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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[449]

No. 29. 1865.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Balbina.
Sittenbild aus unsern Tagen.
Von Franz Hedrich.
(Fortsetzung.)

Der Maler war bei den letzten Worten des Chirurgen vom Gerüste herabgestiegen und an den Tisch der Gäste gekommen. „Pah!“ rief er, „wie sollte ein so flotter, toller Kerl Franciscaner geworden sein!“

„Das denk’ ich mir auch,“ sprach der Chirurg, „drum eben und zugleich deshalb, weil der Franciscaner, wie mir vorkommt, viel schmächtiger und schmäler, beinahe abgezehrt aussah, hab’ ich es mir gleich ausgeredet.“

„Wie aber,“ sagte der Stegwirth, die Ohren spitzend, mit höchstem Interesse, „wenn er es doch gewesen wäre – ?“

„Du erschrickst ja gerade,“ bemerkte der Maler, „Ist er Dir vielleicht Etwas schuldig?“

„Leider,“ seufzte der Stegwirth. „Zehn Gulden sogar! Ich schreibe ungern Zechen auf – mein Sprüchwort kennt Ihr! Wie ich bei dem Kerl so viel habe stehen lassen können, noch dazu zu einer Zeit, da ich als armer Bierzapfer in der fürstlichen Brauerei jeden Pfennig selbst gebraucht habe, ist mein größter Schwabenstreich. Da ist er immer in meine Kammer gekommen und hat mich so beschwatzt. Dort könnt Ihr den Schlingel an der Wand sehen! Dort hat er sich mit der Kohle einmal selbst hingezeichnet.“

„Ich hab’ es gesehen,“ sagte Grüneisen. „Zum Sprechen ähnlich und mit wenigen Strichen –“

„Ja,“ fiel Schmierpeter in die Rede, „ein tüchtiger Maler wäre er geworden, wenn er länger bei mir geblieben wäre! Einen solchen Gehülfen hab’ ich nie im Leben gehabt. Flink war er, wie wenn er vier oder sechs Hände hätte, mit einem Wort ein Teufelskerl!“

„Der heilige Michael,“ sagte Geißbart, „den er auf das Pfarrgebäude gemalt hat, zeigt auch, daß er Etwas geleistet hat, was ihm nicht Alle nachmachen. Darüber sind alle Leute einig.“

„Das hab’ ich oft genug hören müssen,“ versetzte Schmierpeter. „Die dummen Leute bedenken aber nicht, daß er es in meiner Schule gelernt hat!“

„Noch einen Kümmel!“ rief Grüneisen.

„Mir auch!“ sagte Weißbart.

Während der Stegwirth einschenkte, erhob sich ein Geschrei, wie wenn ein Kind gespießt würde. Der Stegwirth. ganz erschrocken, ließ sich kaum die zum Einschenken nöthige Zeit, denn es war die Stimme des Zucker-Toni.

„Was giebt es denn wieder?“ schrie er durch das Fenster des Erdgeschosses in die Stube hinein, aus welcher der Lärm herausdrang. „Wozu lass’ ich Dich bei dem Buben sitzen, wenn Du ihn so schreien läßt?“

„Das ist nicht meine Schuld,“ tönte die Antwort der Kinderfrau heraus.

„Wessen sonst?“ fuhr der Stegwirth ergrimmt fort. „Spiel’ mit ihm besser, so wird er nicht auf’s Weinen verfallen!“

Zucker-Toni hatte indessen sein Geschrei nicht gemäßigt, sondern mit solcher Anstrengung gesteigert, wie wenn er sich die Lunge zerreißen wollte.

„Um Christi willen!“ rief der entsetzte Pflegevater aus. „Er thut sich einen Schaden! Thu, dumme Person, was er will!“

„Wie kann ich das?“ vertheidigte sich die Wärterin. „Er will aus dem Bette und das darf er nicht!“

„Das darf er freilich nicht,“ versetzte der Stegwirth. „Es ist ihm streng verboten, weil er sich sonst eine schwere Krankheit zuziehen kann! Hättest Du ihm ein Stück Zucker gegeben!“

„Er hat es weggeworfen,“ war die Antwort. „Da liegt es auf dem Boden.“

„Das ist ein Kreuz!“ wimmerte der Stegwirth, die Hände zusammenschlagend, seinen Gästen rathlos zugewandt.

„Ah,“ sagte der Chirurg, „dem Buben wird nicht so viel fehlen! Gewisse Leute machen aus einer Mücke einen Elephanten, blos um dann sagen zu können: ‚Da seht meine Wundercur!‘“

Auf diese Bemerkung, welche die ganze Bitterkeit erkennen ließ, daß Weißbart nicht der behandelnde Arzt im Hause des Stegwirths war, erwiderte der letztere:

„So glauben Sie, daß das Kind aufstehen kann? Es schreit sich todt!“

„Erkälten kann es sich heut nicht.“ gab der Chirurg zur Antwort, indem er sich die Schweißtropfen an der Stirn trocknete.

„Da laß ihn heraus!“ rief der Stegwirth der Kinderfrau zu, worauf einige Augenblicke später Zuckertoni barfuß, nur mit einem Höschen bekleidet, hervorgesprungen kam.

Es war ein hübsches, krankhaft lebhaftes Kind. Gewöhnlich blaß, war es heute bedeutend geröthet. Der Stegwirth war ihm zärtlich entgegengelaufen und hatte es an der Hand zu den Gästen geführt.

„Da sehen Sie, Herr Chirurg,“ sagte er mit jammervoller Stimme, „da sehen Sie, wie roth heute die Bäcklein meines Toni sind! Hat das Nichts zu bedeuten?“

„Das versteh’ ich nicht,“ versetzte der Chirurg mit unerbittlicher [450] Malice. „Da mußt Du schon Deinen Hausdoctor fragen!“

Zucker-Toni hatte indeß die Quaste an Grüneisen’s Pfeife erschnappt und schrie dabei aus vollem Halse: „Ich will es haben! Ich will es haben!“

Grüneisen hatte Mühe, nicht nur die Quaste, sondern auch die Pfeife vor dem Untergang zu retten, als es ihm aber gelungen war, lärmte und tobte das Kind, daß es dem Ersticken nahe kam.

„Mein Gott!“ jammerte der Stegwirth, das Kind auf den Arm nehmend. „Still, lieber Toni, still! Ich kaufe Dir eine schönere, eine goldene, nur still!“

„Ich will die haben,“ schrie Zucker-Toni, mit den Händen zurückgreifend, während er von seinem bemitleidenswerthen Pflegevater in’s Haus zurückgetragen wurde.




4.

Den Hintergrund des Burgsauer Thalkessels schließt ein mächtiger, kahl aussehender Berg ab. Seine drei nebeneinander stehenden Spitzen oder Zacken, welche in ihrem Zustande der äußersten Verwitterung das Aussehen phantastischer Kronen besitzen, können vielleicht die ersten christlichen Bewohner des Thales veranlaßt haben, ihn den Dreikönigsberg zu nennen. Die Front bildet eine unzugänglich steile, obgleich wild zerrissene Wand, deren rastlos sich herabschiebendes Gerölle keinen Grashalm, noch weniger einen Stamm festen Fuß fassen läßt. Nur an einigen, von hervorsickerndem Wasser feuchten Stellen vermag sich dünnes, schimmelähnliches Moos festzuhalten.

Diese Wand schießt in eine finstere, schwarze Schlucht hinab, auf deren höchst ungleichem, morastigem Boden eine urwaldähnliche Vegetation aller möglichen Holzarten, Sumpf- und Farrenkräuter im wildesten Durcheinander tausendjähriger Felstrümmer und vom Sturm hingestreckter, faulender Riesenstämme wuchert. Der Ort ist schaurig, auch ohne den unheimlichen Aufputz von Geschichten, denen zufolge unsaubere Mächte ihr Wesen hier treiben sollen, durch die dumpfe, kühle Kellerluft und den beständigen Modergeruch, wie auch als beliebter Aufenthalt von Molchen und Schlangen und allen Sorten von Nachtvögeln, welche in den finsteren Felsspalten mit Vorliebe nisten.

Die Schlucht ist von den Niederlassungen der Menschen weit entfernt und, da dort kein Weg zu einer Alm oder auf einen Holzplatz hindurchführt, wenig besucht und wohl deshalb besonders gescheut. Dennoch steht am Eingange, an einem Bächlein, welches aus dem nahen Dickicht ungestüm hervorbricht, ein zwar hölzernes, aber im besten Zustande befindliches Haus. Es steht auf der Stelle einer baufälligen Baracke, welche sich daselbst von Alters her befunden, und zeigt, daß sich der Wohlstand der dort domicilirenden Familie bedeutend gehoben haben muß. Die ganze Vorderseite ist mit einem ungewöhnlichen Reichthum von Gemälden geschmückt, so daß beinahe alle Patrone dargestellt scheinen, welche vor den Krankheiten schützen, von denen die Bewohner der Gegend am häufigsten geplagt werden. Von diesen Schutzheiligen umgeben, nimmt das Mittelbild den weitesten Raum ein. Es stellt einen der erstaunlichsten Heilerfolge vor, welcher vor langen Zeiten vorgekommen, seitdem aber nicht wieder erreicht worden ist, nämlich die Auferweckung des verstorbenen und bereits begrabenen Lazarus.

Der überaus grelle Ausdruck dieser Kunstwerke, welche sämmtlich vom Schmierpeter stammen, verräth durchwegs die Absicht des Meisters, seinen Werken wenigstens durch das dickste Auftragen der Farben unvergängliche Dauer zu verleihen.

Es ist klar, daß diese Bilder nicht allein aus landesüblicher Gewohnheit da oben prangen, sondern durch ihren innigen, ideellen Zusammenhang noch einem anderen Zwecke dienen und die Beschäftigung und den Beruf des Hauseigenthümers bezeichnen, welcher unter dem schlichten Namen „der alte Balthasar von der Dreikönigswand“ eine große medicinische Berühmtheit in der weitesten Umgegend der Burgsau ist.

Dieser große Arzt, frühzeitig verwais’t und verlassen, hatte seine Studien bei Leonhard’s Vater auf dem Unteranger als sogenannter Kühbube begonnen und war dreißig Jahre alt geworden, als er sich zum Hirten auf der Gemeinde-Alpe emporgeschwungen hatte. In dieser eigentlich selbständigen Stellung, in welcher er neunzig bis hundert Stück Vieh zu hüten hatte, war er bereits einige Jahre, als in der Burgsau und den angrenzenden Bergbezirken eine Viehseuche ausbrach, welche Opfer auf Opfer forderte und der Schrecken der ganzen Gegend wurde. Nur ausnahmsweise war der Stall irgend eines Hofes verschont worden, dagegen war keine einzige Alm zu finden, welche nicht die bedeutendsten Verluste erlitten hätte. Blos der Gemeindehirt Balthasar hatte seinen ganzen Viehstand unversehrt erhalten, wie wenn die furchtbare Todesmacht, welche auf den zunächst liegenden Sennhütten wüthete, nicht gewagt hätte, die Hecken und Zäune seiner Alm zu überschreiten.

Es war in der That kein gewöhnliches Schauspiel, als Balthasar im Herbst noch unter dem Nachhall einer solchen Katastrophe seine kranzgeschmückte Heerde mit allen traditionellen Ehren von der Alm hinabführte, welche nur demjenigen zukommen, dessen Hüteramt ohne alle Unfälle abgelaufen ist. Die Leute, deren jeder Einzelne eine Klage über Verluste noch frisch im Herzen trug, betrachteten den Gemeindehirten wie einen Wundermann und hätten sich nicht einreden lassen, daß hier nur Zufall gewirkt haben sollte.

