Die Gartenlaube (1865)/Heft 42
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No. 42. | 1865. |
„Und mit diesem bewegten Herzen, in diesem Auf- und Abschwanken der verschiedenartigsten Gefühle folgte die blonde Spanierin ihrem Beschützer nach Deutschland, mit diesen wild wogenden Empfindungen lebte sie fort und fort in seiner Nähe. Da geschah eines Tages etwas Seltsames. Ein Brief aus Frankreich kam in das entlegene Landstädtchen an den Maler Jacob Hauer. Es war ein Schreiben jenes vor Jahren spurlos verschwundenen französischen Malers Armand Rouer, der das Bild der Corday unvollendet gelassen und nun als sein Eigenthum die Locke Charlottens beanspruchte. Nur ihm, ihm allein dürfe diese Locke angehören, sie habe sie dem Maler ihres ersten Bildes zugedacht und gelobt, und dieser Maler sei er. Jacob Hauer habe sie ihm nur durch List und Trug geraubt mit jenen Schändlichen, die ihn selber damals der Geliebten entrissen und eingekerkert. Der schreibende nannte sich krank und gebrochen, unfähig, sich selbst sein gutes Recht zu verschaffen, aber er forderte dies vermeintliche Recht in den leidenschaftlichsten Ausdrücken und verlangte das goldene Haar der wunderbaren Frau, damit er ruhig sterben könne. Es war ein wilder und seltsamer Brief, der in dem stillen Malerhause große Erregung hervorrief, die größte aber doch in dem Herzen der blonden Spanierin. Eine entzückende Hoffnung gewann einen Augenblick in ihrer Seele Raum: Jacob Hauer werde sich von diesem Gegenstande ihrer maßlosen Eifersucht trennen. O, diese Locke nicht mehr in seinem Besitz zu wissen, nicht mehr denken zu müssen, daß er sie um seine Finger wand, daß seine Augen auf ihr ruhten, daß vielleicht seine Lippen sie berührten, welche Erlösung! Alle Schätze der Welt hätte sie hingeworfen dafür. Ach, ihre Träume wurden zerstört! Der deutsche Maler erklärte seinem Kunstgenossen, daß er sich nie im Leben von diesem seinem kostbarsten Besitzthum trennen werde. Von da an verlor sich Laura selbst, es ist eine traurige, wunderbare Geschichte. Ich werde sie kurz andeuten. Viele Monate später ließ sich ein junger französischer Sprachlehrer in dem kleinen deutschen Städtchen, dem Wohnsitz Hauer’s, nieder. Sein Name war Philipp Valeur.“
Hier zuckte Melanie plötzlich auf. „Um Gotteswillen, so hieß der Großoheim meines Verlobten!“ stammelte sie mit bleichen Lippen, die Augen starr auf den Erzähler gerichtet.
Gaston sprang entsetzt auf: „Es ist nicht möglich, nein, nein, nein, Melanie, es ist ein Irrthum!“ rief er außer sich.
„Erzählen Sie weiter, ich beschwöre Sie, es ist vielleicht unser Aller Glück. Ruhig, ruhig, theurer Freund!“ bat sie voll Angst, als sie seine Erregung sah, und umschloß mit ihren beiden Händen seine zuckenden Finger.
Wie ein Zauber wirkte diese Berührung. Der junge Maler nahm wieder zu den Füßen des Mädchens Platz, aber seine Stimme klang verändert und die Worte flogen hastig, als eile er zum Schlusse, über die Lippen, indem er weiter redete: „Der Franzose machte Aufsehen, er war gewandt und hübsch und die haute volée des Städtchens zog ihn in ihre Kreise. Man fand ihn angenehmer und von feineren Manieren, als alle andern jungen Männer, und jener alte, böse Zauber, den nun einmal das fremde auf den Deutschen übt, gab sich auch hier kund. Alles bemühte sich, Französisch zu lernen, um des Vergnügens und der Gunst theilhaftig zu werden, mit dem jungen Ausländer verkehren zu können. Er hatte auch Zutritt in der Familie Hauer gefunden, und bald schienen sich zwischen ihm und der schönen Laura innigere Beziehungen zu entwickeln. Monsieur Valeur zeigte sich hingerissen von der Schönheit des Mädchens, und sie, die bis dahin alle Männer durch ihre abweisende Kälte zur Verzweiflung gebracht, war ihm gegenüber seltsam verwandelt. Wie hätte Jemand ahnen können, welcher Aeußerung des Fremden dieses vertrauliche Verhältniß seinen Ursprung verdankte? Monsieur Valeur befand sich bei seinem dritten Besuche in dem Hause des Malers zufällig mit dem jungen Mädchen eine kurze Zeit allein im Zimmer. Man plauderte über das oft und gern besprochene Thema von der Liebe und dem Haß in halb scherzender Weise, als Philipp Valeur plötzlich zwischen den Zähnen hervorstieß: ,Aber ich hasse ein Weib, glühender ward nie eine Frau auf Erden gehaßt, und nur Sie sollen ihren Namen kennen! Sie heißt Charlotte Corday.’ ,Ihr könnt sie nicht wahnsinniger hassen, als ich,’ hatte da das Mädchen geantwortet, und die Hände Beider sanken plötzlich ineinander. Nicht die Liebe allein, auch der Haß vereint, und oft sind seine Bande fester und unlösbarer, als jene.
Ich weiß nicht, wie es dem gewandten Heuchler allmählich gelang, das leidenschaftliche Geschöpf so zu wandeln, daß ihr der Gedanke ein süßer Trost wurde, jenem Manne, den sie bis zur Stunde ausschließlich geliebt, ein Leid zuzufügen, indem sie sich rasch und für ewig von ihm löste; was Valeur gesagt und vorgespiegelt, zu welcher Höhe er ihr erregbares Gemüth exaltirt, weiß ich nicht, genug, sie verlobte sich plötzlich mit dem Fremden und erklärte, mit ihm nach Paris zurückkehren zu wollen. Die Liebe hat ja ihre Stadien, in denen sie dem Hasse so ähnlich sieht, wie eine Zwillingsschwester der andern. Ob Laura vielleicht glaubte, durch solche Trennung würde das Herz des Geliebten ihr zugewendet werden, er würde plötzlich erwachen und die Arme nach ihr ausstrecken, [658] wer kann es sagen?! Es liegt ja in der menschlichen Natur, das erst begehrenswerth zu finden, was uns entrissen oder unerreichbar geworden ist. Nur oberflächlichen Beobachtern erschien sie als eine glückliche Braut, die Augen des Malers hingen oft mit dem Ausdruck banger Sorge an dem wunderschönen Antlitz, auf dessen Stirn ein fremder, seltsamer Zug stand und dessen Lippen oft wie im Weinen zuckten, wenn der Mund übermüthige Worte sprach und die Augen dazu glühten und funkelten. Aber er redete nie mit ihr über ihren Verlobten und über ihre Zukunft, Laura hatte das Alles gleich im Anfang hart und stolz abgewiesen, und so schwieg er und ließ sie ihren selbstgewählten Weg gehen. Sein persönlicher, ihm selbst unerklärbarer Widerwille gegen den Franzosen mußte bekämpft werden, und er that mit männlichem Ernst sein Bestes, eine Abneigung zu überwinden, die ihn schon beim ersten Blick wie ein Schauer erfaßt hatte. Die Papiere des jungen Mannes wiesen eine gesicherte Existenz nach; es blieb Jacob Hauer im Grunde nichts mehr übrig, als in seinem Hause die Hochzeit auszurichten, die auf den besonderen Wunsch der Braut ganz still gefeiert wurde.
Zum ersten Mal fühlte sich nicht nur der Künstler, auch der Mann lebhaft berührt von dem fremden, hinreißenden Ausdruck ihrer Schönheit, als sie in dem Kranz von Orangenblüthen und dem schlichten, weißen Kleide nach dem Act der Trauung auf ihn zuging. Unwillkürlich trat er zurück, um ihr einen Blick der Bewunderung zuzuwerfen, wie ihn die Augen des Bräutigams noch nicht für sie gehabt. Sie aber reichte ihm nur zitternd die Hand und senkte den Kopf, und da drückte er leise seine Lippen auf ihre Stirn. Er sah, wie sie zusammenzuckte, in demselben Augenblick aber legte ihr Gatte ihren Arm in den seinen und führte sie hinweg.
Laura schickte sich zur Reise an; von allen Räumen des kleinen Hauses nahm sie Abschied. Sie bat, man möge sie allein lassen auf dieser melancholischen Wanderung. Der Reisewagen fuhr vor, noch war sie nicht zurückgekehrt, und die kleine Margaretha lief, sie zu suchen. An der Hand des Kindes trat sie wenige Minuten darauf im einfachen Reiseanzug herein. Aber der Schleier war schon herabgelassen von ihrem Hute und sie stürzte nur noch einmal in wilder Aufregung der Kranken zu Füßen, preßte das Kind an sich und wurde fast bewußtlos in den Wagen getragen. Den Mann, den sie liebte, berührte sie nicht mehr mit der Spitze ihres Fingers. Als der Wagen davonrollte, durchschnitt ein herzzerreißender Weheruf die Luft. Das war der letzte Laut, den Jacob Hauer von den Lippen der blonden Spanierin gehört.
Laura war fort und mit ihr die blonde Locke der Charlotte Corday. Viel, viel später erst, als an jenem Hochzeitstage, entdeckte der deutsche Maler den Raub, den man an ihm begangen, und ahnte den Zusammenhang aus jenen verworrenen Briefen, welche Laura nach ihrer Flucht schrieb und die bald genug ganz aufhörten.
Die Spur der unglücklichen Frau ging verloren. Die gänzliche Aufklärung der seltsamen That kam erst viel später. Philipp Valeur war ein naher Verwandter Rouer’s und hatte unter dem Versprechen der bedeutenden Erbschaft der kranken Unglücklichen es übernommen, um jeden Preis die Locke der Charlotte Corday an sich zu bringen, von der ihm das Gerücht erzählt, daß sie sich in dem Besitz jenes deutschen Malers befinde, der damals sein Nachfolger geworden. Der junge Mann fand die blonde Spanierin reizend genug, eine Zeit lang mit ihr zu spielen, entdeckte bald das wunderliche Geheimniß ihres Herzens und gewann eine willigere Helfershelferin für seinen Zweck, als er anfangs vermuthete. Die ,Komödie’ einer Trauung machte ihm nicht viel Sorge; nach kaum einem Jahr qualvoller Ehe trennte er sich von seiner Frau. Sie verließ Paris und wendete sich nach dem südlichen Frankreich. Ein alter Geistlicher nahm sich ihrer an und verschaffte ihr die Arbeit einer Näherin. So ernährte sie sich und ihr zwei Monate altes Töchterchen. Die Reue über ihre That zehrte an ihrem Leben. Sie schrieb viele Briefe nach Deutschland, keiner erreichte den Ort seiner Bestimmung, wenigstens erhielt sie nie Antwort.
Im Jahre 1822 starb Jacob Hauer, nachdem ihm sein Weib lange vorher im Tode vorangegangen. Ein Zeichen der Versöhnung ließ er noch zu der Unglücklichen gelangen – allein es hatte einen langen Weg nehmen müssen, ehe es in die abgelegene Provinz und wirklich in die Hände der einst so schönen Laura gelangte, es war das Bild der Charlotte Corday. Die blonde Spanierin sah jedoch diese Gabe nur als eine Strafe an, und die Erschütterung ihres Herzens bei dem Anblick ihrer Feindin war so groß, daß sie wenige Wochen später starb. Vorher hatte sie noch die Freude, ihr Kind, die schöne Jacobine, an einen jungen talentvollen Maler verheirathet zu sehen. Das Bild des Mädchens von Caen ging in seinen Besitz über. Ihrer Tochter aber nahm sie, indem sie ihr die Geschichte ihres Lebens erzählte, das Versprechen ab, um ihrer Seelenruhe willen nicht eher zu rasten, als bis sie die Locke der Corday den Hinterbliebenen Jacob Hauers wieder zugestellt. Ihr Schwiegersohn entwarf in jenen Tagen ein Portrait von ihr, sie starb vor der Vollendung und zwei Monate später verbrannte dies Bild in der Malerstube auf eine räthselhafte Weise. Später malte der junge Künstler seine Frau – an demselben Tage starb ihm plötzlich sein ältester Knabe. Viele, viele Jahre später malte der Sohn dieses Mannes die geliebte Mutter – drei Tage darauf starb der Vater und ein jüngstgeborenes Töchterchen. Seitdem wurde nie mehr ein Frauenportrait gemalt von der Hand Gaston Dumont’s, denn ich bin der Enkel jener Unglücklichen, die man die blonde Spanierin nannte, und meine arme Mutter findet weder Ruhe noch Rast auf Erden, bis sie die Schuld der Todten gesühnt und die Locke der Familie jenes deutschen Malers zurückgegeben hat.“
„Ich weiß, wo die Locke ist,“ stammelte jetzt Melanie, „und durch meine Hand werden Sie Ihrer Mutter den Frieden bringen. Alphons ist in dem Besitz der Locke, er trägt sie in einem schwarzen verschlossenen Portefeuille bei sich. Er wird sie mir geben, o, wie glücklich bin ich!“
Ach, es kam Alles ganz, ganz anders, als das junge Mädchen dachte, wie eben so oft die Bilder unserer Gedanken und Hoffnungen, die wir auf die Staffelei des Lebens stellen, unter dem derben corrigirenden Pinsel des Schicksals zu grauen trübseligen Landschaften werden. Gaston Dumont weigerte sich, auf Umwegen und durch die Vermittlung des geliebten Mädchens die verhängnißvolle Locke der Charlotte Corday wieder zu erlangen; er selbst wollte in männlicher Offenheit dem Großneffen Valeur’s entgegen treten und sein Recht fordern. Die Aussicht auf die Möglichkeit, das geraubte Kleinod wiederzuerlangen, stärkte wunderbar die Kräfte von Gaston’s Mutter, sie entschloß sich zur beschleunigten Reise; schon am andern Tage nach seiner Erzählung nahm er Abschied von der Geliebten. Es war ein seltsames Scheiden, voll wunderlicher phantastischer Hoffnungen, unklarer, gefährlicher Träume. Obgleich nie das verhängnißvolle Wort zwischen Beiden ausgesprochen worden, schwebte es doch in der Luft, in jedem Hauche der Lippen, in jedem Blick der Augen. Fest lagen die Hände noch einmal ineinander; sagte der kurze heiße Druck nicht: „Auf Wiedersehen?“
„Und wenn Alphons sich weigern sollte?“ fragte das Mädchen noch einmal leise.
Ein düsterer Schatten flog über Gaston’s Gesicht, er antwortete nicht.
„Dann denken Sie meiner, Gaston, und daß ich es mir und Gott gelobt, das Kleinod in die Hände Ihrer Mutter zurück zu bringen.“ Dann schieden sie.
Der alte Herr begleitete seinen Liebling noch bis D. und verabredete mit ihm eine Zusammenkunft im nächsten Frühjahre im grauen Schlosse. „Dann kommt unsere kleine Frau Melanie aus Paris auch herüber,“ sagte er heiter und küßte sein Kind auf die blasse Wange, „und Ihre Mama muß bei uns wohnen und nicht in D. Hier wird sie gewiß gesund! Und wir lernen endlich das verteufelte Fleisch malen. Ich werde den ganzen Winter lauter Evas auf die Leinewand zaubern, zum Entsetzen der guten Köhler. Herausbekommen muß ich Euer Kunststück!“
Während der Wagen davonrollte, lag Melanie, das junge Herz bedrückt von tausend widerstreitenden Empfindungen und einer Angst, die ihr fast die Besinnung raubte, auf den Knieen vor ihrem Bette und erstickte ihr Schluchzen in den Kissen. O wie leer war es überall geworden, leer in der Luft, im Garten, im Zimmer, jeder Platz leer und öde! Und wie viel Zeit lag vor ihr, so entsetzlich viel Zeit und sie besann sich auf keinerlei Thätigkeit. Was nun anfangen, wer sollte ihr helfen?! Alphons?! Schaudernd verhüllte sie ihr Gesicht. Ach, das war jene Liebe, von der ihre Erzieherin ihr geredet am Abend ihres Verlobungstages, und die Prüfung und die bittere Noth waren auch da, Fräulein Köhler aber beendete eben die große Entsagungsscene im [659] fünften Capitel ihres zweiten Bandes und dachte: „Es ist doch seltsam, daß man so wenige Tragödien und herzbrechende Geschichten in nächster Nähe erlebt. Wie geht Alles so alltäglich her, heut’ zu Tage! Konnte nun zum Beispiel meine Schülerin sich nicht ein klein Wenig – in allen Ehren natürlich – aber doch mit einigen Kämpfen und Thränen, für den jungen Maler interessirt haben? Welch’ pikante Würze des ewigen Einerlei hätte solche Episode gegeben und welch’ Studium für mich! Die Romantik ist ausgestorben, das ist mein nie verhallender Seufzer. Aber freilich, ein Maler, der aussieht wie ein Assessor, ein Maler ohne lange Locken und mittelalterliches Barett?! Melanie hatte Recht!“
Nach einiger Zeit lief ein langer Brief von Alphons ein, an seinen Schwiegervater, für Melanie lag kein Blättchen bei. Der alte Herr gerieth nach Lesung des Schreibens in die lebhafteste Unruhe, die er auf das Aengstlichste zu verbergen sich mühte. Er ließ sofort die Erzieherin seiner Tochter zu sich bitten und berieth mit ihr, wie der Inhalt des Briefes auf die schonendste Weise dem jungen Mädchen beizubringen sei. Es handelte sich nämlich um nichts Geringeres, als um eine Forderung von Alphons Dacier für Gaston Dumont, und der Maler hatte das Duell zurückgewiesen bis – nach dem Tode seiner Mutter, die schwer erkrankt daniederlag. Alphons nannte ihn nun höhnend einen Feigling und verlangte von seinem Schwiegervater, daß für alle Zeiten der Name Gaston Dumont in seinem Hause ein vergessener sei und bleibe.
