Abendsonnenschein. Das Mädchen schaute, von dem Sprechenden abgewendet, regungslos hinaus. Sie hörte wie im Traume ihren Vater Worte des Bedauerns reden, lebhaft den Plan seines Gastes bekämpfen und endlich sagen: „Bitte Du ihn, Melanie, gegen eine junge Dame darf er nicht ungalant sein; er muß wenigstens noch eine Woche zugeben, bis ich mit meinem Adam Lux fertig bin. Versuche Dein Heil, mein Kind, ich muß noch einmal nach H. In zwei Stunden bin ich wieder bei Euch!“

Der alte Herr küßte im Vorübergehen seine Tochter auf die Stirn und verließ das Zimmer. Wie zu Stein erstarrt, erschien die Gestalt des jungen Mädchens, kein Hauch bewegte die weißen Falten ihres Kleides, lässig lagen ihre Hände in ihrem Schooße. Das heimlich Gefürchtete war da, unabwendbar, er wollte sie verlassen, der Boden wich unter ihren Füßen, langsam näherte sich jetzt ein Schritt, sie wußte, wer da auf sie zukam, sie fürchtete seine Nähe und schloß zitternd die Augen.

„Sie werden mich nicht bitten, zu bleiben,“ sagte seine sympathische Stimme erregt, „ich könnte ja nicht ‚nein‘ sagen und dann wäre ich verloren, ehrlos in meinen und in Ihren Augen.“

„Werden wir uns wiedersehen?“ fragte sie, ohne sich zu ihm hinzuwenden.

„Nein, Melanie!“

„Sie haben Recht! Sie sind besser, als ich. Gehen Sie, und Gott segne Sie!“

„Ich gehe nicht eher, als bis ich Ihnen das Geheimniß meines und eines andern Lebens, das mir das theuerste auf Erden, anvertraut. Das ist das Einzige, was ich Ihnen zu Füßen legen darf, das Einzige, was Sie von mir annehmen dürfen. Keine Frau der Welt außer Ihnen wird dies Geheimniß erfahren. Wissen Sie, was solch’ Vertrauen bedeutet?“

[643] Das Mädchen streckte bebend, ohne aufzustehen, die Hand nach ihm aus. Da fühlte sie sich festgehalten, diese kleine, schlanke Hand, und mit glühenden Küssen bedeckt. Heiße, halblaute Worte hauchten seine Lippen auf die zuckenden Finger, ach! und Melanie wehrte ihnen nicht. Draußen blühten ja die Rosen zum letzten Mal! Dann zog Gaston ein Tabouret neben den Sessel der Geliebten und begann leise, leise zu reden, ohne ihre Hand zu lassen. Wie aus weiter Ferne klang seine Stimme; erzählte er ein Märchen oder eine todestraurige Wahrheit? Melanie lauschte mit heftig klopfendem Herzen.

„Es war ein junger, talentvoller Maler, Johann Jacob Hauer, aus Gau-Algesheim in Rheinhessen, der am 18. Juni 1793 in die Conciergerie zu Paris beschieden wurde, um das Portrait einer Frau zu skizziren, welche an einem der nächsten Tage hingerichtet werden sollte. Obgleich die Gefängnisse damals mit einer Menge von Unglücklichen angefüllt waren, die den Tod aus Henkershand erwarteten, so konnte der Künstler doch keinen Augenblick im Zweifel sein, wessen Portrait er malen sollte, – das Bild der schönen Charlotte Corday, der Mörderin Marat’s. Ganz Paris war ja wie im Fieber über dies Ereigniß, Charlottens Name schwebte auf allen Lippen, ihr Proceß beschäftigte alle Gemüther. Ein Franzose, Armand Rouer, hatte ihr Bild bereits vor dem Tribunal begonnen, man erzählte sich aber, daß er es nicht vollenden durfte, weil er eine rasende Leidenschaft für das wunderbare Mädchen gefaßt und Pläne zu ihrer Befreiung entworfen. Der Feuerkopf wurde sofort in sichern Verwahrsam gebracht. Einige meinten sogar, daß man ihn im Geheimen hingerichtet, Andere, daß man ihn in’s Ausland geschafft. Es war eben die Zeit der Gerüchte und des Schreckens, und Thatsache nur das spurlose Verschwinden Armand Rouer’s. Auch in das harmlose Stillleben des deutschen Malers, der mit Weib und Kind und einer jungen entfernten Verwandten, der reizenden Laura, die von den Malern nur die blonde Spanierin genannt ward, im Quartier Latin wohnte, war das Gerücht gedrungen. Er war heimwehkrank und wollte in wenigen Wochen in sein deutsches Vaterland heimkehren. Blos die schwere Krankheit seiner Frau, bei deren Schmerzenslager Laura die Rolle der barmherzigen Schwester übernommen, hatte ihn bis zur Stunde zurückgehalten. Sein Name als Maler hatte einen guten Klang, er lieferte tüchtige Portraits von warmer Farbe und idealer Auffassung; die Ruhe und Harmlosigkeit seines Wesens, sowie sein Verkehr mit dem Volke, schützten ihn und sein Haus vor jeder Beschuldigung und jedem Angriff. Johann Jacob Hauer verlor keinen Augenblick seine Besonnenheit, selbst als er die Treppe betrat, die zu dem Kerker Charlottens führte. Er hatte zudem ein Vorurtheil gegen ein Mädchen, dessen Hand Blut vergossen, und sah, seiner Natur nach, mehr mit Schauder und Widerwillen, als mit Theilnahme und Interesse, seiner Zusammenkunft mit der Verurtheilten entgegen. Nur wenige Stunden waren ihm zur Aufnahme des Bildes gegönnt, aber diese kurze Zeit genügte, ihn vollständig zu verwandeln. In einer Erregung ohne Gleichen kehrte er nach Haus zurück und aufgelöst in Thränen, warf er sich in die Arme seines Weibes mit den Worten: ‚Ich sah eine Heilige, die sich zur Himmelfahrt vorbereitet.‘ Die ganze Nacht blieb er auf, um jedes Wort aufzuzeichnen, das sie zu ihm geredet, Alles zu beschreiben, was er in ihrer Nähe gesehen, und am nächsten Morgen ging er schweren Herzens noch einmal in die Conciergerie, um in ihrer Nähe die letzte Hand an sein Bild zu legen.

Am Tage ihrer Hinrichtung war er so krank, daß er dem Arzte große Besorgniß einflößte, und erst lange Zeit nachher hatte er sein gewöhnliches Gleichgewicht in dem Maße wiedergefunden, daß er ausführlich von dem wunderbaren Mädchen zu reden vermochte. Er konnte nicht müde werden, den Eindruck zu schildern, den ihr Anblick auf ihn gemacht. ‚Ich erwartete eine fanatische Heroine zu sehen, als sich die Thür ihres Kerkers öffnete,‘ sagte er, ‚und fand ein sanftes, schönes Mädchen mit der Stimme eines Kindes. Wie ein Licht umfloß die edelste Weiblichkeit ihr ganzes Wesen, all ihre Bewegungen. Der gewöhnliche Ausdruck ihres Gesichts war eine fast verklärte Sanftmuth, nur wenn sie sprach und lebhaft wurde, flog jener hinreißende Zug kühner Entschlossenheit über ihre Stirn, den ich in ihrem Bilde festzuhalten versuchte. Man konnte nichts Süßeres hören, als den Ton ihrer Stimme, er drang mit unwiderstehlicher Gewalt zum Herzen. Sie erstickte eine Natter, von der sie glaubte, daß ihr Gift Tausenden den Tod gebracht.‘

‚Was haßtet Ihr an Marat?‘ hatte Johann Jacob Hauer sie gefragt.

‚Seine Verbrechen,‘ lautete ihre feste Antwort.

‚Was versteht Ihr unter seinen Verbrechen?‘

‚Die Verheerungen Frankreichs, die ich allein als sein Werk betrachte.‘

Als sie die Portraitskizze Hauer’s zuerst sah, bat sie: ‚Malt mich nicht so traurig, ich freue mich ja zu sterben!‘

‚Aber da steht eine unverwischbare düstere Falte auf Euerer Stirn, zwischen den Brauen, und ein unendlich trauriger Zug um den Mund; ich kann keins von beiden verwischen, sonst ist das Bild nicht Charlotte Corday.‘

‚So laßt sie stehen, es ist der Ausdruck des Schmerzes, daß ich nicht Allen helfen konnte, die der Todte und seine Anhänger hingeschlachtet. Es ist vielleicht besser, daß mein Bild so auf die Nachwelt komme, als mit dem Lächeln einer Siegerin. Man wird dann barmherziger über mich urtheilen.‘

Ihre Hände waren von überraschender Schönheit, die Finger lang und schlank, von großer Zartheit und den regelmäßigsten Formen. Niemand konnte bei ihrem Anschauen begreifen, daß sie sich so energisch um den Griff jenes Dolches geschlossen, der die Brust eines Mannes tödtlich durchbohrte. Die Farbe und Fülle ihres Haares war es besonders, was den deutschen Maler entzückte. Nie hatte er ein schöneres Aschblond gesehen. Als das Bild fast vollendet war, bat Charlotte Corday ihren neuen Freund, später eine kleine Copie desselben anzufertigen und ihrer Familie nach Caen zuzuschicken. Mit Thränen versprach der Maler die Erfüllung ihres letzten Wunsches.

‚Ich kann Euch nicht dafür belohnen; auch nicht, daß Ihr Charlotte Corday so menschlich einer richtenden Nachwelt überliefert,‘ sagte sie, ‚man hat mir Nichts gelassen. Mein großmüthiger Vertheidiger, Chaveau Lagarde, hat sogar übernehmen müssen, die Schulden zu bezahlen, die ich im Gefängniß gemacht. Und doch schenkte ich Keinem lieber ein Angedenken, als Euch. Was könnte ich Euch geben?!‘

‚Eine Locke von Euerem Haar!‘ rief Jacob Hauer feurig.

‚Habt Ihr ein Messer bei Euch? Man hat mir keine Waffen gelassen!‘ fragte sie.

Der Maler reichte ihr eine kleine Scheere, und sie schnitt eine lange Locke ab und gab sie ihm hin. – Kaum eine Stunde später nahm er von ihr Abschied.

Das Gerücht dieser Gabe verbreitete sich in ganz Paris, und am Tage nach ihrer Hinrichtung trat jener junge, feurige Deputirte aus Mainz, Adam Lux, in die Malerstube Jacob Hauer’s, um ihn zu bitten, das Haar der Märtyrerin an seine Lippen drücken zu dürfen. Er war es, von welchem der deutsche Maler die Schilderung jenes Zuges Charlottens zur Hinrichtung empfing. Adam Lux hatte den Karren an sich vorbeifahren sehen in der Straße St. Honoré und zugleich zum ersten Mal in jenes Antlitz geschaut, das für ihn fortan der Inbegriff alles Adels und aller Schönheit blieb. Trotz des Gewittersturmes, trotz Blitz und Donners, trotz des wüthenden Geheuls der tobenden Menge, der Schmähungen der entmenschten Weiber, trugen ihre Züge denselben Ausdruck der Sanftmuth, den das Bild Hauer’s wiedergab. Der Ausdruck edelster Festigkeit lag auf der Stirn, ruhige, heldenhafte Entschlossenheit. Die wunderbaren Augen, mit den langen Wimpern, blitzten feucht oder schauten in unbekannte Fernen hinaus, und von ihren Wangen war jener zarte, rosige Hauch nicht gewichen, der sie schmückte. Die nahende Hinrichtung, die Schrecken des Schaffots hatten ihren Muth nicht gebrochen. Adam Lux las seinen begeisterten Nachruf, jene Worte, die ihn kaum vier Monate später der Guillotine überlieferten, zuerst in der stillen Werkstatt des deutschen Malers vor.

Alle diese Dinge pflegte Jacob Hauer wiederholt zu erzählen und bei dieser Gelegenheit enthüllte er das wunderbare Bild auf der Staffelei, von dem er dem Convent eine Copie geliefert. Eine schwarze Schleife war daran befestigt und ein mit festen großen Zügen eigenhändig niedergeschriebener Vers Charlottens:

Nicht Nachruhm ist es, den mein Geist verlangt,
Nicht Lob ihn freut, vor Tadel ihm nicht bangt.
Stets unabhängig und stets Bürgerin,
Hab’ nur die Pflicht, nichts Anders ich im Sinn.
Auf, denkt auch Ihr blos, wie Ihr frei Euch kämpft.

Die Locke aber lag in einem Ebenholzkästchen auf schwarzem [644] Sammet und nur an besonderen Festtagen pflegte der Maler dasselbe zu öffnen und den Seinigen diese letzte Gabe der Todten zu zeigen. Er bewahrte es in einem der geheimsten Fächer seines Schreibtisches auf, dessen Schlüssel er immer bei sich trug.

Ich komme jetzt zu dem Theil meiner Geschichte, der mich selber nahe berührt. Jacob Hauer, der ruhige Deutsche, hatte, wie ich erzählte, eine schwärmerische Neigung für Charlotte Corday gefaßt, die er unverhohlen zur Schau trug und die ihn dazu brachte einen wahren Cultus zu treiben mit all jenen sichtbaren Andenken an diese wunderbare Frau. Er malte auch fortan kein Frauenportrait mehr, und das Bild der blonden Laura, das er kurz vor seinem Gange in die Conciergerie begonnen, wurde von ihm nach Charlottens Hinrichtung vernichtet. Das war ein furchtbarer Schmerz für jenes seltsame und leidenschaftliche Geschöpf, welches man die blonde Spanierin nannte. Nicht die Zerstörung ihres Portraits war es, die dies glühende Herz so tödtlich verwundete, nur daß eben seine Hand dieselbe vollbrachte. Hier trat nämlich wiederum eines jener zahllosen unlösbaren Räthsel des Frauenherzens zu Tage, an denen alle Weisheit zu Schanden wird. Dies wunderschöne, unter den Kunstgenossen des deutschen Malers hochgefeierte Mädchen, deren Erscheinung, wo sie sich zeigte, die lebhafteste Bewunderung hervorrief, war von einer maßlosen Leidenschaft ergriffen für den ruhigen ernsten Mann mit den blauen Augen, und hätte jeden Moment, wenn er es begehrt, Leben und Sein ihm zu Füßen geworfen. Tag für Tag brachen sich die Wogen dieses erregten Gefühls an dem Felsen seiner Ruhe. Jacob Hauer ahnte nichts von den Empfindungen dieses Herzens, von der verzehrenden Eifersucht, mit der dies bezaubernde Wesen jeden seiner Schritte bewachte. Gütig, von einer fast väterlichen Zärtlichkeit gegen sie, schürte er durch die unbefangenen Aeußerungen seiner Zuneigung die unheilvolle Flamme nur immer höher. Wäre er weniger träumerisch gewesen, er hätte ihr Lodern und Aufflackern erkennen müssen, so aber lebte er nur seiner Kunst und der schwermüthigen Sorge für seine kranke Frau, die sich noch immer nicht zu erholen vermochte. Auf diese Frau war Laura seltsamer Weise nie eifersüchtig gewesen; so lieblich und anmuthsvoll die Leidende auch erschien, so reizend sie in ihren gesunden Tagen gewesen, ihr fehlte jener dämonische Zug, welcher die Männer so unwiderstehlich hinreißt und festhält, und das mochte vielleicht Laura halb unbewußt empfunden haben. Maria war ihr keine Nebenbuhlerin, sie sah in ihr nur die Freundin, nicht das Weib des Geliebten. Sie pflegte die Kranke und ihr Töchterchen mit Aufopferung und hing an Beiden mit der zärtlichsten Zuneigung. Wie glücklich war das Mädchen, als der Maler sie eines Tages bat, ihm zu einem Bilde zu sitzen! So ungestört bei ihm sein in der kühlen stillen Malerstube, ihn anschauen zu dürfen, hin und wieder leise zu fragen und leise Antworten zu hören, immer und immer dem tiefen Blick seiner Augen zu begegnen, war entzückend. Eine sanfte Ruhe schien sich herabzusenken auf das stürmische Meer ihrer Empfindungen, süße Träume kamen über ihr Herz und wiegten es ein. Sie hatte keinen Wunsch mehr, als das Gebet: ‚Laß mich nur bei ihm, bis ich sterbe!‘ Da erschien, mitten in diesem Glück, die dämonische Gestalt des Mädchens von Caen auf dem Schauplatz mit ihrem unabsehbaren Gefolge von tausend Erregungen, Gedanken und Erinnerungen; da brachte Jacob Hauer das Portrait der Hingerichteten in’s Haus und ihre schöne blonde Locke, und die Qualen wahnsinnigster Eifersucht ergriffen diese leidenschaftlichste aller Frauenseelen. Sie verlor jedwede Besinnung. Der Haß gegen jene Frau, die das bis zur Stunde so unberührte Herz des geliebten Mannes so plötzlich gefangen genommen hatte, tobte wie ein Fieber durch ihre Adern. Zuerst wollte sie das Haus des Malers verlassen; sie ging auch wirklich zu Freunden aufs Land, in der Nähe von Versailles, von heimlicher Verzweiflung fortgetrieben, aber zwei Tage darauf, spät am Abend, unter strömendem Regen, klopfte sie wieder an seine Hausthür; sie konnte eben den Anblick seines Gesichts – den Ton seiner Stimme nicht entbehren. ‚Ich dachte, Marie und Dein Kind könnten mich brauchen – und da bin ich wieder,‘ sagte sie, und blieb fortan. Da saß sie nach wie vor und unterzog sich den Diensten einer barmherzigen Schwester, liebkoste das Kind, hörte in dumpfer Verzweiflung zu, wenn der geliebte Mann von Charlotte Corday erzählte, und richtete ihre Augen, jene schwarzen Augen, wie Murillo sie seiner Madonna gegeben, auf das Portrait des Mädchens von Caen und auf jene duftende blonde Locke. Wilde Gedanken und Wünsche zuckten dabei durch Kopf und Herz. Sie wollte das Bild den Flammen überliefern und jene Locke zerreißen und in alle Winde zerstreuen. Sie haßte sie ja noch mehr, als das Bild, denn sie war ja etwas Greifbares, ein wirklicher Theil von dem Körper ihrer Feindin. Das Bild hätte sie trotz alledem nimmer zu zerstören vermocht, seine Hand hatte es ja geschaffen, lieber würde sie sich selber getödtet haben.“