Balthasar hatte anfangs auf die allseits an ihn gestellten Fragen, welche Mittel er angewandt habe, keine Antwort zu geben, als man ihm aber sein Geheimniß abkaufen wollte, erspähte er seinen Vortheil und stand endlich nicht an, seinen geheimen thierärztlichen Kenntnissen den Erfolg zuzuschreiben.

Von diesem Augenblicke an war er der gesuchteste Thierarzt, um welchen sich alle Welt riß, und nicht lange darauf mußte er sich, vom allgemeinen Vertrauen berufen, auch entschließen, Menschen zu curiren. Er hatte natürlich seinen Hirtenstab sofort weggeworfen und den neuen Beruf ergriffen, an den er nie zuvor gedacht und bei dessen Ausübung er sich seitdem einen wahren Wunderglauben an seine Heilkunst erworben und alle Taschen gefüllt hatte.

Innerhalb einer dreißigjährigen Praxis hatte er jedoch zwei Drittel dieser Zeit schwere Verfolgungen zu erleiden gehabt, weil ihn Weißbart’s Vorgänger, durch Balthasar’s erdrückende Concurrenz zur Raserei gebracht, durch gerichtliche Strafurtheile unschädlich zu machen und zu vernichten gesucht hatten. Diese Epoche dauerte so lange, bis endlich sich der gegenwärtige Hofrath von Zintner entschloß, den Pfuscher ganz geheim zur Consultation zu berufen, nachdem er weder von dem befugten Ortschirurgen, noch von anderen legitimirten Aerzten von einem hartnäckigen Uebel befreit worden war. Die Cur gelang, und Balthasar war post hoc oder propter hoc ein gemachter Mann. Der dankerfüllte Hofrath hatte ihm nämlich nicht nur eine schöne Geldsumme, sondern auch ein Heilpatent zum Geschenke gemacht.

Letzteres war die Quelle, aus welcher Weißbart’s Ingrimm gegen den Hofrath floß und ein tiefer Groll gegen den Stegwirth hervorströmte, weil dieser, als einer der zahlungsfähigsten Insassen, sich den alten Curpfuscher zum Hausarzt gewählt hatte.

Es war noch frühester Morgen, die Sonne hatte die Linien der hohen Bergrücken kaum überstiegen. Der alte Balthasar hatte das Bett schon längst verlassen und war bereits als Pharmaceut thätig, weil er den ganzen Tag über bis in die späteste Nacht von einem Krankenbette zum anderen, aus einem Stalle in den anderen zu wandern hatte. Er stand mit umgebundener Schürze in seiner Küche vor einem Kessel und sott ein Tränklein, welches wie Weihwasser hochgeachtet und in allen Bauernhäusern vorräthig gefunden wurde.

Balthasar war ein Mann von fünfundsiebenzig Jahren, jedoch so wohlerhalten, daß er für einen vorgerückten Fünfziger angesehen werden konnte. Seine Gestalt war hoch und breit, weniger dick, als knochig, seine Haltung noch immer kerzengerade, sein Kopf sehr bedeutsam. Seine hoch und breit gebaute Stirn bekundete kräftigen Verstand, die tiefliegenden grauen Augen hatten etwas Träumerisches von der Gewohnheit angenommen, viel nach innen zu schauen. Dieser obere Theil des Gesichtes mit der wohlgeformten Stumpfnase machte den Eindruck, daß man nicht einen Alltagsmenschen vor sich habe, dagegen war die untere Partie so beschaffen, daß man meinen konnte, eine Verwechslung habe stattgefunden und jene ursprünglich einem anderen Menschen gehört. Der Mund war roh, wulstig und fast thierisch zu nennen. Zwei auffallend breite und tiefe Falten, die zu beiden Seiten hinabliefen, während die übrigen Gesichtsrunzeln wie mit einem Rasirmesser fein gezeichnet waren, trugen zur Verhäßlichung noch das Ihrige bei und halfen die Voraussetzung begründen, daß [451] rohe, heftige Leidenschaften im Inneren ihr Wesen trieben. Das konnte der Fall sein, obwohl sich Balthasar des besten Rufes erfreute, weil er vielleicht mit dem Willen und Verstande, die auf seiner Stirn abgeprägt waren, alle derartigen Ausbrüche zu bekämpfen und niederzuhalten oder zu verheimlichen wußte. Man wird aber schwerlich fehl gehen und aus seinem Aeußeren, der Sprache und der ganzen Art und Weise falsch schließen, wenn man annimmt, daß man es mit einem ganz vollendeten Dorf-Cagliostro zu thun hatte.

Er war Junggesell, der seine Wirthschaft mit Hülfe einer alten Dienstmagd führte und außer seinem Berufe allen Umgang mit Anderen wohl aus der Berechnung vermied, daß ihm durch nähere Berührung der Menschen nicht der Nimbus des Wunderbaren vom Leibe gestreift werde.

Balthasar zerstampfte eben ein Ingrediens, das in den Kessel hineingehörte, als er draußen auf dem Hausflur hastige, starke und ihm unbekannte Tritte hörte, Leonhard trat bei ihm ein. Athemlos, die Thür noch in den Händen, ohne nur den Morgengruß angebracht zu haben, sagte er, während ihm aus dem Gesichte die höchste Erregung und aus den funkelnden dunklen Augen eine wilde Erwartung leuchtete:

„Mich hat es gar kein Auge zuthun lassen! Ich habe gestern gehört, daß der Zucker-Toni so krank ist, hättest Du vielleicht doch –“

„Kommst Du heute schon wieder damit?“ unterbrach ihn der Wunderdoctor höchst ungestüm. „Da verdientest Du schon, daß ich Dich bei Gericht anzeige oder mit einem Knittel zur Thür hinausprügle!“

„Mache keinen solchen Lärm,“ erwiderte Leonhard, weiter vortretend. „Warum könnt’ ich es mir nicht denken, da ich höre, daß der Bube auf einmal so krank wird?“

„Dummes Zeug!“ rief Balthasar. „Wer Dir das gesagt, hat selbst nichts gewußt oder Dich blau anlaufen lassen! Dem Kind ist nichts! Ich war gestern dort. Den Magen hat es ein Bischen verdorben und daran leidet es nicht von gestern und heute. Wenn sie es nicht mit süßen Sachen wieder überfüttert haben, so springt es wahrscheinlich heute schon wieder herum. Das hat gar nichts zu bedeuten – nichts!“

„Nichts!“ stieß Leonhard leise aus, indem er sich ganz niedergeschlagen niederließ.

„Gar nichts,“ fuhr Balthasar finster fort, „aber Deine miserablen Reden will ich niemals mehr hören! Sonst spann’ ich noch andere Saiten an. Ich bin da, um den Menschen zu helfen, nicht, um sie umzubringen! Ich weiß gar nicht, wie Du bei solchen Dingen auf mich verfällst, aber es muß Dich gerade der Teufel reiten, denn als so grundschlecht bist Du mir nicht bekannt!“

„Du stellst Dir gar nicht vor,“ gab Leonhard im Tone der Entschuldigung jammernd zur Antwort, „wie Einem ist, der so ganz verzweifeln muß, wie ich. Wenn mir jetzt auf dem Heimweg der leibhaftige Satan begegnet und zu helfen verspricht, ich erschrecke vor nichts und danke noch Gott dafür!“

„Du sprichst, daß es nur graust!“ sagte Balthasar. „Du mengst Gott und den Teufel zusammen. Mit Dir kann es nicht recht richtig sein!“

„Denke das nicht,“ versetzte Leonhard. „Ich weiß zu gut, woran ich bin. Ich weiß auch genau, was mein einziger und letzter Ausweg ist. Die Brigitta ist es! Die muß ich wieder haben und die nimmt mich wieder; sie hat es deutlich und klar genug gesagt – sobald der Stegwirth vom Wirthshaus gejagt ist und wieder Bierzapfer werden muß. Nur so geht es, nicht anders, sonst bricht das Eis unter mir. Dann kannst Du Dir den Schuldschein, den Du von mir hast, einrahmen!“

„Du malst Dir Alles schlimmer, als es ist,“ warf Balthasar, den Kessel vom Feuer setzend, hin.

„Das glaubst Du?“ rief Leonhard lebhaft. „Da irrst Du Dich! Mir bleibt nichts, kein Strohhalm! Das Hypothekenbuch allein frißt Alles! Frage den Amtsschreiber. Ich hab ihn abgeschmiert, damit er das Maul hält! Frag’ in meinem Namen an.“

„Krieg’ ich nichts von Dir, gut!“ sagte Balthasar. „Dann mache ich über meine Fünfhundert das Kreuz! Ich habe sie sauer zusammengespart. Gott Lob, ich kann mir mein Brod noch immer verdienen. Das ist mein Trost.“

„Du nimmst es leicht mit Deinem Gelde!“ rief Leonhard ein wenig spöttisch. „Sonst bist Du nicht so. Der Zimmermannsfrau hast Du wegen sieben Gulden das Bett weggepfändet. Das ist nicht so lange her!“

„Dich pfände ich allerdings nicht aus,“ sagte der Dorfarzt, „wie Andere, denn ich habe viel Gutes bei Deinem Vater genossen. Das hab’ ich immer vor Augen und lege mich nie zu Bett, ohne ein Vaterunser für ihn zu beten.“

„Mein Vater hat freilich viel für Dich gethan,“ sprach Leonhard. „Du bist eine schöne Zeit bei uns gewesen und gut gegangen ist es Dir auch. Ein Bettelbube bist Du gewesen und wärst mit der Zeit nichts als ein elender Vagabund geworden, wenn man sich nicht Deiner bei uns angenommen hätte; das hat meine selige Mutter oft genug gesagt. Durch meinen Vater bist Du Gemeindehirt geworden und dadurch Alles, was Du jetzt bist. Willst Du wirklich dankbar sein, so sind Deine Vaterunser das Allerwohlfeilste, was Du dabei herzugeben hast! Schau, Balthasar, der Zucker-Toni ist immerfort kränklich und wird es bleiben und doch nicht viel älter werden; sein Leben ist doch kein Leben – Du hast es so leicht, kein Hahn wird danach krähen.“

„Du thust meinen Ohren weh!“ sagte Balthasar, indem er sich vor den Verzweifelnden hinstellte mit bittend gefalteten Händen. „Nimm Deine Vernunft zusammen. Schlage Dir so schreckliche Dinge aus dem Kopf, willst Du aber um jeden Preis einem Malheur entgehen und Dir dafür ein siebenfaches auf den Hals laden, so wende Dich an irgend einen Galgenstrick, nicht an mich! Ich habe mich redlich durchgebracht und bin in Ehren grau und alt geworden. Hast Du je etwas Schlechtes von mir gesehen oder nur gehört, daß Du eine so fürchterliche Meinung von mir hast? Lieber wollt’ ich Dir mein Haus schenken und das Bischen, was ich habe, und von Waldwurzeln leben und in einem Dachsloche wohnen!“

„Geh!“ sagte Leonhard, durch den Widerstand aufgebracht. „Für so rein halt’ ich Dich freilich nicht! Ich weiß, warum, und man munkelt es auch und noch weit mehr.“

„Man munkelt freilich viel,“ unterbrach ihn der Alte sehr heftig, „aber das ist das alberne Zeug, das von den Chirurgen herrührt, von diesen Dumm- und Schröpfköpfen, von diesen Blutabzapfern und Bartkratzern! Wenn ich so wäre. wie Du denkst, warum würde ich Nein sagen und um meine fünfhundert Gulden kommen? Warum das Trinkgeld wegwerfen, das Du mir versprichst? Ich bin das nicht, was Du denkst! Da bist Du mit Deiner üblen Meinung an einen harten Stein bös angerannt! Und gerade von heute an sollst Du sehen, daß ich mir besondere Mühe nehme, den Zucker-Toni auf die Beine zu bringen. Der Bube ist kerngesund, leidet an nichts im Inneren, nur der Magen, der Magen! Das kommt aber von den Näschereien her und da soll es auch anders werden. Noch heute nehm’ ich den Stegwirth beim Ohr, und sobald der Bube erst wieder gehörig verdauen kann, wird er gesund und frisch, wie das Fischlein im Wasser. Jetzt hast Du es gehört!“

Nach diesen Worten ging er in die Nebenkammer, um sich anzukleiden, denn es war die Zeit, wo er bei den Patienten seine tägliche Runde zu machen anfing. Leonhard war stumm, hoffnungslos und wie vernichtet sitzen geblieben. Kopf und Arme hingen ihm schwer hinunter, bald irrten, bald wurzelten seine verstörten Augen auf dem Boden.