„Weshalb die Beiden so hart aneinander gerathen, sei ein Familiengeheimniß, schreibt Alphons, er spricht sich darüber etwas mystisch aus,“ fügte der alte Herr hinzu. „In jedem Falle bleibt das Zurückziehen Gaston’s eine unedle That. Ich hätte dergleichen nimmer von ihm erwartet.“
„Aber seine Mutter hat doch Nichts, als eben ihn,“ wandte die Köhler ein, „es hieße ja die Mutter tödten, wenn er das Duell annähme!“
„Ach was, das sind Weiberbegriffe! Es giebt gewisse Gesetze der Ehre, die der Mann in keinem Falle umgehen darf. Und man stirbt ja nicht gleich in jedem Duell. Weshalb sollten auch die Beiden so blutdürstig auf einander sein, dazu ist gar kein Grund denkbar. Sie konnten sich von jeher nicht leiden – das war Alles. Mit ein paar tüchtigen Schrammen wäre Alles abgethan gewesen! Bringen Sie nun die Sache dem Kinde bei, so daß Melanie sich um Keinen der Beiden zu sehr betrübt; ich kann nun einmal durchaus keine traurigen Geschichten mit ihr besprechen!“
Die Köhler war in der größten Erregung. Mit zitternden Knieen eilte sie zu ihrer Schülerin in den Garten hinab. Endlich, endlich ein wirkliches Ereigniß, ein erfrischender Hauch von Romantik in der Wüste des Alltagslebens, eine wirkliche Duellabsicht! Schade nur, daß die beiden Männer nicht hier, auf bekanntem Terrain aneinander geriethen, daß man hätte vermitteln, trösten, beruhigen und vielleicht gar verbinden können! Es war hier noch nie das kleinste Unglück geschehen, kaum einmal ein Schnitt in den Finger! Schade freilich noch mehr, daß in der Duellgeschichte Alles aus war, ehe sie noch begonnen! Das Fräulein sah deshalb auch gar keinen Grund ein, mit dem jungen Mädchen so besonders vorsichtig umzugehen. Es schadete diesem allerliebsten, gesunden, prosaischen Geschöpfchen durchaus nichts, einmal der Möglichkeit eines romantischen Unglücks in die Augen zu schauen. Ohne Einleitung wollte sie mit ihr reden, Melanie war nie schreckhaft gewesen. Sie trat in die Veranda, wo sie ihre Schülerin am andern Ende vor ihrem kleinen Zeichentische bemerkte. Das Mädchen saß in einem leichten blaßrothen Kleide, dessen Falten die reizende Gestalt lose umflossen, gedankenvoll da, spielte mit dem Stift und schaute in die grüne Nacht des Parks hinein. Die Profillinie ihres Gesichts war der Beschauerin zugekehrt. Es lag eine solche Anmuth und Frische auf diesem lebenden Bilde, daß das Fräulein einen Augenblick in Bewunderung versank. Das schöne Haar war herabgeglitten, eine der schweren Flechten berührte die Schultern.
„Sie ist ganz wie gemacht, Etwas zu erleben,“ murmelte die Erzieherin, „und heirathet ohne Widerstand und ohne Liebe eine Art von Vetter mit so und so viel tausend Franken Einkünften! Kann man sich etwas Prosaischeres erdenken?“
Nach dieser kleinen Betrachtung trat sie näher, legte ihre Hand Melanie auf die Schulter und sagte in aufgeregtem Ton: „Eine wunderbare Nachricht aus Paris, Melanie – ein Duell – Alphons –“
Sie wurde unterbrochen durch einen Aufschrei des Mädchens. Mit starren Augen schaute Melanie einen Moment in das Gesicht der erschreckten Gouvernante; dann überzog eine Todtenblässe ihr Gesicht und sie sank, zum ersten Mal in ihrem Leben, ohnmächtig zusammen.
„Großer Gott, wie Du mich entsetzt hast, Kind!“ sagte die Köhler eine Stunde später, als sie neben ihrer mattlächelnden Schülerin im Sopha des Gartensalons saß. „Konntest Du nicht warten, bis ich Dir Alles erzählt? Würde ich so zu Dir gesprochen haben, wenn Alphons verwundet gewesen wäre? kleine Voreilige! Nun weißt Du Alles und siehst, daß Alphons gesund und munter, und von Gaston sprechen wir nicht mehr! Laß nur dem Vater nichts von Deiner Ohnmacht merken. Im Grunde bin ich doch stolz, daß meine Schülerin – eine wirkliche, ordentliche Ohnmacht gehabt hat. Es ist dies ein Zeichen, daß –“
„Liebe Köhler, ich möchte gern eine Stunde allein in meinem Zimmer ausruhen,“ bat Melanie, „aber ich fürchte, daß ich noch nicht ohne Unterstützung dorthin gehen kann!“
„Komm, ich führe Dich, mein theures Kind. Sei nur ruhig, in wenigen Wochen ist Alphons bei Dir, um sich nie wieder von Dir zu trennen.“ –
Melanie blieb allein, allein mit ihren marternden Gedanken, mit tausend Fragen und der brennenden Sehnsucht nach jenem Einen, dessen sie nicht mehr gedenken sollte, denn Alphons hatte ihn einen Feigling genannt.
Als Melanie einige Stunden später den Brief von Alphons gelesen, schloß sie sich ein und schrieb an ihren Verlobten. Was sie ihm sagte, erfuhren weder Vater noch Erzieherin, aber es mochten wohl aufregende Dinge gewesen sein, von denen sie zu ihm geredet, denn die Wangen des Mädchens glühten wie im Fieber und die Augen zeigten Spuren von Thränen.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, und nun entspann sich ein so lebhafter Briefwechsel zwischen beiden Verlobten, daß selbst der alte Herr bedenklich den Kopf dazu schüttelte und eines Tages bemerkte: „Kind, Du treibst es zu arg, Du hältst den Jungen von seinen Geschäften ab; er hat vor der Hochzeit und Eurer Brautreise noch Manches abzuwickeln, das vergiß nicht. Frauen kennen nun einmal keine Rücksicht für die nothwendige geschäftliche Thätigkeit der Männer! In drei Wochen siehst Du ihn ja!“
„Es wird von seinem nächsten Briefe abhängen, ob ich ihn sehe, um ihn zu heirathen, oder ob ich ihn nie wieder sehe, Vater,“ sagte das junge Mädchen fest.
Der alte Herr ließ vor Schreck seinen Pinsel fallen. „Du träumst wohl, Melanie, oder Du hast Fieber; um Gotteswillen, Kind, was fällt Dir denn ein?“
„Laß das jetzt, lieber Papa, ich gebe Dir mein Wort, Du sollst Alles später erfahren, und ich bin auch nicht unvernünftig oder schlecht, sei nur noch eine kleine Weile geduldig!“
Ihre thränenvollen Augen, die sich jetzt zu dem Vater erhoben, verfehlten ihre Wirkung nicht.
„Sei nur um Gotteswillen nicht traurig, mein Herzenskind, Du weißt, das ist mir unerträglich! Folge Deinem Herzen, ich werde Dich nie zwingen, unglücklich zu werden; aber denke nicht an Dich allein, denke auch an das Versprechen, das Du Deiner todten Mutter gegeben. Das sind gar ernste Dinge, mein Kind, woran ein Begrabener mahnt!“
Es kam kein Brief von Alphons, wohl aber kam er selber. Stand doch eine reiche, reizende Braut einer „albernen Kinderei“ wegen auf dem Spiele. Wer hätte aber gedacht, daß in diesem Kinderkopf so viel Festigkeit stecken würde! Die Auslieferung der Locke in ihre kleine Hand – oder die Verweigerung dieser Hand, das war es, worunter Alphons wählen sollte. Nach allerlei verschiedenen Ausflüchten, Winkelzügen, nach Ausbrüchen von Zorn und Unmuth, nach den heftigsten Schmähungen gegen den feigen und zugleich dreisten Menschen, der sich in das Haus und vielleicht auch Herz der Braut geschlichen, gab er endlich nach. Er erschien selber und gelobte, die Locke auszuliefern unter der Bedingung, daß der Hochzeitstag in einem Monat und mit allem Glanz gefeiert werde. Melanie, bleich, sagte es wie im Traume zu und empfing jenes kleine schwarze Portefeuille, das einst ihre [660] eifersüchtige Neugier erregt. Der silberne Schlüssel war daran befestigt. Sie schloß es auf. Da lag der unheilvolle Gegenstand so vieler Kümmernisse, das schone blonde Haar des Mädchens von Caen. Lange, lange schaute Melanie darauf hin, die Gestalt der wunderbaren Frau selber, wie sie Gaston beschrieben, schwebte schattenhaft vorüber. Der Kopf des blonden Malers tauchte auf, neben ihm ein finsteres, wildes Antlitz; es war Armand Rouer, wie sie ihn sich dachte; der schlangengewandte Philipp Valeur, mit den blitzenden Augen und dem Spottlächeln auf den Lippen, wie sie es in dem Zimmer von Alphons in Paris gesehen, erschien; neben ihm das reizendste Frauenbild, die blonde Spanierin, mit den Augen einer Murillo’schen Madonna, und endlich jene bleiche, wunderschöne Frau mit dem tiefen Gram in allen Zügen und dem Licht unendlicher Liebe in den Augen, wenn sie auf den Sohn blickte, und dieser Sohn selber, Gaston, den sie jetzt einen Feigling nannten, weil er das Leben seiner Mutter höher hielt, als seine Ehre bei den Menschen.
Zuletzt löste sich Alles, verschwamm Alles in einem Strom von heißen Thränen. Sie tropften nieder auf die blonde Locke der Charlotte Corday. An demselben Abend ging in kleines Paket nach Paris, von folgenden Zeilen begleitet:
„Die Kraft einer schwachen Frauenhand sollte doch weiter reichen, als der trotzige Wille eines Mannes; hier ist die unselige Locke. Möge sie nun Frieden bringen und selbst still und friedlich ruhen in der Nähe dessen, dem man sie einst raubte! O Gaston, warum hat Alles so kommen müssen! Wir werden uns nie wieder sehen! Nie! Ich habe das Alphons versprochen. Er hat jetzt einen Grund, uns zu trennen: Sie haben sich ja geweigert, sich mit ihm zu schlagen, nachdem er Sie mit Worten beschimpft und Sie ihn durch Ihre Erwiderung tödtlich beleidigt. Mein armer Kopf ist mir so verwirrt, ich kann alle diese wunderlichen Gesetze, alle diese trostlosen Conflicte mit meinem Mädchenverstande mir nicht zurechtlegen. Ich bin so fern von allem Verwirrten und Traurigen aufgewachsen. Man hat mich allezeit behütet und geschützt, Alles war so friedensvoll und die Geschichten, die mir die gute Köhler erzählte, und die Bücher, die wir zusammen lasen, waren nur dann und wann traurig, aber am Schlusse kam immer wieder Sonnenschein. Jetzt ist mir, als sei Alles dunkel, als könne es nie wieder hell und blau werden über mir. Wunderliche Pläne sind durch meinen Kopf gegangen in diesen letzten Wochen, ich stand oft vor dem Atelier meines guten Vaters, die Hand auf der Thürklinke, und wollte zu ihm hineingehen, um ihn zu bitten – doch wozu Ihnen sagen, was ich bitten wollte? Ich ging wieder zurück; war’s aus Feigheit, oder weil ich hoffte, es solle für uns Alle ein bequemes Wunder geschehen ? Ach, es war ja so recht die Zeit dazu! Aber es geschah nichts! Die Todte kam nicht wieder und löste meine Hand aus der meines Verlobten. Ich darf Ihnen nicht, wie ich wollte, jene Last tragen helfen, die ich jetzt auf Ihren Schultern sehe, jene Last, die Sie um einer Mutter willen auf sich genommen. O Gaston, ich weiß, daß diese Last Sie schwer drückt, und ich werde, mag kommen was da wolle, die Hände dankend falten an jenem Tage, wo Sie die Bürde von sich werfen dürfen. Jeden Vorwurf kann ein Mann vom andern tragen, nur den einen nicht, welchen Alphons jetzt mit Ihrem Namen verbindet. Bis zu Ihrem Erlösungstage werde ich bei Ihnen sein mit meinem Gebet und meinen Thränen und mit tausend Gedanken.
In wenigen Wochen bin ich die Frau eines Andern, aber die gestorbene Mutter will es so, und nur durch das Opfer meines ganzen Selbst habe ich die Locke der Charlotte Corday erkauft. Sorgen Sie sich nicht um mich, ich werde ihm und mir kein Leides thun; der gute Vater und meine treue Pflegerin sollen nicht über mich erschrecken. Ich werde nicht den Verstand verlieren und von Alphons weggehen, ich will Alles thun, was er von mir verlangt, und ihn nicht elend machen, aber ich werde leben, wie jene armen Vögel leben, denen man in ihrem Käfig die Augen ausgestochen. Ich sehe kein Blau mehr und kein Gold und keine Farben, ich hatte sie früher nur unbewußt gesehen, bis mich Einer wirklich und wahrhaftig sehen lehrte. Jetzt ist Alles vorüber! Gottes Segen über Sie und Ihre Mutter! Vergessen Sie mich nicht! Nie habe ich begriffen, wie man sagen konnte: ,Vergiß mich!’ Das ist ja wie Selbstmord. Also vergiß mich nicht, wie ich Deiner nicht vergessen werde, so lange ich athme. Melanie.“
Seit einer Stunde war Melanie M. die Frau des Alphons Dacier. Man saß beim Hochzeitsmahle. In der Nacht noch wollte das junge Paar nach Italien abreisen. Eine glänzende Gesellschaft war versammelt. Der Tag war trübe, in der Nacht vorber hatte ein unbarmherziger Wind die letzten bunten Blätter von den Bäumen gerissen, der Park sah kahl und melancholisch aus. Dagegen prangten die Zimmer des grauen Herrenhauses in der üppigsten Blumenfülle, und die Riesenbouquets auf den Tafeln, die man aus Paris hatte kommen lassen, entzückten jedes Auge. Das Diner war fein und luxuriös, Tafelservice und Arrangement glänzend, die Bedienung vortrefflich, die Weine vorzüglich, nur die Stimmung war eine seltsam gedrückte. Herr M. kämpfte sichtlich mit seiner Rührung, der Abschied von seinem einzigen Kinde ging ihm an’s Herz; er hatte sogar seit zwei Tagen sein Atelier nicht betreten; die Köhler erschien unruhig und aufgeregt; die übrigen Gäste hatten jene Hochzeitsstimmung, welche wie eine schwere Garnitur an den hochzeitlichen Gewändern hängt, noch nicht abzustreifen vermocht. Die jungen Mädchen flüsterten mit einander und warfen verwunderte Blicke auf die todesblasse Braut. Melanie’s Toilette war tadellos und erregte den heimlichen Neid aller Frauen; man sah selten ein Kleid von so schönen points d'Alençon über einer Robe von weißem Taffet, und einen so geschmackvoll gefaßten und reichen Smaragdschmuck, wie ihn die junge Frau trug. Die zierlichen Reisekoffer standen gepackt, und im Ankleidezimmer Melanie’s lagen der Reiseanzug von grauer Seide und der weite Mantel von dunkelrothem, weichem Flanell; Alles war aus Paris, vom Hütchen aus der Rue Rivoli bis zu den grauen Stiefelchen aus dem Palais royal und den Handschuhen von Jouvin.
Es dunkelte bereits, die Kronleuchter und zahllose Kerzen brannten, als die Köhler hinaufschlüpfte, um ihrer Schülerin beim Umkleiden zum letzten Mal behülflich zu sein. Das Fräulein war tief ergriffen. Sie hing wirklich mit ganzer Seele an dem schönen Geschöpf, das sie seit fünfzehn Jahren bemuttert hatte. Ehe Melanie heraufkam, schrieb die Dichterin unter strömenden Thränen noch folgende Verse nieder:
„Kirchenglocken, Kirchenglocken,
Myrthenzweige in den Locken,
Abschiedsthränen, leises Zagen,
Liebessehnen, Reisewagen,
Kofferträger, Schienengleise,
Nach Italien geht die Reise.
Land, wo die Citronen blüh’n!“
In diesem Augenblick trat die junge Frau in’s Zimmer. „Wissen Sie nicht, Liebste, wer vor einer Viertelstunde Alphons abrufen ließ?“ fragte sie aufgeregt.
„Nein!“ lautete die in erstauntem Tone gegebene Antwort. „Ich sah ihn gar nicht fortgehen und war wohl schon hier oben.“
„Wir wollen Jacques, seinen Diener, rufen lassen; er weiß sicher, wo sein Herr geblieben.“
„Aengstige Dich nur nicht gleich, Kind, Du siehst ohnehin so blaß und traurig aus. Es würde Alphons gewiß viel Freude gemacht haben, wenn Du Dich etwas zusammengenommen hättest. Du siehst uns ja schon im Winter wieder. Dein Herr und Gebieter war wirklich in etwas gereizter Stimmung. Ein einziges Lächeln –“
Ein Mädchen war auf das Klingeln der Gouvernante eingetreten. Man schickte sie hinunter, um den französischen Diener des Neuvermählten herbeizurufen.
An einem sonnigen Herbsttage war es, als sich mir die wunderbare Landschaft aufthat, welche dem durch ungeheuerliche Felsthore Eintretenden die Nähe Berchtesgadens, des vielbesuchten und vielgefeierten Städtchens im östlichsten Winkel des bairischen Hochlands, verkündet. Schon waren die vom Mühlsturzhorn herabgewetterten Kalktrümmer überschritten; die Eiszinken des Hochkaltern schauten über das üppige Grün des Ramsauer Engthales, und das Rauschen des Klausbaches übertäubte
[661]den Hall der Schritte, die sich auf den spitzigen Kalkkieseln der erst vor wenigen Tagen vom Hochwasser überrieselten Straße fortbewegten. Ich kam vom Hirschbühel herab. Bald sah ich den zerklüfteten Göhl aufragen und nach wenigen Schritten lag sein unergründlicher Spiegel vor uns, der oft besungene Hintersee. Aus diesem Gewässer blickt wie aus einem gewaltigen Thautropfen in Umrissen, welche von den leicht gekräuselten Wellen abgestumpft und verzärtelt werden, dieses ganze Land, das sich [662] mehr gegen die Höhe des Himmels als gegen seinen Rand hin erstreckt. Auf die mächtigen Ahorne, welche in dieser Mulde stehen, fielen schwache Lichter; schon vergilbten ihre Blätter, einige hingen purpurroth an den wuchtigen Aesten. Die ganze Gegend lag in jener seltsamen, dämonischen Beleuchtung, wie sie oft einem stürmischen Tage vorangeht. Die Zacken hatten die grellsten Umrisse; wo nicht schroff das Licht auffiel, war schwarze Nacht, der Schnee schien flüssiges Gold. Der höchste Glanz und unbegreifliche Dunkelheit grenzten haarscharf aneinander.