(Fortsetzung folgt.)



Ein Held in Sturmesnöthen.

An der äußersten Spitze der niederländischen Provinz Nordholland, wo das Meer einst im Kampfe mit dem Festlande sich eine breite Bahn zum Zuidersee brach und Texel zur Insel machte, liegt die alte Helderschanze und der Flecken de Helder, die Heimath tüchtiger Seeleute und vor Allem einer starken, sturmbewährten Lootsenschaar. Vom Wall dieser alten Schanze blicken die Männer der Gegenwart auf das Wogenbett, in welchem Tausende von holländischen Seehelden schlafen gingen, als im letzten großen Seekampfe Hollands gegen England am 28. August vor sechsundsechsig Jahren der Stern seiner alten Meerherrschaft unterging.

Der Heldengeist ging nicht mit unter, der Ocean ist noch heute das Ackerfeld der kleinen urkräftigen Nation, und fordert der blutige Krieg ihre Tapferkeit nur selten heraus, so ist für den Kampf mit den Wogen um Landeswohlfahrt und Menschenglück ihnen manch neuer schöner Stern aufgegangen.

An der Helderschanze vorüber steuern die Schiffe, welche ihre Fahrt zum Hafen von Nieuwe-Diep lenken. Zur Rechten unweit der Schanze liegt das Dorf Huisduinen, an dessen Strand die Wogen des Oceans schlagen.

Dorthin eilten im ersten Morgenschimmer des 10. Januar 1852 die Bewohner des Dorfs. Aus dem Frieden, mit welchem das Meer sie am Abend des 9. zur Ruhe eingeladen hatte, schreckte sie der Sturm auf, der jetzt über die Wogen tobte. Und mitten in dem empörten Element rang ein Schiff gegen den letzten Stoß in’s Verderben. Der Hülferuf der Mannschaft durchdrang das Brausen des Sturms, und Nichts antwortete ihm als der Verzweiflungsschrei der rathlosen Menge. Auf der Höhe von Falgar lag das gestrandete Schiff, das, den rettenden Wall vor Augen, dem Untergang geweiht war.

Aber es sind Männer, die am Ufer wohnen, gewohnt den wildesten Wogen zu trotzen. Das Rettungsboot sinkt in die Fluth und sechs Paar Fäuste ergreifen die Riemen. Festen Schlags arbeiten sie vorwärts, vom Wogengang bald hoch aufgehoben, bald den Augen am Strande verschwunden; vom Schiff und vom Ufer hängt jeder Blick an dem Boote, das eine Fahrt auf Leben und Tod gewagt. Doch vergebens erschöpfen die starken Männer ihre letzte Kraft; sie müssen’s dulden, ihrem Ziel schon nahe, von den hohen Wellen wieder zurückgeschleudert zu werden. Schiff und Mannschaft schienen dem gemeinsamen Untergang geweiht.

Da trat ein Jüngling aus der Menge, entschlossen, allein zu wagen, was sechs Männern unmöglich gewesen. Er schlang sich das Rettungstau um den Leib und stürzte sich in die Fluth, taub gegen das Jammergeschrei der Seinen, die händeringend dem todesmuthigen Schwimmer nachstarrten. Bis zur Brandung drang er fest und sicher vor, aber dann begann ein fast übermenschlicher Kampf, dessen Anblick alle Herzen erbeben machte. Bald zu den schäumenden Spitzen der Wellen emporgewirbelt, bald wieder in den sinkenden Gischt mit hinuntergezogen, war er für Alle am Strand und auf dem Schiffe ein aufgegebenes Menschenkind. Und dennoch geschah das Unglaubliche, überwand er die schreckliche Stelle und gewann gerettet den Bord, von dem längst alle Hoffnung auf Errettung verschwunden war.

Das gestrandete Schiff war indeß zum Wrack geworden; von

[645] den rollenden Wogen auf dem Grund aufgestampft, drohte es zu zerschellen, wenn man nicht eilig die Masten gekappt hätte. An den Stumpf des Hauptmastes befestigte man nun das Rettungstau, und diesem entlang versuchte es zum zweiten, dritten und vierten Male das Rettungsboot, durch die Brandung hindurch zu dringen. Alles vergebens, die See schien Herr ihrer Beute zu bleiben. Da ermuthigt der jugendliche Retter endlich die bedrängte Mannschaft, an dem Tau selbst sich zum Walle hinüber zu arbeiten. Dies geschah und für Alle mit des Himmels Gunst. Der Retter war der Letzte, der das Wrack verließ und den Wall erstieg.

Die Ehre des Lieds vom braven Mann hatte ein Jüngling sich verdient. Der Jubel des ganzen Strandes empfing ihn, seine Lieben und die Geretteten wetteiferten in stürmischen Beweisen ihrer Liebe und ihres Dankes, und die Fremden, die vom Nieuwe-Dieper Hafen den Gestrandeten zur Hülfe herzugeeilt waren, fragten voll Bewunderung: Wer ist der Jüngling?

Cornelis Dito heißt er, ist ein Kind des tapfern Fleckens de Helder, eben neunzehn Jahre alt und hat sich den Schiffern längst als tüchtiger Fahrensgeselle erwiesen. Das ist bis dahin seine ganze Lebensgeschichte.

Cornelis Dito.
Nach der Natur gezeichnet von Schleich.

Seine heutige Heldenthat gegen die opferwüthige See wurde entscheidend für sein Loos. Das Hochgefühl, der Retter von so vielen Menschenleben zu sein, that der jungen Seele zu wohl, als daß sich nicht in ihr der Entschluß hätte festsetzen sollen, fortan Menschenretten zum Lebensberuf zu erheben. Nicht die äußeren Belohnungen und Ehrenzeichen, mit denen man ihn zu erfreuen suchte, die großen goldenen und silbernen Medaillen und Dosen, welche der König und holländische Rettungs- und Seemanns-Gesellschaften ihm verliehen, vermochten – wie sehr sie dem jugendlichen Stolze schmeichelten – ihn zu einem solchen Entschluß zu begeistern. Sein Herz hatte die Wonne einer edeln That genossen, und sie allein war es, die ihn zum Helden gegen die See im Kampfe für bedrohte Menschenleben erhob.

So weit das Wirkungsbereich der Lootsen von de Helder sich erstreckt – und es ist ein vielbefahrenes Wasser, denn durch das Mars-Diep segeln alle Schiffe, die vom Westen kommend nach Amsterdam das Steuer richten – so weit erstreckt sich das Rettungsgebiet des Cornelis Dito. Kein Sturm rüttelt das Meer und thürmt die Brandung auf, wo nicht der Retter auf seinem Posten steht, um nach den Gefahren auszulugen, in denen Andere schweben. Und wo eine solche sich zeigt, da durchzuckt es ihn wie den tapfern Soldaten dem Erzfeind gegenüber, nur weit edler und wohlthuender, denn er will in seinem Kampfe nicht Leben tödten, sondern Leben erhalten. So hat er es denn durch viele muthige Thaten in seinem selbstgewählten hohen Beruf veranlaßt und verdient, daß ihn das Volk „den Menschenretter“ nennt – ein Titel, den kein Fürst verleihen kann, denn die höchsten Würden der Menschheit verleihen stets nur die That und das Volk.

[646] Cornelis Dito, dessen Bildniß von kunstgeübter Hand in seiner Heimath gezeichnet und der Gartenlaube zum Zwecke der Veröffentlichung eingesandt wurde, erwirbt sich seinen Lebensbedarf als einer der stetigsten sogenannten Sloeperleute, jener kühnen Schiffer, die auf ihren Nußschalen von Booten ankommenden Schiffen oft weit in die See entgegenfahren, um ihnen ihre Dienste anzubieten. Eine solche Fahrt wäre in diesem Sommer beinahe seine letzte gewesen.

Es war am 3. Juli d. J., wo Cornelis Dito mit drei anderen Sloeperleuten auf seinen Erwerb in See ging. Sie hatten sich mit der Sonne aufgemacht und kreuzten so weit draußen, daß sie nur durch das Fernrohr wie ein schwarzes Pünktchen über den ruhigen Wellen zu erkennen waren. Ihr Harren war jedoch vergeblich. Mit fröhlichem Gesang wandten sie endlich das Steuer heimwärts. während ein Sturm seinen Anzug verkündete. Mit kräftigem Ruderschlage die Wogen theilend waren sie bald nur noch etwa eine Drittelstunde vom Strande entfernt, als plötzlich auf der Höhe der Pettener Dünen eine Windhose sie überfiel und ihr Boot umschlug. Als vier gute Schwimmer gewannen zwar die Männer ihr Boot bald wieder und klammerten sich auf dem Rücken desselben fest, aber nun schwebten sie fortwährend in der Gefahr, von den wachsenden Wellen fortgespült zu werden. Auch die Hoffnung, einem vorübersegelnden Schiffe in Sicht zu kommen, wollte nicht in Erfüllung gehen, während Sturm und Gefahr mit jedem Augenblick zunahmen. Da entschloß Cornelis Dito sich, für seine Gefährten die Hülfe, die ihnen zur See nicht kommen wollte, selbst vom Lande zu holen; er wollte trotz der weiten Entfernung von mehr als zweitausend Metres hinüberschwimmen, um mit einem Rettungsboot zurückzukehren. Seine Gefährten waren seine liebsten Freunde und waren, wie er selbst, Familienväter; da drängte ihn doppelt sein Beruf, sich und sie zu retten. Trotz alles Abmahnens ließ einer der Drei, J. Kuiper hieß er, sich nicht abhalten, den Cornelis auf seiner strengen Tour zu begleiten. An den Kiel des Boots festangeklammert blieben die beiden Andern allein in der Wasserwüste zurück. Aber auch Kniper sollte das Land nicht erreichen. Obwohl zur selben Zeit, wo beide Freunde in der Fluth sich vorwärts arbeiteten, das Meer ruhiger wurde, so stand ihnen doch noch ein schweres Hinderniß entgegen: die der Küste entlang ziehende heftige Strömung. Cornelis Dito besiegte auch dieses Hinderniß, allein Kniper’s Kraft war gebrochen, als er den neuen Wogenkampf beginnen sollte; er versank in die Fluth zum Nimmerwiederkehren. Trostlos über den Verlust des liebsten Genossen erklomm Cornelis den Wall, aber den Schmerz und die Sorge für sich selbst niederdrückend eilt er zum Dorfe Petten, ruft die Männer zur Hülfe auf, das Rettungsboot rollt in die See und hinaus geht’s zu den in Todesnoth an dem schwarzen Bauch ihres Bootes Hängenden. Die Hülfe kam noch zu rechter Zeit, Beide waren gerettet.

Der Tod des armen Kuiper, die Hülflosigkeit seiner Familie und die reine edle That Cornelis Dito’s erregten die Theilnahme des Volks nicht nur von Nordholland, sondern in den ganzen Niederlanden. Jener Doppelfall von Unglück und Glück gab die Veranlassung, nicht blos für die armen Verlassenen zu sammeln, sondern auch eine Stiftung zu begründen, die den braven muthigen Männern, welche so oft ihr Leben für Andere wagen, wenigstens die beruhigende Sicherheit in’s Herz legen soll, daß ihre Lieben nicht in Noth versinken, wenn sie selbst einst in ihrem Berufe untergehen sollten. Zu diesem guten Zwecke ist der Wohlthätigkeitstrieb mit all’ seinen anregenden Mitteln im holländischen Volke thätig, und wenn auch in den Nachbarvölkern die Theilnahme dafür durch diese Erzählung von dem Menschenretter Cornelis Dito sich werkthätig erweisen wollte, so würde das dankbar begrüßt werden in ganz Holland und an dem Strande von de Helder noch manche Thräne trocknen helfen.




Vom Vater Zschokke.
Von Friedrich Nüsperli.
(Schluß.)

Im Reisen fand Vater Zschokke, wie bereits bemerkt worden, eines der vorzüglichsten Bildungsmittel für Körper, Gemüth und Geist seiner Söhne, und es ist wiederholt vorgekommen, daß in volkreichen Gassen einer ausländischen Stadt ein junger Zschokke einherwandelte, dann wie festgebannt stehen blieb und sich nach allen Seiten umsah. Er hatte den heimathlichen „Bubenpfiff“ vernommen, bestehend aus zwei kurzen und einem um einige Töne tieferen, längeren Stoß der Luft aus dem Munde, und richtig, da eilte ein Bruder unverhofft auf ihn zu, der, wie er, auf Reisen war. Zu diesen Reisen wurden die Knaben von früh auf angeleitet, indem man sie zuerst ganz kleine und dann immer weitere Wanderungen unternehmen ließ, zuerst hinaus in die „neue Vorstadt“, zu Sauerländers, dann zum Großvater nach Kirchberg, dann in’s Frickthal zu einem befreundeten Bekannten etc. Natürlich fehlte es dabei an Abenteuern nicht, die dann jedesmal, wenn sie daheim wieder erzählt wurden, das liebende Elternpaar überglücklich machten. So kam einst einer der Knaben, welchen man zu Herrn Sauerländer hatte schicken wollen, zurück und theilte mit, er habe nicht in die neue Vorstadt gelangen können, weil an einer Stelle die Gasse versperrt gewesen. „Wodurch?“ wurde gefragt, und der Knabe antwortete: „Durch den Schatten!“ Der Vater hatte ihm nämlich unmittelbar vor dem Aussenden die Haare abgeschnitten und ihm dann auf die Reise die Ermahnung mitgegeben, er solle, um sich nicht etwa zu erkälten, nur im Sonnenschein gehen. Weil nun an einer Stelle der Gasse die Sonne nicht hinscheinen konnte, war der gewissenhafte Knabe wieder umgekehrt.