Ein paar Minuten waren so vergangen, als plötzlich das Geräusch von einem Wagen zu hören war, welcher auf dem steinigen Fahrwege mit größter Eile heranrumpelte. Eine Weile später trat Balthasar, der das Geräusch gehört und sich mit dem Ankleiden beeilt hatte, hervor, als der Wagen eben vor der Hausthür angehalten hatte.

„Wer mag das sein?“ murmelte er.

Aber schon flog die Thür weit auf, und der Stegwirth stürzte wie ein Wahnsinniger herein.

„Balthasar!“ schrie er mit gebrochener, schluchzender Stimme, „mein Toni, mein lieber, armer Toni ist todt!“

Er warf sich auf einen danebenstehenden Block, der zum Holzspalten diente, um nicht vor Jammer zusammenzubrechen. Leonhard, der bei der Neuigkeit erst gewaltig emporgefahren war, saß bald darauf wie niedergedonnert da, aber seine Blicke, sowie die Balthasar’s, der die Ruhe eines alten Arztes behalten hatte, fuhren mit eigenthümlicher Beredsamkeit hinüber und herüber.

„Todt, sagst Du?“ war Balthasar’s erstes Wort. „Ich kann es gar nicht glauben!“

[452] „Es ist nicht anders,“ wimmerte der Stegwirth unter Thränen. „Der arme, arme Toni!“

„Wann ist es denn geschehen?“ fragte Balthasar. „Habt Ihr denn nichts zuvor gemerkt, daß Ihr nicht nach mir geschickt habt?“

„Hast Du Etwas gemerkt,“ lautete die Gegenfrage des Stegwirths, „als Du gestern Nachmittag bei ihm gewesen bist?“

„Nichts von der Welt, aber gar nichts,“ gab der alte Doctor zur Antwort. „Ich habe ihm auch nichts verordnet, gar nichts einnehmen lassen – keinen Tropfen.“ Er warf dabei einen Seitenblick auf Leonhard, welchen dieser wohl verstehen sollte. „Nicht wahr, Stegwirth?“

„Ich weiß in diesem Augenblicke nichts,“ erwiderte der Stegwirth, „als daß der Knabe todt ist und mich ein schreckliches Unglück heimgesucht hat!“ Sich erhebend und Leonhard, der hinter ihm am Heerde saß, anblickend, setzte er rasch hinzu: „Du hier? Jetzt kriegst Du die Brigitta wieder! Jetzt wird sie nicht mehr Nein sagen, Du glückliches Sonntagskind!“

Leonhard verzog keine Miene und blieb stumm.

„Ueber was hat er denn geklagt?“ fragte Balthasar mit Interesse. „Es muß doch Etwas vorgegangen sein, denn es fällt gar so selten vor, daß der Tod kommt und nicht zuvor ein Zeichen giebt!“

„Doch war es so,“ sagte der Stegwirth. „Wir haben nicht eher an’s Sterben gedacht, als bis die Leiche kalt vor unseren Augen lag. Toni war erst unruhig, das ist er aber oft gewesen, schlief aber um Mitternacht fest ein. Gegen zwei Uhr war er wieder erwacht. Seine Mienen waren so verzogen und die Reden so irre, daß mich die Magd zu wecken ging. Als ich gekommen war und das Kind mich sah, wollte es eine Taube. Ich ließ schnell eine aus dem Taubenschlag holen, aber ehe sie gekommen war, hatte Toni den letzten Seufzer gethan. Ich hab’ es nicht geglaubt, ich hab’ es noch lange nicht geglaubt! Ach, Jesus, ach, Jesus!“

„Du kommst gewiß, mich zu holen?“ sagte Balthasar.

„Deshalb komm’ ich,“ erwiderte der Stegwirth. „Komm und fülle mit allen belebenden Mitteln, die Du hast, Deine Taschen, vielleicht ist es ein Starrkrampf – aber nein, nein, das Kind ist todt, der Weißbart hat es gesagt – o, das Kind ist todt und ich wollte, ich wäre es auch!“

Unter diesen Wehklagen stürzte er zur Thür hinaus.

„Das kommt Dir recht,“ flüsterte der alte Balthasar hinausgehend, um dem Stegwirth zu folgen, Leonhard zu. „Es ist, als ob der Teufel diese Nacht Deine bösen Wünsche erhört und dem armen Kleinen an den Leib gegangen wäre!“

„Mag es so sein oder so,“ versetzte Leonhard, sich emporrichtend. „mir ist es gleich. Ich kriege die Brigitta und Du kriegst Dein Geld!“

Der Wagen brauste, während auch Leonhard gleichzeitig heimging, mit derselben Schnelligkeit davon, mit welcher er gekommen war. Aber der Stegwirth hatte seine Pferde umsonst so angestrengt und umsonst den Wunderarzt in’s Haus herbeigeholt. Der Zucker-Toni war todt und blieb todt.




5.

Mariä Himmelfahrt war herangekommen. An diesem Tage bildete die Eröffnung und Ausweihung einer altberühmten, der Mutter Gottes geweihten Kapelle, die in Folge eines Brandes über zehn Jahre lang geschlossen war, ein besonderes Kirchenfest, welches eine mächtige Anziehung auf die Burgsauer und die ganze Umgegend übte. Seit der Vornahme der Wiederherstellung waren die Gemüther auf diesen Act lange gespannt und die Gerüchte wußten immerfort etwas Neues über die Pracht des Hochaltars, über die kunstvollen Schnitzwerke und namentlich über ein riesengroßes Wandgemälde zu erzählen, von welchem letzteren es sogar hieß, es sei so gelungen, daß künftighin nicht einmal ein glaubensloser Städter, sei er Jude oder Protestant, an der Burgsau vorübergehen werde, ohne es in Augenschein genommen zu haben.

Fast in der Mitte der Burgsauer Thalfläche stand auf einer sanften Anhöhe ein Franciscaner-Kloster, ein Jahrhunderte alter Bau von imposantem Umfange in byzantinischem Style. Es hatte einst bessere Tage gesehen, als daselbst vierzig bis fünfzig Mönche gewohnt und bei einem frömmeren Menschenschlage, als der heutige, ein äußerst schwunghaftes Bettelgeschäft betrieben hatten. Gegenwärtig war die Zahl derselben auf vier Conventpater mit einem Guardian an der Spitze und ein paar Laienbrüder zusammengeschrumpft, welche von dem Mutterstift der Landeshauptstadt abhängig waren.

Die ebenerwähnte Kapelle, ein späterer Zubau im Styl der Lorettokirchen, befand sich auf einem wohlgewählten Platze dicht am Kloster und gerade am Eingange zum Kirchhof, welcher, trotz der in neueren Zeiten errichteten Pfarrei im Markt Burgsau, noch immer zur allgemeinen Begräbnißstätte diente.

Dem gegenwärtigen Guardian, einem der modernen Zeit durchaus nicht feindseligen Mönche, unter welchem die Kapelle in ihrem Inneren bis auf die kahlen Mauern ausgebrannt war, gebührte auch das Verdienst, die Wiederherstellung nach seinen eigenen Anordnungen bewerkstelligt und überhaupt ermöglicht zu haben.

Der schönste Tag begünstigte die kirchliche Feier und daher war der Zudrang so groß, daß die colossale Klosterkirche, wo das Hochamt celebrirt und eine lange Predigt gehalten wurde, die Menschenmenge kaum zu fassen vermochte. Als hierauf die Einweihungs-Ceremonie vorgenommen worden war, stand oder kniete natürlich Alles auf freiem Felde draußen, den stechenden Sonnenstrahlen ausgesetzt, während nur ein kleines Häuflein der heiligen Handlung im Innern der Kapelle beiwohnen konnte.

Unter der Mehrzahl derer, welche ihre Andacht da außen verrichten mußten, befand sich auch Balbina mit ihrer Mutter, einer sehr alten, zusammengeknickten Frau, auf deren faltenreichem und bekümmertem Gesichte sich keine Spur mehr zeigte, wie schön und lustig sie auch einst gewesen war. Doch, trotz Schicksalen und Jahren, waren die Züge tiefster Herzensgüte unverlöscht geblieben. Mutter und Tochter lagen nebeneinander auf den Knieen, im Gebete ganz versunken. Ihre ganze Haltung bekundete, daß ihre Andacht das besondere Bedürfniß eines aufgewühlten und Hülfe erflehenden Herzens war.

Die Tochter hielt krampfhaft das Gebetbuch in den Händen, welche von Zeit zu Zeit leise erzitterten und bald darauf heftig zusammenzuckten, und ließ keinen Blick nebenaus schießen, während die Mutter, trotz ihrer gleich eifrigen Andacht, ihre Augen gar oft zum Himmel und auf Balbina richtete, wie wenn sie für diese, nicht für sich Hülfe brauchen und beten würde. Gewiß war auch viel Mutterangst dabei, daß sie die Tochter so oft in’s Auge faßte. Endlich war die Eröffnungsfeier vollbracht und es begann das Ein- und Ausströmen der Neugierigen, von welchen die meisten auf diesen Moment sehnlichst gewartet hatten, um die neue Ausstattung der Kapelle zu besichtigen.

„Wir aber gehen jetzt heim,“ sagte Balbina, deren Aussehen das einer äußerst Zerstreuten war.

„Was fällt Dir ein!“ versetzte die Mutter höchst verwundert. „Wie kannst Du es über das Herz bringen? Und die Kapelle anzusehen, gehört heute zur Andacht obendrein!“

„Du hast Recht,“ sagte Balbina, „aber Du glaubst nicht, wie schrecklich mir die vielen Leute sind!“

„Wir wollen uns nicht drängen, nicht stoßen,“ sagte die alte Frau. „Zu versäumen ist Nichts.“

Sich stumm fügend, folgte erst Balbina der Mutter durch den Menschenknäuel langsam nach, bald aber fing sie sich sehr mannhaft vorzudrängen an, daß die Mutter nahe daran war, sie aus den Augen zu verlieren.

„Balbina!“ ermahnte die Alte, ihre Tochter hinten am Kleide zupfend.