Bald hatte ich das Wirthshaus erreicht und saß im Gespräch mit Jägern. Man sprach von den Bergen und der größeren oder geringeren Mühe ihrer Ersteigung. Ein Watzmann, dessen Gipfel neuntausend Fuß hoch in’s Flachland hinausschaut, wird da gar nicht genannt, weil sein Rücken gemach ansteigt und man weder Steigeisen, noch Stricke und Leitern bedarf, um die hohe Zinke zu erklimmen. Ein Bergrücken aber, der dem Wanderer diese Dinge nicht zur Nothwendigkeit macht, kommt bei Erwähnung anstrengender Touren nie in Betracht, er möge so hoch sein, wie er wolle. Dagegen waren Alle darin einig, daß den Hochkaltern zu besteigen nicht Jedermanns Sache sei. Forstgehülfe Graßl, der diesen an Abgründen und Schrecken reichen Berg wie kein Anderer kennt, meinte sogar, es dürften es wohl die Allermeisten bleiben lassen, bis zum Signalgrat hinaufzuklettern. Wenn es auch kaum solche Wände giebt, wie die an der bekannten Zugspitz, an denen sich der Grainauer Forstwart herabließ, so ist doch die Möglichkeit auf’s Blaueis oder in tiefe Klüfte hinabzustürzen keine geringe. Der Forstgehülfe sprach noch aus frischer Erinnerung, denn er hatte erst diesen Nachmittag weit oben, in der Richtung gegen die Hocheisspitz zu, einen Hirsch geschossen. Ausgeweidet hatte er ihn gleich und auch das „Unschlitt“ mit herabgebracht, aber droben lag er noch, der schwere Zehnender.
„Der Jack muß ihn morgen herunterholen,“ sagte der Forstgehilfe.
Jack saß am Ofen. Er trug eine graue Joppe, Hosen von grobem Segeltuch mit einem Zwickel unter dem Knie und lange Strümpfe, welche weiß sein sollten. Er nahm die Botschaft mit der größten Freude auf.
„Der Andrädl muß auch mit,“ setzte er lakonisch hinzu.
Darauf verzehrten sie eine Suppe. Diese wurde in einer ungeheuern Schüssel aufgetragen und enthielt Verschiedenes, was gewiß nicht in Kochbüchern steht. Jack und Andrädl, der eben so gekleidet war, wie ersterer, legten sich sodann auf die Bank und tranken, wahrscheinlich schon auf den morgigen außerordentlichen Verdienst hin, ein paar große Gläser Enzianbranntwein.
Ich war mit dem Forstwart allein. Das Licht brannte trüber und trüber, in mir stieg aber immer gewaltsamer der Wunsch auf, mich bei der Abholung des Hirsches auf der schroffen Schneide zu betheiligen. „Es sind zwar gute sechs Stunden hinauf,“ meinte Graßl, „aber es bleibt Ihnen unbenommen, mit zu gehen, wenn Sie’s aushalten.“ Ich dankte ihm und zog mich zeitig zurück, um Kraft für einen Gang zu bekommen, der für Jack und Andrädl vielleicht ein Spaß, für jedes andere Fußwerk aber, als das eines Holzknechtes oder Jägers, jedenfalls eine Anstrengung sein mußte.
Der frühe Morgen zog wirklich so von den Wänden des Göhl herüber, wie ich mir es vorausgedacht hatte. Im Thale lag graue Trübe und in einer Höhe von wenigen Tausend Fuß versteckten dichte Wolkenbänke die Gipfel der Berge. Es war eine unerquickliche, feuchte Frühkühle. Auf dem Hintersee trieben sich Nebel herum, zwischen denen hier und da eine schwarze Welle hervorlugte.
„Es wird grob Wetter,“ sagten die Knechte, die schon lange in Bereitschaft standen. Die zwei Bursche sahen aus wie die ausgezeichnetsten Wildschützen, welche mir je in den Bergen vorgekommen sind. Voll Feuer, Kraft und Muth in den Augen, mit Muskeln wie Stahlfedern und einer Kenntniß der hohen Wildnisse, wie eine Alpendohle oder ein Jochgeier, konnte es ihnen nicht fehlen, wenn sie dem gefährlichen Gewerbe obliegen wollten. Ich machte Graßl meine Bemerkungen darüber, der aber sagte:
„Das sind Holzknechte bei uns und haben ihren ständigen Verdienst. So wie sie in Verdacht der Wilddieberei kommen, gleichviel ob begründet oder unbegründet, werden sie augenblicklich von der Arbeit entlassen. Das fürchten sie, denn sie können sich dann lange Zeit vergebens nach einer andern umsehen. An ihrer Lust zum Wildern aber zweifle ich keineswegs. So wird nicht leicht einer von unsern Leuten Wildschütz, allein aus dem Pinzgau kommen sie herüber. Denn drüben steht keine Gemse und kein Hirsch mehr, während bei uns Alles davon wimmelt.“
Unterdessen hatten die Knechte einen Schlitten beigebracht.
„Wir müssen doch nicht über Schnee? fragte ich, etwas angefröstelt.
„Nein,“ antwortete Graßl. „Die Zwei ziehen oder tragen den Schlitten so weit wie möglich, bis es einmal so steil hergeht, daß sie ihn stehen lassen müssen. Es zieht sich der Hirsch doch immer noch leichter auf dem Schlitten, wenn es gleich über Steine und Geröll geht, als er sich auf den Schultern trägt.“
Der Gebrauch des Schlittens Jahr aus Jahr ein ist im Berchtesgadener Lande überhaupt nichts Ungewöhnliches. Wie sollten die Bauern, welche in hochgelegenen Höfen, fast an der Grenze des Felsens, im sogenannten „Mittelgebirg“ wohnen, ihre Lasten auf und ab bewegen? Der einzige Weg zu ihnen hinauf ist ein Gangsteig oder Viehtrieb, bei dessen bloßem Anblick jeder Gedanke an die Möglichkeit eines Wagens oder an die Möglichkeit, eine schwere Bürde auf den Schultern hinaufzutragen, schwindet. Ich begegnete einmal im Juli, als ich in einem feuchten steinigen Hohlgrund eine jähe Höhe hinanschritt, einem solchen Erdschlitten; er trug eine Leiche. Hinterher gingen eine Menge Leute von den umliegenden Alpenhöfen, laut für die Ruhe des Dahingeschiedenen betend. Dieses Bild frischte in mir der Anblick des Schlittens, auf welchem man den getödteten Hirsch herabholen wollte, lebendig wieder auf, und ich kann nicht sagen, daß es zur Vermehrung der heiteren Eindrücke dieses Morgens beitrug.
So setzten wir uns denn – der Forstgehülfe, Jack, Andrädl und ich – in Bewegung. Es dauerte nicht lange und das Steigen begann. Ueber Steine und vielfach verästelte Wurzeln der Nadelbäume ging es mühsam aufwärts. Nachdem wir eine gewisse Höhe erreicht hatten und das Ramsauer Thal, die Rabenau, tief unter uns sahen, der Klausbach nur noch am Rauschen kenntlich war und der Hintersee blaß zwischen hohen Wipfeln heraufdämmerte, trennten wir uns. Die Knechte zogen den Schlitten über den Reitsteig weiter, der mit vieler Mühe bis in’s Ofenthal, ein felsiges Plateau, angelegt wurde. Es kann nur einem König einfallen, hier reiten zu wollen. Der verstorbene König von Baiern, ein leidenschaftlicher Gemsenjäger, ließ sich zu seiner Bequemlichkeit an und auf vielen Bergen des Hochlandes solche Steige ebenen, wobei mancher der Arbeiter beim Sprengen oder durch anderes Unglück sein Leben verlor. Freilich sind sie auch für den Alpenpilger eine gewünschte Hülfe, und manche Berge, wie z. B. der Kramer bei Garmisch unweit Partenkirchen, sind dadurch eigentlich erst zugänglich geworden.
Wir aber hielten uns auf dem „Jagersteigl“, das sich links am steilen Gewänd hinzieht. Die Wände links und die Abgründe rechts begannen schon in gewaltigen Verhältnissen aufzutreten, und oft blieb den Füßen nur ein schmaler Raum, um sich zwischen beiden hindurch zu winden. Hier und da half uns eine Eibe mit ihren Nadelklumpen; an diesen Wänden ist einer der wenigen Standorte, an welchen dieser merkwürdige Baum in Südbaiern noch angetroffen wird. Wir mußten aus Vorsicht uns Schritt für Schritt an den Felsen hinantasten und hatten deshalb Muße genug, die Stämmchen näher anzusehen. Denn es sind meist nur dünne Stämmchen. Ein solches Stämmchen von neun Zoll Durchmesser kann aber an dreihundert Jahre alt sein; es giebt wohl keinen Baum, der langsamer wächst.
An einem Quell, der aus dem Kalkgeklüft hervorrieselt, ruhten wir, bereits durstig geworden, ein wenig aus und betrachteten, was bei dem Nebel zu sehen war. Hinter uns war eine wüste aufgeriebene Furche in den Berg eingerissen; der aufgewühlte Felsgrund sah aus wie das trockene Bett eines wilden Alpenstromes. Hier hatten vor Zeiten herabstürzende Lawinen einen Schutzwall zerschmettert und mit den tiefen Wurzeln ausgerissen. Daß er später wieder angesäet worden war, sah man an jungen Pflanzen, die an einigen Stellen aus der Verheerung hervorschauten, aber auch von diesen waren die meisten wieder von spätern Rutschungen und Schneestürzen theils ausgewühlt, theils mit Schotter überdeckt worden. Eine solche Rinne bringt dem Fremdling zuerst einen klaren Begriff von der Macht der zerstörenden Gewalten in den Alpen bei. Aber das Merkwürdige dabei bleibt, daß die hohen Gipfel dadurch an ihrer eigenen Zerstörung arbeiten. Der Schotter, die vom Wasser gewaschenen Kalktrümmer, werden herabgeschwemmt, von den Bergwassern in die Flüsse getragen, von diesen zerschlämmt [663] und kommen endlich bei den großen Deltabildungen der Ströme als Niederschlag wieder zum Vorschein.
Nachdem wir noch eine Stunde hinangestiegen waren, erreichten wir das „Jägerhäusl“, eine Hütte, welche den Eindringlingen in diese Orte der Stürme und des Verderbens einen nothdürftigen Schutz gewährt. Von hier konnte man deutlich in die zerklüfteten Wände hineinschauen, auf deren Spitzen und deren Scharten unvergängliche Schneelager sich festgesetzt haben. Zur eigentlichen Gletscherbildung kommt es in den bairischen Kalkalpen nicht; die blauen Eismassen, welche hie und da den Abfall der Wände trennen, sind eigentlich nur fest durchgefrorener Schnee. Denn das Gestein ist zu porös und auch wegen seiner Weichheit von der Atmosphäre so abgewittert, daß es nirgends die sanften Neigungen, die Kuppelform darbietet, wie die Centralalpen, auf deren krystallinischem Gestein sich das Eis leicht aufhäuft.
Eine Portion Branntwein, die den Culturmenschen in der Ebene vollständig betrunken machen würde, läßt ihn hier vollständig nüchtern. Die große Anstrengung, die feine Luft „zehren’s“ wieder weg. Eine solche Libation nahmen wir im „Jägerhäusl“ vor, und nun galt es, unsere Genossen einzuholen, die jetzt wohl auch schon an einer Stelle angekommen sein mochten, wo sie den Schlitten stehen lassen mußten.
Nach einem beschwerlichen Marsche auf den von den Wänden niedergerollten spitzigen Steinen, auf denen eben ein während der Nacht frischgefallener Schnee zerfloß, kamen wir in’s Ofenthal. Hier ist bei königlichen Gemsjagden der „Anstand“. Hunderte von Treibern haben vorher Tage lang auf den schroffsten Gebirgen eine Kette gebildet, welche das geängstigte Wild bestimmten Punkten zujagt. Mit ungeheurem Geschrei – das Hetzen macht diesen Leuten Vergnügen – scheuchen sie die Thiere nach den angegebenen Zielen. Sie haben es übrigens mit keinem zu unterschätzenden Gegner zu thun; die „Leitgeißen“ sind schlau und erspähen jede Gelegenheit, die Kette zu durchbrechen und nach sicheren Revieren zu entkommen. Auch dürfen sich die Treiber vor den Steinen in Acht nehmen, welche durch die Flucht großer Rudel von den Graten herabgewälzt werden. Oft weiß auch die Herde kein anderes Mittel der Flucht, als sich einem der Treiber gerade entgegenzustürzen; da bleibt diesem nichts übrig, als sich platt auf den Bauch zu legen und die hohlhörnigen Wiederkäuer über sich stampfen zu lassen. Er darf dann von Glück sagen, wenn er mit ein paar Löchern im Kopfe davonkommt. An solchen Punkten, wie z. B. hier in der engen Schlucht des Ofenthales, stehen dann die Cavaliere und schießen auf die vorübereilenden Thiere aus Büchsen, welche ihnen ihre hinten postirten Leibjäger fortwährend geladen überreichen. Von den Mühen der Treiber haben die vornehmen Jäger meist keinen Begriff.
Unsere Knechte, die auch dies Treiberhandwerk wohl verstanden, erwarteten uns. Der Schlitten wurde zurückgelassen und nun ging es bergan. Der eigentliche Ernst der Partie begann. Der Hirsch versteigt sich zwar selten so hoch wie dahin, wo wir eben einen todten holen wollten; in der Regel überschreitet er die Grenze des Baumwuchses nicht, da er auf dem nackten Gestein überaus unbeholfen ist. Aber bei schönem Wetter kommt es doch von Zeit zu Zeit vor, daß er in höhere Regionen geräth – und gestern war ein prachtvoller Tag gewesen. Die Baumstämme wurden spärlicher; oft hatte eine solche „Rinne“ ihren Bestand durchrissen. Häufig, wenn der Fels zu steil hinanstieg, hielten wir uns an den zuverlässigen Legföhren. Die Welt versank immer tiefer und schon kamen am Horizont, der sich in der Höhe mehr aufhellte, Eiskuppen zum Vorschein, die an dreißig deutsche Meilen entfernt sind. Es wurde bitter kalt; ein eisiger Wind trieb die Wolken unter uns umher, wie Staubsäulen auf einer Chaussee.
Endlich handelte es sich darum, auf zwei Fuß breitem Raume eine Kante zu umgehen, die in eine unabsehbare Tiefe abstürzt und an der man sich nur durch Festhalten an einigen verdorrten Latschen herumhelfen kann. Eben entstand eine Lücke im Gewölk und der Spiegel des Hintersees schaute herauf. Dann schloß sie sich wieder, eine andere tauchte daneben auf und so fort. Mir begann wirr im Kopfe zu werden; ich sah, daß ich im Begriffe stand, den horror vacui zu bekommen, das heißt, schwindelig zu werden. Aus Erfahrung wußte ich, daß hier alles Ermannen und Ermuthigen, alles Zwingenwollen nichts hilft; wohl aber, daß ich durch Herumgehen um jene Ecke mich in eine Lage versetzen könnte, in der ich weder zum Vor- noch zum Rückwärtsschreiten mehr die Besonnenheit hätte, mich so in arge Gefahr, meine Begleiter aber in bittere Verlegenheit brächte. Denn an solchen Stellen hat Jeder mit sich selbst zu thun und kann nicht einen Menschen führen, der im Stande ist, sich und ihn hinabzustürzen.
Ich sagte also meinen Begleitern, ich wolle sie hier erwarten. Sie waren’s zufrieden, und in wenigen Secunden standen sie jenseits des Abgrundes.
Die Zwischenzeit benützte ich, um die umgebende Vegetation zu betrachten. Das Kleinwerden der Baumformen, die Legföhre, die zwergigen Stämme lehren, daß wir der Grenze des Pflanzenwuchses näher gerückt sind. Es ist ein trauriger Anblick, dessen ich bald überdrüssig wurde. Ich nahm mein Perspectiv heraus und sah mich um. Da erblickte ich zu meiner freudigen Ueberraschung in der Entfernung fünf Murmelthiere. Eines lag auf den Pfoten und schaute gerade in meiner Richtung her, gewiß aber, ohne mich zu sehen; ein anderes stand auf den Hinterfüßen und nagte an einer Pflanze, vielleicht einem Bärenklau oder Alpenwegerich; ein drittes hockte auf einem Block und machte Männchen, wie ein Hase. Zwei andere scherzten miteinander, indem sie sich wie junge Hunde wechselseitig über den Haufen warfen. So bot selbst die hohe Wüste frohes Leben. Ich ergötzte mich sehr an den Possen dieser „Mankein“, wie sie unser Volk nennt. Es waren vielleicht vorläufig ihre letzten, denn schon der nächste tiefe Schnee kann sie in ihre Winterwohnungen treiben, welche sie vor dem nächsten Juni nicht mehr verlassen.
Mit einem Male erscholl ein gellendes Jauchzen von der Kante her; die Murmelthiere gaben ein tiefes Pfeifen von sich und verschwanden. Andrädl tauchte zuerst um die Ecke herum auf, er schwang ein Beil. Gleich darauf kam Jack mit einem ungeheuren Hirsch beladen und dicht hinter ihm Graßl, der, wie mir schien, sorgsam die Geweihe vom Boden abhielt. Es war so, ich sah nachher, daß er es thun mußte, denn jedes Verfangen der Enden an den Latschenästen und Festhaken derselben auf dem Boden konnte den armen Jack in den Abgrund schleudern. Endlich kamen sie mir nah. Andrädl mußte fortwährend die Latschen auf dem Boden aushauen, damit Jack sichern Fuß zu fassen vermochte; denn sie waren noch immer nur wenige Schritte von der Wand entfernt, wo ein Fehltritt die Wanderer unfehlbar schleunigst in die nächste Nähe des viertausend Fuß tiefer liegenden Hintersees befördert hätte. Auch ein paar große, verwitterte Stämme, die, von Blitzen getroffen, wohl schon seit einem Jahrzehnt da auf dem Felsen lagen, hatte der unermüdliche Andrädl zu beseitigen, damit sein Freund Jack nicht zu nah an die verderbliche Senkung gerieth.