Um seine Knaben noch auf einem andern Wege der Naturwissenschaft zuzuführen, ließ Zschokke es geschehen, daß sie an den Sonntagabenden, namentlich im Winter, oft mehrere gleichgesinnte Bekannte um sich versammelten, um selbstthätig unter dem Namen „Verein der jungen Naturfreunde“ einander schriftliche Arbeiten über Naturgegenstände vorzutragen und dieselben mündlich zu verhandeln. Ein handschriftlich angefertigtes Wochenblatt „der Blumenhaldner“, jeweilen von einem der Söhne verfaßt und zusammengeschrieben aus Eingaben, welche von den Brüdern herrührten, theilte die Neuigkeiten, die sich im Hause zugetragen, allwöchentlich mit und wurde am Sonntag im Kreise der Familie vorgelesen. Mitunter betheiligte sich auch die Mutter durch Einsendungen dabei. Ein Wörterbuch, enthaltend alle Personen und denkwürdigen Dinge des Hauses, unter Beifügung der angemessenen beschreibenden oder geschichtlichen Bemerkungen, sowie eine Karte, die Umgebungen Aaraus darstellend, versehen mit der Andeutung der Fundorte von Mineralien und Pflanzen, wurden begonnen, leider aber nicht vollendet.

Vater Zschokke liebte seine Kinder alle mit der nämlichen Herzensinnigkeit, ohne eines zu bevorzugen. Auf seinen Zweitältesten Sohn Emil, nun ersten Pfarrer in Aarau, gründete er indessen die meisten Hoffnungen, bezüglich einstiger Wirksamkeit des Mannes. Wiederholt hat er in seinem Unterricht über „mündlichen Vortrag“ sich an den Knaben gewendet: „Emil, ich habe Euch nun auseinandergesetzt, wie der besprochene Gegenstand in einer öffentlichen Rede zu behandeln wäre. Begieb Dich jetzt für einige Augenblicke in’s Nebenzimmer, überlege Dir, wie Du über die Sache sprechen wollest, dann komme und halte Deinen Vortrag!“ Wir alle Andern mußten, wenn Emil des Vaters Wunsch erfüllt hatte, bekennen: „Das könnten wir nicht!“

Emil, der, wie bemerkt, eine natürliche Gabe zum Redner hatte, behauptete als Knabe oft: „Entweder will ich Schauspieler werden, oder Pfarrer.“ Der Vater leitete den Entschluß des Kleinen dem letztgenannten Ziele zu. Leider erlebte er es aber nicht, daß dieser, sein Sohn, Pfarrer des Cantonshauptortes wurde.

Vater Zschokke hielt darauf, daß wir mitunter Komödie spielten. Wir mußten dabei zuweilen einen bekannten Gegenstand, z. B. den Tellenschuß, aus dem Stegreif aufführen. Jeder folgende Spieler hatte sich dabei auf die oft unvermuthete Wendung seines Vorredners bereit zu halten und einzurichten, damit das Stück so viel wie möglich ein abgerundetes Ganzes abgebe. Einst konnte [647] der Vater seine Nanny kaum beschwichtigen, als sie dem Spiele eines der Knaben entnehmen wollte, derselbe müsse ein besonderes Geschick zum Lügner und Spitzbuben haben.

Man hat Vater Zschokke von mehrern Seiten getadelt, daß er jeden seiner Söhne während der Schulzeit in den Freistunden bei einem Meister förmlich ein Handwerk habe erlernen lassen. Bei den beiden Aeltesten that er es auch wirklich (Klempner und Zinngießer); warum er bei den Jüngern davon abging, ist uns nicht bekannt. –

Der Weihnachtstag war höchstes Familienfest, wo Jedes nach Alter, Neigung und Bedürfniß reichlich beschenkt wurde. Am Osterfest war die treue Mutter namentlich darauf bedacht, die Ihrigen mit den buntesten Eiern zu erfreuen. Daneben erhielt am Geburtstage Jedes seinen Kranz, seinen Kuchen und kleine Angebinde von Eltern und Geschwistern. An des Vaters Geburtstage, am 22. März, durften Schneeglöcklein im Krystallglase nie fehlen. Diesen seinen Geburtstag pflegte er gern mit einer That zu bezeichnen, die am Lebensweg wie ein Denkstein stehen sollte.

Vater Zschokke liebte es, gewisse Uebungen im Haus Jahr um Jahr regelmäßig wiederkehren zu lassen. So führte er die Seinen, nachdem er die Lichter am Weihnachtsbaum angezündet, Jahr um Jahr mit dem nämlichen langgedehnten Oh! in das festlich geschmückte Speisezimmer ein. Jahr um Jahr wurden die Vorfenster an des Vaters Geburtstage beseitigt und die Gartenbänke hinaus auf die Schattenplätze um das Haus geschafft etc.

Auch die Tages- und Wochenordnung war stets die nämliche. Die fünfte Morgenstunde fand den Vater, im Sommer und Winter, schon am Schreibtisch in seinem Studirzimmer. Um sechs Uhr, wie im Sommer so im Winter, wurde das Frühstück aufgetragen. Dem Vater brachte die Mutter den Kaffee auf’s Zimmer. Er trank denselben, während er schrieb und ein Pfeifchen rauchte, in langen Zwischenräumen. Nach vier Stunden erhielten die Buben das „Zehnibrod“ und dem Vater brachte die Mutter eine Erfrischung, die gewöhnlich aus einem Butterbrod und einem Glas Wein oder einem Spitzgläschen voll Kirschenwasser bestand. Nachdem er sein Büchlein „Branntweinpest“ geschrieben, durfte das „Chrisiwasser“ aber nicht mehr auftreten. Einer der Söhne wurde dann zu Herrn Sauerländer, auf die Post und in’s Schlachthaus gesendet, Zeitungen, Briefe und Fleisch zu holen. Um zwölf Uhr stellten sich die Kinder beim Vater ein und empfingen seinen Unterricht bis zwei Uhr. Darauf ging’s zum Mittagessen. Der Nachmittag war frei. Da las der Vater die Zeitungen, hielt sich, wenn’s die Witterung erlaubte, mit den Seinen im Garten auf und empfing hier seine Besuche. Des Morgens nahm er solche nicht gern an. Die Frau mußte dabei entscheiden, ob der Vater bei der Arbeit dürfe gestört werden oder nicht. Trat man dann in das Heiligthum seines Arbeitszimmers, in dem, neben höchster Einfachheit, die größte Ordnung und Reinlichkeit herrschte, ein, so legte er die Feder nieder, sah den Kommenden ein paar Minuten schweigend an, rieb sich die Augen, als ob er aus einem Traum erwachen müsse, ließ sich hierauf die Wünsche, die man hegte, vortragen und ging dann in die Sache ein. Jeder wurde übrigens von Zschokke freundlich und mit voller Hingabe aufgenommen, der schlichte Landmann, der ihn fragen wollte, wohin der Weg nach Amerika gehe, wie der Fürst, der kam, ihm seine schriftlichen Arbeiten zu überbringen, mit der Bitte, ihnen die letzte Feile anzulegen.

Des Abends um sechs Uhr wurde, zur Sommerszeit im Garten, von der Familie der Kaffee genossen; dem Vater brachte man eine Flasche Wein, aus der er ein paar Gläser trank, und ein Stück Braten oder Wurst. Ein „Schweinerippeli“ zog er Allem vor. Am Sonntag besuchte der Eine oder der Andere aus dem Hause den Morgengottesdienst beim reformirten oder beim katholischen Pfarrer. Dann brach Groß und Klein nach Kirchberg auf, wo beim Großvater zu Mittag gegessen und die Reize eines süßen Nichtsthuns genossen wurden. Um neun Uhr ging regelmäßig Alles zu Bette.

Selbst in den männlichen Jahren entzogen sich die Söhne dem Gehorsam gegen den Vater nicht und handelten kindlich treu nach seinen Grundsätzen. Dafür zeugt folgende Begebenheit. Als am Sonntag, den 21. August 1831, die Nachricht in Aarau eintraf, es hätten die Stadtbaseler einen bewaffneten Ausfall gegen das Landvolk unternommen, es sei Bürgerblut geflossen und das Städtchen Liestal sei in Brand versetzt worden, war eben der Vater nicht daheim, sondern nur die Mutter saß im Garten der Blumenhalde und erzählte einem Besucher unter Thränen die Einzelnheiten des Unglücks. Da kam einer der Söhne aus der Stadt dahergestürzt und erklärte: „Mutter, ich eile nach M. zu F., der soll den Landsturm ergehen lassen, dem Landvolk zur Hülfe.“

„Mein Kind,“ sagt die Mutter, „thue das nicht: wäre der Vater daheim – Du weißt’s, daß er den Aufbruch ungeordneter Volkshaufen verdammt –, er würde Dir auch von Deinem Vorhaben abrathen.“

„Du hast Recht, Mutter!“ entgegnete der Sohn. „Aber daheim kann ich nicht bleiben. Was soll ich machen? Ich weiß es! Mit meinem chirurgischen Bestecke eile ich nach Liestal, den Verwundeten mit meiner Kunst beizuspringen!“

„Das thue, mein Kind, das wird der Vater nicht misbilligen!“

So zog, mit Einbruch der Nacht, der Sohn fort, von einem einzigen Begleiter gefolgt, durch das Juragebirg und die im Aufruhr begriffenen Dorfschaften, und kam in den ersten Morgenstunden des folgenden Tages zu Liestal an, wo er mehreren Verwundeten Hülfe bringen konnte.

In Aarau machte Vater Zschokke selten Besuche. In frühern Jahren freilich speiste er jeden Sonnabend bei Rudolf Meier zu Mittag. Am Montag Abend war er regelmäßig in der Sitzung der „Gesellschaft für vaterländische Cultur“ zu finden; nie aber im Kaffee- oder Wirthshaus. Seine Erholung fand er im Kreis seiner Familie, der überhaupt Jedem den höchsten geselligen Genuß darbot. Wenn aber ein Verein tagte, der seinem geistigen Streben entsprach, dann war er mit ganzer Seele dabei, ließ sein Wort belehrend, warnend, begeisternd walten und bewies sich an der Tafel als der Heiterste und Unterhaltendste, wofür unter Anderm seine Lieder zeugen, die er auf die Jahres- und Festversammlungen der Culturgesellschaft im Bade Schinznach gedichtet hat.

Von Biberstein zog Zschokke im Jahre 1807, um der Buchdruckerei des Herrn Sauerländer näher zu sein, nach Aarau, wo er auf dem „Rain“ ein Haus kaufte mit einem Garten und einem „Gütli“ dahinter. Dann, als ihn ein „kleiner Goldregen“ überraschte, Geldsummen, schon seit den Revolutionsjahren verloren geschätzt, z. B. der von der Baseler Regierungsstatthalterschaft noch rückständige Gehalt, baute er sich seine „Blumenhalde“ auf, ein Landhaus in der Nähe von Aarau, am linken Ufer der Aare, mit weiter Aussicht bis hinaus auf die Schneehäupter der Alpen.

Wie Zschokke’s Vermögensverhältnisse waren, wissen wir nicht, weil davon in der Familie nie geredet wurde. Wenn man aber bedenkt, daß dessen Vater ein „wohlbemittelter Bürger“ war, der während des siebenjährigen Krieges durch bedeutende Tuchlieferungen für die preußische Armee sich ansehnliches Vermögen erworben; daß der Sohn in Beamtungen, namentlich aber durch seine schriftstellerischen Arbeiten, sich guter und nachhaltiger Einnahmsquellen erfreut haben mag, während er und die Seinen höchst einfach lebten: so darf angenommen werden, daß er sich in blühenden Vermögensumständen befand. Ist doch aufgezeichnet, wie er auf mehr als siebenzehntausend Franken Verzicht leisten konnte, um nicht zwei rechtschaffene Familien in’s Verderben zu stürzen. Auch auf sein Amt als Forstinspector, das einzige, das ihm damals einen Gehalt abwarf, verzichtete er freiwillig, als die unfreisinnige Regierung des Aargaus ihm andeutete, es schicke sich für ihn als einen ihrer Beamten nicht, sie im Schweizerboten zu kritisiren.

Zschokke wirkte auf seine Zeit und die Nachwelt durch verschiedene Hebel, deren Stützpunkt stets die Heiterkeit seines Gemüths und seine ausgezeichnete und werkthätige Menschenliebe waren. Er wirkte durch seinen persönlichen Umgang im Kreis der Familie, im Rathssaal (sein letztes Wirken bestand hier in der Theilnahme an der Aufhebung der Klöster des Aargaus) und gegenüber einer großen Anzahl von Besuchern aus allen Ländern und Ständen, namentlich auch als Lehrer; ferner durch einen ausgedehnten Briefwechsel, durch seine Schriften, von denen mehrere in die verschiedensten Sprachen übersetzt worden sind, endlich durch seine Stiftungen.

Die Schriften, welche er verfaßte, sind bekanntlich theils geschichtlichen Inhalts (bairische Geschichte, Schweizergeschichte u. a.), theils enthalten sie Gegenstände der Volkswirthschaft (Gebirgsförster, Goldmacherdorf u. a.), theils Dichtungen (eine lange Reihe von Novellen). Sein Hauptwerk aber bleiben „Die Stunden der Andacht“, dieses Evangelium der Neuzeit, geschrieben Leidenden zum Troste, [648] Irrenden zum Wiederfinden eines Weges, hadernden Kirchen zur Versöhnung miteinander und Allen zur Stärkung durch das Jesuwort. Den Schluß seiner Werke bildet die „Selbstschau“, die er in seinem siebenzigsten Jahre vollendete. Sie enthält eine Naturgeschichte seines Gemüthes und eine Entwickelungsgeschichte seines Geistes.

Zu den Stiftungen, die von Vater Zschokke ausgingen, gehören die Freimaurerbauhütte zur Brudertreue in Aarau, die Gesellschaft für vaterländische Cultur des Aargaus, der „Lehrverein“ zu Aarau, die Gewerbschule daselbst, zu der zwei dortige begüterte Fabrikanten das Geld und Zschokke den geistigen Grund gelegt; ferner die Taubstummenanstalt ebenda und die Pestalozzi-Anstalt in Olsberg. Ferner war er es, welcher eine vernunftgemäßere Bewirthschaftung der Forsten des Cantons anbahnte. Es konnte nicht fehlen, daß ein Mann, wie Heinrich Zschokke, der mit gewaltiger Wucht des Witzes und überzeugender Wahrheit in manches Vorurtheil und Lebensverhältniß der Staaten, Kirchen, Familien und Gemüther eingriff, wenn auch immerhin vom Wunsche beseelt, als wahrer Geistesjünger zu segnen, neben treuen und begeisterten Freunden und Verehrern, auch von Gegnern, ja Feinden in großer Zahl, in Nähe und Ferne umgeben war. Aber er bewies sich als Einen, der nicht wieder schalt, da er gescholten wurde, nicht drohte, da er litt; er stellte es Dem anheim, der recht richtet.

Mit Unwillen äußerte er sich einst gegen uns über ein einflußreiches Mitglied des großen Rathes, an das er sich bei einer Wahl mit der Frage gewendet, wer unter den ihm selber unbekannten Bewerbern der empfehlenswertheste sei, als sich nachher, bei Eröffnung der Stimmzettel, zeigte, daß er, Zschokke, jenem Bewerber einzig und allein die Stimme gegeben und also nicht einmal der, welcher ihm denselben empfohlen hatte.

Die Ansichten Zschokke’s über Gesetzgebung und Staatsregierung sagten nicht Allen zu. Seine vorurtheilslose Selbstständigkeit war Manchem zuwider. Aus diesem Grunde scheint er neben seinem Freunde, Pfarrer Bok, nachmaligem Domdekan des Bischofs von Basel in Solothurn, nie in den aargauischen Cantonsschulrath gekommen zu sein, damit sie Beide nicht zu einflußreich würden.