„Warten macht keine Freude,“ erwiderte Balbina ungeduldig. „Ich danke Gott, wenn es vorbei ist.“

Sie hatte es kaum gesagt, als sie sich schon mit einer am Weibe ungewöhnlichen Entschlossenheit durch die dichtgedrängten Menschengestalten hindurcharbeitete. Bald darauf kam sie der Mutter aus dem Gesicht und mußte schon lange vorher in der Kapelle gewesen sein, ehe die alte Frau nur die Thür erreicht hatte. Hier an dem einzigen Eingange war das Gedränge durch das Ein- und Ausströmen der Leute am größten.

„Nicht wahr?“ redete ein alter Bauer sie an. „Da geht es sauer, aber nur Courage, reuen wird es Dich nicht!“

(Fortsetzung folgt.)



[453]
Heimgekehrt aus dem Exil.

Gustav Struve.

Vor wenigen Tagen erst, am 28. Juni d. J., ist vor dem Appellationsgerichte zu Jena ein politischer Proceß verhandelt worden, dessen Hauptangeklagter schon lange vor dem Sturmjahre von 1848 zu den hervorragendsten Führern der deutschen Demokratie zählte und auch in den Bewegungen und Erhebungen von 1848 und 1849 als einer der ersten Freiheitskämpfer genannt worden ist, wie er nicht minder jenseit des Oceans seine Gesinnung und seinen Muth durch thätige Parteinahme für die gute Sache bewährte, – ich meine den Badenser Gustav Struve. Die Leser der Gartenlaube werden es mir darum sicher Dank wissen, wenn ich ihnen gerade jetzt Bild und Wirken des rastlosen Agitators vorführe und damit zugleich das Andenken an eine Zeit erneuere, deren Früchte uns trotz alledem und alledem unverloren sind. –

Eine Veranlassung, die ich hier nicht näher zu erörtern brauche, führte mich nach Coburg, wo, wie ich wußte, nach seiner Rückkehr aus Amerika, sich jetzt Gustav Struve niedergelassen hatte. Ich hatte Struve noch nie gesehen, aber es war lange mein sehnlichster Wunsch gewesen, den berühmten Freiheitskämpfer persönlich kennen zu lernen. Der erste Morgen nach meiner Ankunft in Coburg fand mich darum in einer freundlichen Gartenwohnung vor der Thür Gustav Struve’s. Eine Stimme von etwas heller Klangfarbe rief auf mein Klopfen „Herein!“ Ich trat ein. Vor mir stand ein Mann von blühender Gesundheit und voller Kraft, dem ich, wenn das weiße Haupthaar und der weiße kurzgeschnittene Bart mich nicht eines Andern belehrt hätten, höchstens fünfundvierzig bis fünfzig Jahre gegeben hätte. Seine Bewegungen waren elastisch, seine feinen und intelligenten Gesichtszüge, auf denen sich Wohlwollen und Herzensgüte mit Verstand und einem gewissen vornehmen Ausdruck verschmelzen, von der Frische der Gesundheit geröthet, milde und heiter blickten mich braune Augen an und eine kräftige Hand drückte die meinige zum Willkommen. Es war in der That Gustav Struve, der bekannte deutsche Agitator und Geschichtsschreiber, vor dem ich stand.

Seit jenem Tage ist Gustav Struve mir ein lieber Freund geworden, und ich rechne mir seine Freundschaft zum Ruhme meines Lebens an. Und wer sollte ihn nicht lieben, der ihn kennt und die republikanischen Tugenden, Reinheit der politischen Bestrebungen, ein makelloses Leben, eine enthusiastische Seele, glänzende Talente, einen hohen Verstand, eine gediegene Bildung, eine glühende Vaterlandsliebe, ein opfermuthiges Herz und wahre Humanität zu schätzen weiß?

Struve ist einer der ausdauerndsten und tapfersten Streiter für die gute Sache. Er ist kein Mann der Phrase, er hat vielmehr durch ein langes, vielbewegtes Leben hindurch mit eiserner Consequenz seinen Wahlspruch bewährt: „Wort und That Hand in [454] Hand“. Als der Sohn des russischen wirklichen Staatsraths Johann Gustav von Struve, der 1817 zum Geschäftsträger seiner Regierung in Karlsruhe ernannt worden war, den 11. October 1805 in München geboren, trat der begabte junge Mann nach juristischen Studien in Göttingen und Heidelberg in den oldenburgischen Staatsdienst, da die Eltern einsahen, daß die freie geistige Richtung des Sohnes für eine Beamtenstellung in Rußland nicht paßte. Der alte Großherzog Peter einpfing ihn sehr gütig, und der würdige Minister von Brandenstein widmete ihm die freundlichste Aufmerksamkeit. Er wurde als Attaché der Gesandtschaft am Bundestage zugetheilt. Der junge Attaché hatte dort alle Gelegenheit die Zustände Deutschlands und der einzelnen Regierungen sowie die obersten Beamten derselben kennen zu lernen und seinen politischen Gesichtskreis zu erweitern, aber seine Stellung wurde keine behagliche. Seine freien politischen Ansichten, die er überall frei aussprach und verfocht, brachten ihn mit seinem Gesandten und den übrigen Vertretern der Diplomatie in Frankfurt in unangenehme Conflicte, und er konnte es nur als Erfüllung eines langersehnten Wunsches betrachten, als er nach dem im März 1828 erfolgten Tode seines Vaters nach Oldenburg zurückberufen wurde, um, nach einem glänzenden Examen, als Assessor in Jever angestellt zu werden. Für die Fortsetzung der diplomatischen Carrière war Struve selbstverständlich nicht geeignet. Er hatte, wie er selbst sprach, „vor der diplomatischen Laufbahn einen vollständigen Ekel bekommen.“ „Aber,“ sagt er weiter, „es ging mir in meiner richterlichen Carrière nicht viel besser. Nur zu bald sah ich ein, daß derselbe Geist, nur unter andern Formen, den Stand des Richters, wie den des Diplomaten beherrschte. Ich erkannte, daß der Fehler weit tiefer liege, als ich bisher geglaubt hatte, daß er nämlich in der Spitze der Regierung wurzle und von dort bis zum Gerichtsdiener hinabreiche. Ich sollte Urtheile unterzeichnen, gegen welche ich mich mit der ganzen mir innewohnenden Kraft gesetzt und von denen ich die Ueberzeugung hatte, daß sie nicht das Ergebniß der gewissenhaften Prüfung der Richter, sondern fremder Einwirkung seien. Ich wurde dadurch auf's Tiefste verletzt und ergriff eine verhältnißmäßig unbedeutende Veranlassung, meine Entlassung aus dem Staatsdienste zu nehmen.“ Diese Entlassung erfolgte denn auch in ehrenvollster Weise und nach längerem Widerstreben des Großherzogs.

Er versuchte es nun mit der akademischen Thätigkeit und hielt sich deshalb ein Jahr in Göttingen auf, allein es wollte auch mit diesem neuen Lebenswege nicht recht vorwärts, und bald, im Jahr 1832, finden wir ihn als Obergerichtsadvocaten in Mannheim wieder.[WS 1] „Ich konnte,“ äußerte sich Struve in den mir vorliegenden handschriftlichen Notizen, „den Processen, namentlich den Civilprocessen, keinen Geschmack abgewinnen, meine Neigung blieb der Poesie und dem Makrokosmos des Lebens zugewandt; allein ich erkannte, daß die Advocatur eine höchst wichtige Vorschule des politischen Lebens sei, und widmete derselben deshalb schon aus diesem Grunde alle meine Kraft und Zeit. Unter rechtsanwaltlicher Thätigkeit und phrenologischen Studien, denen er inzwischen mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit sich zuzuwenden begonnen hatte, verstrich eine Reihe von Jahren. Da sollte in Struve’s vielbewegtem Leben der Moment eintreten, der ihn auf die politische Schaubühne rief. Er selbst äußert sich über diesen Beginn seiner politischen Thätigkeit mit folgenden Worten: „Die Versuche, welche ich in den Jahren 1831, 1832 und 1833 gemacht hatte, an den politischen Bewegungen der Zeit Theil zu nehmen, haben für mich so große Unannehmlichkeiten zur Folge gehabt und waren so fruchtlos geblieben, daß meine Neigungen mehr und mehr von dem praktischen Leben in das Reich der Poesie und der Wissenschaft gedrängt wurden. Hierzu kam, daß die Zeiten, welche auf die Jahre 1830 bis 1833 folgten, so schlaff und matt waren, daß sie mich durchaus nicht zu einer praktisch politischen Thätigkeit aufforderten. Seitdem aber der Freiherr von Blittersdorf[WS 2] an die Spitze der badischen Verwaltung getreten war, regte sich der Geist der Opposition wieder mit einigem Nachdruck. Ich nahm mit Eifer an den Wahlbewegungen Theil, natürlich auf Seiten der freien Richtung und gegen die Regierung.“ [AU 1]

Alles, was Struve in seinem Leben erfaßt und ergriffen hat, hat er mit Energie ergriffen. Verfehlte Versuche, Mangel an Erfolg brachten seine Entschlüsse erst dann zum Wanken, wenn er sich vollständig überzeugt hatte, daß sein Streben ohne Erfolg bleiben müsse. So ist sein energisches Vorgehen auf dem Felde der Politik, sobald er dasselbe einmal wieder betreten hatte, vollkommen erklärlich. Sein Bekämpfungs- und sein Zerstörungstrieb, die er im hohen Grade besitzt, trieben ihn vorwärts; sein alter Groll gegen Despotismus, Aristokratie und Pfaffenthum, den er schon als Knabe eingesogen hatte, erhielt im wirklichen Leben neue Nahrung. Der erste Band seines diplomatischen Briefwechsels erschien und erregte enormes Aufsehen. Der damals noch allmächtige Minister Metternich[WS 3] wurde mit einem Nachdrucke angegriffen, wie noch nie. Zugleich unternahm Struve die Redaction des Mannheimer Journals unter der Bedingung, daß die Tendenz desselben eine entschieden freisinnige sein sollte. Man wird sich erinnern, von welcher Wichtigkeit das Mannheimer Journal damals für die politische Bewegung in Süddeutschlaud war. Der berüchtigte Regierungsrath von Urria-Sarachaga war zu jener Zeit Censor in Mannheim. Zwischen ihm und Struve entspann sich nun ein wüthender Kampf. Censurstriche über Censurstriche, unaufhörliche, nicht endende Preßprocesse, Ränke und Intriguen der nichtswürdigsten Art, Pfändungen und Verhaftungen sollten Struve von der Redaction des Journals verdrängen. Struve stellte sich in seinem Kampfe mit der badischen Regierung auf den Boden der badischen Verfassung und der deutschen Bundesacte und verlangte Preßfreiheit, persönliche Freiheit. Vereins- und Versammlungsrecht. Auf ihm ruhte damals eine Arbeitslast, welche nur er, der um fünf Uhr Morgens mit der Arbeit beginnt, überwältigen konnte. Er redigirte zu gleicher Zeit die Vierteljahresschrift für Phrenologie, die vierzehntägige Zeitschrift für deutsche Hochschulen und das täglich erscheinende Mannheimer Journal; er gab seinen diplomatischen Briefwechsel heraus, war Vorsitzender mehrerer gemeinnütziger Anstalten, betrieb die Advocatur und war der allgemeine Rathgeber der Bedrängten.