Der Hirsch wog seine zwei Centner. Die Sehnen der vier Füße waren durchstochen und der eine Fuß nach Waidmannsart durch den Schlitz im andern durchgesteckt. Alle vier kreuzten sich auf Jack’s Brust. Es war wirklich ein Zehnender, den er trug.
Ich sah, daß Jack trotz der Kälte von Schweiß triefte, und fragte Graßl, ob sie sich hier nicht noch ein wenig ausruhen wollten.
„Da nicht,“ sagte dieser, „der Wind hat sich gedreht, das Gewölk wird wieder heraufgejagt und wir bekommen einen tüchtigen Schneesturm.“
Dagegen war freilich nichts einzuwenden. So stieg ich denn mit den Dreien durch das Krummholz hinab. Sie hielten immer die Ordnung ein, in der sie um das verhängnißvolle Eck gekommen waren, und ich weiß wirklich nicht, wer den mühsameren Posten hatte. Jack trug freilich die Last, aber Graßl konnte sich seiner Arme nicht frei bedienen, was beim Bergabsteigen als große Beschwerde erscheint, und Andrädl hatte es fast immer mit Latschen und Baumstämmen zu thun. Nach schweren Mühen erreichten sie im Ofenthale den Schlitten und das Gröbste war überstanden.
„Wie sieht’s denn da weiter oben aus?“ fragte ich Graßl.
„Es kommen nicht gar viel schwierige Stellen, aber manchmal kann’s eben doch schief gehen. So gingen wir z. B. im vorigen Jahre ganz hinauf auf den Hochkaltern. Sie wissen, daß er nur um wenige Fuß niedriger ist, als der Watzmann. Wie’s aber im Vergleich mit diesem zu steigen ist, das haben Sie selbst gesehen. Da war auch ein junger Maler aus Wien dabei, ein tüchtiger Bergsteiger. Als wir in’s Ofenloch kamen, war er der Letzte. Sie wissen, das Ofenloch ist eine enge Schlucht, die man nur über eine fußbreite Schneid’ erreicht, von der’s links und [664] rechts in’s Blaue hinuntergeht. Wir waren schon Alle glücklich darin im Ofenloch, als zufällig unter den Tritten von Einem der Vorderen sich ein großer Stein losmachte. Der rollte gleich wie rasend durch die Schlucht hinab; der Maler, der zuletzt ging, sah ihn auf sich zukommen. Was wollte er thun? Der Stein konnte an ihm vorbeispringen, er konnte ihn aber auch zerschmettern, und das war das Wahrscheinlichste. Er besann sich deshalb nicht lang, sondern kehrte um und sprang mit einem Satze in die freie Luft hinaus, in der Hoffnung, mit den Füßen auf die Schneid’ zu stehen zu kommen, aus der wir herausgekrochen waren. Da hatte er nun ein wunderbares Glück; er kam wirklich darauf zu stehen, obschon er sie von der Mündung des Ofenloches nicht zu sehen vermochte, überhaupt dort nichts Anderes erblicken konnte, als den blauen Himmel. Ich hätte aber Hundert gegen Eins gewettet, daß es ihm wie dem Stein gegangen wäre, der einen Augenblick nachher auf den Gletscher Blaueis hinabstürzte, daß es durch das ganze Gebirg’ nur so krachte.“
Als wir in’s Wirthshaus kamen, erhielt Jack seinen Lohn für das Hirschherabholen. Derselbe besteht aus achtundvierzig Kreuzern. Sein Tagelohn als Holzarbeiter läuft dabei fort, was er für eine große Gnade hält.
Frage sich der Leser, um welchen Preis er wohl zwei Centner vom Hochkaltern herabholen würde!
Wir ließen es uns schmecken, als ob man uns fürstliche Speisen auftrüge. Das Gefühl der Behaglichkeit erhöhte bald, wie Graßl vorausgesetzt hatte, ein mächtiger Sturm, der Flocken und Graupeln an die Scheiben warf. Der See heulte wie ein gewaltiges Gewässer, und als wir am nächsten Morgen erwachten, war die glänzende Decke der hohen Firste bis in die grüne Ramsau ausgebreitet.
Von Johannes Scherr.
(Schluß.)
Am Morgen des 4. Februar 1718 ging im Kreml, dem alten Nationalheiligthum Rußlands, allwo vierundneunzig Jahre später der Glück- und Glanzstern Napoleon’s in Brandrauchwolken versank, eine Haupt- und Staatsaction vor sich.
Im Innern des bunten Durcheinanders von Palästen, Tempeln, Arsenalen, Hallen und Höfen stand die preobraschenskische Garde unter den Waffen. Andere Regimenter hielten die Umgebungen und Zugänge der weiten Czarenburg besetzt. Die höchsten Würdenträger des Reiches, Senatoren, Prälaten, Generale und Admirale waren im Conferenzsaale versammelt. Umgeben von einer Wolke von Hofbeamten, erschien der Czar. Die Flügelthüren des Prunkaudienzsaales sprangen auf. Peter schritt, von der ganzen Versammlung gefolgt, hinein und setzte sich auf den Thron. Es verdient Erwähnung, daß in dem glänzenden Kreise von Reichsmagnaten, welcher ihn umgab, auch eine Abordnung der Bürgerschaft von Moskau in ihren langen, dunkeln Röcken Platz gefunden hatte.
Auf einen Wink des Herrschers trat der Czarewitsch ein, gefolgt von Peter Tolstoi. Der Prinz ging zum Throne, kniete auf die Stufen desselben nieder und überreichte seinem Vater ein Papier, dessen Inhalt der Czar durch einen Staatsschreiber vor der Versammlung verlesen ließ. Es enthielt das Bekenntniß der Verfehlungen Alexei’s und dessen Bitte um Gnade.
Der Czar, auf dessen Stirn eine schwere Zornwolke lag, entlud seinen Kummer und Groll in einer langen Strafrede, deren Schluß der Ausruf bildete, daß die Verschuldungen eines so unkindlichen Sohnes eigentlich von Rechtswegen durch die Todesstrafe gesühnt werden müßten.
Der Czarewitsch warf sich dem Vater zu Füßen. „Ich flehe um keine andere Gnade, als nur um das Leben.“
„Das sei Dir gesichert. Aber es ist nothwendig und es ist mein unabänderlicher Wille, daß Du dem Throne entsagest. Willst Du?“
„Ja.“
„So sei es, und ich weise Dir von heut ab ein Jahreseinkommen von vierzigtausend Rubeln an.“
Dies gesprochen, erhob sich der Czar und begab sich an der Spitze der ganzen Versammlung in feierlicher Procession nach der uspenskischen Kirche. Hier mußte der Czarewitsch die geschehene Verzichtleistung mit einem Eidschwur bekräftigen und wurde hierüber eine Urkunde aufgesetzt, welche die sämmtlichen zur Versammlung Geladenen mit unterfertigten. –
Was bis dahin der Czar in dieser Sache gethan hatte, mag und muß sogar ein unbefangenes Urtheil vom Gesichtspunkt begründeter Sorge um das Staatswohl aus begreiflich und gerechtfertigt finden. Nun aber nahm die mißliche Angelegenheit eine Wendung, vor welcher europäische Nerven zurückbeben, weil diese Wendung alle Gräuel asiatischer Despotie mit sich brachte.
Es untersteht keinem Zweifel, daß während der Fluchtreise des Czarewitsch schlimme Zettelungen den Czaren umsponnen hatten, Zettelungen, welche darauf hinausliefen, den unglücklichen Prinzen nicht allein um die Thronfolge, sondern auch um das Leben zu bringen. Der Mittelpunkt dieses Ränkespiels, dessen Betreiber sehr geschickt auf die wilde Leidenschaftlichkeit Peter’s speculirten, ist sicherlich die Czarin Katharina gewesen, obzwar ihre direct persönliche Betheiligung an dem gräßlichen Spiele nicht mit völliger Sicherheit aufgedeckt werden kann. Es handelte sich darum, auch nach dem Tode des Czaren Rußland auf der Bahn, auf welche es Peter geworfen hatte, festzuhalten; denn nur in diesem Falle sahen alle die Werkzeuge und Günstlinge des Czaren, Katharina voran, ihre Zukunft gesichert. So lange aber der legitime Thronnachfolger lebte, war der dereinstige Wiederhereinbruch des Altrussenthums und somit ein über alle Förderer und Anhänger von Peter’s Reformwerk ergehendes Rachegericht nicht nur eine Möglichkeit, sondern eine Wahrscheinlichkeit, ja eine Gewißheit. Demgemäß mischten die, welche schon um ihrer eigenen künftigen Sicherheit willen den Czarewitsch gänzlich beseitigen und der Katharina die Thronfolge zuwenden wollten, die Karten, von welchen sie dem Czaren eben nur solche sehen ließen, die er ihren Absichten gemäß sehen sollte. Das ganze Spiel hat er nicht durchschaut oder wenigstens erst dann, als es zu spät war. Denn es muß ihm zugestanden werden, daß er es mit der gewährten Begnadigung des Sohnes ernstlich gemeint hatte. Aber umgarnt, wie er war, ließ er sich von den Ränklern weiter und weiter fortziehen, und seine zügellosen Leidenschaften thaten das Uebrige.
Der Hauptkartenmischer scheint Allem nach der Senator und Staatsrath Tolstoi gewesen zu sein. Auch ein Fürst Dolgoruki tritt unter der Regisseuren des Trauerspiels zeitweilig in den Vordergrund und zwar zweideutig genug. Er soll dem Czarewitsch aus Auftrag des Czaren zugeredet haben, die Mönchskutte zu nehmen, aber mit dem Beifügen: „Sie brauchen sich darob keine grauen Haare wachsen zu lassen. Nach dem Tod Ihres Vaters verlassen Sie das Kloster und besteigen den Thron.“ Für die Hände solcher Intriguenkünstler mußte der Körper- und Geistesschwächling Alexei ein leicht herzurichtendes Opfer sein. Dieses eine Opfer genügte aber der neurussisch-katharinaischen Partei nicht, es galt vielmehr, mit dem Schlage, womit der unbequeme Czarewitsch getroffen werden sollte, zugleich auch die altrussische Partei, wenigstens in ihren Spitzen, niederzuschmettern und wegzusäubern.
Noch am Tage der Haupt- und Staatsaction vom 4. Februar wurde der Prinz einem Verhör unterzogen, damit seine Mitschuldigen, d. h. alle diejenigen, welche ihn zu seinen Verkehrtheiten ermuntert und angeleitet hätten, bekannt würden. Wir müssen annehmen, daß sich der geängstigte, arg in die Enge getriebene Unglückliche Aussagen entpressen ließ, wie man sie wünschte, Aussagen, welche für eine Menge von Personen sehr beschwerend waren. Daß Alexei schon jetzt mittels der Knute oder sonstiger Qualwerkzeuge gefoltert worden, ist unerwiesen und auch unwahrscheinlich. Seine [665] Angst war wohl eine ausreichende Folter, der Kern seiner Geständnisse aber dieser, daß ihm von Seite der altrussischen Partei der Rath zugekommen sei, sich zu verstellen, Alles stillschweigend geschehen zu lassen, nöthigenfalls auch in ein Kloster zu gehen, aber nach dem Tode des Vaters die Maske abzuthun und die altmoskowitische Herrlichkeit wieder aufzurichten.
Darauf hin wurden in Moskau allein siebenzig Verhaftungen vorgenommen, und Fahndungsbefehle gingen in alle Theile des Reiches, so daß die Procedur rasch ganz monströse Verhältnisse annahm. An die Klosterpforte von Ssusdal klopften ebenfalls Haftboten: die verstoßene Czarin Awdotja wurde als Gefangene nach Moskau abgeführt. Auch des Czaren ränkesüchtige Schwester Maria wurde verhaftet, sowie die Fürstin Galizyn, eine abgefeimte Creatur, welche ihre alten Tage zwischen Ausschweifungen und Verschwörungsversuchen theilte. Hinter den verschworenen Frauen stand als Antreiber ein Pfaffe, der Erzbischof Dosithei von Rostow, – was ganz in der Ordnung; denn wo und wann hätten in lichtscheuen Geschäften die „Diener des Herrn“ nicht mitagirt? Czar Peter war freilich der Mann, auch sothane Diener des Herrn sehr nachdrucksam bei ihren höchst ehrwürdigen Bärten zu packen. Nicht als Mann aber, sondern als Unmensch und rechter Gräuelpeter erwies er sich, als er seiner Wuth so sehr Zaum und Zügel schießen ließ, daß er nicht nur der alten Galizyn, sondern auch der Mutter seines Sohnes, der verstoßenen Awdotja, eigenhändig die Knute gab. Allerdings war die Ex-Czarin schwer compromittirt, wenigstens in den Augen des Czaren wirklich und schwer compromittirt. Unter ihren Papieren hatte man die Beweise ihrer unlauteren Vertraulichkeit mit Stephan Glebow aufgefunden, sowie einen förmlichen Plan, den Czaren vom Throne zu stoßen. Waren aber diese Documente echt? Oder waren sie von der Sorte, wie sie zu unseren Zeiten in verschiedenen Ländern aus gesellschaftsretterlichen Fabriken hervorgegangen sind? Dame Historia muß mit verlegenem Augenniederschlag der Wahrheit gemäß eingestehen, daß sie bis zur Stunde außer Stande sei, die eine oder die andere dieser Fragen mit Bestimmtheit zu bejahen oder zu verneinen.
Das Blut begann zu strömen. Schon am 25. März 1718 wurde über Dosithei, Kikin, Wäsemski und Glebow das Todesurtheil gefällt. Die drei Ersteren wurden gerädert, der Letzte asiatisch-barbarisch gepfählt. Glebow ist wie ein Held gestorben. Die raffinirteste Folterpein hatte ihn nicht dazu bringen können, gegen die Czarin Awdotja zu zeugen, und selbst auf dem schrecklichen Pfahle behauptete er bis zum letzten Athemzug seine Standhaftigkeit. Dieser muß es gedankt werden, daß gegen Awdotja nicht weiter verfahren werden konnte. Im Uebrigen aber war das Unheil einmal im Schwung und Zug und mußte seinen Fortgang haben. Nachdem noch in Moskau eine große Anzahl von Beschuldigten, darunter an fünfzig Popen und Mönche, hingerichtet worden, befahl der Czar, daß die Fortführung der Procedur in St. Petersburg statthaben sollte, wohin er selber ging und wohin er auch den gefangenen Czarewitsch bringen ließ.
Zum Unheil für Alexei kehrte die Finnin Affraßja, welche er in’s Ausland mitgenommen hatte, gerade jetzt von dort zurück, und sei es, daß sie wirklich nur gezwungen mit dem Prinzen gelebt hatte und ihm deshalb Haß trug, sei es, was wahrscheinlicher, daß Alexei’s Feinde in ihr ein förderndes Werkzeug erkannten und zu gewinnen wußten: genug, dieses Weib, welches der unglückliche Czarewitsch wirklich geliebt hat – denn er bat nach seiner Verurtheilung seine Wächter weinend, sie möchten ihm die Erlaubniß auswirken, Affraßja nur noch einmal zu umarmen – dieses Weib ward an ihm zur Verrätherin und Anklägerin. Sie gab an, der Prinz habe allezeit den entschiedensten Widerwillen gegen das ganze Wesen und Walten seines Vaters gehegt und geäußert. Er habe kein Hehl daraus gemacht, daß er dereinst, sofort nach seiner Thronbesteigung, dem Peter’schen System sein Ende bereiten würde, und er habe mit der altrussischen Partei in engen Beziehungen gestanden, mit der Partei, welche geplant, daß nach Peter’s Tod seine Haupthelfer und Günstlinge, wie Mentschikow, Jaguschinky, Scheremetew, Schaffirow und Andere, gespießt und sämmtliche Deutsche im Reiche niedergehauen werden sollten. Dann wollte man Petersburg zerstören, das stehende Heer auflösen und im Kreml zu Moskau unter Czar Alexei auf gut Altmoskowitisch residiren und regieren.
Niemand hat in des Czaren Seele geblickt und uns gesagt, was Alles in derselben durcheinander und übereinander wogte und wallte, als er erkennen mußte oder erkennen zu müssen glaubte, daß er zwischen dem Sohn und der Zukunft Rußlands zu wählen habe. Ueber das Vatergefühl hinauszukommen, gehört ohne Frage zu dem Schwersten, was einem Menschen auferlegt werden kann, und nichts berechtigt uns, anzunehmen, daß dieses Schwere und Schwerste zu vollbringen dem schrecklichen Czaren nicht harten Kampf und bitteres Leid gekostet habe. Den Kampf zu enden, mag dann die weitere Anklage, daß die um den Czarewitsch her thätigen, obzwar bislang nur mit Worten thätigen, Umtriebler auch im Sinne gehabt, ihr Reactionswerk dadurch zu beschleunigen, daß sie dem Czaren nach dem Leben trachteten, bedeutend mitgewirkt haben. Peter war jetzt entschlossen, zum Aeußersten zu schreiten.
Am 6. Juni berief er eine Versammlung von zwanzig Prälaten und einhundert vierundzwanzig hohen Staatsbeamten. Jene sollten begutachten, ob es auf Grund der Bibel zulässig, den Czarewitsch zu strafen; diese sollten sich als Tribunal constituiren, um den Prinzen und seine Mitschuldigen zu richten. Die Priester sagten nicht Ja und nicht Nein, sondern wickelten salbungsvoll ihr Gutachten, das weder warm noch kalt, in ein Convolut von Bibelstellen, aus welchen der Czar entnehmen konnte, was ihm beliebte. Der Gerichtshof constituirte sich, allein seine Zusammensetzung war so, daß das ganze Verfahren nur eine düstere Komödie sein konnte. Die Richter nannten sich selbst die „Sclaven“ des Czaren und sie sind in Wahrheit nichts gewesen, als Ja sagende Marionetten an den Drähten, welche die Matadore der katharinischen Partei in Händen hielten. Es war ein politischer Parteiproceß und die Besiegten wurden von den Siegern gerichtet, damit ist Alles gesagt.