Ein Freund Zschokke’s hatte im Laufe der Zeiten seine freisinnigen Ansichten zu verleugnen angefangen und als Milglied einer Cantonsregierung sich als Gegner der Preßfreiheit bewiesen. Als nun deshalb diesen Mann der öffentliche Tadel traf, wollte er sich in dem Schweizerboten rechtfertigen und als eine unentwegte Stütze der freien Presse darstellen. Zschokke warnte ihn und erbot sich, einige Aenderungen an dem Entwurfe der Rechtfertigung eintreten zu lassen. Das wollte der Verfasser durchaus nicht zugeben und verlangte eine wörtliche Aufnahme seines Aufsatzes. Zschokke sagte ihm dieselbe endlich zu mit dem Nachweis der Nothwendigkeit, in einem folgenden Stück des Schweizerboten einen Gegenaufsatz erscheinen lassen zu müssen. An der Hand von unwiderleglichen Thatsachen geschah dann auch das letztere, und für den Herrn Regierungsrath wurde der letzte Schaden größer, als der erste gewesen. Daß von da an die Freundschaft erkaltete, ist begreiflich.

Als bei der Neugestaltung der Dinge im Aargau (im Jahre 1830) die aristokratischen Staatsformen und Männer freisinnigern Grundsätzen und Persönlichkeiten weichen sollten, wurde ein Verfassungsrath gewählt und Zschokke zu dessen Vicepräsidenten ausersehen. Weil nun der Präsident nicht im Fall war, eine größere berathende Versammlung zu leiten, mußte Zschokke dessen Stelle einnehmen. Das sollte nicht sein. Zschokke erhielt demnach eine unterschriftslose Warnung, er möchte sich den Sitzungen des Verfassungsrathes entziehen, denn es seien Dolche gegen ihn in Bereitschaft. Vater Zschokke sah die Grundlosigkeit dieser Angabe ein und besuchte nach wie vor die Rathsversammlungen. Höchstens ließ er sich etwa von einem der Söhne begleiten.

Auf einem andern Wege gelangten seine Gegner indessen doch zum Ziele. Sie bewirkten, daß die Mehrheit des Verfassungsrathes in das Grundgesetz des Cantons die Bestimmung aufnahm: es dürfe kein Staatsamt an einen Solchen vergeben werden, der nicht geborener Schweizerbürger sei. Zschokke nahm daraufhin sofort seine Entlassung und ließ sich von seinem Entschlusse, auf dem Austritte zu beharren, nicht wieder abbringen, trotzdem, daß jene ihn verletzende Bestimmung in der nächsten Sitzung wieder beseitigt wurde.

Noch lange Jahre nach seinem Tode mußten Zschokke’s Söhne gegen einen argen Verleumder im Auslande gerichtlich einschreiten, um das Andenken des theuren Vaters rein zu erhalten. Der leichtfertige Mensch konnte sich dabei nur auf Hörensagen berufen, ohne Personen nennen zu können. Selbstverständlich wurde er verurtheilt, des Verewigten angetastete Ehre wieder herzustellen. Stille Heiterkeit aber verbreitete sich jedesmal über das Gemüth unsers Lehrers, wenn er erfuhr, daß dieser oder jener Geistliche, der sich vergessen konnte, ihn in Schrift und Wort zu verunglimpfen, immer wieder zu den „Stunden der Andacht“ seine Zuflucht nahm, um für seine Vorträge Stoff wie Form zu gewinnen. – Körperlich überragte er kaum das mittlere Maß, aber sein Gliederbau war fest und kräftig. Mit dem ziemlich raschen Fuß, dessen Zehen, wie beim Krieger, stark nach außen gerichtet waren, trat er fest auf. Ueber den breiten Schultern ruhte das Haupt mit breitem Gesicht und blühenden Wangen, langsam und ruhig, deutlich, stets in gewählter Ausdrucksweise und nicht lauter, als nöthig war, sprach er im gewöhnlichen Verkehr, wie auf öffentlicher Rednerbühne und begleitete seine Worte mit einem naturgemäßen, einfachen und würdigen Gebehrdenspiele, mit einem sichern, furchtlosen Wesen, welches dem Gefühl körperlicher Stärke und Gewandtheit ebensosehr wie dem Bewußtsein geistiger Ueberlegenheit und redlichen Strebens entstammte. In Beziehung auf seine Kleidung hielt er sich weniger an die Mode, als an Bequemlichkeit und Reinlichkeit. Oft machte er uns auf die Abgegriffenheit seines Hutes aufmerksam, sagend: „So ist’s in Freistaaten, wo Jeder dem Andern gleichsteht. Den Hut muß man fast mehr in der Hand, als auf dem Kopfe haben.“

„Er trat froh in Gott und überall in ihm und mit ihm zum Lebenswinter ein, jenseits dessen ihn kein Frühling mehr auf diesem Erdsterne erwartete. Er bereute nicht, gelebt zu haben.“ Des Geistes ungeschwächte Gesundheit fing an zu wanken im Jahre 1843. Im Winter von 1847 auf 48 und während des darauffolgenden Frühlings mußte er, zwar schmerzlos und nur in Folge großer Schwäche, die meiste Zeit im Bett zubringen. Doch blieb ihm auch jetzt noch die Heiterkeit des Gemüthes ungetrübt, wie die Schärfe des Gehörs und der Sehkraft, gleicherweise seine geistige Frische wohl erhalten. Schriftstellerische Arbeiten und der Briefwechsel mit Freunden unterblieben nicht; mit lichtvoller Klarheit sprach er zu den Seinen noch in den letzten Tagen von seinen religiösen Ueberzeugungen. Freundlich mit Wort und Hand, begrüßte er am Morgen des Todes, am 27. Juni 1848, die um das Lager sich versammelnden Seinigen und entschlummerte allmählich Schlag zehn Uhr in einem Alter von mehr als siebenundsiebenzig Jahren. Groß war die Zahl derer, die ihm am 30. Juni zum Grabe folgten. Voran schritten die Zöglinge der Taubstummen-Anstalt. Den Sarg deckte, nach seinem Wunsche, der Eichenkranz, den ihm einst, im Jahre 1828, Freunde zu Frankfurt a. M. gewunden.

Sein Grab im „Rosengarten“ zu Aarau deckt ein roher, unbehauener Marmorblock von schwarzer Farbe, um anzudeuten: es traure die nach höherem Lichte der Erkenntniß sehnsüchtig ausblickende Menschheit über seinem Staube.

Seine Nanny überlebte den Tod ihres Gatten beinahe zehn volle Jahre, rastlos den Sorgen um Kinder und Enkel obliegend. Wie die Biene, beladen mit der Bürde ihres Fleißes, in der Nähe ihrer Wohnung ermattet zu Boden sinken kann, so sank auch sie am 10. Februar 1858 von Aarau heimkehrend und am Hügel emporsteigend, in der Nähe der Blumenhalde kraftlos hin, raffte sich nach längerer Zeit wieder auf, schleppte sich heim und legte sich zu Bette. Als aber ihr Hochzeitstag (25. Februar) graute und sie die Todesstunde näher kommen fühlte, sagte sie: „Nun kann mich denn heute der Papa wieder als seine Braut empfangen!“ Hierauf an die Söhne gewendet: „Die eine Hälfte von Euch lasse ich noch auf der Welt zurück, die andere Hälfte finde ich dort oben wieder. O, wie freue ich mich, sie zu sehen!“

Um eilf Uhr, in der Stunde der Trauung, brach ihr Auge und die Glorie der Vollendung verbreitete sich über ihr entschlummertes Antlitz.



[649]
Das Rauhe Haus.[1]
Ein Charakterbild aus dem Reiche der innern Mission.
I.

Der ehemalige Candidat der Theologie, jetzige preußische Oberregierungsrath Wichern rief vor einigen dreißig Jahren den Hamburger Reichthum an zu Gunsten der armen Jugend, die in den berüchtigten Gängen und Höfen der Großstadt in leiblichem und geistigem Elend zum Laster heranreift. Sein Ruf fand Gehör, und auf Grund einer Schenkung von sechs Scheffelsaat Land und eines Legats von sechs oder sieben Tausend Thalern begann die Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder unter Wichern’s Leitung ihre Thätigkeit. So entstand das vielbesprochene, berüchtigte und berühmte Rauhe Haus in Horn bei Hamburg.

Jedoch nur einen Antheil an der Existenz des Rauhen Hauses hat die vielbewährte Hamburgische Philanthropie. Mitgewirkt hat dabei ein anderer Factor – der positive Glaube. Ja, dieser Factor spielt für den Bestand der Anstalt heute jedenfalls die Hauptrolle. Wie Herr Wichern die Kinder retten wollte nach einer bestimmten Methode, durch eine streng religiöse Erziehung, durch die Erziehung im specifisch christlichen evangelischen Glauben, so recrutirten sich auch die Gönner und Unterstützer seines Unternehmens schon von vornherein vorzugsweise aus den Kreisen der ihm gleichgesinnten Gläubigen. Solche Gläubige hat das genußfrohe, weltlich gesinnte, dogmatischen Subtilitäten abholde Hamburg nicht gar zu viele; aber rasch wandte sich dafür auch die sympathische, hülfebereite Aufmerksamkeit der glaubenseifrigen Partei in Deutschland auf das junge Institut. Die Verbindung des Rauhen Hauses mit dieser Partei mochte die Hamburger Philanthropie stutzig machen, was that’s? – in jener Verbindung erweiterten sich die Ziele und vergrößerten sich die Mittel. Aus der Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder wurde nach und nach ein Complex von Instituten, die sammt und sonders einer scharf markirten, nicht nur für Hamburg und Deutschland, sondern für die ganze evangelisch-christliche Welt berechneten Propaganda dienen.

Diese kosmopolitische Tendenz und Wirksamkeit der auf kleinstaatlichem Grunde erwachsenen Anstalt wird es rechtfertigen, wenn ein kosmopolitisches Journal wie die Gartenlaube Notiz von ihr nimmt und mir gestattet das Institut zu schildern.

An einem Nachmittage, zu Anfang Juli, wanderte ich nach dem Dorfe, Flecken, oder richtiger gesagt nach der Vorstadt, Horn hinaus. Ein Hügelland, die Abdachung der Geest zur Marsch, erstreckt sich von Hamburg stundenweit nach Osten. Dieser Saum, mit Häusern besetzt, bildet die Vorstadt Hamm, dem sich Horn dicht anschließt. Hat man die Hamburg zunächst gelegene Vorstadt St. Georg passirt, so führt eine Hauptstraße am Fuße jener Abdachung, eine zweite oben auf der Höhe hin; zwischen beiden Straßen an dem Hange selbst liegen die hübschen Hammer und Horner Häuser und Villen mit ihren Gärten, mitten unter ihnen, reichlich Fünfviertel Stunde von Hamburg, die Colonie des Rauhen Hauses.

Ich war die untere Straße entlang gegangen und trat durch ein offen stehendes hölzernes Pförtchen auf das von lebendigen Hecken umrahmte Gebiet der Colonie. Auf meine Mittheilung, daß Jemand da sei, der die Anstalt sehen wolle, ward mir dann ein ferner gelegenes Haus bezeichnet, wohin ich mich zu wenden habe, und ein Knabe lief vorauf, mich anzukündigen.

Nicht lange, so kam ein junger Mann, der sich mir als Führer vorstellte. Er war, wie ich nachher im Gespräche mit ihm erfuhr, ein Candidat der Theologie aus der Pfalz, einer der sechs sogenannten „Oberhelfer“, welche unter des Generals Wichern und des Vicegenerals Rhiem Leitung den theologischen Generalstab der Anstalt bilden.

Wir begannen den Rundgang mit der Capelle oder dem Betsaal. Es ist das ein größeres Gebäude, das ungefähr in der Mitte der nördlichen Front des Gartens, hart an der auf der Höhe hinlaufenden Straße, liegt. Schmale Bänke ohne Lehne stehen wohlgeordnet rechts und links in dem oblongen Raum, zu dem eine Art Vorhalle führt; in gemessenen Zwischenräumen liegt darauf je ein ziemlich abgegriffenes Buch, es ist das Gesangbuch der Zöglinge, von Bunsen zusammengestellt, vom Rauhen Hause verlegt. An den Wänden laufen Bänke hin für die Brüder; im Hintergründe sind die Plätze der Oberhelfer. In der Vorhalle finden wir neben Bildern aus der „heiligen Geschichte“ das Portrait des Dr. Sieveking, der im Jahre 1833 der Anstalt die sechs Scheffel Land schenkte, und das Portrait von Wichern’s Mutter. Mein Führer erläuterte, die Verstorbene habe sich sehr eifrig und aufopfernd der Zöglinge angenommen. Nachher erfuhr ich, daß auch noch andere Glieder der Wichern’schen Familie mit der Anstalt verknüpft sind. Seine Tochter ist an den Vorsteher des vom Rauhen Hause betriebenen Verlagsgeschäfts verheirathet; seine Schwester folgte einem Mitgliede der Brüderanstalt in’s Ausland.

Der Betsaal ist nicht nur seiner Lage nach der Mittelpunkt der Anstalt. Er ist überhaupt das Centrum, um welches sich das Leben der Colonie in strenger Regelmäßigkeit bewegt. Jeden Morgen um sieben ein halb Uhr versammelt man sich hier, um Andachtsübungen zu verrichten, die Zöglinge mit der Bibel in der Hand, auf eine Viertel-, eine halbe oder eine ganze Stunde. Abends um acht Uhr finden eben solche Andachtsübungen statt. Am Sonntag sind besondere Stunden der Erbauung im Betsaal; außerdem wird die nahgelegene Kirche in Hamm besucht. In der Advents- und Fastenzeit kommt zur Morgen- und Abendandacht noch eine Mittagsandacht.

Vom Betsaal führte mich der Oberhelfer zunächst in den westlichen Theil der Anlagen. „Hier,“ sagte er vor einem niedrigen Häuschen stehen bleibend, „hier wohnt eine unserer Knabenfamilien, das Haus heißt die ,Fischerhütte’.“ Der Name kommt von einem Wassertümpel, der nahe dabei liegt, wie denn jede der für die Knaben der Rettungsanstalt bestimmten meist in Schweizerstyl erbauten Wohnungen der bequemeren Unterscheidung halber ihren Namen hat.

Die Rettungs- oder Kinderanstalt, ursprünglich der einzige und noch heute der dem Besucher in die Augen fallendste Zweck des Rauhen Hauses, zählt gegenwärtig etwa hundert Zöglinge, zu zwei Dritttheilen Knaben, zu einem Dritttheil Mädchen, die ersteren in fünf, die letzteren in zwei Abtheilungen getheilt. Jede Abtheilung mit den ihr sich widmenden Erziehern heißt eine Familie. Die Zöglinge sind Kinder von ungefähr zehn bis sechzehn Jahren, großentheils in Hamburg zu Hause, theilweise aber auch aus andern deutschen Staaten gebürtig, Kinder, die von ihren Eltern der Anstalt übergeben, und andere, die ihr von irgend einer Commune überwiesen sind, Kinder, die vor ihrem Eintritt blos einer guten Erziehung entbehrten und in den ersten Stadien der Verwilderung standen, aber auch solche, die bereits wegen verschiedenartiger Vergehen der Polizei in die Hände gefallen waren oder gar Gefängniß- und Zuchthausstrafen verbüßt hatten. Die Anstalt nimmt die Kinder unentgeltlich auf, kleidet sie, nährt sie, unterrichtet sie, ohne daß irgend eine Zahlung dafür beansprucht würde.