Endlich gelang es Struve’s Feinden aber doch, ihn von der Redaction des Mannheimer Journals zu verdrängen. Nun gründete er den „deutschen Zuschauer“, in dessen Spalten er der badischen Regierung mit noch weit größerer Entschiedenheit entgegentrat, als im Mannheimer Journal. Der „deutsche Zuschauer“ ist unbestreitbar einer der mächtigsten Hebel gewesen zum Sturz des vormärzlichen Systems in ganz Süddeutschland; indem Struve in demselben wie bei seiner sonstigen Agitation zugleich alle Halbheit, alles Phrasenthum, wie dies auch in der badischen Kammer von damals sich breit machte, unerbittlich bekämpfte, stellte er sich auf diese Weise mit Hecker, Kapp und Fickler an die Spitze der Männer des entschlossenen und ernsten Widerstandes.

Die große Offenburger Volksversammlung, welche er und seine Freunde am 12. September 1847 beriefen, bildete mit ihren wichtigen Beschlüssen gewissermaßen die letzte Action des von Struve mit solcher Energie und solcher Ausdauer Jahre lang geführten Kampfes mit den badischen Gerichten, mit badischer Censur und badischer Polizei. Die Pariser Februarrevolution erschütterte plötzlich alle alten europäischen Zustände.

Große Volksversammlungen zu Offenburg, Heidelberg und Freiburg bereiteten die erste badische Volkserhebung vor. Die Verhaftung Fickler’s und der Versuch, die Männer der That in Mannheim gleichfalls zu verhaften, drängte zur Entscheidung. In der ersten Hälfte des April proclamirten Struve und Hecker die Erhebung und erhoben die Fahne des Aufstandes, indem sie mit prophetischem Blick die ganze Misère voraussahen und sagten, die seitdem das deutsche Volk durchlebt hat und die jetzt ihren lehrreichen Gegensatz in dem wunderbaren Gang der Ereignisse in Amerika gefunden hat. Der Verlauf der ersten badischen Volkserhebung ist bekannt. Die Schaaren der Aufständischen erlagen bei Donaueschingen, auf der Scheideck, bei Schopfheim und in den Gefechten in und um Freiburg in den Ostertagen der militärischen Uebermacht der badischen, hessischen und würtembergischen Truppen, weil sie nicht Zeit gehabt hatten, sich militärisch eben so gut zu organisieren, wie sie politisch organisiert waren. Struve, Hecker, Weißhaar, Mögling und die anderen Führer der Erhebung retteten sich in die Schweiz.

Am 20. September 1848 nach dem vom Frankfurter Parlamente gutgeheißenen verhängnißvollen Waffenstillstand von Malmö und nach Niederwerfung des Aufstandes in den Straßen der alten freien Reichsstadt erhoben Struve und Blind zum zweiten Male [455] die Fahne des Aufstands in Lörrach, an der Grenze des badischen Landes. Es kann durchaus nicht Sache der Gartenlaube sein, die schon so vielfach geschilderte badische Erhebung, welche nach und nach eine vollständige Literatur von mehr oder minder umfänglichen Werken hervorgerufen hat, noch einmal des Breiteren zu erzählen, Jedermann kennt ja den Ausgang, welchen die Bewegung nahm, wie ihm die Ziele bekannt sind, welche dieselbe anstrebte. Hier genüge die Bemerkung, daß schon sechsunddreißig Stunden, nachdem Struve aus der Schweiz das badische Gebiet betreten hatte, die Streitmacht der Aufständischen bereits über 10,000 wohlbewaffnete Männer betrug. Von allen Seiten strömten bewaffnete Zuzüge herbei, die ganze umwohnende Bevölkerung erhob sich in Masse. Aber der erste Erfolg ist bei einer Volkserhebung immer von enormer Bedeutung. Dieser erste Erfolg scheiterte. Das Gefecht bei Stauffen war von entscheidender Wirkung für die ganze Erhebung. Zwei Stunden lang dauerte der Kampf in den verbarrikadirten Straßen der Stadt.

Der Rathhausplatz bildete den eigentlichen Stützpunkt der Stellung der Aufständischen. Hier befanden sich Struve, Amalie Struve, Blind, Pedro Düsar und Müller aus Pforzheim. Das Rathhaus wurde der Zielpunkt der feindlichen Geschütze, die Mauern wurden von Kugeln durchlöchert, die Fenster zertrümmert, die Stadt brannte an mehreren Stellen. Endlich drangen die fürstlichen Truppen in die Stadt. Jeder Widerstand war vergeblich. Unstreitig hat Oberst Löwenfels, der in Stauffen commandirte, den Verlust des Gefechts zu verantworten, da er sich mit frisch zusammengezogenen Wehrmännern mit Linientruppen in ein Gefecht eingelassen und die beiden besten Bataillone vor dem Gefecht in der Richtung nach Freiburg geschickt hatte. Wenige Tage nach dem unglücklichen Gefecht wurde Struve mit seiner Frau und Blind bei Schopfheim gefangen genommen. Von dem Tode durch Pulver und Blei vor dem Standgerichte rettete ihn nur ein zufälliger Umstand. Das Geschwornengericht verurtheilte ihn nach langer und qualvoller Haft zu achtjähriger Zuchthausstrafe. Der Sturm des neuen badischen Aufstandes im Frühling befreite ihn in der Nacht vom 13. auf den 14. Mai aus dem Zuchthause von Bruchsal. Struve trat nun in den Landesausschuß ein und leitete meistentheils dessen Verhandlungen. Da indeß der Landesausschuß keine Executivgewalt hatte, so bestand dessen Macht nur darin, gewisse Anregungen zu geben, welche die Maßnahmen Brentano’s und seiner Regierung, deren Absicht es war, die Bewegung so zu leiten, daß die Rückkehr des Großherzogs vermittelt würde, theils nicht beachteten, theils abschwächten.

Auch diese Erhebung nahm, wie man weiß, einen traurigen Ausgang und Struve mußte von Neuem flüchten. Zunächst wandte er sich mit seiner Frau nach der Schweiz, dann nach Frankreich und England. „Aus Baden mußte ich fliehen,“ sagt er, „denn der Tod war mir gewiß, falls ich geblieben wäre. Aus der Schweiz verwiesen, in Frankreich polizeilich bewacht, in England ohne sichere Erwerbsquellen, mußte ich mich zur Auswanderung nach Amerika entschließen. Ich that es mit äußerstem Widerstreben, ich fügte mich der unerbittlichen Nothwendigkeit.“ Am 11. April 1851 schiffte er sich mit seiner Frau in Liverpool ein und am 11. Mai langte er im Hafen von New-York an. „Als wir an dem reizenden Staten Island vorbeifuhren,“ heißt es weiter in den mir vorliegenden Schriftstücken, „regte sich gleichzeitig in mir und meiner Gattin der Wunsch, es möchte uns vergönnt sein, dort unsern Wohnsitz aufzuschlagen. Hätte ich damals gewußt, daß die liebliche Insel das Grab meines Schwiegervaters, meines ältesten Töchterchens und meines Weibes werden sollte, so wäre sie mir, wie jetzt, düster und traurig erschienen. Glücklicherweise sah ich nicht in die Zukunft. An der Seite meiner Amalie fühlte ich mich stark genug, den Kampf des Lebens auch in Amerika zu bestehen.“

Ein Kampf ist für Gustav Struve das Leben überall gewesen, und wahrlich auch in Amerika. Ein Kampf für die materiellen Bedürfnisse desselben, ein Kampf mit der Feder, mit der Rede, mit dem Schwert für die großen Grundsätze der Freiheit, der Civilisation und der Menschenrechte, für welche er mit Aufwand aller seiner geistigen und physischen Kräfte immer, in der neuen wie in der allen Welt, gestritten hat. Er begann seinen „Deutschen Zuschauer“ in New York von Neuem und vollendete seine „Weltgeschichte“, welche er in den Casematten von Rastadt begonnen hatte, die erste und einzige Geschichte der Entwicklung der Menschheit, die auf demokratisch republikanischer Anschauung ruht, das Resultat des Studiums seines Lebens. Bei der Präsidentenwahl im Jahre 1856 wirkte Struve durch Schrift und Wort eifrig für Fremont, den Candidaten der Republikaner, gegen Buchanan, den Freund und Gönner der Sclavenhalter des Südens. Lebhaft ergriff er Partei für Gottfried Kinkel und die von demselben betriebene deutsche Nationalanleihe.

Im Jahre 1859 gründete er mit seiner Frau und Füster aus Wien die erste freie deutsche Schule in New-York. Als im April 1861 der Kampf zwischen den südlichen Sclavenhaltern und der Union begann, wollte Struve in diesem nicht allein für die Entwicklungsgeschichte Amerikas, sondern auch für die Grundsätze der Freiheit in Europa so wichtigen Kampfe nicht zurückbleiben. Trotz seiner vorgerückten Jahre verließ er seine geliebte Frau und seine Kinder und trat als Gemeiner in ein Freiwilligenregiment ein, dessen Bildung der ihm schon aus Deutschland befreundete Oberst Louis Blenker unternommen hatte. Als Gemeiner, dann als Unterlieutenant, Oberlieutenant, Hauptmann machte er den Feldzug mit. Er war mit dabei, als die deutsche Brigade am Tage der Schlacht bei Bull Run wie eine undurchdringliche Mauer stehen blieb bis am Morgen des folgenden Tages, während um sie her alle Regimenter in wilder Flucht von dannen eilten. Er nahm an allen Strapazen und Gefahren Theil, welche das Regiment in den Jahren 1861 und 1862 bestand; Ende November nahm er seinen Abschied. Für Baden war eine allgemeine Amnestie erlassen. Jetzt konnte er seinen langgehegten Wunsch, nach Deutschland zurückzukehren, erfüllen. Als er nach New-York kam, starb seine schöne und geistreiche Frau, seine treue Gefährtin in allen Gefahren und Mühen der letzten fünfzehn Jahre; es war ihm nur vergönnt, ihr die Augen zu schließen und sie zu bestatten. Allein, den Schmerz in der Brust, kehrte er über das Weltmeer nach Deutschland zurück.

Damals war es, wo ich Struve in Coburg kennen lernte. Anderthalb Jahre sind seitdem verflossen. Von Neuem hat Struve den Kampf aufgenommen, den er mit solcher Energie während der letzten zwanzig Jahre seines Lebens diesseits und jenseits des Oceans geführt hat. Eine neue, die siebente, Ausgabe seiner Weltgeschichte ist in diesen anderthalb Jahren vollendet worden und bereits im Druck begonnen.[AU 2] Die Schilderungen in seinem oben schon erwähnten „Diesseits und Jenseits des Oceans“ bilden in ihrer Vereinigung ein interessantes Werk, welches die gegenwärtige politische und sociale Lage der Vereinigten Staaten Nordamerikas und Deutschlands und deren gegenseitige Beziehungen darstellt. Aber auch die Verfolgungen haben von Neuem begonnen. Das Cabinet zu Washington ernannte ihn zum Consul der Vereinigten Staaten für die wichtigen Handelsbeziehungen des Thüringerwaldes zu Nordamerika. Der Herzog von Sachsen-Meiningen verweigerte ihm das Exequatur, nachdem die Regierung sich des gleichen Verfahrens der anderen Thüringischen Regierungen versichert hatte. Die Regierung des Herzogs Ernst von Coburg-Gotha verfolgt ihn und Feodor Streit wegen ihrer Artikel in der Arbeiterzeitung und in der Wehrzeitung für das Recht des „verlassenen Bruderstammes“ in Schleswig-Holstein mit Preßprocessen über Preßprocessen, und vor einiger Zeit sind wiederum drei Monate Gefängniß gegen beide Streiter für deutsches Recht erkannt.[AU 3] Aber mit heiterem Blick und mit der Gewißheit des Sieges schaut Gustav Struve in seinem sechszigsten Jahre in die Zukunft, unerschüttert und ungebeugt, weder durch die Jahre, noch durch das Mißgeschick, noch durch die Niederlagen. G. R. 