Wir besitzen keine völlig verläßliche Berichterstattung weder über die Einzelheiten der Procedur noch über die der Katastrophe, welche dieselbe beschloß. Die vorhandenen Relationen widersprechen sich, sogar in Hauptsachen. Die Trübheit vollends der officiellen Quellen ist ganz augenscheinlich, wie ja das in solchen Fällen naturgemäß. Aber auch in den nicht officiell-russischen, in den Berichten, welche die auswärtigen Gesandten an ihre Höfe abstatteten, ist Alles voll Dunkel, Verworrenheit und Widerspruch. So wußte der sächsische Geschäftsträger zu berichten, Alexei habe sich vor seinen Richtern keineswegs als Schwächling und Feigling benommen, sondern sei vielmehr sehr mannhaft und kühn aufgetreten, seinem Vater in’s Angesicht trotzend. „Er wisse sehr wohl,“ habe er geäußert, „daß der Czar ihn nicht liebe, und deshalb hätte auch er sich von der Liebespflicht, welche gegenseitig sein müsse, entbunden geglaubt. Er hätte es also für kein Unrecht gehalten, seinen Haß gegen die Neuerungen und Günstlinge seines Vaters kundzugeben, unter deren Druck das gequälte russische Volk seufze.“ Das stimmt nun aber gar nicht mit dem ganzen Wesen und Gebahren des Prinzen. Wahr mag sein, daß er, das Wenige, was von Kraft noch in ihm war, zusammenraffend, anfänglich versuchte, seinen Richtern stolz gegenüber zu treten; aber nicht minder wahr mag sein, daß er, wie der preußische Gesandte Mardefeld (?) heimschrieb, zuletzt „zu Allem sich bekannte, was er wußte, und wohl auch zu Solchem, was er nicht wußte.“ Daraufhin habe der Gerichtshof über den Unglücklichen das Todesurtheil gesprochen, und dieses wurde ihm am 7. Juli 1718 in feierlicher Sitzung des Senats kundgemacht. Diese Verkündigung des Todesspruchs am genannten Tage steht unzweifelhaft fest.
Nun aber läßt sich ein österreichischer Berichterstatter aus Petersburg vernehmen, der von einem Eingeständniß und Sündenbekenntniß des Czarewitsch Nichts, dagegen folgendes Schreckliche zu melden weiß: „Die Todessentenz konnte vermöge der russischen Gesetze nicht zur Execution gebracht werden, bevor der Prinz durch sein eigenes Geständniß seines Verbrechens überzeuget worden wäre, und weil er Alles leugnete und sich Niemand wollte finden lassen, der die Hand an seinen Kronprinzen, um solchen zu torquiren, hätte legen wollen, so nahm der Czar solches Amt selbsten über sich. Da er aber dieses Amt noch nicht so meisterlich als der ordinäre Büttelknecht verstehen mochte, versetzte er seinem Sohn mit der Knutpeitsche einen solchen unglücklichen Streich, daß Alexei gleich sprachlos zur Erde sank und die anwesenden Ministri nicht anders meinten, als daß der Prinz sogleich verscheiden würde. Der Vater hörete zwar auf zu schlagen, ließ aber im Weggehen diese häßlichen Worte verlauten: ‚Der Teufel wird ihn noch nicht holen!‘“
Falls diese Scene geschichtlich-wahr, so würde sie uns den Czaren als einen Wilden, als einen rasenden Barbaren und [666] vollendeten Tyrannen vorführen. Und unmöglich ist der Gräuel keineswegs; erinnern wir uns, daß Peter auch seine rechtmäßige Frau Awdotja allerhöchsteigenhändig geknutet hat. Der Jähzorn dieses Mannes hat häufig genug seine menschlichen Züge in’s Bestialische verzerrt. Mag er aber auch von der Beschuldigung, des Sohnes Knutung selber vollzogen zu haben, vielleicht freizusprechen sein: daß der Prinz nach über ihn gefälltem Todesspruch wirklich noch „torquirt“, d. h. geknutet wurde, ist nicht zu bestreiten. Der bis zur Raserei erhitzte Argwohn des Czaren war mit den erlangten Resultaten der Procedur nicht zufrieden, und es sollten dem unglücklichen Alexei noch mehr Geständnisse, noch mehr Namen von Mitschuldigen entrissen, d. h. entknutet werden.
Am Abend des 8. Juli, also einen Tag nach Fällung des Todesurtheils verstarb der Czarewitsch an einem – Schlagfluß, der ja, wie weltbekannt, in russischen Czarenpalästen als ein gar häufig angerufener und allzeit dienstgefälliger Nothhelfer zu erscheinen pflegt. Die amtliche Hofchronik läßt dem Tode des Prinzen noch eine rührende Scene vollständiger Aussöhnung mit seinem Vater vorangehen, wie das nur einer wohlbeflissenen Hofhistoriographie Pflicht und Schuldigkeit. Die nichtamtlichen Berichte über Alexei’s Tod geben von dem „Schlagfluß“ verschiedene Definitionen. Eine derselben sagt aus, ein Schlagfluß habe allerdings stattgehabt, aber in Folge eines von dem Apotheker Bär bereiteten und dem Prinzen gewaltsam eingenöthigten Gifttranks. Eine zweite will, der Schlagfluß sei eigentlich ein Beil gewesen, das Beil, womit der General Adam Weide auf Befehl und im Beisein des Czaren dem Czarewitsch im Gefängniß heimlich den Kopf abgeschlagen habe. Eine dritte vergräßlicht das Gräßliche, indem sie das Richtbeil dem Vater des damit Gerichteten in die eigenen Hände legt.
Es ist aber zur Ehre der menschlichen Natur und zur Steuer geschichtlicher Wahrheit zu sagen, daß eine heimliche Hinrichtung des Prinzen gar nicht stattgefunden hat und daß eine öffentliche – welche zu veranstalten Peter, der ja den Sohn auch öffentlich hatte richten und verurtheilen lassen, wohl der Mann gewesen wäre – nicht stattzufinden brauchte, weil Alexei, schon durch den über ihn ergangenen Todesspruch furchtbar erschüttert, an der am 8. Juli drei Mal an ihm vollzogenen Knutungstortur gestorben ist. Mit diesem Ergebniß einer vorsichtigen Ausschöpfung aller zugänglichen Quellen stimmt auch die Ansicht solcher Russen überein, welche, wie z. B. der Fürst Peter Dolgorukow, von der nichtofficiellen, d. h. wirklichen, Geschichte ihres Landes am meisten wissen. –
Schon am 9. Juli war der Leichnam des Czarewitsch in der Dreifaltigkeitskirche öffentlich ausgestellt. Zwei Tage darauf ging mit gebührendem Pomp die Bestattung vor sich. Der Czar wohnte als erster Leidtragender der Ceremonie an. Die gehaltene Grabrede hatte zum Text die Stelle aus dem zweiten Buch Samuels: „Da ward der König David traurig und ging hinauf in den Saal über dem Thore und weinete und sprach im Gehen: ‚O Absalom, mein Sohn Absalom, wäre ich doch statt Deiner gestorben!‘“ Als diese Worte verlesen wurden, brach der Czar in Schluchzen aus und sein Antlitz schwamm in Thränen.
Wer wird den Muth, wer die Frechheit haben, diese Thränen erheuchelte zu schelten? Der Orkan hatte ausgetobt, das Gewitter sich entladen und aus dem in Berserkerwuth rasenden Czaren war ein armer, schwacher, leidender Mensch geworden, dem sich wie ein glühendes Eisen das Gefühl in die Seele bohrte: Der dem Verderben Geweihte war doch Dein Kind, war doch Blut von Deinem Blute und Fleisch von Deinem Fleische! … Es giebt Ewig-Menschliches, an welchem als an einem Felsen von Diamant alle scheinbaren nicht nur, sondern auch alle wirklichen Gründe und Nöthigungen der „Staatsraison“ wie Glas zersplittern.
Fast sollte man meinen, Peter habe seinen Vaterschmerz in Blut ertränken wollen. Denn auch nach dem Tode des Czarewitsch ging das Strafgericht fort. Als Mitschuldige Alexei’s wurden enthauptet sein Haushofmeister Iwan Affanaßjew, ferner Fedor Dubrowski, Jakow Pustinoi und Abraham Lapuchin, der Bruder Awdotja’s. Der Fürst Scherbatow erhielt die Knute und wurden ihm Nase und Zunge ab- und ausgeschnitten. Andere Verurtheilte gingen in die Verbannung. Nie hat Peter zugestanden, daß er dem Sohn Unrecht gethan. Noch im Jahre 1722 sprach er in einem öffentlichen Erlasse von „der absalomischen Bosheit seines Sohnes Alexei“. In demselben Edict that er in Beziehung auf die Thronnachfolge die sehr richtige Aeußerung: „Das Erstgeburtsrecht ist eine absurde Gewohnheit.“ Seinem Enkel Peter war er zugethan; aber er wagte nicht recht, diese Zuneigung sehen zu lassen, sei es aus Besorgniß für das Kind, sei es aus Besorgniß für sich selber.
Denn die letzten Jahre des gewaltigen Mannes waren durch finsteres und nicht grundloses Mißtrauen gegen die Menschen verdüstert, auf welche er sich doch hauptsächlich stützen und verlassen mußte, gegen Katharina und ihren Anhang. Zwar ließ er im Mai 1724 Katharina feierlich zu Moskau als Czarin krönen; allein er argwohnte doch, und zwar nicht ohne Grund, daß die also von der niedersten Sprosse der socialen Leiter durch ihn zur höchsten Erhobene ihm nicht einmal als Frau getreu sei. Freilich, seine eigene brutale und unzählige Male wiederholte Untreue konnte die ihrige wohl herausfordern, und, seltsam zu sagen, der grimme Czar scheint zuletzt die ehemalige Leibeigene ordentlich gefürchtet oder wenigstens für ganz unentbehrlich gehalten zu haben. Sonst ließe sich sein Verhalten und Verfahren in der Mons’schen Sache kaum erklären.
Das war auch wieder so eine echtrussische Hof- und Staatsaction von damals. Es ging ein sehr hörbares Geraune und Gezischel um, daß Herr Mons de la Croix, erster Kammerherr Katharina’s, seiner Herrin etwas näher gekommen sei, als der Respect vor einer gekrönten Czarin gestattete, und seine Schwester, die verwittwete Generalin von Balk, sei die Gelegenheitsmacherin. Peter soll dann seine Frau mit Herrn Mons Nachts in einer Laube überrascht und die Czarin auf der Stelle abgestraft, d. h. tüchtig durchgeprügelt haben. Wahrscheinlicher ist, daß er, wie erzählt wird, als Katharina, die natürlich Alles leugnete, für Mons und dessen Schwester eine Fürbitte einlegte, die Czarin vor einen prachtvollen venetianischen Spiegel führte und bedeutsam sagte: „Sieh, das war früher nur ein verächtlicher Stoff. Das Feuer hat ihn veredelt und jetzt ist er ein Schmuck des Palastes; aber ein Schlag meiner Hand kann ihn seinem ursprünglichen Zustande wieder nahe bringen.“ Damit zerschlug er den Spiegel. Aber Katharina sagte gefaßt und ruhig: „War diese Zerstörung eine Ihrer würdige That und ist Ihr Palast dadurch schöner geworden?“ Der Kammerherr und seine Schwester wurden verhaftet und „wegen Bestechlichkeit und Veruntreuung czarischer Gelder“ processirt. Die Generalin erhielt die Knute und wurde nach Tobolsk verbannt, Mons aber ward enthauptet und sein Leichnam auf’s Rad geflochten. Etliche Tage nach der Hinrichtung sei der Czar mit der Czarin absichtlich dicht am Hochgerichte vorübergefahren. Katharina habe die grausen Ueberreste des hingerichteten Lieblings angesehen und mit vollkommener Selbstbeherrschung gesagt: „Es ist doch ein Jammer, daß unter den Hofleuten so viele Bestechlichkeit herrscht!“
Sie hatte nach dieser schrecklichen Probe nicht mehr lange zu warten, bis sie regierende Czarin und Selbstherrscherin wurde. Am 8. Februar 1725 starb der große Czar und zwar, wie nicht vertuscht werden soll, in Folge seiner unbezähmbaren Sinnlichkeit eines unsauberen Todes … Carl Immermann, der einzige Dichter, welcher dem Manne poetisch gerecht zu werden verstand, weil er denselben (in seiner Trilogie „Alexis“) mit [William Shakespeare|Shakespeare]]’schem Maßstab zu messen wußte, hat der Bitterkeit, welche Peter’s letzte Tage und Stunden erfüllte, kräftigen Ausdruck verliehen, indem er dem Sterbenden die Worte in den Mund legte:
„Nicht sterben können! Endige! Schon klingt Geräusch
Arbeitenden Verwesens. Bei dem Werke sind
Geschäftig-laut die Würmer. Meine Zunge quält
Ein salzig-fauliger Geschmack, als läge drauf
Der Welt Gemeinheit …“
[667]
Nach schriftlichen Mittheilungen Wilhelm Bauer’s.
„Das Kabel ist verloren!“ Als in der zweiten Woche des August diese Nachricht durch Europa blitzte, war es wohl der Ausspruch eines Einzelnen, aber der Gedanke vieler Tausende: „Der Untergang einer Silberflotte wäre ein Scherz gegen diesen Verlust!“
Nicht die materiellen Vortheile allein sind es, die dem transatlantischen Kabel so unschätzbaren Werth verleihen; wie fühlbaren Einfluß in unsern Tagen die großen Schicksale von Handel und Verkehr auch auf die Existenz jedes Einzelnen im Volke üben, so würde dennoch der niederschlagende Eindruck des abermaligen Mißlingens des größten Unternehmens der Gegenwart sich nicht weiter, als bis auf die Handelswelt der Küsten und die großen Fabrikherren des Festlandes, überhaupt auf die am Verkehr mit Amerika zunächst Betheiligten erstreckt haben. Wie ganz anders war aber diese Theilnahme! Im kleinsten Städtchen des Binnenlandes, ja auf dem höchsten Gebirgsdorfe, soweit nur denkende Menschen den Lauf der Welt beachten, verfolgte man mit Tag um Tag steigendem Interesse die Riesenarbeit des Riesenschiffs, die Kabellegung des Great-Eastern. Und als die Nachrichten stockten, als sie ganz aufhörten und endlich die Kunde erscholl: „Das Kabel ist verloren!“ – so ward sie wie eine Trauerbotschaft von der ganzen gebildeten Welt empfangen. Solche Theilnahme wird nimmermehr dem Verlust blos materieller Vortheile gezollt; sie gehört dem geistigen Band an, das die Völker, die nach Humanität und Freiheit streben, auf das Engste umschlingen, das eine Gemeinschaft ihres Fühlens und Denkens und Strebens herbeiführen, das den Sieg der Wahrheit und des Rechts, die für alle Nationen die gleichen sind, endlich erringen helfen soll und erringen wird.
Wenn unsere Leser sich mit uns auf diesen Standpunkt der Betrachtung der unterseeischen Telegraphie stellen, so sind sie auch mit uns einverstanden, daß zur Erreichung eines solchen Endzwecks weder materielle Opfer, noch die Wagnisse des Menschen gespart werden dürfen, und dann werden sie auch nicht vor der Kühnheit des Planes zurückschrecken, welchen Wilhelm Bauer, der deutsche Submarine-Ingenieur, für die Regung, Bewachung und großartigste Ausbeutung eines europäisch-amerikanischen Kabels entworfen hat.
Wir würden Anstand nehmen, eine neue Idee des erfindungsreichen Mannes vor unser Publicum zu bringen, nachdem derselbe seit fast zwei Jahren vergeblich nach der Möglichkeit ringt, in und für Deutschland die unterseeische Schifffahrt in’s Leben zu rufen, denn weder die Industrie noch der Staat, weder die Speculation noch der Patriotismus haben ihm die helfende Hand geboten, und schon wird das alles große Neue so gern benagende Mißtrauen rege, das so spottwohlfeil die Schuld auf den rastlosen Ringer statt auf Diejenigen wirft, welche, mit den reichsten Mitteln gesegnet, den seltenen Geist verkümmern lassen; wir würden Anstand nehmen, den Lesern der Gartenlaube abermals einen Artikel über eine Erfindung Wilhelm Bauer’s vorzulegen, wenn wir uns nicht durch eine äußere Veranlassung dazu aufgemuntert und wegen der Wichtigkeit der Sache dazu verpflichtet fühlten.