Die „Fischerhütte“ wird von etwa zwölf oder vierzehn Knaben, vier Brüdern und einem Oberhelfer bewohnt. Zu ebener Erde befindet sich die gemeinsame Wohn- und Arbeitsstube, ein gemeinsames Schlafzimmer, und ein kleiner Raum zum Waschen und Ankleiden. Eine Treppe hoch unter dem kleinen Ausbau im Dach sind das Wohn- und das Schlafzimmer der Brüder und des Helfers. Am längsten verweilte ich in dem Wohnzimmer der Kinder; das Bücherbret der Knaben fesselte mich. Ich nahm ein Buch nach dem andern heraus; in jedem Fache standen dieselben Werke, und mein Führer bestätigte mir die Vermuthung, daß ich hier das gesammte Unterrichtsmaterial der Rettungsanstalt vor mir habe. Und worin bestand es? Zuerst fiel mir Luther’s kleiner Katechismus in die Hände, mit curiosen erläuternden Holzschnitten versehen, im Verlage des Rauhen Hauses erschienen. Dann kam derselbe Katechismus noch einmal, aber ohne Bilder. Ferner: das Hamburgische Gesangbnch; ferner: ein „Geistliches Gesangbüchlein“: ferner: achtzig Kirchenlieder der Regulative. Dann: „Unsere Lieder“, eine Sammlung, die im Verlag des Rauhen Hauses erschienen ist und neben religiösen auch vaterländische und andere weltliche Lieder enthält. Darauf: das Münsterberger Lesebuch. Ferner: ein neues Testament. Endlich: die Bibel.

„Auch die Bibel geben Sie den Kindern in die Hände?“ fragte ich den Helfer.

[650] „Die Bibel?“ sagte er mit einem Tone der Verwunderung, und fuhr dann fort: „Die Bibel ist der Grund und Text alles Unterrichts.“

Ich wollte mich nur belehren, hatte nicht die Absicht mich durch eine Diskussion stören zu lassen und antwortete dem Helfer also nicht, daß ich die Bibel mit ihren hie und da unsaubern und mit der Moral unserer Zeit in schroffem Widerspruch stehenden Geschichten nicht sehr geeignet hielt zum Handgebrauch für Kinder, zumal für solche, deren Lernbedürftigkeit und Wißbegierde auf so schmale Kost gesetzt sei, wie auf das Münsterberger Lesebuch[2] im Rauhen Hause.

An der Wand des Wohnzimmers hing ein Blatt, auf dem Bibelsprüche standen, Wochensprüche, ich glaube auch Jahressprüche, die immer und immer wieder hergesagt werden. Sprüche für diesen Zweck berechnet sind zusammengestellt in einem Büchlein, das den Titel führt: „die dreifältige Schnur“. Der Stundenplan vervollständigt die Einsicht in das Wesen des Unterrichts. Die Knaben bekommen wöchentlich neun Stunden religiösen (dogmatischen oder geschichtlichen) Unterricht; das Singen, fast lauter religiöser Lieder, muß man hinzurechnen, macht zwölf Stunden. Der Sach- und Sprachunterricht ist mit acht Stunden angesetzt, aber auch der letztere muß sich zum Theil um religiösen Stoff drehen, da die Kinder um anderen Stoff verlegen sein würden. Von Sach- und Sprachunterricht habe ich auf dem Plane für den Sommer nur zwei Stunden „Weltkunde“ gefunden und mir erläutern lassen, daß in diesen Stunden Geographie und Botanik getrieben wird. Dem Rechnen sind nur drei Stunden gewidmet; wenn die Fortschritte der Kinder darin von Angestellten des Rauhen Hauses besonders gerühmt werden, so darf man wohl annehmen, daß sie selber die Leistungen in Sach- und Sprachunterricht nicht hoch anschlagen.

Die Zöglinge sind, wie das in Bezug auf ihre Vergangenheit ohne Zweifel nothwendig ist, auch außer den Unterrichtsstunden unter steter Aufsicht. Sie sind nie sich selbst überlassen. Auch in dem übrigen Tagesleben spielt das religiöse Element noch seine Rolle. Mit einem Morgengebet beginnt um fünf Uhr früh der Tag; vor Tische wird gebetet, nach Tische desgleichen, ebenso Mittags und Abends. Am Mittwoch Nachmittag ist eine Plauderstunde unter Leitung eines Bruders anberaumt; ein Capitel aus der Bibel giebt das Material dazu her.

Von der Fischerhütte wendeten wir uns einer Reihe von Gebäuden zu, in welchen die beiden Mädchenfamilien der Rettungsanstalt untergebracht sind und sich die Unterrichtszimmer für die Knaben, Waschküchen der Gesammtanstalt und dergleichen befinden. Die Organisation der Mädchenfamilien ist ähnlich wie die der Knaben, nur leben statt der „Brüder“ „Schwestern“ mit ihnen zusammen. Ich fand die Schwestern mit ihren Zöglingen im Freien, beschäftigt, Wäsche zum Trocknen aufzuhängen. Viele der Kinder sahen ganz gesund aus und blickten unbefangen um sich her; hier und da leuchtete aus einem Paar kecker Augen freilich ein Weltsinn, von dem ich nicht zu sagen wage, wie er sich mit der religiösen Disciplin und Lehre von Inspector, Helfern, Brüdern und Schwestern verträgt.

In den Oekonomiegebäuden der Anstalt, die wir nun besichtigten, dem Backhaus der Colonie, der großen Halle mit Schneider-, Tischler-, Schuhmacher- und Schmiedewerkstätten zeugte Alles von einer trefflichen Organisation. Im nordwestlichen Winkel des Gartens steht ein stattliches Gebäude, das zu verschiedenen Zwecken dient. Im östlichen Flügel ist die Verlagsbuchhandlung des Rauhen Hauses, ein Buchhändlergeschäft en gros, das Detail- oder Sortimentsgeschäft befindet sich in der Stadt Hamburg, Hahntrapp Nummer fünf. Das Geschäft ist eilf Jahr später, als die Kinderanstalt, durch verzinsliche Capitalien, die von Freunden der Anstalt vorgeschossen wurden, begründet und hat in den einundzwanzig Jahren seines Bestehens einen außerordentlichen Umfang gewonnen. Nicht die Zahl der Verlagsartikel ist so sehr groß, aber die Anzahl der vertriebenen Exemplare muß ungeheuer sein. Die Schriften dienen bekanntlich dem Zwecke der innern Mission; wohlhabende und reiche Mitglieder der letzteren kaufen zumal die kleineren, billigen und populären Broschüren des Verlags und vertheilen sie gratis weiter; außerdem ist die Vertheilung dieser Schriften ein Hauptgeschäft der Stadt- und Landmissionäre; endlich giebt es besondere Colporteure, die mit „guten“ Schriften und „guten“ Bildern hausiren gehen. Mein Begleiter führte mich auch in diese Räume. Da lagen in Zimmern und Gängen die Verlagsartikel aufgestapelt an den Wänden zu Tausenden. In der Stube, die zugleich zum Comptoir und Laden zu dienen schien, waren auf einem Tische verschiedene Novitäten ausgebreitet: Schillingsbücher, Schriften Wichern’s, Broschüren der mecklenburger Fanatiker Kliefoth und Krabbe, wenn ich nicht irre, u. A. Der Novitätentisch ist wohl lediglich berechnet auf die Besucher der Colonie, die aus der Nähe und besonders aus der Ferne in den Sommermonaten in großer Zahl sich einfinden.

In dem mittleren Theile des Gebäudes befindet sich die Brüderanstalt des Rauhen Hauses. Hier ist sehr wenig zu sehen: Hörsäle, Wohnzimmer. Der größte Theil der Brüder wohnt ja auch in den im Garten zerstreut liegenden Familienhäusern der Knaben, oder in dem Pensionate, wovon sogleich die Rede sein wird. Dennoch ist gerade die Brüderanstalt das bemerkenswertheste Institut des Rauhen Hauses. Sie und der Verlag geben dem Hause seinen eigentlichen Charakter. In beiden prägt sich der Geist, der in den Gesammtbestrebungen waltet, am schärfsten aus; der Geist – ich kann ihn hier einstweilen nicht näher bezeichnen, als der Geist der innern Mission. Auch was die Wirksamkeit betrifft, so überragen Brüderanstalt und literarische Propaganda alles Andere weit; das Andere dient ihnen. Nur der ganz oberflächlich in die Anstalt blickende Besucher kann sich täuschen lassen und glauben, die Kinder-Rettungsanstalt sei die Hauptsache oder ein vom Ganzen abzulösendes Institut.

Mein Begleiter-Oberhelfer, der es sonst als wohlgeschulter Cicerone an erläuternden Bemerkungen nicht fehlen ließ, widmete der Brüderanstalt auch nur ein paar Worte. Ich flechte über die Organisation derselben also in der Kürze das Nöthige ein, was aus den Berichten Wichern’s und aus der bekannten Broschüre Holtzendorff’s, respective der Entgegnung des Bruders Oldenberg erhellt.

Das Wesen der Bruderanstalt des Rauhen Hauses ist mit einem Worte schwer zu definiren. Man hat sie ein Seminar für Sendboten und Jünger der innern Mission genannt; aber man erschöpft damit bei Weitem nicht ihre Bedeutung. Holtzendorf nennt sie einen protestantischen Orden (im Staatsdienst), was die Vertreter des Rauhen Hauses zu einer eifervollen Verwahrung gegen das Wort „Orden“ und zu einer sorglichen Hervorhebung der Unterschiede zwischen der Brüderanstalt und katholischen Orden veranlaßt hat. Nun, ein katholischer Orden ist die Brüderschaft allerdings nicht; Holtzendorf hat das aber auch nicht behauptet. Sagen wir, um jedem Wortstreit aus dem Wege zu gehen: die Brüderschaft ist ein Bund, ein Verein, dessen Mitglieder gelobt haben, sich ausschließlich der Arbeit der innern Mission zu widmen, oder eine Genossenschaft, die sich um das Rauhe Haus als ihren Mittelpunkt gesammelt hat, um, wie die „Ordnungen“ der Brüderschaft selber in dem Missions-Jargon sagen, „um dem Herrn in seiner evangelischen Kirche und zwar in der evangelischen Kirche Deutschlands zu dienen, damit auch durch ihren Dienst innerer Mission das Reich Gottes in unserm Volke gebaut werde in Kraft seines heiligen Namens und in Erweisung der barmherzigen Liebe, die aus dem Glauben stammt und an welcher der Herr einst die Seinen erkennen wird.“ Die Mitglieder dieses Bundes bestehen aus Hausbrüdern, Sendbrüdern und Freibrüdern. Die Ersteren sind diejenigen, welche sich im Mutterhause in Horn befinden; Ende 1863 – für 1864 ist noch kein Bericht erschienen – ungefähr vierzig; der Sendbrüder, d. h. der nach auswärts gesandten, waren zu eben dieser Zeit etwa zweihundert und sechszig; die Freibrüder bilden eigentlich eine Kategorie für sich, sie sind eine Art von Ehrenmitgliedern des Bundes, die sich angeschlossen haben, aber in ihrem bürgerlichen Berufe bleiben. Die Organisation des Bundes ist die folgende: An der Spitze der Verwaltung steht eine Section des Verwaltungsrathes des Rauhen Hauses, Vorsitzender Wichern; dies Curatorium führt die Verwaltung und Oberaufsicht über den ganzen Bund. Unter ihm besteht ein Ober-Convict, Ober-Convictmeister Wichern; die Mitglieder desselben heißen „Oberbrüder“; es leitet die Wirksamkeit des ganzen Bundes und erhält die Disciplin in demselben; ein Helferconvict, der besonders die schriftlichen Angelegenheiten der Brüderschaft besorgt, steht ihm zur Seite. Das Gros der Bundesmitglieder ist dann in Convicte getheilt; mehrere Convicte bilden einen Convent. Es giebt geschlossene Convicte, aus Brüdern bestehend, die in einer Anstalt [651] oder sonst nahe beisammen wohnen, und Correspondenz-Convicte, aus Brüdern bestehend, die zerstreut leben. Die Convicte und Convente führen meist biblische Namen; so heißt der Convict des Königreichs Sachsen Salem, der Convent in Moabit (Berlin), der aus sechs Convicten besteht, Ebenezer, im Rauhen Hause selbst sind die sechs Convicte Bethlehem, Nazareth, Bethel, Cana, Emmaus und Tabor, die den „Convent des Brüderhauses“ bilden. An der Spitze jedes Convicts steht ein Convictmeister, vom Oberconvict eingesetzt; ohne Concession des Oberconvicts kann sich kein Convict bilden und keiner auflösen. Die „geschlossenen“ Convicte versammeln sich regelmäßig zu gewissen Zeiten, mindestens alle sechs Wochen, sonst alle vierzehn Tage. Die Sitzungsprotokolle sendet der Convictmeister an den Bundes-Obersten, Wichern, dieser sie mit seinen Randbemerkungen versehen zurück an den betreffenden Convict. Die Verhandlungen in den Convictversammlungen gelten als Familienangelegenheiten der Brüderschaft; gegen Nichtbrüder darf davon nicht gesprochen werden.

Die sechs Convicte in Horn sind nun zugleich die Pflanzschule des Bundes. Aus jungen Männern zwischen zwanzig und dreißig Jahren, meist dem Handwerker- und Lehrerstande angehörig, natürlich vor allen Dingen vom rechten Glauben beseelt, recrutirt sich der dortige Convent, sobald der Abgang eines Mitgliedes als Sendbruder eine Lücke reißt. Sie werden vom Vorsteher Wichern, vom Inspector Rhiem und von den Oberhelfern unterrichtet und geschult, als Gehülfen der Kinderanstalt ein paar Jahre praktisch ausgebildet, um dann gleichfalls als Lehrer, als Missionäre, als Gefangenwärter, Krankenpfleger, Hausväter und Gehülfen in anderen Rettungshäusern in die Welt zu gehen. Die „Ordnungen“, nach denen Leben und Wirken der Brüder geregelt ist, zeugen sowohl von dem „frommen“ als von dem praktischen Sinne Wichern’s, der ohne Zweifel an der Aufstellung dieser Ordnungen den hervorragendsten Antheil hat. Zum täglichen Gebet und täglichen Bibelgebrauch, zur gemeinschaftlichen, periodisch zu wiederholenden Fürbitte für den Erfolg des Bundes und für die Ausbreitung des Reiches Gottes unter den Heiden, zum regelmäßigen täglichen Gebrauch der schon erwähnten „dreifältigen Schnur“, zur fleißigen Theilnahme an den sogenannten Gnadenmitteln der Kirche verpflichten sich die Brüder wie für Alles, was ich gleich anführen werde, durch Handschlag und Namensunterschrift, und werden durch Verweis vom Vorsteher Wichern, in zweiter Instanz vom Oberconvict durch Exclusion und Verlust des Anspruchs an die gemeinschaftliche Hülfscasse bestraft. Sie sind in ihrem Missionsberufe je ihren unmittelbar Vorgesetzten, resp. dem Vorsteher zu Gehorsam verpflichtet; Jedem wird bei der Entsendung bekannt gemacht, wann er sich verheirathen kann; will er zur Verlobung schreiten, so hat er dem Vorsteher der Brüderschaft zuvor vertrauliche Anzeige zu machen; Jeder hat die Verbindung mit dem Brüderhause durch Correspondenz mit dem Vorsteher, durch Entrichtung des „Bruderthalers“ an die gemeinschaftliche Hülfscasse, durch Bericht über seine Convictbrüder, wenn diese vielleicht Aergerniß geben und in Gefahr sein sollten, irre zu gehen und zu fallen, an den Vorsteher, durch Ueberwachung und sittliche Förderung der ihm etwa beigegebenen jüngeren Gehülfen, durch Anrufung des Vorstehers in Collisionsfällen, aufrecht zu erhalten; Jeder verpflichtet sich, ohne Consens seiner Vorgesetzten keinerlei fremdes Amt oder Handlung neben dem ihm anvertrauten Berufe zu treiben.

Ob man diese wohl- und festgegliederte Verbindung einen Orden nennen darf? Ich überlasse die Entscheidung dem Leser und fahre in dem Bericht über meine Wanderung fort.