[456]
Nach Sevilla, nach Sevilla!
Eine literarische Erinnerung.

Es giebt Lieder und Melodieen, die wie der Gesang der Lerche immerdar erfreuen, wo und wann sie auch erklingen mögen, die von den Wogen der Zeit für Monden und Jahre überfluthet und verdrängt werden können, die aber dennoch wie der Gesang der Lerche nach kurzem Winterschnee aus dem Saatengrün zu neuer, keimender Frühlingslust sich emporschwingen – um Lust und Freude zu bringen oder altvergessene Jugendträume und Erinnerungen zu wecken oder auf’s Neue erblühen zu machen. Solch ein Lied, solch eine Melodie ist das altbekannte, oft gesungene: „Nach Sevilla!“ Wer kennt es nicht? Wer hätte es nicht gesungen oder nicht gehört?

Das Lied ist von Clemens Brentano, dem Verfasser der Geschichte vom „Braven Kasperl und dem schönen Annerl“, gedichtet, während die Melodie von Louise Reichardt, der Tochter des Musikdirectors Johann Friedrich Reichardt, herrührt, des Componisten der Worte Clärchens aus Goethe’s Egmont: „Freudvoll und leidvoll, gedankenvoll sein“; des genialen, feurigen Lebemanns, der in seinem schönen Garten zu Giebichenstein bei Halle an der Saale, in der Nähe des jetzt vielbesuchten Soolbades Wittekind, die bedeutendsten Männer seiner Zeit um sich zu versammeln wußte, in dessen Familienkreis Jeder gern trat, sich wohl fühlte und zu neuen Ideen und Arbeiten sich angeregt fand. Was die Salons der Rahel und der Herz den Männern und einzelnen Frauen Berlins, das war kurze Zeit vorübergehend und vorüberrauschend der Garten zu Giebichenstein denselben Geistern. Hier im Anblick der schönen, reichgesegneten Natur, bei Harfenspiel und Gesang, zur Seite der meist schönen Töchter und der liebenswürdigen Frau des genialen, excentrischen Reichardt, rauschte die Zeit dahin. Aber während die Schwestern als Gattinnen berühmter Männer später oder früher in den Kreis stiller, einfacher Häuslichkeit zurücktraten und vergessen wurden, ist es die an Gestalt so schöne, aber durch Blatternarben im Gesicht entstellte geistreiche, von eigenthümlichen schweren Herzens- und Schicksalsschlägen hin- und hergeworfene, reichbegabte Louise, die als Componistin einfach schöner Lieder nicht vergessen wurde und der im Leben die geistreichsten und bedeutendsten Männer ihrer Zeit, selbst ein Goethe, nahetraten, um an ihrer Seite sich wohl und angeregt zu fühlen. Der aber, der besonders gern an der Seite des meist trüb schwermüthigen Mädchens weilte, war Schleiermacher, seit 1804 Professor der Theologie zu Halle; der echt christliche, der einem Sack, als derselbe ihm einen Vorwurf wegen seiner fortdauernden Freundschaft zu Fr. Schlegel machte, nachdem derselbe seine berüchtigte Lucinde geschrieben hatte, antwortete: „Nie werde ich aus Menschenfurcht einem unschuldig Geächteten den Trost der Freundschaft entziehen, nie werde ich meines Standes wegen anstatt nach der wahren Beschaffenheit der Sache zu handeln, mich von einem Schein, der Andern vorschwebt, leiten lassen. Einer solchen Maxime zufolge würden ja wir Prediger die Vogelfreien sein im Reiche der Geselligkeit.“

Und auch heute, als des Tages, dessen wir gedenken, steht er droben im Garten an einen Baum gelehnt, während Louise an seiner Seite weilt. Er blickt zur Saale nieder, die in kühner Biegung sich durch die reichgeschmückten, buntgeformten Felsufer dahindrängt. Der Petersberg mit seinen Ruinen glänzt im Abendsonnenschein, während darüber hinaus nur gutem Auge erkennbar der Brocken sich lagert. Halle mit seinen Thürmen und dampfenden Salzwerken liegt im Rücken. O, es lohnte schon, Rundschau zu halten von diesem Punkte aus! Heinrich Steffens weilte mehrere Schritte entfernt an der Seite seiner Johanna, der er von seiner Heimath Stavanger in Norwegen, das er ja so prächtig in seinen Romanen geschildert, erzählte, währenddeß Karl von Raumer die Hand der Friederike, der Schwester Johanna’s, hält, vielleicht, um den noch leichten Springinsfeld abzuhalten, seinen Worten zu entschlüpfen. Er gedenkt Achim’s von Arnim, der ein so gern gesehener Gast in diesem Kreise war. Die schelmische Friederike will des Lobes nicht Wort haben, das dem Entfernten gespendet wird; Widerspruch regt sich im Herzen, und sie kann es nicht lassen, zu gestehen, daß der kleine, wohlgebildete Brentano ihr besser gefalle, daß der schöne, ausdrucksvolle Kopf mit den glänzend lebhaften Augen, die den innewohnenden Schalk trotz aller Schwärmerei und Düsterheit, die sie kund geben, doch nicht verleugnen könnten, für sie etwas ungemein Anziehendes habe. Das muthwillige Mädchen fand nun einmal Gefallen daran, den, dem sie später Herz und Hand zu dauerndem Lebensbunde reichte, in diesem Augenblicke zu necken und ein Weniges eifersüchtig zu machen. Leise hob sie des Gelobten Worte zu singen an: „Durch den Wald mit raschen Schritten“; hatte die Schwester Louise doch zu dem Liede erst vor wenigen Tagen eine so prächtig schöne Melodie ersonnen.

Schleiermacher, wie bekannt, klein von Wuchs, ein wenig verwachsen, in hellen Beinkleidern, kurzer, grüner Jacke und die ziemlich unförmliche Botanisir-Blechbüchse von kurz vorher beendeter Fußwanderung noch auf der Schulter, vernahm die Melodie. Sein lebhaft feuriger Blick, der bisher auf der ihm zur Seite stehenden hochgewachsenen Jungfrau geruht hatte, hob sich auf, und ihrem Blicke begegnend, der, wie er sah und fühlte, aus einem Meer von trüben Gedanken seinen feuchten, wehmüthigen Glanz erhalten hatte, sagte er, den Kopf der jugendlichen Sängerin zuwendend: „Hören Sie nicht? Wie ein Kind den kindischen Schmerz erstickt und die Seufzer zurückdrängt und die Thränen einsaugt, wenn ihm eine kindische Freude gemacht wird, so lassen Sie auch uns an größerer Freude den größeren, unvergänglichen Schmerz besänftigen. Ihnen wurde die Musik, mir die Wissenschaft zur Trösterin gegeben. Mit frohem Auge schaue ich auf Alles, auch auf das Tiefverwundende. Wie Christus keine Braut hatte, als die Kirche, keine Kinder, als seine Freunde, kein Haus, als den Tempel und die Welt, und doch das Herz voll himmlischer Liebe und Freude, so lassen Sie auch uns geboren sein, eben danach zu trachten. Nur die Arbeit, die Liebe zum Beruf, die Freude an den Freunden muß uns aufrecht erhalten.“

So sprach der christliche Denker. Und wer Schleiermacher jemals sprechen gehört, und sei es auch nur in späterer Zeit als Prediger an der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin, der wird noch empfinden und nachfühlen können, wie diese Worte zum Herzen dringen mußten. Sein gesprochenes Wort war überaus größer, andauernder, als sein geschriebenes. Sein Blick, der Ton seiner Stimme gab den Worten erst den rechten Nachhall, die tiefeinschneidende Wirkung.

Auch Louise empfand den Zauber seiner Rede; ihr Auge verklärte sich und über die sonst unschönen Züge des Gesichts zog ein Hauch verklärender Freude und geistiger Schönheit.

Schleiermacher sagte weiter: „Aus jedem Kunstwerk strahlet mir, was Menschliches darin ist abgebildet, weit heller, als des Bildners Kunst entgegen. Ich gebe frei mich hin der freien Natur, und wie sie ihre schönen bedeutungsvollen Zeichen mir darbeut, wecken sie alle in mir Empfindungen und Gedanken, ohne daß mich’s je gewaltsam drängte, was ich geschaut, umbildend anders und bestimmter zum eigenen Werke zu gestalten. Drum darf ich auch nicht, wie der Künstler, einsam bleiben; es trocknen mir in der Einsamkeit die Säfte des Gemüths, es stocket der Gedankenlauf, ich muß hinaus in mancherlei Gemeinschaft mit den andern Geistern, immer fester durch Geben und Empfangen das eigene Wesen zu bestimmen!“

Louise hatte ernst zugehört, sie erwiderte nichts; aber man sah es an ihrem ganzen Wesen, ihrem leuchtenden Auge, wie tief die Worte des Freundes in ihr Herz drangen und wie der Schmerz, der mehr und mehr ihr Herz zu verbittern und zu verhärten drohte, sich in sanfte Wehmuth auflöste und der Bitterkeit den Stachel abbrach. Louise war geliebt worden, trotz ihres unschönen Gesichts. Ein junger Mann, Namens Eschen, den Voß schätzte und hochachtete, war für kurze Zeit ihr Bräutigam gewesen. Wissens- und Reisetrieb hatte ihn kurz vor der Hochzeit nach der Schweiz geführt. Von Genf eilt er dem Buet, in der Nähe des Montblancs, zu und stürzt hier, von unachtsamer Hand geführt, in einen mehrere hundert Fuß tiefen Schlund. Ehe Hülfe möglich, war der Unglückliche erfroren.

Sie hatte des Todten gedacht, heute mehr, denn je, daher ihr Stillesein, das Herbe ihres ganzen Wesens, bis die Worte des Freundes sie stiller, ruhiger machten. Sie war im Begriff, zu antworten, als der Vater, unerwartet von seiner Reise zurückgekehrt, [457] geräuschvoll in den Garten trat, gefolgt von seiner Gattin und den übrigen Kindern. Er brachte einen Fremden mit, einen jungen Maler Namens Gareis, den er nach gewohnter Weise neckend und scherzend den Anwesenden vorstellte. Steffens kannte ihn bereits, er hatte ihn früher einmal in Dresden bei Tieck getroffen, und so war die Bekanntschaft bald erneuert, wie die der Uebrigen bei der hier herrschenden freundlichen Ungezwungenheit bald gemacht war. Louise, die sich mehr im Hintergrunde gehalten hatte, vielleicht, um ihr entstelltes Gesicht nicht zu sehr gegen die Schönheit der Schwestern dem kritischen Auge des Malers bloßzustellen, schien nach längerem Verweilen erst von den Blicken des jungen Mannes bemerkt zu werden. Sie hatte soeben, von dem Gegenstande der Unterhaltung ergriffen, eine ihrer tiefdurchdachten Bemerkungen gleichsam hineinfallen lassen und dadurch dem allgemeinen Gespräch plötzlich eine speciellere Färbung gegeben. Gareis, dessen Blicke bisher wie suchend, vergleichend, von einem Angesicht zum andern gegangen waren, schien nun erst Auge und Ohr für die bisher Unbeachtete bekommen zu haben. Sein Auge ruhte wie erstaunt fragend auf dem Gesicht Louisens. Der Vater bemerkte es; früherer Worte gedenkend, in denen er dem jungen Manne die Schönheit seiner Töchter mit Ausnahme Louisens gepriesen hatte, lachte gezwungen auf, und meinend, der junge Maler werde von der Unschönheit Louisens mehr abgestoßen, als angezogen, flüsterte er demselben in’s Ohr: „Nun, sagte ich zu viel?“

Wider Erwarten aber wendete der junge Mann sich seltsam erregt ihm zu und sagte entschieden. „Sie gedachten der Schönheit Ihrer Töchter, aber Sie vergaßen zu erwähnen, daß auch das unvorteilhafteste Gesicht durch Geist und Gemüth einen Hauch der Schönheit erhält, der jene vergängliche weit überwiegt. Ihre übrigen Töchter, Herr Musikdirektor, sind schön, aber das Gesicht Louisens ist anmuthig, nachhaltig anziehend!“

Reichardt lachte, er wußte wirklich in diesem Augenblicke nicht, was er zu den Worten des Malers sagen sollte, er vermochte sich in den Ernst derselben nicht zu finden. Als er aber sah, daß Gareis unausgesetzt mit warmem Interesse an dem Munde Luisens hing, mußte er unwillkürlich das Haupt schütteln, und nun auch seinerseits bemüht, die Tochter in vortheilhaftestem Lichte zu zeigen, bat und veranlaßte er sie die Harfe zu nehmen und zu singen. Louise componirte nicht nur, sie hatte auch eine prächtige Stimme und spielte und sang ausgezeichnet.