Das Kabel ist verloren! Von den sechshundert deutschen Meilen seiner Länge liegen über zwei Fünftel im Meere; mit dem Rest kehrte der Great-Eastern nach England zurück. Aber aufgegeben ist das Unternehmen nicht; abermals fließen Tausende von Pfunden zusammen, um „das große Ostschiff“ für das nächste Jahr zur neuen Kabel-Fahrt auszurüsten. Da nun sich die ungewöhnliche Erscheinung zeigt, daß das zweimalige Mißlingen eines so außerordentlich kostspieligen Unternehmens dasselbe nicht vor Concurrenz sichert, indem nicht nur eine französische Compagnie sich bildete, welche den Draht von Paris über Lissabon zum Cap Vincent zu Lande und von da über die canarischen Inseln auf das Festland von Marocco und bis zum Cap Vert (grünen Vorgebirg) leiten und von hier unterseeisch das Cap Roque (Rochus) an der brasilianischen Küste gewinnen will, von wo dann über Cayenne und New-Orleans die Verbindung mit Nordamerika hergestellt werden soll; – sondern auch eine zweite englische Gesellschaft, die sich „Allan’s Ocean-Telegraph-Company“ nennt, ein neues, von dem Ingenieur Allan hergestelltes Kabel von Falmouth (in Cornwall) aus über Oporto nach Halifax zu legen beabsichtigt: – so muß die alte erste Gesellschaft jetzt Alles aufbieten, um nicht durch ein drittes Mißlingen die Opfer ihrer Actionäre in’s Unerträgliche zu steigern. Ihre Direction forderte deshalb die Fachmänner zur Einsendung ihrer Verbesserungsvorschläge für Construction und Legung des Kabels auf, und dieser Aufruf ist’s, der uns zur Veröffentlichung des Bauer’schen Kabellegungsplans veranlaßt hat.[2]
Wer verbessern will, muß vor Allem die Ursachen des Mißlingens kennen. Darüber sind nun die Meinungen sehr getheilt. Das Geheimnißvolle der Meerestiefe, die Geheimnißkrämerei, mit welcher die Compagnie selbst zu Werke ging, indem sie jede Vertretung der Presse, der englischen wie der amerikanischen, vom Great-Eastern zurückwies, und die Sucht des Menschen, das in der That Ungeheuere des Unternehmens auch mit Ungeheuerlichem zu umgeben, dies Alles verführte zu den verschiedenartigsten Vermuthungen und Schlüssen. Bald wollte man schon in den ersten Unfällen Kabelattentate erkannt und sollte nun ein Kabelmord dem englischen Werk den Todesstoß gegeben haben, angeblich zu Gunsten des russischen Telegraphenzugs, der durch Sibirien und von Kamtschatka über die Aleuten nach Nordamerika gehen soll; bald erklärten Männer der Wissenschaft (wie z. B. der bekannte und verdiente Chemiker Dr. Mohr) die Haltbarkeit des Kabels auf dem tiefsten Grunde des Meers überhaupt für eine Unmöglichkeit, weil das Seewasser bei einem Wasserdrucke von circa vierhundert Atmosphären (also circa 64 Centner Druck auf einen Quadratzoll bei ungefähr 12,000 Fuß Tiefe) in die „Poren“ der den Leitungsdraht umhüllenden Gutta-Percha eindringe und die Isolation desselben aufhebe, d. h. den elektrischen Strahl in das Wasser ableite; noch Andere behaupteten sogar, das Wasser werde in so bedeutenden Tiefen durch seine eigene Schwere so heftig comprimirt, daß es das Kabel nicht mehr sinken lasse, so daß es demnach in einem fürchterlichen Durcheinander von allerlei in dieser Höhe schwimmenden todten Masten und lebenden Thieren treibe und vernichtet werde. Allen diesen Behauptungen stellte endlich Dr. Werner Siemens in Berlin, der auf dem Felde der Telegraphie längst als Autorität anerkannt ist, die einfache Erklärung entgegen, daß das Mißlingen des transatlantischen Kabels rein mechanische Ursachen habe, die in der unzweckmäßigen Construction des Kabels begründet seien. „Bekanntlich,“ sagt er, „ist der mit Gutta-Percha bekleidete Leiter mit einer Spirale von Eisendrähten umgeben, von denen jeder mit Hanf umsponnen ist. Die Drähte müssen zusammengeschweißt werden, da sie continuirlich fortlaufen müssen. Solche Schweißstellen brechen bekanntlich leicht, und es ist sehr erklärlich, daß von den nach Hunderttausenden zählenden Schweißstellen vielleicht mehrere Hunderte beim Passiren der Rollen des Abwickelungs-Apparates brachen und daß drei von diesen Bruch Enden gerade so unglücklich gebrochen waren, daß sie bei dem großen Zuge, dem das Kabel beim Verlassen der letzten Rolle ausgesetzt ist, durch die mit Hanf gefüllten Zwischenräume zwischen den Eisendrähten hindurch und in die Gutta-Percha hineingedrückt wurden. Alles spricht dafür, daß diese Ursache die plötzliche Aufhebung der Isolation herbeigeführt hat … Beim nächsten Versuche, ein transatlantisches Kabel herzustellen, wird man gewiß auch diese Schwierigkeit überwinden, da es nicht an Mitteln dazu fehlt. Dadurch wird das Unternehmen selbst freilich noch immer nicht gesichert sein. Die Legung eines langen Tiefsee-Kabels wird stets mit großen Gefahren für das Gelingen verbunden bleiben, und selbst wenn sie vollständig gelungen ist, können unbekannte Bodenverhältnisse des Meeres, wie z. B. unterseeische Bergketten und Meeresströmungen, das Kabel kurze Zeit nach der Legung wieder vernichten!“ –
[668] Vertheidigt nun auch Dr. Siemens gegen Dr. Mohr die Isolationsfähigkeit der Gutta-Percha unter hohem Druck, belehrt er uns, daß schon seit mehreren Jahren die zu Tiefsee-Kabeln bestimmten isolirten weiter vor ihrer Einfügung in das Kabel unter einem hydraulischen Drucke von mindestens zweihundert Atmosphären geprüft werden, und beweist er aus der Erfahrung, daß der Leitungswiderstand der Gutta-Percha (von der er gegen Dr. Mohr behauptet, daß sie ein elastischer und nicht poröser Körper sei) sich mit zunehmendem Drucke sogar wesentlich vergrößert, daß also das Kabel, wenn es, gesund auf dem wenn auch noch so tiefen Meeresgrunde angekommen, dort ruhig und sicher läge, auch seinen Dienst verrichten müßte: – so giebt doch selbst diese Autorität in der unterseeischen Telegrapbie Zweierlei zu: 1) die Gefahr, welcher die Haltbarkeit des Kabels durch den großen Zug beim Verlassen der letzten Rolle, der natürlich mit der Tiefe zunimmt, ausgesetzt ist, und 2) die Gefahr, welche die unbekannten Bodenverhältnisse für das Kabel herbeiführen können.
Diese beiden Gefahren, von denen, wenn auch die erste durch die Mittel der Technik gemildert würde, die zweite, nach Werner Siemens’ entschiedenem Ausspruch, das Kabel kurze Zeit nach der Legung wieder vernichten kann, sie waren der Anziehungspunkt für Wilhelm Bauer zur Telegraphie, sie regten ihn an, sich mit allen Theilen der großen Erfindung gründlich bekannt zu machen und unter den Mitteln seiner unterseeischen Schifffahrt und Schiffhebung die zur möglichsten Sicherung des Kabels vor beiden Gefahren geeigneten für dieselbe verwendbar zu machen.
Wilhelm Bauer entwirft ein sehr lebhaftes Bild von dem großen, die Continente trennenden Feind des Kabels mit seinem Wogen und Branden, seinem tief verborgenen Schatz von Feuerbergen, seinen vulcanischen Eruptionen, elektrischen Zuckungen, wandelnden Geröllen und Sandwüsten, seinen Pflanzen von edelster bis zu phantastischer Gestalt, seinen Thieren von unüberwindlicher Kraft bis zu den unbehülflichsten Polypen. Und zwischen diesem Allen liegt in oft ungemessener Tiefe das Kabel. Welchen Gefahren ist es preisgegeben! Es kann von Sand verdeckt, tief darin begraben, es kann von Felsrutschungen überschüttet, an Stellen zerquetscht, von heißen Quellen des isolirenden Gutta-Perchas beraubt werden, aber noch verderblicher können lebende Wesen und Pflanzen für dasselbe sein. Man kennt Seekrebse und Seespinnen von oft zwei bis drei Fuß Größe, die mit ihren Scheeren nicht blos den Saft aus den Pflanzen pressen, sondern auch mächtige Barrikaden, die der Richtung ihres Laufs entgegenstehen, durchschneiden und denen es nicht schwer fallen kann, ihre Preß-, Saug-, Schneid-, Aetz- und anderen Instrumente auch an einem Kabelstrang zu üben. Aus 16,000 Fuß Tiefe ist bei Lothungen unweit Island ein lebender Seestern gezogen worden; und sollte wirklich der Riesenpolyp des Capitän Roß ein Verwandter der verlachten Seeschlange sein? Noch heute ist die Schilderung von Schiller’s Taucher von den Ungeheuern des Meeres nicht widerlegt, und der Mensch soll sein wichtigstes Werk für Förderung des Verkehrs, des Völkerwohlstands, der Humanität und Freiheit nicht in Tiefen versenken, wohin er nicht selbst vordringen, wo er es nicht überwachen und beschützen kann.
Von Wilhelm Bauer’s Erfindungen würden für das Seekabel zunächst drei in Anwendung kommen: seine Taucherkammer, seine Ballons und sein selbstschreibendes Loth. Das Kabel soll nicht tiefer als etwa zweihundert Fuß versenkt werden. In dieser Tiefe wird es getragen von einer Reihe Metallballons, die alle Vorrichtungen der Gutta-Percha und Segelleinwand-Ballons haben, mit welchen Bauer das baierische Postdampfschiff Ludwig aus dem Bodensee hob. Bei jener Schiffhebung wurden, nachdem das Schiff aus der Verschlammung des Bodens losgerissen war, während der Weiterhebung jeden Abend die Ballons, welche die siebentausend Centnerschwere desselben trugen, durch Entlassen von Luft so tief versenkt, als Bauer für nöthig hielt, um Ballons und Schiff gegen den Wogenschlag etwaiger Stürme der Nacht zu schützen: am Morgen wurden die Ballons mittelst der Luftpumpe wieder gefüllt und hoben sich dadurch wieder auf ihre vorige Stellung. Die Sicherheit in der Behandlung solcher Ballons ist also erwiesen. Das Legen des Kabels würde allerdings zeitraubender sein, als das bisherige Hinabrollenlassen in die unbekannten Tiefen und – Schicksale; da in Tiefen von zweihundert Fuß kein Helmtaucher mehr anzuwenden ist, weil keine Menschenlunge den Druck einer solchen Wassersäule erträgt, so würde der Taucherkammer [669] oder noch besser einem rascher als diese fahrenden unterseeischen Schiffe (denn die Taucherkammer ist, weil hauptsächlich zu Arbeiten an einer Stelle, nicht für rasche Bewegung bestimmt, als aufrechtstehender Cylinder construirt) die doppelte Aufgabe zufallen, die Ballons an ihren Standort zu bringen, nach geordneter Füllung derselben mit dem entsprechenden Quantum Luft die Luftschläuche von den Schrauben des Ballons zu befreien und dann das herabsinkende Kabel zu empfangen und in der geeignetsten Weise mit den Ballons in eine Verbindung zu bringen, die auch bei einem etwaigen Drehen des Ballons dem Kabel mit keiner Verschlingung droht, sondern seinen Lauf in der bestimmten Richtung ungestört erhielte. Dafür sind alle Mittel vorhanden.
Für diese Kabellegung würde dem Kabel, welches zwar in den Schließen der Ballons, die wir auch die großen Kabelträger nennen können, ruht, aber doch von Ballon zu Ballon schwebt und darum einem Ziehen durch seine Last ausgesetzt sein würde, eine besondere Beihülfe gegen das Dehnen zu geben sein und zwar hauptsächlich dadurch, daß man es mit einem längslaufenden Draht oder Drahtseil verbindet und zwischen den großen kleine Kabelträger angebracht würden, in welchen das Kabel ruht und wodurch die Ausgleichung der Schwere desselben zum Wasser hergestellt wird. Unterseeische Strömungen möchten sich dieser Kabellegung kaum als so gefährlich erweisen, als man befürchtet, da ein solcher Strom das Meer nicht bis auf seinen Boden in Bewegung setzt, sondern nur gewisse Höhen oder Tiefen einnimmt und so dem Kabellauf, wenn auch in größerer Tiefe als von zweihundert Fuß, eine stromfreie Bahn darbietet; außerdem muß hier die Verankerung auch bei großen Tiefen versucht werden. Bauer will an den Ankergestängen, damit ihre Last nicht die Tragkraft der großen Kabelträger beeinträchtigt oder gar übersteigt, wiederum Ballons als Gestängträger einsetzen, wodurch allerdings eine bedeutende Ankertiefe erreicht werden könnte.
Sehen wir von den kleinen Kabelträgern das Kabel getragen und von den großen verankerten in seiner Richtung erhalten, so kommen wir nun zu einer dritten Vorrichtung, welche bestimmt ist, den Schiffen den Lauf des Kabels anzuzeigen, damit dasselbe nicht durch etwaiges Ankerwerfen beschädigt werde, ihnen zum Empfang oder zur Abgabe von Depeschen mitten auf dem Meere zu dienen, für die Sicherheit des Kabels zu wachen, etwaige Beschädigungen desselben sofort anzuzeigen und die Ausbesserung zu bewirken, den Ausbruch und die Richtung von Stürmen telegraphisch zu berichten und selbst Schiffbrüchigen eine Rettungsstätte zu bieten. Dies sind die Kabelstationen, die wir in zwei Ansichten bildlich mitgetheilt haben.
Nehmen wir die Entfernung von der Insel Valentia an der irischen Küste, wo das englische Kabel des Great-Eastern seinen Ausgang genommen, bis zur Küste von Newfoundland zu vierhundert deutschen Meilen an, so würden auf diese Strecke acht bis zehn solcher Stationen, also durchschnittlich alle dreißig bis vierzig deutsche Meilen eine, zu setzen sein. Da für sie eine feste Verankerung unumgänglich ist, so werden für sie Höhenstellen des Meeresbodens, d. h. Stellen von einer Tiefe, welche eine sichere Verankerung möglich machen, zu wählen zu sein. Um diese nicht durch das zeitraubende Lothen nach bisheriger Weise aufsuchen zu müssen, sondern bei raschester Fahrt zu finden, dazu dient Bauer’s selbstschreibendes Loth. Auf eine spätere, illustrirte Beschreibung desselben verweisend, erwähnen wir hier nur, daß dieses Loth aus einem hohlen, birnförmigen Metallkörper besteht, der mit Luft gefüllt ist, auf welche eine in einen Schlauch eingehüllte Wassersäule drückt. Dieses Loth schwimmt am Schlauch in der Tiefe, und der Schlauch muß wenigstens so lang sein, als die Tiefe, welche man erlothen will. Die Wassersäule des Schlauchs mündet in ein Gefäß mit Wasser im Schiff (einerlei ob es ein ober- oder unterseeisches ist); das Gefäß ist mit einer genau berechneten Gradeintheilung versehen, welche dem zu erlothenden Meerestiefenmaß entspricht. Sobald das Loth Boden findet und auf diesem steigt, so wird die im Loth comprimirte Luft mit jedem Grad Steigung sich ausdehnen und den Wasserstand im Gefäß des Schiffes heben, während beim Sinken des Lothes aus dem Meeresboden auch der Wasserstand im Gefäß wieder sinkt. Der auf dem Niveau des Wassers im Gefäß angebrachte Schreibapparat zeichnet auf eine von einem Uhrwerk getriebene Rolle Papiers genau die Linie, welche das Loth auf dem Meeresboden hinzieht.
[670] Die Schwimmkörper der Kabelstationen sind nach dem Princip von Bauer’s Taucherkammer, Küstenbrander, Brandtaucher, also überhaupt nach dem seiner unterseeischen Apparate construirt. Der eiserne Körper ist luftdicht verschlossen und auch das auf demselben angebrachte Thürmchen zum luftdichten Verschluss eingerichtet. In Nummer I. sehen wir den Durchschnitt der ganzen Station, wie sie bei ruhigem Meer an der Oberfläche schwimmt. Das Telegraphenkabel mündet zu beiden Seiten in dieselbe (wie auf Nr. II. deutlicher zu sehen), der Telegraphist sitzt an der Arbeit. Die Schraube zur Linken am Schwimmkörper ist eine Steuerschraube. Neben derselben schwimmt an der Oberfläche eine Boye, die bei Nacht ein elektrisches Licht über die Wogen hinwirft und dem Schiffer auf hohem Meer die Lage der Station und des Kabels anzeigt. Auch ist auf dem Lugthürmchen noch eine Vorrichtung für ein Wechsellicht von Weiß, Blau und Roth angebracht. Am untersten Theil des Körpers läuft von der Ankerwinde die Kette in die Tiefe. Neben derselben sind Behältnisse für Ballast. Zwischen dem Fuß des Thürmchens und dem Boden des runden Eisenkörpers sehen wir durch Schraffirung ein Bassin angedeutet, das uns zu unserm zweiten Bilde führt. Tritt nämlich ein Sturm ein, dessen Wogenschlag dem Stationsfahrzeng gefährlich werden könnte, so wird dieses Bassin so weit mit Wasser gefüllt, bis dessen Schwere den ganzen Apparat bis zu einer Tiefe von fünfzig bis sechszig Fuß sinken macht, d. h. also tief genug, um ihn aus dem Bereich der Sturmwellenbewegung zu entfernen. Nur die Boye mit dem elektrischen Licht bleibt am Niveau, um den Stationsort und Kabellauf anzuzeigen. Es versteht sich von selbst, daß eine solche Station gut verproviantirt sein muß; die Luft im Innern kann jederzeit durch eine sehr einfache Vorrichtung erneut werden. Ist der Sturm vorüber, so wird das Wasser mittels Pumpen wieder in’s Meer getrieben, der Apparat steigt wieder an das Licht der Sonne und nur für besondere Fälle (z. B. Unfall an den Pumpen) ist auch der Abwerfballast vom Stationskörper loszulösen, um die Erhebung des letztern zu beschleunigen.
Endlich kommen wir noch zu einem ganz besonderen Vorzug des Bauer’schen Kabellegesystems vor dem bisherigen durch die Verbindung desselben mit der unterseeischen Schifffahrt. Bei einer Kabelballonbahn von zweihundert Fuß durchschnittlicher Tiefe ist es nämlich möglich, daß ein Bauer’sches unterseeisches Schiff, wie er es aus seinem Brandtaucher und Küstenbrander für den friedlichen Gebrauch als Reise- und Naturforscherboot construirt hat, zu bestimmten Zeiten eine Inspectionsfahrt das ganze Kabel entlang vollbringen kann. Wie ein Eisenbahninspector seine Linie begeht, so kann von Station zu Station das Kabelwachtschiff seine Tour machen, um den Zustand der gesammten Apparate zu prüfen und vielleicht manchem kostspieligen Schaden zuvorzukommen. Wird aber eine Verletzung des Kabels wahrgenommen, so geschieht diese Wahrnehmung auf zwei Stationen zugleich, zwischen welchen vom Kabelwachtschiff die Verletzungsstelle zu suchen ist. Es braucht dann nicht das Kabel, wie jetzt, in vielleicht Tausenden von Fußen Tiefe mühsam gesucht und viele Meilen weit an die Oberfläche gerissen und gezerrt zu werden, um gerädert und gedehnt und gebrochen oben anzukommen, jeder Reparatur unfähig, sondern die Taucherkammer setzt sich in Verbindung mit dem Kabelwachtschiff, das sich auf die Oberfläche des Meeres begiebt; es muß Luftpumpen und Schläuche stets bei sich führen; die Taucherkammer übernimmt die Ballonsschrauben mit den an sie befestigten Schläuchen, fährt damit zu den Kabeltrageballons und befestigt sie an diese, worauf eine Reihe von Ballons zu beiden Seiten der beschädigten Kabelstelle vollständig mit Luft gefüllt werden; sie steigen nun ruhig mit dem Kabel an die Oberfläche, wo die Reparatur zu bewerkstelligen ist, worauf aus den Ballons wieder so viel Luft entlassen wird, bis sie ihre alte Stelle in der Tiefe einnehmen.