An das Brüderhaus stößt das Pensionat, der westliche Flügel des mehrerwähnten Gebäudes. Hier werden Knaben bemittelter Eltern gegen Kostgeld als Zöglinge aufgenommen. Im Gegensatz zu den Eleven der eigentlichen Rettungsanstalt sind es lauter Fremde, etwa zwanzig, Hamburg hat zu dem gegenwärtigen Bestand keinen einzigen geliefert. Der Oberhelfer sagte mir mit einer gewissen Genugthuung, daß Söhne sehr vornehmer Leute, Kinder von Grafen und Baronen, darunter seien. Ein paar aus Kurland; woher die andern waren, die er nannte, habe ich vergessen. Es sind Knaben, deren Erziehung den Eltern schwierig wurde. Die Einrichtungen im Pensionat sind denen in der Kinderanstalt ähnlich, nur bemerkt man, daß bei aller Einfachheit die Rücksicht auf Sparsamkeit nicht so maßgebend war. Auch der Unterricht ist umfassender, er soll einem Gymnasialunterricht bis zur Secunda (einschließlich) ungefähr gleich stehen. Die Pensionäre unterliegen derselben religiösen Disciplin, wie die Kinder der Rettungsanstalt und werden auch in körperlicher Arbeit geschult.

Wir gingen nun quer durch die Colonie, an im Garten arbeitenden Kindern vorüber, mit denen sich zu unterhalten dem Fremden indeß nicht gestattet ist, vom nordwestlichen Winkel nach dem südöstlichen.

„Ist das Wichern’s Wohnung?“ fragte ich, als wir in die Nähe eines schönen, leuchtend weiß angeworfenen Hauses gelangten, auf das ich schon vor meinem Eintritt in die Colonie auf der Horner Straße von einem Vorübergehenden, den ich nach dem Wege fragte, aufmerksam gemacht war.

„Das ist die Wohnung des Herrn Doctor Wichern,“ entgegnete der Oberhelfer; „er lebt im Sommer hier, den Winter über in Berlin.“

„Man darf ja wohl etwas näher treten, um sich die hübsche Villa ein bischen anzusehen ?“ sagte ich und bog auf den Weg zu, der in das die Wohnung vollständig umrahmende Gebüsch führte.

„Nein,“ sagte der Oberhelfer eilig, „das Gebäude ist lediglich Privatwohnung, das geht nicht an.“

„Nun,“ erwiderte ich stehen bleibend, „ich beabsichtige auch gar nicht, in die Privatwohnung zu dringen, aber einen Blick aus größerer Nähe auf das Haus zu werfen, wird doch verstattet sein?“

„Ich bedaure, auch der Garten ist Privatgarten,“ sagte der Candidat, „das Haus wie der Garten ist Eigenthum des Herrn Doctor Wichern und liegt zwar hier am Rande der Anstalt, gehört aber derselben nicht.“[3]

Also weiter! Ungefähr in der Mitte des Gartens liegt die Druckerei des Rauhen Hauses; abermals ein geräumiges, seinem Zwecke wohl entsprechendes Gebäude. Sie druckt zunächst die Schriften der Verlagsbuchhandlung, nimmt aber auch anderweitige Aufträge an. Sie steht unter einem Factor, und der Gewinn, den sie macht, ist für die Kinderanstalt bestimmt. In ihr, wie in der dicht dabei liegenden Buchbinderei, werden auch Zöglinge unter Leitung von Brüdern im Setzen, Drucken und Buchbinden unterwiesen.

Im südöstlichen Winkel fand ich das Häuschen, das der ganzen Anstalt den Namen gegeben hat – Rauhes Haus. Es war das einzige Gebäude, das im Jahr 1833, wo die Anstalt begründet wurde, auf dem geschenkten Terrain stand, ein Schweizerhäuschen mit Strohdach, von breitastigen, alten, schönen Bäumen beschattet. Wichern und seine Mutter wohnten hier mit den ersten Zöglingen. Um die Erinnerung an das allmähliche Emporwachsen der Anstalt aus winzigen Anfängen zu wahren, hat man es in seiner ursprünglichen Gestalt gelassen. Die Pietät ist wohlbegründet, und der Contrast zwischen einst und jetzt, wo sechzehn bis zwanzig Gebäude auf dem ehedem beinahe wüsten Terrain stehen, frappant. Das Häuschen mit Strohdach hieß eigentlich Ruge’s Haus, nach dem Namen eines früheren Besitzers; Ruge’s Haus ward im Laufe der Zeit verhochdeutscht in Rauhes Haus, und die Leiter der Rettungsanstalt adoptirten diesen Namen. Jetzt dient es als Familienhaus für Knaben.

„Für das Crucifix scheinen die Herren Brüder eine besondere Vorliebe zu hegen,“ äußerte ich zu meinem Begleiter, indem wir das Zimmer der Brüder des ,Bienenkorbs’, eines andern Familienhauses, verließen und die Treppe hinunterstiegen – über den Pulten hing nämlich hier wie fast überall ein Bild des Gekreuzigten[4]

„Aber Sie werden das doch nicht antiprotestantisch oder katholisirend finden?“ sagte der Oberhelfer.

„Darauf reflectire ich nicht,“ erwiderte ich, „ich finde es nur charakteristisch für den hier herrschenden Geschmack.“

Wir näherten uns nun wieder dem Mittelpunkt, von dem wir ausgegangen waren, dem Betsaal und der Inspectorwohnung. Damit war unser Rundgang beendet. Wohl hatte ich den Wunsch, dem Unterrichte beizuwohnen, und sprach ihn auch aus. Mein Begleiter erklärte mir jedoch, daß das nicht gestattet sei, außer auf besondere höhere Erlaubniß, zu besonderem Zweck. Da ich keinen Zweck angeben konnte, als die Wißbegierde oder Neugierde eines Schriftstellers, so mußte ich verzichten. Der Candidat ersuchte mich noch, in das Fremdenzimmer der Inspectorwohnung zu treten, um meinen Namen in ein für diesen Zweck bestimmtes [652] Buch zu zeichnen. Ich hatte Nichts dagegen. Im Zimmer stand eine Büchse zur Aufnahme der freiwilligen Gaben der Besucher. Zur Casse des Rauhen Hauses – wenn auch nur ein paar Schillinge – beizusteuern, konnte ich mich jedoch nicht entschließen. Ich dankte dem Oberhelfer aufrichtig für die Mühe, die er mehrere Stunden lang durch mich gehabt, und schied. –

„Aber – ein paar Schillinge hätten Sie doch in die Büchse werfen sollen, sei’s auch nur Anstands halber,“ sagte eine zufällig anwesende Freundin meiner Frau, als ich nach der Heimkehr von meinem Besuch im Rauhen Hause erzählte.

„Verehrte Frau,“ entgegnete ich ihr, „ich glaube, Ihre Bemerkung richtet sich selbst. Eine Gabe der Sympathie wagen Sie mir nicht zuzumuthen, aber die Gabe des Anstands soll ich nicht versagen? Ich denke, daß solche mit kaltem Herzen gereichte Anstandsgaben uns sehr wenig ‚anstehen‘. O über die Anstandsrücksichten und das sogenannte anständige Handeln! Eine lange Vorlesung ließe sich darüber halten, den Männern und den Frauen! Der Anstand, dies hohle Wort, beherrscht unser Leben. Um des Anstands willen scheuen wir es, offen und rückhaltlos Partei zu ergreifen, um des Anstands willen verbergen wir unsere Ueberzeugungen, um des Anstands willen unterstützen wir sogar unsere schlimmsten Gegner!“

„Schlimmsten Gegner?“ sagte unsere Freundin; „aber sollten wir in der Anstalt des Rauhen Hauses denn blos etwas Gegnerisches finden und nicht auch etwas uns Verwandtes? Ich habe keine Vorliebe für diese Methode der Rettung verwahrloster Kinder. Die Erziehung, wie Sie dieselbe schildern, ist mir viel zu fromm, viel zu religiös, viel zu pietistisch. Ich mag nicht dies unablässige Beten, dies herzbrechende Seufzen über die Sünde, dies hirnverdrehende und geisttödtende Aufsagen biblischer Sprüche. Ich meine, daß verständige Belehrung, menschlich-liebreiche Behandlung, freundliche Gewöhnung an regelmäßiges Arbeiten ohne den Glaubensapparat besser den Zweck der Rettung verlorner Kinderseelen erreichen würden, als Herrn Wichern’s Methode. Aber ich dächte, wie der Zweck und das Ziel der Rettungsanstalt – das Retten überhaupt – ein edles wäre, so hätten Sie auch in Ihrer Erzählung anerkannt, daß in der Anstalt Manches zu loben sei. Steht diese Anerkennung nicht im Widerspruch mit einer Feindseligkeit, die auch die kleinste Gabe versagt?“

„Ich denke nicht,“ erwiderte ich. „Doch zur Verständigung darüber werden wir nicht zwischen Thür und Angel“ – die Freundin war aufgestanden und hatte den Hut genommen – „gelangen. Erinnern Sie mich, wenn wir uns wiedersehen, daß ich Ihnen eine Antwort schuldig geblieben bin.“




Land und Leute.
Nr. 22. Ein verstecktes Paradies.

Mit jedem Sommer werden die Touristenschwärme dichter, welche sich über die Alpen ergießen; auf jedem Steg erwartet man den grünen Hut eines Berliner Gemsenjägers, der nach jöttlichen Sennerinnen späht; von den Höhen flattert der blaue Schleier englischer Ladies, und doch giebt es noch stille Winkel, wo noch kein befrackter Kellner nach Fremden auslugt, noch nicht die Bevölkerung sich rüstet, für die schöne Landschaft Geld einzunehmen. Wir kennen manchen solchen Winkel; einer der schönsten …

Montavonerin mit dem Mäßle.

Verlassen wir außerhalb Bludenz in Vorarlberg die Straße zum Arlberg und wenden wir uns gegen den föhrenbewachsenen Felsen, der sich zwischen Ill und Alfenz vorschiebt, so kommen wir bald in enge Schluchten, an tosenden Bergwässern vorbei, bald zu Wiesenthälern von ganz eigenthümlichem Schmelz. Prächtige Buchenwälder bilden ihren Saum, und rings tönt der Klang der Heerdeglocken herab. Es ist eine schöne, milde Gegend, die der Fuß des Wanderers zögernd durchschreitet, bald rückt jedoch der Abhang rechts und links wieder näher an den Fluß, der stellenweise den Boden mit Geröll übergossen hat und voll stürmischen Ungestümes an die Felsen schlägt. Noch einige Schritte, und wir haben Tschagguns und Schruns, den Hauptort des Montavon, vor uns. Diese Dörfer sind zu beiden Seiten der Ill in der anmuthigen Weitung des Thales hingestreut. Die fleißige Hand des Menschen ließ keine Scholle unbenützt, die Halden und Bergterrassen sind weit hinauf mit Höfen, Kornfeldern und Obstbäumen bedeckt. Wie mag es hier im Frühling duften, wenn der Blüthenschnee aus allen Kirschbäumen, die sogar zu einer Allee vereinigt sind, niederregnet; wie mögen die rothen und schwarzen Früchte locken, wenn die Julisonne brennt! Die Montavoner denken aber auch an den Winter, sie brennen viel und vortrefflichen Kirschengeist, Chrisiwasser, was an das lateinische Wort cerasus mahnt. Die Schrecken der Alpenwelt sind dieser glücklichen Gegend ziemlich fern gerückt, die Spitzen, welche majestätisch vom Rhätikon niederschauen, lassen sie nur ahnen; wer sie genießen will, möge sich in die Seitenthälchen wagen, die zum Theil schluchtartig nördlich gegen die Ill abfallen. Sehr empfehlenswerth ist der Uebergang durch das Rellsthal in

[653]

Montavonerin mit dem Schäpele.

[654] die Schweiz, man gelangt dabei an den Lünersee, dieses Juwel der Alpen Vorarlbergs, der sechstausend Fuß über dem Meer in seinem klaren, blaugrünen Wasser die scharfen Kanten und Grate der Kalkfelsen spiegelt. Der Geognost und der Botaniker werden nebenbei durch eine reiche Ausbeute belohnt.

Was auf den ersten Blick befremdet, ist nicht der Unterschied der Gegend von den Thälern des nachbarlichen Tirol; die geologische Unterlage des Thonglimmerschiefers, Glimmerschiefers und Gneises hat hier wie dort ähnliche Formen und eine ähnliche Vegetation bedingt, wohl aber manches Eigenthümliche im Bau der Häuser. Diese stecken nämlich in einem Schuppenpanzer von braunen Schindeln, welcher jede Wand überzieht. Die Fenster sind groß und blank, die Läden meistens grün angestrichen. Diesem Baustyl begegnet man übrigens auch im Allgäu und dem benachbarten Prettigau. Betritt man das Innere des Hauses, so wird man durch die große Reinlichkeit überrascht, während in Tirol manchmal der Schmutz wie in Polen das fünfte Element zu sein scheint. Der Boden ist blank und weiß, das eindringende Licht wird durch feine Vorhänge gebrochen, im Fremdenzimmer prangen meist polirte Möbel von hartem Holze. Der Montavoner ist nüchtern und sparsam, mit großer Findigkeit weiß er Erwerbsquellen aufzuspüren. Selten kommt ein Fremder in das Montavon, um so häufiger gehen Montavoner in die Weite. Im Frühjahr ziehen sie truppweise nach Westen, insbesondere nach Frankreich, wo sie als Maurer sehr geschätzt werden und blanke Louisd’or holen. Der Montavoner ist daher bei aller Liebe zur Heimath ein Kosmopolit; nicht ohne Selbstgefälligkeit spricht er den Touristen französisch an und freut sich, wenn dieser staunt. Jene Schafsmäßigkeit, mit der sich der Tiroler von ultramontanen Leithämmeln für verschiedene Zwecke, die wahrlich nicht im Christenthum, dieser Religion der Liebe, wurzeln, ausbeuten läßt, hat er längst abgelegt, aber nicht die Achtung vor dem Priester, welcher seinem Beruf würdevoll obliegt. Diese Achtung wird nicht als selbstverständlich betrachtet, sondern muß verdient werden. Das Ordinariat hütet sich, Priester aus Tirol zu senden; es wählt Eingeborene, welche Land und Leute kennen und zu behandeln wissen.

Einen sehr guten Erwerb gewährt dem Montavoner die Viehzucht mit ihren verschiedenen Producten. Sie wird nicht auf eine so ursprünglich rohe Weise betrieben, wie in manchen Gegenden Tirols, sondern sehr verständig. Man hat die herrlichste Race des Schweizerrindes hier angesiedelt und noch veredelt; dem Oekonomen, der die Märkte besucht, muß das Herz im Leibe lachen, wenn er die prächtigen glatten Thiere beschaut oder ihnen auf den Rücken klopft. Kaufte doch erst jüngst Herr Tschavoll aus Feldkirch eine Kuh um 100 Kronenthaler! Die reinliche Milchwirthschaft liefert vorzügliche Producte; die Käse Montavons erfreuen sich weitum eines guten Rufes. Auch der Verkauf gedörrten Obstes bringt manchen schönen Gulden in das Thal. Ja, die Montavoner verstehen es fast so gut wie die Schweizer; Vorarlberg würde sich überhaupt nach Sinn und Art der Bewohner zu einem Canton eignen; es kennt keinen Adel, und ein protziger Junker könnte hier höchstens eine Tracht Schläge, aber keine Complimente holen. Darum wollen auch die feudalen und clerikalen Tiroler nichts von den Leuten jenseits des Arl wissen, diese haben aber auch nie eine große Sehnsucht nach dem berüchtigten Glaubenseinheitspferch gezeigt.