Sie ließ sich nicht nöthigen und bitten; hatte doch auch auf sie die Nähe des jungen Mannes, der in so sichtbarem Wohlgefallen ihren Worten lauschte, einen eigenen Eindruck gemacht, dessen Tragweite sie in diesem Augenblicke nicht zu ahnen und zu ermessen vermochte. Eine längstvermißte Frische und innere Ruhe und Glückseligkeit waren über sie gekommen. Und als der Vater rief und sprach: „Sing uns Dein Lieblingslied: ‚Durch den Wald mit raschen Schritten‘, oder hast Du Neues geschaffen und zu Tage gefördert, das auch ich noch nicht kenne, so trag’ es vor, so laß Deine Stimme erschallen, und wir wollen Dir gnädige, aber auch gerechte Kritiker sein,“ hob sich ihr Auge leuchtend auf, die Hand griff rascher, freudiger in die Saiten, und während sie glühend rief und sprach: „Brentano sendete ein Lied, möge meine Melodie keine schlechte sein,“ hub sie zu singen an:

„Nach Sevilla, nach Sevilla,
Wo die hohen Prachtgebäude
In den breiten Straßen stehen,
Aus den Fenstern reiche Leute,
Schöngeputzte Frauen sehen,
Dahin sehnt mein Herz sich nicht.“

Es war ein eigenthümlicher Zauber, der die Gemüther der Anwesenden ergriff, als dieses Liedes Klänge zum ersten Mal an ihr Ohr schlugen. Und wie schön, wie prächtig sang das junge Mädchen! Es war als wollte sie in Melodie und Saiten all ihre Sehnsucht, ihren Schmerz und ihre Träume legen. So wunderschön hatte Louise seit langer Zeit nicht, vielleicht noch nie gesungen. Alle schwiegen tief ergriffen, als sie geendet, Schleiermacher saß in sich versunken, aber sein Auge leuchtete – bis der Vater aufsprang, Louisens Hand ergriff und freudig sagte: „Brav, Mädel, das hast Du gut gemacht. Die Melodie wird uns Alle überdauern!“ Das löste den Bann, der die Gemüther gefangen hielt, und Alle begannen die Schönheit der Composition zu loben; blos Gareis blieb still. Nur als Louise für einen Augenblick abseits stand, trat er schüchtern heran und sagte tief ergriffen: „Ich danke Ihnen.“ O, wie erfreuten und entzückten diese einfachen, seelenvollen Worte ihr Herz! Sie glühte auf in sichtbarer Freude und Glück. Rasch wendete sie sich ab und floh in die einsameren Gänge des Gartens. Das Herz war ihr so übervoll. Sie wußte nicht, wie ihr geschehen; sie hätte weinen mögen und wußte doch selber nicht, war es Freude oder Schmerz, was ihr das Herz bewegte.

Und wie es im Leben zu geschehen pflegt: ein Augenblick entscheidet über uns – und macht unser Leben zu einem Meer voll Freude, oder voll tiefen Schmerzes. Zwei Herzen hatten sich gefunden. Gareis liebte Louisen, und sie, die nimmermehr zu lieben gemeint, erwiderte diese Liebe mit aller Gluth und Innigkeit, die ein Mädchenherz zu spenden hat. Jetzt fühlte und wußte sie erst, was Liebe ist und welch’ einen Segen dieselbe spendet. Alle nahmen innigen Antheil an dieser Neigung: und als Gareis nach Italien zog, um vor seiner ehelichen Verbindung mit Louisen noch das Land der Kunst und seiner Sehnsucht zu durchreisen, wurde er allseitig mit den besten Wünschen entlassen, während die Liebe ihn in Gedanken auf Tritt und Schritt auf allen seinen Wegen begleitete.

Von Rom aus sendet er der Geliebten eine prächtige Farbencopie der Raphael’schen Verklärung. Er eilt nach Florenz, von wo aus er direct nach der Heimath zurückkehren will. Der Tag der Hochzeit wird anberaumt. Die Braut harrt des Bräutigams. Der Tag des Festes rückt näher und näher heran – da kommt ein Brief von fremder Hand. Der Bräutigam ist todt. Gareis ist todt, er starb zu Florenz an Dysenterie.

Das war ein Blitz aus heiterer Höhe; das war ein Schlag, von dem Louise sich niemals wieder gänzlich erholte. Zweimal war sie, die Unschöne, die niemals Liebe in der Brust eines Mannes zu erwecken Hoffnung gehegt, geliebt worden – und zweimal hatte ein unerwarteter, fürchterlicher Tod das Band zerrissen. Es war ein hartes Schicksal. O, wie tief, wie schmerzlich berührten sie jetzt die Klänge ihres Liedes: „Nach Sevilla!“ das bald nach seinem Bekanntwerden Gemeingut des Volkes geworden war und von Hoch und Niedrig gesungen wurde! Wie tief und schmerzlich berührte es sie, wenn sie es singen hörte! Es erinnerte sie an die schönste Stunde ihres Lebens, an ein Glück, das nun auf ewig für sie verschwunden war.

Doch es war nicht Zeit, sich dem Schmerze hinzugeben. Es mußte geschafft, gearbeitet werden. Die Schwestern wurden und waren zumeist verheirathet – sie blieb im Hause. Und die kriegerischen, politischen Wolken, die mehr und mehr aufstiegen, begannen auch den Horizont des Reichardt’schen Hauses zu verdüstern. Der Sommer des Jahres 1806 – Louise war 1788 zu Berlin geboren – verging in banger Sorge. Das preußische Heer rückte endlich im Herbst gegen Napoleon vor. Der verhängnißvolle 14. Oktober kam. Die Schlacht bei Jena war geschlagen. Kämpfende Truppen nähern sich am 16. Oktober der Stadt. Die Preußen fliehen. Bernadotte erscheint; nach der Proclamation, die er erläßt, scheint der Fortbestand der Universität Halle gesichert, aber Napoleon, durch eine Schrift Reichardt’s, welche dieser in gewohnter, rasch handelnder Weise in die Welt geschleudert, erzürnt, löst die Universität auf, und Schleiermacher, Steffens mit ihren Genossen waren brodlos. Die Gelder waren überaus knapp zugemessen, wenige Thaler besaßen gemeinsam die Freunde, und so machten sie Alle im Hause Steffens’ gemeinschaftliche Wirthschaft. Und hier war es, wo Schleiermacher wieder die Kraft und den Segen der Arbeit an sich erprobte. In einer Ecke des Steffens’schen Studirzimmers saß er, unbekümmert um die ihn umgebende Wirrniß, und schrieb sein geniales Sendschreiben an Gaß über die Echtheit des ersten Briefes an Timotheus. Bald darauf verließ er Halle. Im Sommer 1807 war er in Berlin, dem er von nun ab für immer bis zu seinem Tode angehören sollte. Als hier im Jahre 1809 die Universität eröffnet wurde, für deren Errichtung er überaus thätig und anregend gewirkt hatte, war er an derselben einer der ersten lesenden Professoren. Reichardt hatte mit seiner Familie Halle verlassen müssen, er irrte umher, bis er endlich, er der eingefleischte Franzosenfeind, merkwürdig genug, als Capellmeister des Königs von Westphalen zu Cassel eintrat.

Daß hier seines Bleibens nicht lange sein würde, war von vornherein zu erwarten. Bald hatte er durch sein freies Reden [458] und Handeln sich mißliebig gemacht, und als der bekannte Dörnberg’sche Aufstand in Hessen ausbrach, dem leider ein so rasches, trübes Ende wurde, war auch seines Bleibens nicht länger in der Stadt, und er verließ Cassel in eiligster Flucht, Frau und Kinder in drückendsten Nahrungssorgen zurücklassend. Louise nähte und arbeitete für Andere. Doch der Verdienst reicht nicht aus; ein Nervenfieber hat die Mutter ergriffen – die Sorge steht an der Thür. Jacob Grimm, der bewährte Freund des Hauses, kommt, er hat vom Geheimen Hofrath Harnier den Zustand der Frau und die Lage der Tochter erfahren. Linkisch, freundlich macht er sich am Clavier zu schaffen, ja, er ist sogar bemüht, unter verlegenem Lächeln mit einem Finger, wie Kinder zu thun pflegen, die mit vielsagendem Blick verstohlen am Instrument stehen, einzelne Töne anzuschlagen. Aber der tiefgelehrte, der unübertroffene, freundliche Kinder- und Hausmärchen Sammelnde und Erzählende bringt keine zusammenhängende Melodie, keine harmonische Tonfolge hervor, er wendet sich lächelnd ab, schließt das Clavier und sagt, sich zur emsig arbeitenden Louise wendend: „Ich würde Ihnen ein schlechter Schüler sein! Da sang vorhin, als ich kam, ein Junge Ihr Lied: ‚Nach Sevilla!‘ auf der Straße. Er brüllte es laut genug, aber ich habe dennoch keinen Ton gefaßt!“ Und freundlich, wie er gekommen, verließ er das Zimmer. Als Louise später ihr Instrument wieder öffnete, fand sie ein Sümmchen Geld wohl eingewickelt auf den Tasten liegen. Der kindlich-große Gelehrte hatte auf diese Weise seine milde Liebesgabe der jugendlichen Freundin zukommen lassen.

Als Louise später einsam nach Hamburg übersiedelte, um im Hause der Frau Sillem, empfohlen von dem berühmten Klasing, sich ihren Unterhalt durch Privatunterricht zu erwerben, war und wurde sie auch hier von ihren Freunden, zu denen sich auch der Wandsbecker Bote Claudius gesellte, nicht vergessen. Alle bewahrten der Vielgeprüften ein warmes, theilnehmendes Herz bis an ihr Lebensende.

Und als der Tag ihrer Auflösung nahte, der 17. November des Jahres 1826 kam, da war es ihre liebste, ihre beste Schülerin, die sie gebildet, die Polin Sophie Linsky, die frühere kühne Seiltänzerin, welche sich zum Instrument setzte und der Sterbenden das Weihnachtslied sang, das die Scheidende vor Jahren componirte: „Welche Morgenröthen wallen …“

Das Angesicht der Sterbenden verschönte sich, ein himmlisches Lächeln glitt über die sonst schmerzdurchfurchten Züge; auf den Schwingen der selbsterschaffenen Melodie entschwebte ihr Geist.