Bei weiterer Ausbildung dieses Systems wird man sicherlich einst jeder Kabelstation ein Kabelwachtschiff beigeben, das, außer seinem Dienst für die Sicherheit des Kabels auch der Mannschaft in Nothfällen zur Rettung dienen, vor Allem aber manchem Schiffbrüchigen zu Hülfe kommen kann.
Das ist das Bauer’sche unterseeische Kabel[3] im Bunde mit der unterseeischen Schifffahrt. – Es wird, nach der Verwunderung über die Kühnheit der Idee, viel Kopfschüttelns erregen; man wird fragen: wo sollen die Menschen herkommen, die sich zu solchen Dienstleistungen auf Kabelstationen und unterseeischen Schiffen hergeben? man wird sagen: die Kosten einer solchen Einrichtung sind unerschwinglich! – Was das Erstere betrifft, so hat es Bauer bei seinen gleichen Unternehmungen weder in Kiel, noch in Rußland, noch am Bodensee an muthigen Männern gefehlt; es meldeten sich stets mehr, als er verwenden konnte. Und die Kosten? Man berechne die Summen, welche die verlorenen Kabel verschlangen und – nach der Prophezeiung der Kabelautorität Siemens – bei den unergründlichen Gefahren des Meeresbodens noch fort und fort verschlingen werden; man berechne, daß Taucherkammer und unterseeische Fahrtenschiffe zugleich anderweit zu sehr einträglichen industriellen und nutzreichen wissenschaftlichen Unternehmungen (Perlen- und Korallenfischerei, Fischfang im großartigsten Styl, unterseeische Bauten, Naturforschung etc.) zu verwenden sind; man berechne die Einnahme der Stationsdepeschen und die Billigkeit der Kabelreparaturen; man berechne die gesteigerte Einnahme durch die Raschheit und Sicherheit des telegraphischen Verkehrs zwischen der alten und der neuen Welt, – und man wird vor den Millionen, welche die erste Ausführung des großen Gedankens in Anspruch nimmt, nicht mehr zurückschrecken. Wenn Europa und Amerika sich die Hand reichen wollen und wenn dieser Weg als der sicherste, ja vielleicht einzig mögliche dazu erkannt wird, so werden auch die Millionen nicht fehlen, weil sie Nichts wiegen gegen das große Ziel, das die Menschheit durch diese innigste Verbindung der Geister zweier Welttheile erreichen soll.
Geisterhumbug in Paris. Auch in diesem Jahre erbarmte sich der Himmel der in dem modernen Babylon sich langweilenden Sterblichen und sandte den in ihrer Noth nach Neuem und Aufregendem, wie der Ertrinkende nach dem Strohhalm, haschenden Parisern die Gebrüder Davenport, die amerikanischen Geisterbeschwörer, Medien oder wie sie sich sonst nennen mögen. Paris ist gerettet, der ersehnte Stoff zur Unterhaltung ist gefunden. „Haben Sie die Gebrüder Davenport gesehen? Was halten Sie von ihnen? Sind es nur geschickte Taschenspieler oder sollte wirklich etwas Wahres an ihrer Geisterlehre sein?“ so fragt man sich nun seit fast drei Wochen an allen Punkten der Stadt. Wer auf diese Weise in einer Stadt, die sich gern die erste Stadt der Welt nennt, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken im Stande ist, verdient wohl, daß man sich etwas ausführlicher mit ihm beschäftigt.
Die vor einer Reihe von Jahren in Europa spukenden Tischrücker und Geisterklopfer haben bekanntlich in dem gastlichen Amerika eine Zufluchtsstätte gesunden. In einem Lande, wo das Lächerliche sich dreist neben dem Erhabenen zeigt, wo Barnum, der Wundermann, Washington’s Amme für Geld sehen läßt und bei ähnlicher Industrie Reichthümer über Reichthümer erwirbt, da kommt es auf ein paar Excentricitäten mehr oder weniger nicht an. Wir konnten also die Geisterklopfer und Medien unbeachtet lassen, so lange sie ihre Thätigkeit auf ihr neues Vaterland beschränkten. Jetzt aber, da uns Amerika zwei junge und eifrige Apostel herübersendet, um uns von Neuem mit der hier ganz in Vergessenheit gerathenen Geisterklopferei zu beglücken, jetzt ändert sich die Sache.
Charakteristisch ist, daß weder die Brüder Davenport, noch andere sogenannte Medien sich genau über die Art und Weise ihres Verkehrs mit der Geisterwelt aussprechen. „Unsere Lehre ist neu und noch höchst unvollkommen. Wir tappen selbst im Dunkeln. Wir wissen nichts, wir fühlen nur außer uns gewisse uns unbekannte und unerklärliche Kräfte, die wir zu gewissen Zeiten durch unser bloßes Wollen uns unterthänig machen.“ So ungefähr sind die geheimnißvollen Auslassungen dieser neuen Sectirer, die dann der gläubige Chor der Getreuen zu einem trefflichen, vollständig ausgearbeiteten System ergänzt. Man spricht von den Geistern der Abgeschiedenen, man citirt Moses oder Mohammed, um eine Unterhaltung mit ihnen anzuknüpfen, und es fehlt nur noch, daß man die Geister mit eigenen Sinnen sieht und fühlt, um über ihr Dasein und ihre gefällige Bereitwilligkeit außer allem Zweifel zu sein. Die Gebrüder Davenport erklären sich, wie gesagt, in dieser Beziehung selbst vollkommen unwissend und beantworten alle darüber an sie gerichteten Fragen nur mit den Worten: „Kommt und seht.“ Die Vorstellungen, welche zuerst in einem Privatcirkel vor einem den besten Kreisen der Gesellschaft angehörigen kleinen Publicum stattfanden, begannen vor ungefähr drei Wochen in einem der eleganten Landhäuser der Rue de la Pompe in Passy, unweit Paris. Ein sehr achtbarer, vollkommenen Glauben verdienender Augenzeuge berichtet über eine dieser ersten Sitzungen das Folgende:
„Einer erhaltenen Einladung zufolge begab ich mich Montag Abend, begleitet von meinem Freunde O., in das Landhaus des Herrn D., des gastfreundlichen Wirthes der Brüder Davenport. Man führte uns in das zur Vorstellung bestimmte Zimmer und ließ uns unserm Wunsche gemäß allein, um uns, die wir als Skeptiker vom reinsten Wasser bekannt waren, [671] die nöthige Zeit zu lassen, Alles, was sich an Instrumenten und sonstigen Gegenständen im Zimmer befand, nach unserem Gefallen zu untersuchen. Wir bemerkten zwei Guitarren, eine Violine, ein Tambourin, drei ziemlich große Glocken, zwei Stangen Siegellack, zwei Bogen weißes Papier und einen Bleistift, nicht im Geringsten von allen gleichnamigen Gegenständen in der Welt unterschieden, außerdem einen aller besondern Kennzeichen entbehrenden Pappbecher, mehrere durchaus untadelhafte, höchst solide Stricke und endlich einen aus leichtem Holz gearbeiteten Schrank ohne Auszüge und innere Abtheilungen, der, etwa vierzehn Zoll über dem Fußboden auf x förmigen Untersätzen ruhend, weder mit der Decke noch den Wänden in Verbindung stand. An der Vorderseite des etwa fünf und einen halben Fuß hohen, sechs und einen halben Fuß breiten und zwei Fuß tiefen Schrankes öffnen sich drei Thüren, zwei derselben sind gefüllt, die mittlere ist mit einer rautenförmigen Oeffnung versehen. Im Innern des Schrankes sind drei zu Sitzbänken dienende, in gleichmäßigen Entfernungen durchlöcherte Bretchen angebracht, von denen sich eins im Hintergrunde, zwei zu beiden Seiten befinden. Um dreiviertel auf zehn Uhr sahen wir die Frau Gräfin K., den Grafen C. und mehrere andere allgemein bekannte, ehrenwerthe Persönlichkeiten eintreten; wenige Minuten später erschienen die Brüder Davenport, zwei braungelockte, ein wenig magere, eher kleine als große junge Leute, von vierundzwanzig bis fünfundzwanzig Jahren, begleitet von ihrem Landsmann und Schwager Fay, und um zehn Uhr begann die Sitzung.
Die beiden Brüder stiegen zunächst in den beschriebenen Schrank und setzten sich, einander gegenüber, auf die an den Seiten angebrachten Bretchen. O., der sich einer besondern Fertigkeit im Knotenbinden zu erfreuen glaubte, übernahm es, den einen der Brüder anzubinden, während ich mich bemühte, die gleiche Operation in recht gründlicher Weise mit dem andern vorzunehmen. Wir banden ihnen zuerst die Hände kreuzweise hinter den Rücken, zogen dann die Stricke vier bis fünf Mal durch die in die Bretchen gebohrten Löcher und um ihre Beine herum und beschlossen diese Procedur mit einer Reihe äußerst stramm angezogener Knoten. Man löschte nun die Lichter aus und ließ blos eine Lampe brennen, deren durch einen rosafarbenen Papierschirm gedämpfte Flamme den Saal nur matt erleuchtete. Ich stieg jetzt meinerseits in den Schrank und nahm zwischen den beiden Brüdern auf dem Bretchen im Hintergrunde Platz, Herr Fay band mir die Hände auf die Schenkel meiner beiden Nachbarn und setzte mir auseinander, daß ich auf diese Weise am besten beobachten könnte, ob die letzteren die geringste Bewegung zu machen versuchten. In diesem Augenblick wurde der oben erwähnte Pappbecher mit pfeilschneller Bewegung in die Mitte des Saals geschleudert, die drei Schrankthüren schlossen sich und ich befand mich in der tiefsten Finsterniß. Warum sollte ich nicht gestehen, daß mein Herz lauter als gewöhnlich schlug, als sich, unmittelbar nach dem Schließen der Thüren, ein ohrzerreißender Lärm im Innern des Schrankes hören ließ? Man klimpert auf den Guitarren, man kratzt auf der Geige, die Glocken klingen und die Schellentrommel rasselt dazwischen. Eine unsichtbare Hand zwickt mich am Schnurrbatt, eine andere Hand reißt mir in aller Geschwindigkeit meine Halsbinde ab. Die Guitarren fangen jetzt an, um meinen Kopf herumzutanzen und mich mit solcher Heftigkeit zu schlagen, daß ich den einen der Brüder, die beiläufig kein Wort Französisch sprechen, ganz deutlich ausrufen höre: „gently, gently!“ (sachte, sachte). Das Tambourin, als ob es mir auch seine Gegenwart beweisen wollte, steigt mir auf die Kniee, klettert mir an der Brust empor und bleibt schließlich auf meinem Kopfe sitzen, und eine der Glocken drängt sich mir zwischen Weste und Hemd an den Leib. Man öffnet die Thüren, die Lichter werden wieder angezündet, das Tambourin sitzt auf meinem Kopfe, meine Halsbinde liegt zu meinen Füßen, die Glocke steckt in meiner Weste, und die Brüder Davenport sind nach wie vor angebunden. Meine Hände sind noch immer an ihre Schenkel geschnürt, die sich, wie ich versichere, nicht ein einziges Mal bewegt haben. Die beiden Brüder werden losgebunden und zeigen lächelnd ihre von dem allzustarken Anziehen der Stricke übel zugerichteten, mit Blut unterlaufenen Handgelenke. Da einer der Anwesenden den Wunsch geäußert hatte, an meiner Stelle in den Schrank zu treten, so wurden die Brüdcr von Neuem angebunden, mit dem Unterschiede aber, daß man ihnen diesmal die Handflächen mit Mehl bestreute. Die beschriebenen Erscheinungen wiederholten sich sämmtlich, ohne daß auch nur ein Korn von dem Mehl verschüttet worden wäre. Durch die in der mittlern Schrankthür angebrachte rautenförmige Oeffnung sahen wir zu wiederholten Malen nackte Arme und bleiche, riesiggroße Hände zum Vorschein kommen.
Nach einer viertelstündigen Pause schritt man zum zweiten Theil der Sitzung, der bei vollständiger Finsterniß ausgeführt wird. Diesmal setzten sich einer der Brüder D. und ihr Schwager Fay auf mitten im Saal stehende Stühle, worauf ihnen die Hände hinter den Stuhllehnen festgebunden wurden, man besiegelte die Knoten mit dem Petschaft des Grafen C., und um keine Vorsichtsmaßregel unangewandt zu lassen, schob man jedem der Festgebundenen einen Bogen weißes Papier unter die Füße, worauf die Umrisse ihrer Stiefeln genau mit Bleistift abgezeichnet wurden. Die Umstehenden wurden nun aufgefordert, sich die Hände zu reichen, und wir bildeten eine Kette, an welche sich derjenige der Brüder D., der nicht angebunden war, anschloß. Man löschte die Lichter diesmal sämmtlich aus, und nun beginnt ein wahrer Hexensabbath. Die Guitarren, vorher leicht mit Phosphor überstrichen, fangen an gleich ungeheueren Nachtschmetterlingen durch den Saal zu fliegen. Die Glocken, die Violine, die Trommel und der Pappbecher folgen ihrem Beispiel, tanzen, die unsinnigsten Figuren bildend, in der Luft herum, drängen und stoßen sich an einander, gegen die Wände, gegen die Decke, purzeln wieder herunter, kriechen uns an den Leibern empor, setzen sich uns auf die Köpfe und beginnen von Neuem ihre abenteuerlichen Luftpromenaden, während wir zu gleicher Zeit unsere brennend heißen Hände von eiskalten Händen ergriffen und gepreßt fühlen. Die Frau Gräfin K. hält eine Uhr in ihrer geschlossenen Hand. Eine Hand öffnet ihr die fünf Finger einen nach dem andern und entreißt ihr die Uhr, um dieselbe einer am andern Ende des Saals befindlichen Dame in die Hand zu drücken. Man fordert mich auf, meinen Rock auszuziehen, ich thue es, und gleich darauf hören wir ein Geräusch, wie das Auffliegen eines Rebhuhns. Auf ein gegebenes Zeichen wird ein Licht angezündet. Alles stürzt hastig herbei, die beiden Medien sitzen unbeweglich auf ihren Stühlen, die Hände hinter der Lehne festgeschnürt. Davenport ist mit meinem Rock bekleidet, die Siegel sind unverletzt, und die erwähnten Bleistiftgrenzen um keines Haares Breite überschritten.“
Soweit der, wie gesagt, durchaus glaubwürdige Augenzeuge. Soll man nun glauben, daß die Gebrüder Davenport im Besitze übernatürlicher Kräfte sind? Gewiß nicht, aber man kann nicht umhin, die wirklich erstaunliche Gewandtheit dieser kecken Taschenspieler zu bewundern. Die bisher nur in engern Kreisen erörterte Geisterfrage fing an, nach Erzählungen, wie die angeführte, die öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen, und wer weiß, wie viele leicht erregliche Naturen dem ihnen angeborenen Hang zum Wunderbaren zum Opfer geworden wären, wenn nicht inzwischen die bekannte komische Scene im hiesigen Saal Herz, von der die Zeitungen bereits mannigfach berichtet haben, das amerikanische Brüderpaar um ein gut Theil ihrer entstehenden Berühmtheit gebracht und es als das dargestellt hätte, was es ist – Humbugler, zu deutsch Schwindler. Die im Saal Herz erwartete Vorstellung sollte öffentlich und diesmal nicht kostenfrei sein. Das Pariser Publicum, im Allgemeinen mehr neugierig als gläubig, hatte sich trotz der hohen Eintrittspreise sehr zahlreich eingefunden, seine Neugier sollte aber nur theilweise befriedigt werden. Ehe nämlich die Brüder D. ihre übernatürlichen Künste produciren konnten, drängten sich einige wenig zurückhaltende Zuschauer zur Besichtigung des geheimnißvollen Schrankes vor, und einer der eifrigsten, welcher nach kurzer Untersuchung an einem der oben beschriebenen Bretchen eine verborgene Feder entdeckte oder entdeckt zu haben glaubte – denn die Thatsache ist nicht genügend aufgeklärt – rief, sich an die versammelte Gesellschaft wendend, mit Stentorstimme: „Meine Herren, man will uns auf’s Schmählichste mystificiren.“ Der Zauber war nun gelöst, das Publicum erhob sich lachend und pfeifend, erhielt auf Einschreiten der Polizei das gezahlte Eintrittsgeld wieder und ging nach Hause. Seit der Zeit hat man nun in öffentlichen Blättern und in mündlichen Unterhaltungen viel über die „entlarvten Gaukler“ gewitzelt, und schon deswegen ist ein durchgreifender Erfolg dieser im Dunkeln arbeitenden Prestidigitateurs kaum noch zu befürchten; denn wer die Lacher nicht auf seiner Seite hat, kann in Paris auf keinen großen Anhang rechnen. Das letzte Wort ist aber in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen. Die Brüder D. betrachten sich durchaus nicht als geschlagen, und es fehlt nicht an Narren und Neugierigen, die ihren angeblich übernatürlichen, bis jetzt aber jedenfalls als vollständig nutzlos erwiesenen Experimenten beiwohnen. Die Vorstellungen haben bis heute ungehindert fortgedauert, doch wurden, wie die Blätter auch schon mitgetheilt haben, um eine Wiederholung der obigen Auftritte zu vermeiden, nur sechzig auf bestimmte Namen lautende Billets zu je dreißig Franken ausgegeben, und während ich dieses schreibe, wird eine zweite, vollständig öffentliche Sitzung, Eintrittsgeld zehn und fünfzehn Franken, angekündigt. Sie sehen, wenn die Brüder Davenport uns die Segnungen ihrer Geisterlehre theilen lassen wollen, so geht ihr Eifer nicht weit genug, ihr eigenes Interesse darüber zu vergessen.