Im Montavon ist übrigens nur die Sprache deutsch, Körperbau und Gesichtsbildung würde die romanische Abstammung beweisen, lägen auch nicht dafür zuverlässige Urkunden vor. Fast alle Ortsnamen klingen romanisch; vielleicht erst in Mitte des vorigen Jahrhunderts gelang die Entwelschung vollständig. Mancher Rest des alten Welsch befremdet aber auch jetzt noch im Gespräch mit Montavonern. So heißt balöri (italienisch balordo) Tölpel, parlotscha (parlare) unverständig reden, allert heiter, späuslig (sposo) Bräutigam, spausa (sposa) Braut und ähnliches mehr. Ueber den Charakter des Montavoners sagt der bekannte Beda Weber: „Die Montavoner, aus urältester Zeit frei und ungeknechtet, alle feudalistische Leibeigenschaft mit echt keltischem Trotz von sich stoßend, sind der lebenskräftigste und rührigste Volksstamm Vorarlbergs, ebenso heiter und funkensprühend wie scharfsinnig und gedankenreich mit allem Heimweh der Schweizer für ihr grünes Thal, in ihren Gesichtszügen auffallende Spuren von Aehnlichkeit mit der rhätischen Bevölkerung Obrrinnthals und Engadins nachweisend, aber vom guten Geiste der rheinländischen (sollte wohl heißen: schwäbischen) lebenswarmen Volkstümlichkeit vergeistigt und verklärt.“

Die Geschichte Montavons zeigt uns kein Ereigniß von Bedeutung; die Romantik des Mittelalters mit ihren brutalen Rittern, Leibeigenen und Mönchen hatte in diesem demokratischen Völklein nie Wurzel gefaßt; 1809 zogen seine Söhne zwar mit dem Stutzen aus, doch heftet sich an ihren Ausmarsch leider eine blutige Erinnerung: der gräuliche Mord des Beamten Indermaur zu Bludenz.

In den Sitten zeigt sich manches Eigenthümliche; wir erwähnen vor Allem den prächtigen Tanzreigen, welcher, einigermaßen dem steirischen Ländler ähnlich, sich doch in einem viel rascheren Tempo bewegt und an Grazie unsere einförmigen Walzer und Polkas weit übertrifft. Die Männer haben längst ihre Volkstracht abgelegt und sich dafür bürgerlich costumirt, wie es sich für so viel gereiste Leute ziemt.

Aber die Montavonerinnen?

Wir waren bisher so unartig, dieselben kaum zu erwähnen, dafür soll jetzt um so länger davon die Rede sein. Ja, die Montavonerinnen! Da giebt es prächtige Meiggen mit der vollen Gluth des Südens im Auge und der leichten Elasticität des Bergmädchens in den Gliedern. Man trifft wirklich sehr schöne Gesichtchen, nur den Mund sollten sie nicht oft aufmachen. Sie schwätzen zwar ganz allerliebst, leider gleichen die Zähne nicht selten den spitzen Ruinen eines abgebrannten Dorfes. Man giebt als Ursache dieses häßlichen Fehlers den häufigen Genuß des heißen gekochten Obstes an. Sei dem, wie ihm wolle, wenn sonst nichts mangelt, kann man sich allenfalls beruhigen; die Montavonerinnen sind brave Hausfrauen und bringen meistens schöne Batzen zur Aussteuer, womit man allenfalls ein Gebiß in Golddraht kaufen kann.

In der Kleidung behielt die Montavonerin die alte Volkstracht bei; Stück für Stück in Zucht und Ehrbarkeit zu mustern, überlassen wir einem Freunde, der sich von seiner wackern Frau die einzelnen Theile der Toilette benennen und erklären lassen konnte. Der Leser möge mit dem Wort die beigefügten Abbildungen vergleichen. Das hohe, schwarze Ding, das so imposant, fast ehrfurchtgebietend auf dem Kopfe sitzt, ist das Mäßle, sonderbarer Weise auch die grüne Kappe genannt. Es gleicht einem Männerhut ohne Krempe, oder der Mütze eines griechischen Popen und deckt die ganze Fülle des Haares, nur eine einzige Locke quillt an den Schläfen darunter hervor. Das Mäßle ist übrigens nichts Originelles, sondern nur der Rest einer früher weitverbreiteten Tracht, vielleicht ursprünglich alemannisch. Scherer’s Costümbilder von Tirol zeigen die Mädchen vom Lechthal und Pfaffler noch am Beginn dieses Jahrhunderts damit geschmückt. Es ist überhaupt falsch, den sogenannten Volkstrachten ein hohes Alter und lange Dauer zuzuschreiben. Sie ändern sich von Zeit zu Zeit, freilich nicht so schnell, wie die Anzüge der Modejournale. Das sehen wir auch in Montavon. Noch vor wenigen Jahren pflegten die Frauen ihr dunkles Haar vorerst in eine weiße Haube zu fassen, auf welche dann das Mäßle so gesetzt wurde, daß die „Kappathusa“, eine eiförmige Spitzenhaube, hervorquoll, die allerliebst das Gesicht umrahmte. Um den Hals schlingt die Montavonerin ein kleines Seidentüchlein so lose, daß das rothe Collier noch hervorblitzt. Früher waren Mieder und Rock hellroth, heutzutage sind Spenser (Tschopa), Mieder und Rock von Schafwolle und dunkelbraun, die Schürze blauer Baumwollstoff. Der Tschopa ist am Halse und vorn mit einem breiten Seidenband eingefaßt, der rechte Aermel umgelitzt, damit ja die hochrothe „Blegi“ und die paar Rosettchen darauf ersichtlich seien. Das Mieder reicht bis zu den Lenden, seine Ränder sind ebenfalls mit einem breiten, seidenen Bande gesäumt und schließen das Brusttuch, einen länglichen, dreieckigen Pappendeckel, ein, der mit rothem Seidenstoffe überzogen ist und nicht selten mit allerlei Zierrath prangt, etwa einer Goldborte am oberen Rande, oder einem bunten, seidengestickten Blumenstrauße in der Mitte. Der Brisnestel, ein rothseidenes Band, steigt von einem Oehr zum andern im Zickzack über den Busenpanzer zum Hals. Die ziemlich faltenreiche Juppa ist an ihrem unteren Rande wieder von einer breiten, rothen Blegi geschmückt und auch der berüchtigte Reif fehlt bei mancher ländlichen Kokette nicht. Einige Eitelkeit verräth der hochrothe Strumpf, der sich mit manchem schönen Strickmuster um die dralle Wade schmiegt. Früher wurde er auch in Tirol getragen, jetzt sieht man ihn nur hie und da noch im Vinschgau; wie denn auch die Bauern [655] nach und nach den grellen Farben entsagen, welche früher selbst Männer mit Vorliebe wählten.

So ist das eigenthümliche Costüm der Montavonerinnen, welches sie, natürlich an Sonntagen von etwas besserem Stoffe und mit mehr Aufputz, durchschnittlich tragen, sie müßten aber keine Weiber sein, wenn nicht für außerordentliche Gelegenheiten noch irgend ein besonderes Stück im Kasten läge. Wer das vermuthet, schießt nicht fehl; am Frohnleichnamsfeste und bei Hochzeiten kann er einen uralten Schmuck sehen.

Das „Schäpele“, dessen schon das Nibelungenlied erwähnt, ist das Kleinod der Montavoner Jungfrau, die es von ihrer schwäbischen Nachbarin entlehnte. Es ist ein mit Glasgemmen geschmückter Reif, der ein Krönlein aus Filigranarbeit trägt, ein funkelndes Krönlein von Gold, Silber und farbigen Steinen, welches auf das zurückgestrichene Haar gesetzt wird. So eine schäpeltragende Montavonerin bildet sich auch Etwas ein, sie ist unstreitig eine glänzende, feiertägliche, farbenvolle Erscheinung, fast wie ein bunter Falter, der von Blume zu Blume schwebt. Vom Feuerroth des Brustlatzes und der Schürze hebt sich das Schneeweiß der bauschigen Hemdärmel und manchmal spitzengesäumten Schürze scharf ab. Um die Achsel schlingt sich ein buntes Sammtband mit einer Masche auf der Schulterhöhe, vom gleichen Stoffe ist auch das Schurzband, das vorn in einer großen Schleife auf den Schooß niederflattert. Rothblaue, breite Bänder wallen rückwärts von den Zöpfen über das kirschrothe Mieder bis auf den Saum der schwarzen Juppe hinab.

Die Braut flicht ihren „Hostig-Schäpel“ (Hochzeitskranz) aus Rosmarin, einer Pflanze, welche bei allen Festen des Landvolkes eine große Rolle spielt. Der Bauernbursch steckt gern eine Blutnelke mit einem Zweiglein Rosmarin auf den Hut, den ihm sein Mädchen gespendet; Todte bespritzt man mit einem Zweiglein Rosmarin, das man in Weihwasser getaucht, und vollends bei Hochzeiten darf diese aromatische Pflanze nie fehlen. Nach der Trauung setzt die junge Frau ihren Rosmarinzweig in die Erde, und „verpaßt“ (verwelkt) er, so ist es ein schlimmes Zeichen, aber ein gutes und glückverkündendes, wenn er von Neuem ausschlägt, frisch ergrünt und zum stattlichen „Maiastock“ heranwächst. Dann bricht sie gern alle Sonntage ein „Stifle“ davon ab, um es hinter dem „Brisnestel“ vor den Busen zu stecken.

Werfen wir noch einen Blick in das Silberthal, aus welchem der Litzbach heraushüpft – ein lustiger Montavonerbub – und steigen wir nach Schruns hinab. Die steinernen Häuser geben dem Ort fast ein städtisches Aussehen; wichtige Denkmäler alter oder neuer Kunst würde man vergebens hier suchen, so wandern wir denn nach einem tüchtigen Imbiß weiter.

Wir werden keine Langweile empfinden: überall entfaltet sich die Fülle des Lebens, jeder Schritt führt uns an einem reizenden Bild vorbei, und schauen wir aufwärts, so winken die Grate und Spitzen des Hochgebirges verlockend herab; fast möchten wir emporsteigen; da, dort prangt ein zierliches Häuschen im smaragdenen „Mahd“, Almhütten oder Mayensässen, wo die Montavoner die Hitze des Sommers meiden. Wollen wir aber heute noch nach Gallthur gelangen, so dürfen wir allerdings keine Seitensprünge machen, können aber hie und da mit einer frischen Montavonerin „parlotscha“, sie wird uns stets in gleicher Münze herausgeben. An Gelegenheit fehlt es uns gewiß nicht, denn auf der Strecke von Gallenkirch bis Gaschurn reiht sich ein Bauerngut an das andere: es ist fast eine große Gasse von fünf Viertelstunden Länge. Bei Gaschurn betrachten wir uns das Wallfahrtskirchlein Maria-Schnee. Es sieht zwar etwas zopfig aus, weil es in der Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts erbaut wurde, die Montavonerinnen tragen aber hier der Mutter Gottes ihre geheimen Anliegen vor. Soldaten bauen sonst gewöhnlich nur Festungen; dieses Kirchlein wurde jedoch von einem ehrenfesten k. k. Hauptmann gestiftet, nachdem es ihm gelungen war, die reiche Tochter eines Bauern von Gaschurn heimzuführen. Noch steht das Haus unsers wackern Kriegshelden, vorn ist er hoch zu Rosse abgebildet. Das Wappen wurde natürlich auch nicht vergessen.

Nach einer Stunde erreichen wir Parthenen, das letzte Dorf Montavons auf einer weiten Ebene, zu welcher von den Bergen rechts bereits Schutthalden niederfließen. Von hier gelangt man in sanftem Anstiege über das niedere Joch Zeinis nach Patznaun, welches bereits zu Tirol gehört. Ein rüstiger Bergsteiger wage sich jedoch in das Bermontthal, es führt in das unentweihte Heiligthum der Alpen, wo wir mitten unter Gletschern am Ursprung der Ill gegenüber der höchsten Spitze Vorarlbergs, dem Piz Albuin, vom Leser vorläufig Abschied nehmen.




Blätter und Blüthen.


Ein Walzer im Schnee. Der holsteinische Graf R. hatte mehrere Jahre lang im Auslande gelebt. Gewissermaßen zur Feier seiner Heimkunft, beschloß er im Winter des Jahres 182– den ihm zumeist befreundeten ritterschaftlichen Familien der Provinz ein ungewöhnliches Ballfest zu geben und ließ die Einladungen dazu bereits vier Wochen vorher durch seinen Kutscher und Jäger zu Pferde in der Runde entbieten. Natürlich, daß die Gäste nur aus der haute volée des Landes sein durften. Nur Grafen, Barone und Ritter der holsteinischen Ritterschaft waren darum berufen, zu erscheinen. Es sollte eben ein rein adeliger Cercle werden, man wollte ein mal ganz „unter sich“ sein. Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ew’ger Bund zu flechten. Und das Geschick hatte diesmal den Humor, seine Rolle in der Person des eigenen ältesten Sohnes des Festgebers, Grafen R., spielen zu lassen.

Dieser sein besagter ältester, einziger Sohn und Stammhalter studirte nämlich der Zeit auf der holsteinischen Landesuniversität Kiel, dort mit der Jurisprudenz sich befassend, so weit das ihm für ein eventuelles Staats-Examen behufs demnächstiger Staatsraths- oder Ministerwerdung räthlich oder nothwendig erschien. Es war nun gerade um die Zeit der Weihnachtsferien der Kieler Universität. Der junge Graf R. hatte aber dieselben nicht zu einer Reise nach dem väterlichen Dache und den mütterlichen Speisetöpfen benutzt, sondern der Einladung eines Universitätsfreundes Folge gegeben, welcher ihn für diese vierzehn Tage mit in das Haus seines Vaters, des reichen Kaufmanns und Senators F. zu Hamburg, führte. Der junge Graf, welcher trotz seiner steif-adeligen Erziehung doch in Kiel schon etwas von dem freiheitlichen, akademischen Geiste eingesogen, amüsirte sich auch in jeder Hinsicht aufs Vorzüglichste in der bürgerlichen Sphäre des hamburgischen Handelshauses, welches eine gute Tafel, exquisite Weine und liebenswürdige Damengesellschaft, Theaterbesuch, Schlittenfahrten und noch manche andere Erlustiguug dem vergnüglichen Sinne des geehrten vornehmen jungen Gastes zu Gebote stellte.

Der Studiosus Graf Bodo R. hatte darum, als die väterliche Einladung zu dem projectirten Ballfeste in den Hallen seiner Ahnen auf seiner Hauskneipe in Kiel einlief, unter besonderem Vorwande abgelehnt, weil er eben in Hamburg sich besser zu amüsiren rechnete, als auf der holsteinischen Stammburg. Allein Papa mochte wohl durch seinen Kieler Correspondenten oder durch einen kürzlich in Hamburg gewesenen Nachbar es erfahren haben, daß sein Herr Sohn nicht auf der Ostsee-Akademie den Wissenschaften, sondern in der Handels-Metropole an der Elbe den Vergnügungen obliege, denn plötzlich erhielt Graf Bodo in Hamburg einen Brief vom Papa, der ihn auf das Gemessenste bedeutete, unverweilt nach Schloß R. hinüberzukommen, um dem dort einige Tage später stattfindenden solennen Ballfeste als ältester Sohn und nächster Repräsentant des Hauses mit beizuwohnen.

Was war da zu machen? Dem väterlichen Befehle mußte gehorsamt werden. Um nun aber die voraussichtliche Langweiligkeit des Zusammenseins mit all’ den steifen Vettern, Tanten und Muhmen sich einigermaßen eriträglich zu machen, lud Graf Bodo sowohl den Sohn des Senators F., wie auch einen zweiten Kieler Commilitonen, der dort zum Ferienbesuche mit verweilte, den Studiosus Heinrich G., Sohn einen mecklenburgischen Domänenpächters, ein, ihm als seine Gäste zu dieser Theilnahme an dem besagten Ballfeste das Geleite zu geben. Für den alten adelstolzen Grafen R. mochte es wohl gleich als ein kleiner Wermuthstropfen in seinem so vorsorglich präparirten Freudenbecher erscheinen, als sein Herr Sohn, mit zwei Begleitern in den Schloßhof sprengend, alsbald diese ihm einfach als seine Universitätsfreunde Herrn Studiosus F. und Herrn Studiosus G. präsentirte.

Der alte Herr ließ sich das aber nicht merken, empfing die beiden jungen Freunde seines Sohnes mit vollendeter Courtoisie, sie als willkommenste Gäste begrüßend, und mochte auch wohl darauf rechnen, daß diese beiden jungen Zeisige, unbemerkt hinsichtlich ihrer nichtedelmännischen Abkunft, im Schwarm der übrigen edlen und hochedlen Gesellschaft mitflattern würden. Doch Weiberaugen und Weibernasen sehen und spüren bekanntlich in gewissen Dingen noch schärfer als die eines Polizisten. Der Ball war am bestimmten Abende schon eine Stunde und länger im besten Gange, auch die drei Herren Studiosen hatten schon mit den theilweise hübschen Comtessen und Baronessen, denen sie sich bald als die flottesten Tänzer bewährt, weidlich der Lust des Tanzes gefröhnt, da sollte einer der selben eben so plötzlich wie ungeahnt an die Mangelhaftigkeit seiner Abkunft erinnert werden.

Ein neuer Walzer begann eben, als der Studiosus Heinrich G., der sich im Nebenzimmer bei einem Glase Wein etwas verspätet und nur noch wenige Tänzerinnen in der Damenreihe als noch nicht engagirt erblickte, sans façon vor einer derselben seinen Bückling machte und diese um den nächsten Tanz bat. Die Angeredete, eine geborene Reichsfreiin, Comtesse von A., ein schon etwas ältliches, steifes, nichts weniger als schönes, aber dafür desto adelstolzeres Fräulein, welche neben ihrer gleich gearteten Frau Mutter im Fauteuil sich fächelte, maß den jungen Herrn mit kalt verächtlichem [656] Blicke von unten bis oben und erwiderte ihm sodann vornehm näselnd: „Ich bedauere recht sehr. Sie sind bürgerlich. Ich tanze nur mit Edelleuten.“

Der junge G. zog sich, trotz der ihm sonst eigenen studentischen Keckheit, doch durch diese Antwort einigermaßen verblüfft, zurück.

„Was! Die alte Schachtel hat es gewagt, Dir, meinem Freunde, den Tanz zu versagen? Das ist ja zugleich eine directe Beleidigung für mich. Na, warte, ich werde sie gleich einmal abtrumpfen!“ brauste Graf Bodo R. auf, als sein Freund G. ihm, nach beendigtem Walzer, das eben erlebte Unglück im Nebenzimmer erzählte.

„Nein, laß das jetzt, Bodo,“ entgegnete Heinrich G., „mache jetzt keinen Spectakel, der die ganze Lustbarkeit stören würde.“

„Halt! mir kommt da ein Gedanke,“ wandte sich Graf Bodo zu seinem andern Freunde, dem Studiosus Arnold F., „gehe Du jetzt auch zu der Dame und bitte sie ebenfalls um einen Tanz! Wollen doch sehen, ob sie es mit Dir eben so macht.“

Herr Arnold F. machte seinen Gang und kam ebenfalls mit demselben Resultat zurück. Ihm war ein gleicher Korb gereicht worden.

„Nun, bei Gott, das ist zu viel!“ loderte der Graf Bodo auf, „dafür muß der alten eingebildeten Kokette eine exemplarische Züchtigung werden. Kommt, laßt uns bei ein paar Flaschen Wein darüber nachsinnen; zum Tanzen werden wir nun alle Drei doch keine Lust mehr haben.

Es war am zweiten Tage nach besagtem Balle, etwa um die zehnte Vormittagsstunde, als eine schwerfällige Landkutsche, in welcher zwei mit Pelzen und Fußsäcken gegen die Winterkälte wohlverwahrte Damen, eine ältere und eine jüngere, saßen, um die Ecke eines reifbedeckten Tannengehölzes, im langsamen Schritte der vorgespannten feisten Ackergäule, in einen Haideweg der weithin sich dehnenden schneebedeckten Ebene einbog. Die beiden weiblichen Insassen der Kutsche mochten, bei der Eintönigkeit und Stille der Landschaft, eben zu einem kleinen Morgenschläfchen eingenickt sein, als ein donnerndes Halt! von drei Männerstimmen sie wach schüttelte. Drei Männergestalten zu Pferde, mit langen Reitstiefeln, Jagdröcken und Pelzmützen bekleidet, wovon der eine eine Violine am Bande auf dem Rücken trug, waren, aus den Tannen heraussprengend, die drei Acteurs dieses Impromptus. Während der Fiedelträger, nachdem er dem Kutscher einige Worte in’s Ohr geraunt, abgestiegen war und den Zügel seines Pferdes an eine Radspeiche festgebunden hatte, trat der eine seiner beiden berittenen Begleiter an den Kutschenschlag, öffnete denselben, lüftete zierlich seine Mütze und sprach: „Gnädigstes Fräulein, Comtesse von A., vorgestern Abend verweigerten Sie mir und meinem Freunde im Ballsaal des Grafen R. einen Tanz. Wir, als deutsche Studenten, sind aber nicht gewohnt uns derartig abspeisen zu lassen. Wir sind deshalb gekommen, und ersuchen Sie jetzt hier mit uns ein Tänzchen zu machen.“

Die Gnädige wollte sich sperren; allein der Redner wiederholte seine Aufforderung so eindringlichen Tones, mit einer Miene, die ihn entschlossen zeigte, die Dame nöthigenfalls gewaltsam aus dem Wagen zu holen und draußen mit sich im Kreise herumzuschwenken, daß sie wohl oder übel sich der Zumuthung zu fügen vorzog. Die Comtesse stieg, doch wohl mit einigem Zittern, aus ihrer Kutsche, der Student G. machte zierlichst seine Verbeugung, erfaßte seine nunmehrige Tänzerin, der vermummte Fiedler spielte einen raschen Walzer auf und das Pärchen machte seine Rundtour über und durch den Schnee der Haidfläche rings um den Wagen. Als diese erste Tour beendigt war, trat der Student F. vor und erbat auch für sich eine zweite von der Dame. Sie konnte auch dies natürlich nicht verweigern.

Derselbe Rundtanz wie vorhin um die Kutsche. Dann ward die Dame höflich wieder in ihren Wagen gehoben, eine artige stumme Verbeugung der beiden Tänzer gegen sie, und die Kutsche setzte sich langsam wieder in Bewegung nach der angeerbten Stammveste schützendem Dache.

In homerischem Gelächter aufbrausend aber sprengten die beiden Studenten und ihr vermummter Begleiter, dessen Person wohl unschwer zu errathen, nach des Freundes väterlichem Sitze heimwärts. Die beiden Damen sollen zwar nie von diesem „Walzer im Schnee“ erzählt haben, aber auf der Holsatenkneipe wie auf der ganzen Universität Kiel wurde die Geschichte davon bald und noch lange nachher jubelnd des Oeftern vorgetragen als einer der bestgelungenen Studentenstreiche.

W. S.




Helgoland noch einmal. Herr Redacteur! Als Besucher und Bewunderer der Königin aller Seebäder, der Insel Helgoland, und sehr wohl bekannt mit allen Einrichtungen dieses Ortes, kann ich nicht umhin, Sie im Vertrauen auf Ihr Rechtlichkeitsgefühl aufzufordern, der folgenden Antwort auf einen Artikel Ihres Blattes vom 24. August ebenfalls einen Platz in demselben zu geben.

Sie sagen, daß „das stolze England“ für ein bedeutendes Pachtgeld erlaube, daß auf Helgoland, wie Sie sich ausdrücken, eine „Spielhölle“ bestehe, und fügen dem die etwas überraschende Angabe bei, daß der Gouverneur der Insel einen Theil des Gewinns erhalte. Außer der Thatsache, daß während der Badesaison eine Roulette sich auf Helgoland befindet, ist auch nicht ein einziges Wort der Wahrheit in obigem Artikel enthalten. Bis zu den letzten zwei Jahren mischte England sich kaum weiter in die Angelegenheiten Helgolands, als daß es einen Gouverneur hierher sandte, welcher das höchste Appellations-Gericht der Insel bildete, daß es jährlich bedeutende Summen für Schulwesen und andere Zwecke hergab, die Gehalte aller öffentlichen Beamten zahlte und dafür auch nicht einen einzigen Kreuzer von der Insel bezog. Die innern Angelegenheiten der Insel wurden geleitet und verwaltet durch einen aus sechs Eingebornen bestehenden Magistrat und eine sogenannten Vorsteherschaft. Diese Municipal-Behörden vermietheten Räumlichkeiten an eine Gesellschaft zur Haltung einer Roulette während der Badesaison und bezogen die Miethssumme. Alle dergleichen Dinge sind zwar verwerflich, ich kann indessen nicht umhin, hinzuzufügen, daß die Helgoländer Roulette nur als eine sehr bescheidene bezeichnet werden darf.

Sehr bald nach Ankunft des gegenwärtigen Gouverneurs verlieh die englische Krone dieser kleinen Besitzung eine Constitution, und einer der ersten Beschlüsse der neuen gesetzgebenden Körperschaft, welcher der Gouverneur präsidirt, war, daß die Spielbank mit Ablauf des gegenwärtigen Contractes aufhören müsse. Der Contract und gewisse eingegangene Verbindlichkeiten machten den unverzüglichen Schluß der Roulette unmöglich. Alle Ihre Leser werden mit Ihnen, betreffs der außerordentlichen Rathsamkeit des Schlusses aller solcher Spielbanken, übereinstimmen, und es ist sehr zu hoffen, daß benachbarte Seebäder wie Dobberan, Travemünde etc. dem guten Beispiele Helgolands folgen werden.




Ich kann bestätigen, daß obiger Bericht die volle Wahrheit enthält. Was auch früher statt gefunden haben mag, der jetzige Gouverneur hat Alles gethan, was in seinen Kräften stand, um die Spielhölle zu beseitigen, und sie wird auch aufgehoben, sobald der – wie ich glaube noch drei Jahr dauernde – Contract mit dem Spielpächter abgelaufen ist.

Gotha, September 1865.
Fr. Gerstäcker.




Der verfluchte Jung’. Prinz Albert von Sachsen-Coburg mochte ungefähr zwölf Jahre alt sein, als er und sein Bruder Ernst für einige Zeit, während einer Abwesenheit ihres eigenen Studienleiters, dem damaligen Hofmeister der mit dem herzoglichen Hause verwandten Familie des Grafen Mensdorff-Pouilly zur Führung übergeben waren. Dies geschah in Gotha, wo bekanntlich der coburgische Hof jeden Winter residirt. Auf einem der Jagdausflüge nach dem Thüringerwalde überfiel die junge Gesellschaft ein kräftiger Platzregen, der sie nöthigte, mit ihrem interimistischen Hofmeister sich in einen omnibusartigen Jagdwagen zur Heimfahrt zu flüchten. In diesem engen Gefährt[WS 1], wo die Kniee der einander Gegenübersitzenden sich fast berührten, gefiel es nun dem Prinzen Albert, zu seinem besondern Vergnügen auf und ab zu wandeln. Dies nöthigte den durchnäßten Hofmeister, jedesmal den kaum eingenommenen bequemen Sitz wieder zu verrücken. Aber gerade dies schien dem Schelm besondere Freude zu machen, und so trieb er’s eben fort, trotz der Bitten, trotz der Ermahnungen und endlich trotz des mürrischen Gesichts des Lehrers. Da riß plötzlich der dicke Geduldsfaden und der explodirte Zorn fuhr auf den Sünder mit dem echt coburgischen Donner los: „Kann denn der verfluchte Jung’ kei’ Ruh’ halt’!“ Schamübergossen duckte der Getroffene sich in den Winkel, und die Sache war aus. – Der Prinz wurde Gemahl der Königin von England und der Hofmeister Pfarrer in der Nähe von Coburg. Wohl vierzehn Jahre nach jener Jagdpartie war es, als Prinz Albert seine Gemahlin zum ersten Mal in seine Heimath führte; sie wohnten auf der Rosenau. Da trieb es den Pfarrherrn, sich auch dahin zu verfügen, in der Hoffnung, der Königin Victoria vorgestellt zu werden. Sein Wunsch wurde erfüllt, Graf Mensdorff, der Vater, verschaffte ihm das ersehnte Glück – der Augenblick nahte, die Thür öffnete sich, er steht vor der ihm freundlich entgegen lächelnden Königin und los läßt der überglückliche Pfarrherr den gewichtigen Eingang seiner wohl einstudirten Anrede. Da, mitten im schönsten Strom der geflügelten Worte, tritt zu einer Seitenthür Prinz Albert herein, erblickt den alten Bekannten, reicht ihm die Hand und stellt ihn seiner Gemahlin mit den Worten vor: „Sieh, das ist der, der mich einen verfluchten Jungen genannt hat!“ – Die schöne Rede war nun freilich ruinirt, aber die Herzlichkeit des Empfangs entschädigte dafür, und damit der treue Pfarrherr ja an kein Nachfragen wegen seiner alten Majestätsbeleidigung denken könne, übersandte ihm andern Tags das glückliche Paar die Oelgemälde seiner Portraits.



Zu Schiller’s Tell. Börne hat in seiner Kritik dieses Dramas auch die Stelle mit scharfem Tadel begossen, wo es heißt:

Ich aber sprach: Ja, Herr, mit Gottes Hülfe
Getrau ich mir’s und helf’ uns wohl hindannen.
So ward ich meiner Bande los und stand
Am Steuerruder und fuhr redlich hin etc.

Diese drei letzten Worte mit dem Stein des Anstoßes „redlich“ sind nun nicht Product von Schiller’s Feder; sondern sie stehen in des Dichters Quelle, in Tschudi’s Chronik. Da heißt es in der Baseler Ausgabe vom Jahre 1734 pag. 239: „Also ward Er uffgebunden, stund an das Stürruder, und fur redlich dahin, doch lugt Er allweg uff den Schieß-Züg, der ze nächst bi Im lag“ etc. Börne hat etwas Recht; es ist wirklich stark, hier von Redlichkeit zu sprechen, Nun aber ist bekanntlich die Sprache der schweizerischen Chroniken sehr mundartlich gefärbt und in der Mundart der Urcantone heißt „redli“ nicht was in der ebenen Schweiz und in Deutschland, sondern es heißt: eilig, schnell, geschwind. So hab’ ich mit eigenen Ohren das Wort angewendet gehört. Schiller konnte diese Bedeutung des Wortes nicht wissen; und wenn er vielleicht am Worte Anstand nahm, so mochte er sich wohl sagen: Wenn Tschudi so schreiben konnte, so darf ich’s auch. – Die Etymologie des Wortes ist mir unbekannt, vielleicht giebt das sich in Arbeit befindende schweizerische Idiotikon einst Aufschluß darüber; oder heißt es etwa: so geschwind wie man redet? oder: so geschwind wie man geredet, d. h. versprochen hat? also so geschwind wie man konnte?

Aarau.
J. R.




Berichtigung. In einem Theile der Auflage von letzter Nummer ist ein Druckfehler übersehen worden; der Verlobte der Heldin in der Erzählung „Die Locke der Charlotte Corday“ ist ein Mal irrthümlich Rouer anstatt Dacier genannt worden. unsere Leser und Leserinnen werden diesen Irrthum gewiß schon selbst berichtigt haben.


Europa Nr. 40 enthält:

Die Frau der Zukunft, von Pelletan. – Eine sibirische Winterreise. – Die eigentlichen Helden des Vertrags von Tauroggen. – Die Führer in den österreichischen Alpen. – Aus der Gesellschaft: Shakespeare eine Mythe. – Die rothen Eminenzen. – Literarische Wochenschau. – Bildende Kunst. – Theater. – Kleine Notizen.


Verantwortl. Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Bei der Wichtigkeit dieser Brütanstalt kirchlicher und staatlicher Reaction glauben wir unsere Leser auf den vorstehenden, durchaus auf Wahrheit beruhenden und vollkommen unparteiischen Aufsatz ganz besonders aufmerksam machen zu müssen.
    D. Red.
  2. Es ist im preußischen Seminar zu Münsterberg verfaßt.
  3. Durch die Unterstützung seiner Gönner ward Wichern Ankauf des Terrains und Bau des Hauses ermöglicht.
  4. Ein solches steht auch auf dem Arbeitstische des Inspectors Rhiem.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Gefähr