Die Maschine als Sprachlehrer. Wir haben Sprech- und Rechenmaschinen kennen gelernt oder wenigstens davon gehört. Ohne uns weiter darauf einzulassen, gehen wir gleich zu einer dritten neuen Maschine über, welche ebenfalls das Mechanische geistiger Arbeit übernimmt oder wenigstens wesentlich erleichtert. Es ist eine Spracherlernungsmaschine, metabolische genannt, von dem griechischen Worte metaballein (mit lateinischen Buchstaben so geschrieben), welches „Durcheinanderwerfen, Würfeln“ bedeutet. Sie ist von dem Engländer Alfred Long erfunden und von einem anderen Engländer Thomas Prendergast in einem besondern gelehrten Buche ausführlich beschrieben und ihre praktische Anwendung bis in’s Kleinste erklärt und warm empfohlen worden. Die Spracherlernungs- oder Wörterwürfelungs- und Satzbildungsmaschine beweist zunächst ihre Nützlichkeit aus der besten Art, wie man überhaupt Sprachen, besonders lebendige zum Sprechen erlernen muß. In jeder sogenannten „höheren“ Knaben- und Mädchenschule müssen jetzt mehrere Sprachen gelehrt und gelernt werden. Aber wie machen sie’s dabei? Meist zum Gotterbarmen für die Kinder. Diese müssen Jahre lang Vocabeln, Regeln, Grammatik, Syntax lernen, Dutzende von weißen Büchern mit Vocabeln, Sätzen und Exercitien voll schrciben und können nach dieser jahrelangen Qual doch nur stottern und stümpern, mit keinem französischen Mädchen, keinem englischen Jungen sprechen, ohne ausgelacht oder nicht verstanden zu werden. Französisches Mädchen und englischer Junge haben nicht ein Hundertstel dessen in ihren Sprachen gelernt, was unsere „höheren“ Mädchen oder Jungen; aber erstere plaudern flüssig, ohne Anstoß und richtig, und letztere stümpern. Daraus folgt, daß unsere Kinder Sprachen, die sie sprechen lernen sollen, auch so von selber lernen müssen, just wie die Kinder ihre Muttersprache. Da nun in fremden Sprachen keine solche lebendige Gelegenheit zum „Vonselberlernen“ ist, so ersetzt man diesen Mangel am Besten und Billigsten durch eine – Maschine, Französische Bonnen und englische Gouvernanten sind allerdings noch besser, aber für die meisten Familien zu theuer.
Mich besuchte einmal ein deutscher Gelehrter in England, der neunzehn Jahre lang das Englische gründlich erlernt, studirt und Shakespeare etc. gelesen und fein verstehen gelernt hatte. Er kriegte es aber nicht fertig, der Wirthin durch Worte deutlich zu machen, daß er ein Handtuch wünsche. Sie verstand erst unter vielem Gelächter, was er wolle, durch seine deutliche Pantomime des Abtrocknens, nachdem er sich pantomimisch gewaschen hatte. Ueberhaupt konnte er sich in den gewöhnlichsten, alltäglichsten Dingen selten verständlich machen, auch meist sehr schwer verstehen, so daß sehr oft das erst vor sechs Monaten hinübergekommene deutsche Dienstmädchen zu Hülfe gerufen werden mußte. Diese plauderte Englisch, sozusagen, wie Wasser, verstand Alles und wurde stets verstanden. Der Gelehrte wußte die verschiedensten Bedeutungen und feinsten Schattirungen von vielleicht fünf- bis sechstausend Wörtern, das Mädchen hatte wohl nicht mehr als zwei- bis [672] dreihundert von selber erlernt, mechanisch durch täglich wiederholte Uebung im Sprechen und Hören. Sie sprach vollkommen und flüssig Englisch, der deutsche Gelehrte wie ein fauler Junge in der Schule, der seine Verse nicht gelernt hat. Das viele, leichte, flüssige Sprechen in einer oder in mehreren Sprachen ist sehr leicht erlernt, wie unsere deutschen Kellner in deutschen, französischen, englischen, amerikanischen Hotels, Kinder mit französischen Bonnen und englischen Gouvernanten beweisen. Mit ein paar hundert Worten, die man in allen ihren Wendungen und Windungen und Stellungen mechanisch erlernt, ist für das beste Geplauder Alles abgemacht. Mit etwa tausend solchen Wörtern des gemeinen Lebens, der Umgangssprache d. h. etwa dreihundert in ihrem deutschen, französischen und englischen Klange und deren idiomatischer, d. h. jeder Sprache eigenen Gefügigkeit, spricht man für den gewöhnlichen Umgang und dessen Unterhaltungsstoff vollkommen Deutsch, vollkommen Französisch, vollkommen Englisch.
Man kann schon mit achtzehn bis zwanzig Wörtern eine lange Rede halten.
Mein | Buch | ist | auf | ihrem | Tische. |
Ihr | Ring | war | bei | meinem | Glase. |
Sein | Messer | liegt | unter | ihrem | Stuhle. |
Das sind drei richtige deutsche Sätze mit achtzehn Wörtern, die jedes Kind leicht lernt. Sind sie ordentlich gelernt, so kann man damit etwa eine halbe Stunde richtig und flüssig sprechen, ohne die drei Sätze nur ein einziges Mal zu wiederholen. Man kann nämlich aus diesen drei Sätzen etwa siebenhundert machen, jeder von dem andern verschieden, indem man immer das eine oder das andere Wort (oder mehrere) des einen Satzes mit einem oder mehreren darunter stehenden vertauscht, also: „Mein – Ring – liegt – auf – ihrem – Tische“ etc. siebenhundert Mal, jedesmal verschieden, jedesmal richtig. Die Unterschiebungen einzelner Wörter an die Stelle anderer, können ganz mechanisch, gedankenlos gemacht werden, es wird doch immer ein richtiger deutscher Satz. Dieses mechanische Durcheinanderwürfeln der Wörter behufs der Einprägung und des flüssigen Gebrauchs in allen Fügungen übernimmt nun die metabolische Maschine. Es ist die „Ollendorf’sche Sprachlehrmethode“ in vereinfachter und vervollkommneter Form. Sie geht von der richtigen Voraussetzung aus, daß man eine Sprache nur flüssig und geläufig sprechen kann, wenn man sich zunächst an die nöthigsten und gewöhnlichsten Worte hält und diese nicht als einzelne Vocabeln, sondern in allen möglichen idiomatischen Verbindungen lernt.
Die Maschine übernimmt es, alle möglichen Verbindungen und Satzbildungen zu erleichtern. Sie besteht aus einem Kasten mit Würfeln und einem Glasdeckel. Auf den Würfeln stehen verschiedene einzelne Wörter, so gewählt, daß sie, wie sie auch fallen, immer einen richtigen Satz bilden. Damit keine ungrammatische oder unsyntaktische Verbindung entstehe, sind Zellen im Innern so eingerichtet, daß jeder Würfel sich nur auf seinem Platze drehen und irgend ein Wort seiner sechs Seiten obenhin bringen kann. Eine Handhabe zum Drehen am Kasten verändert die Würfel mit jeder Umdrehung mechanisch. Als Beispiel der Mannigfaltigkeit der Verbindungen solcher gewürfelten Wörter wird angeführt, daß zehn Würfel, jeder nur mit zwei Worten beschrieben, die zwei Sätze von je zehn Worten bilden, sich zu mehr als fünftausend richtigen Sätzen – alle verschieden – verwürfeln lassen. Man denke nun an die Combinationen mit zehn bis zwölf Würfeln, von denen jeder sechs statt zwei Wörter enthält!
Der specielle Nutzen dieses mechanischen Hülfsmittels für richtigen, flüssigen Gebrauch der Wörter besteht darin, daß des Lernenden Aufmerksamkeit immer nur auf je einen Satz auf einmal gerichtet wird, während in Lehrbüchern die vielen Sätze neben- und untereinander die Aufmerksamkeit zerstreuen und ermüden; daß es dieselbe zu erlernende Sache in immer neuen Formen herausspielt und dieses Spiel frisch erhält; daß dieses Würfelspiel wegen des Zufalls, der dabei herrscht, das Auge immer für den nächsten Wurf schärft (wie dies bei allen Zufallsspielen der Fall ist); daß die Beschreibung der Würfel in der einen Reihe mit den Worten der zu erlernenden Sprache, in der andern mit denen der Muttersprache (die Würfel werden mit Bleistift beschrieben und können leicht gereinigt werden), immer Gelegenheit und Uebung in doppelter Uebersetzung giebt; daß zu dem ordentlich Erlernten immer leicht und unmerklich etwas Neues gefügt und so der ganze Sprachreichthum allmählich spielend und in stets lebendigen, richtigen Sätzen in Fleisch und Blut, in die Sprachwerkzeuge, nicht in Papier und verwirrende Regeln und Ausnahmcn übergeht; daß die Maschine den Werth und Nutzen aller andern Maschinen hat, nämlich dem Geiste, der Arbeitskraft abzunehmen, was blos mechanisch ist; daß sie die bessere Kraft für bessere Zwecke schont und spart. Sie ersetzt das mechanische Erlernen einer Sprache, das „Vonselberlernen“, wie es durch Aufwachsen in einem bestimmten Volke oder künstlich durch Bonnen und Gouvernanten geschieht, so gut eine Maschine dies überhaupt ersetzen kann.
Es mag für deutsche Lehrer und Gelehrte wie eine Spielerei aussehen, aber „ein tiefer Sinn liegt oft im kindischen Spiel“. Die Sache scheint genauerer Prüfung werth. Wir empfehlen deshalb das Originalwerk zur Lectüre, resp. Uebersetzung. Der Titel ist: „The Mastery of Languages; or the Art of speaking foreign tongues idiomatically. By Thomas Prendergast. London, Bentley.“ (Die Bemeisterung der Sprachen, oder die Kunst, fremde Zungen in deren Eigenthümlichkeit richtig sprechen zu lernen.)
Der Leierkasten als Volkserzieher. Dem aufmerksamen Beobachter wird, wohl in allen Theilen unseres großen deutschen Vaterlandes in gleicher Weise, eine eigenthümliche Erscheinung auffallen. Wir meinen das gleichsam epidemische Auftreten eines volksthümlichen Lieblingsliedes aller Welt. Dasselbe verbreitet sich, meistens von einer großen Stadt ausgehend, strahlenförmig über ganze Provinzen, ja Länder, bis in die entlegensten Dörfer und Flecken derselben, wird von Alt und Jung in rastlosem Eifer gesungen und verschwindet dann wieder – um von einem neuen verdrängt zu werden.
Meistens sind es klägliche, elende Gassenhauer, die zu dieser größten Popularität gelangen. „Schmeißt ihn ’raus, den Juden Itzig“, „So’n janzen, janzen kleenen, so’n janzen kleenen Mann“, oder „Uns’re hübschen, jungen Mädchen muß man auf dem Balle seh’n“ – das sind einige aus der neuern Zeit, die noch keineswegs zu den schlechtesten gehören. Oft werden sie auch gar nicht einmal gesungen, sondern blos gepfiffen; so z. B. der „Düppler Sturmmarsch“ im nordöstlichen Preußen.
Unschwer aber vermögen wir nun auch den eigentlichen Ursprung der außerordentlichen Popularität dieser Lieder zu erkennen – und zwar in dem wandernden Leierkasten. Noch ist die Zeit nicht lange vorüber, da er jene alten, gleichsam classischen Lieder zum Besten gab:
„Hier meine Herr-
en ist zu sehn,
wie eine Mord-
that ist geschehn,
im Jahre acht-
zehnhundertzehn.“
Oder: „Sie hat ihr Kind, sie hat ihr Kind mit einer Gabel umgebrungen.“ Seitdem hat der Leierkasten sich nun allerdings bedeutend civilisirt und, wie ja fast Alles und Alle, so huldigt auch er jetzt vollständig dem Zeitgeist. Wohl kein wichtiges Ereigniß geht vorüber, das nicht auf dem Leierkasten seinen Wiederhall fände. Namentlich Schleswig-Holstein mußte seiner Zeit in ganz unbeschreiblicher Weise herhalten und der Refrain: „Wir reichen Dir die Bruderhand“ wurde von früh bis spät in solchem Eifer gedudelt, daß man darüber hätte wahnsinnig werden können.
Dafür ist der Leierkasten aber in unserer Zeit auch wirklich zu einer gewissen culturgeschichtlichen Bedeutung gelangt. Man beobachte es nur: sobald seine ersten Töne auf einem Hofe oder an einer Straßenecke sich losquälen, sammelt sich sofort ein andächtiger Kreis von Zuhörern um ihn, und je nachdem er bloße Molltöne von sich giebt oder noch von menschlichen Philomelen begleitet wird, kann man, bald nach seinem Weiterrücken, das Vorgetragene sehr vielstimmig nachgrölen oder nachpfeifen hören. Ja, das, was er vorträgt, erreicht die vollständigste Popularität – und Louis Napoleon hätte in der That gescheidter daran gethan, statt in den Gleichnissen des „Leben Cäsar’s“ zu sprechen, seine hohen Ideen vom Leierkasten herab allem Volke zugänglich zu machen.
Doch allen Scherz bei Seite; der Leierkasten muß den niedrigsten Volksschichten gegenüber in aller Wahrheit als ein Lehrer, ein Erzieher betrachtet werden. Aus seinen politischen Liedern entnimmt der Bube seine ersten Begriffe und Anschauungen von der Welt: er zieht im Geiste mit hinaus nach Schleswig-Holstein und ruft, mit seinen Beinchen auftrampelnd: „Up ewig ungedeelt!“ An den Liebesliedern des Leierkastens entflammen sich die ersten heißen und süßen Gefühle im Herzen des jugendlichen Dienstmädchens und willig wird auch der so sauer erworbene Groschen noch für die „fünf neuen Lieder“ dahingegeben, um die lieblichen Worte sorgfältig nachstudiren zu können.
Leider ist aber der Leierkasten in neuerer Zeit vollständig in die Fußstapfen des Volkstheaters getreten, hat sich fast ausschließlich der Posse zugewandt und ist daher, fast überall, ebenso wie die Bühne, im Stadium des „höheren Blödsinns“ angelangt. Wenn jene alten, vorhin angeführten Räuber- und „Moritthäter“-Lieder uns auch ganz entsetzlich schauerlich und elend erscheinen mußten, so hatten sie doch Eines voraus: eine gewisse Moral, die den erschauernden Zuhörern die Strafe für die grausigen Mordthaten meistens im allerfurchtbarsten Lichte erscheinen ließ. Dagegen nun die Leierkastenlieder unserer Zeit! Bei ihnen ist das politische Gebiet noch immer das beste, denn die hierher gehörenden Witze sind dem großen Haufen entweder unverständlich, oder doch unschädlich. Was soll man aber dazu sagen, wenn der Grote’sche Mord in Berlin mit Wittwe Quinche und Genossen in einer Weise vom Leierkasten besungen wird, die in gleicher Weise frivol, frech, geradezu unsittlich, fade witzig und jammervoll gereimt ist; was können daraus die armen, lustig mitsingenden Arbeiterkinder, die leicht erregten Dienstmädchen etc. lernen? –
Unter allen Gelehrten der Welt erscheinen offenbar als die düstersten und allerkläglichsten – die Gelehrten des Leierkastens. Und doch, welchen unendlichen Einfluß haben sie auf die großen Volksmassen! In wie hohem Grade mögen die Lebensschicksale zahlloser Menschen durch die von jenen ausgesäete Moral geleitet und begründet sein! Ja, diese unheimlichen, unbekannten Poeten, die mit bewundernswerther Virtuosität kein Zeitereigniß, keine schwarze That, kein grelles Vorkommniß vorübergehen lassen – ohne davon ihren kärglichen Gewinn zu ziehen, ohne ihrem großen Auditorium „Nutz und Frommen“ davon zu bringen, sie stiften unleugbar viel Unheil und Verderben, indem sie, gleich der jetzigen modernen Posse, gleich gewissen Zeitungen das Laster und Verbrechen in lustiger Weise darzustellen und in seichter Moral nur Gelächter darüber zu erzwingen suchen.
An die Humanität und Einsicht aller wahren Volksfreunde appellirend, mache ich auf diesen argen Mißstand nicht blos aufmerksam, sondern füge auch eine dringende Mahnung hinzu. Meines Erachtens ließe sich nämlich unendlich Segensreiches stiften, wenn in jeder Stadt wohlmeinende und befähigte Männer zusammentreten und Vereine gründen möchten, welche sich die Aufgabe stellen: die volkserziehenden Leierkasten, in billigster Weise, immer mit guten und volksthümlich gedichteten Liedern, namentlich nationalen und patriotischen Inhalts, zu versehen. Sehr schwierig könnte dies Ziel wahrlich nicht zu erreichen sein – und welch reicher Segen würde daraus erblühen!
Möchte diese Anregung nicht unbeachtet vorübergehen! Die „Gartenlaube“ bietet den besten Vereinigungspunkt für diese Bestrebungen; man wolle daher nur überall baldmöglichst zusammentreten und durch häufige Mittheilungen an das allverbreitete Blatt das gewiß sehr wichtige Werk zur recht vielseitigen Erfüllung bringen.- ↑ S. Nr. 40.
- ↑ Da der Gedanke, das Kabel in ähnlicher Weise, wie Wilhelm Bauer vorschlägt, über den Ocean zu führen, neuerdings auch in Frankreich angeregt, ja als im Haupte des Kaisers Napoleon III. selbst entsprungen verkündet wurde, so bemerken wir, um Bauer’s Proritätsrecht zu wahren, hiermit, daß sein Kabellegungsproject mit den dazu gehörigen, die Ausführung desselben allein ermöglichenden Erfindungen schon im Jahre 1860 in England patentirt ist.
- ↑ Ueber Construction und bisherige Legungsart unterseeischer Kabel geben wir, wenn erwünscht, einen besondern instructiven Artikel.