Draußen aber war es Nacht geworden, Stille herrschte für einen Augenblick auf der Straße. Burschen gingen vorüber. Sie sangen fröhlich und laut, heiter in die kalte Novemberluft hinein:

„In Sevilla, in Sevilla,
Weiß ich wohl ein reines Stübchen,
Helle Küche, stille Kammer,
In dem Hause wohnt mein Liebchen;
Und am Pförtchen glänzt ein Hammer:
Poch’ ich, macht die Jungfrau auf!“

Louise Reichardt hatte nicht umsonst gelebt. In ihrem Liede lebte sie fort. Es ist noch heute nicht vergessen.

Acht Jahre später aber, in der Mitte Februars des Jahres 1834 waren die Straßen Berlins, die zum Halle’schen Thore führten, mit einer unübersehbaren Menge Leidtragender und Schauender überfüllt. Schleiermacher war gestorben, man trug ihn zum Grabe hinaus.
Fr. Brunold.




Aus dem Tagebuche eines hypochondrischen Laien.
I.

Die Gartenlaube, diese Hausfreundin aller Stände und Lehrerin in allen Fächern, hat, in anerkennungswerther Fürsorge für Leib und Geist ihrer Leser, so oft schon Medicinisches und Diätetisches in ihren Spalten gebracht, daß sie auch die Erfahrung eines Laien zur Heilung eines Uebels nicht verschmähen wird, das von Aerzten, als lediglich solchen, selten richtig beurtheilt und darum selten auch geheilt wird; – ich meine das sehr verbreitete, in seinen Folgen so gefährliche und doch so wenig gewürdigte Uebel der Hypochondrie.

Ja, die Hypochondrie ist eine Krankheit, nicht eine eingebildete, wofür sie selbst von Aerzten oft irrthümlich erkannt wird, sondern eine wirkliche, eine meist traurig wirkliche.

Während aber die meisten andern Kranken einer dreifachen Wohlthat genießen: des ärztlichen Beistandes, einer rücksichtsvollen Behandlung und Pflege und der Wahrnehmung aufrichtigen Mitleids, theilt der an Schwermuth Leidende meist keine dieser Wohlthaten: er sucht ärztlichen Rath nicht, weil er sein Leiden nicht für ein körperliches hält; es wird nicht die nöthige Rücksicht auf seinen Zustand genommen, weil die Nothwendigkeit solcher Rücksicht nicht klar genug erkannt wird; er genießt endlich auch der wohlthuenden Theilnahme nicht, weil sich sein Schmerz nicht sichtbar genug äußert, weil Niemand die Größe desselben auch nur entfernt ahnt, – weil der an Schwermuth Leidende nicht, wie andere Kranke, jammert und stöhnt, über seinen Zustand mehr verschlossen als mittheilsam ist.

Und wie die Hypochondrie eine Krankheit ist, so giebt es für diese Krankheit auch Heilmittel, die in Nachstehendem mitgetheilt werden sollen, nachdem zuvor die Begriffsbestimmung der Hypochondrie festgestellt, die Quellen derselben aufgesucht und die Folgen gezeigt sein werden.




Wie der Arzt einen Kranken nicht mit gutem Erfolg zu behandeln vermag, wenn er nicht die Krankheit, die er verbannen soll, an ihren Merkmalen deutlich erkannt hat, so ist auch keinerlei Selbstheilung möglich, wenn der Leidende sich nicht über seinen Zustand klar ist, wenn er sein Uebel nicht mit dem rechten Namen zu benennen weiß. Die Begriffsbestimmung ist daher auch bei einem Rathgeber gegen Hypochondrie wesentlich, damit man das Eintreten des Krankheit schon an ihren Symptomen erkenne und vorbeuge, oder die Krankheit selbst an ihrem bereits ausgebildeten Charakter und die zweckdienlichsten Heilmittel anwende.

Hypochondrie ist, nach der Ansicht eines hypochondrischen Laien, derjenige Zustand eines Menschen, in welchem die Thätigkeit des Nervensystems in den Unterleibsorganen, bald durch äußere Veranlassung, bald ohne dieselbe, herabgestimmt, dagegen dieselbe Thätigkeit nach andern Richtungen hin erhöht wird, wodurch daher das an diesem Uebel leidende Individuum empfindlicher und reizbarer ist, als es vor diesem Zustande zu sein pflegte, so daß das Bewußtsein, welches der Hypochondrist von äußeren oder von inneren Eindrücken erhält, meistens ein krankhaft gesteigertes ist.

Nur durch den Grad und die Dauer des Uebels unterscheidet sich die Hypochondrie von der Melancholie; denn auch unter dieser verstehen Psychologen eine vorherrschende Neigung zur Traurigkeit bei vollkommenem Bewußtsein und ohne wirkliche Störung der Geistesthätigkeiten, oder diejenige Art des gestörten Gefühlsvermögens, welche in einem fortwährenden Festhalten irgend einer trüben Idee besteht, wobei sich die Geistesthätigkeiten von der Außenwelt meistens ab und fast ausschließlich auf eben diese Idee richten.

Beide Uebel gleichen sich also darin, daß derjenige, welcher daran leidet, durch seine innere Beschaffenheit geneigt ist, immer irgend Etwas zu fürchten, während sie sich dadurch unterscheiden, daß der Hypochondrist zeitweilig durch vernünftige Vorstellungen seine trübe Idee fahren läßt, ja selbst, ohne daß seine Lage und seine Verhältnisse sich irgendwie günstiger gestaltet hätten, durch einen oft nur höchst geringfügigen äußeren Umstand zur ausgelassensten Heiterkeit sich gestimmt fühlt, bei dem hingegen, welcher an Melancholie leidet, nichts den von falschen Grundbegriffen entspringenden Ideengang, der sich immer innerhalb eines angenommenen Kreises bewegt, zu hemmen im Stande ist. Schwermuth also haben beide Zustände gemein, nur steigert sich derselbe bei der Melancholie zu einem steten, starken Trübsinn. Der Weg der Hypochondrie führt zur Melancholie, nicht umgekehrt.

Die Hypochondrie hat entweder einen physischen oder einen psychischen Grund.

[459]
1. Der physische Grund der Hypochondrie.

Nur in einem ganz gesunden Körper kann ein ganz gesunder Geist wohnen, und da die Gemüthsstimmung eine Wirkung des Geistes ist, so muß diese natürlich auch durch den Zustand des Körpers bedingt sein. Aeußerst selten gewiß sind die Fälle, daß Menschen sich bei dem schmerzhaftesten Körperzustande gleichwohl ihr heiteres Gemüth bewahren. Nicht Jeder hat die starke Willenskraft, sein körperliches Uebel, wie es Hufeland als Mittel gegen Hypochondrie angiebt, zu objectiviren, es von seinem wahren Ich zu trennen und zum Gegenstand der Außenwelt zu machen. Wie Körper und Geist wunderbar mit einander verknüpft sind, so ist auch der gegenseitige Einfluß beider nicht völlig und nicht leicht aufzuheben, und bei der großen Mehrzahl der Menschen wird daher immer mit einem körperlichen Leiden zugleich eine geistige oder gemüthliche Verstimmung, ein größerer oder geringerer Grad von Schwermuth verbunden sein.

Dieser Art von Schwermuth sind alle Menschen unterworfen, wie alle den Krankheiten unterworfen sind. Es ist nicht der leibliche Schmerz allein, der da die geistige Verstimmung erzeugt, sondern in Verbindung mit demselben die inneren Betrachtungen, die ein gestörter Gesundheitszustand erweckt. Der Eine fürchtet ein langwieriges Krankenlager, oder wähnt, sein Zustand sei lebensgefährlich: der Andere überrechnet die Kosten, womit seine Wiederherstellung verknüpft ist, und den Nachtheil, den er bis dahin außerdem noch in seinem Berufe davon hat. Ein Dritter bedauert ungeduldig die Vergnügungen und Genüsse, auf die er verzichten muß, und einen Vierten peinigt die Unthätigkeit, wozu er durch seinen Zustand verurtheilt ist. Kurz, bei Allen gesellt sich zu dem physischen Uebel zugleich ein Gemüthsleiden, welches als Wirkung jedoch mit der Ursache weicht, so daß wir auf diese Quelle der Schwermuth nur später noch einmal vorübergehend zurückzukommen brauchen.

Eine schlimmere Quelle der Schwermuth als wirkliche Krankheit scheint, bei sonst leidlicher Gesundheit, ein krankhafter Zustand des Blutes oder des Unterleibes zu sein. Ist neben dem Nervensystem das Blut auch das thierische Leben, so ist doch nur das nach Maß und Beschaffenheit natürliche Blut das wahre heitere Leben.

Wie man durch gefärbte Augengläser alle Gegenstände in anderer, als ihrer wirklichen Farbe sieht, so erscheinen dem Menschen auch bei dickem Blute die eigenen Verhältnisse und Erlebnisse anders, und zwar immer trüber, ernster und trauriger, als sie in der Wirklichkeit sind und bei gesundem Blute erscheinen würden. Der erschwerte Lauf des Lebensstoffes, sofern er dick und schlammig,[1] und die übermäßig starke Strömung desselben nach dem Gehirn, sofern er bis zum Austreten angeschwollen ist, erzeugen denjenigen Gemüthszustand, welcher die eigentliche Hypochondrie ausmacht. Der ganze geistige und gemüthliche Gesichtskreis bei einem Blute von solcher Beschaffenheit gleicht einer Gegend, die, mit Ausnahme der Unterbrechungen, welche das starke Mittagslicht bewirkt, stets in dickem Nebel ruht. Wessen Blut dergestalt beschaffen ist, der sieht in der unbedeutendsten Krankheit, die ihn befällt, gleich die Parze nahen, welche seinen Lebensfaden abschneiden will, fürchtet bei andauernder Nässe oder Trockenheit alsbald Hungersnoth, erkennt in jedem neuen Concurrenten sofort den Untergang seines Gewerbes, lebt niemals in zuversichtlicher Hoffnung, ahnt und fürchtet aber stets bevorstehenden Schaden und Unglück.

Und wie das Blut das Leben genannt wird, so hat man treffend den Magen mit einem Regenten verglichen: Magen und Blut wenigstens theilen sich in die Regierung des ganzen Menschen. Ein gesunder Unterleib offenbart sich nicht blos thierisch heilsam, so daß der Körper gedeiht, nein, sein Wirkungskreis erstreckt sich bis zum Lebens-Aequator, dem Herzen, und äußert sich in einem gesunden Fühlen und Empfinden, ja bis zum äußersten Lebenspol, dem Gehirn, und bekundet sein Dasein durch ein gesundes Denken und Urtheilen. Und ein schwacher Unterleib sollte nicht eine physische Quelle der Schwermuth sein? Wie ganz anders fühlt sich selbst der völlig gesunde Mensch, bevor nach der Mahlzeit das Verdauungsgeschäft vollendet ist, als in den Morgenstunden, wenn der Leib noch nicht von Speisen belästigt war! Wie ganz anders ist da seine Stimmung, wie ganz anders sieht er da die Dinge an, wie ganz anders zeigt er sich da im Umgang und Verhalten, nicht blos gegen seine Umgebung, sondern selbst gegen Fremde! Bei dem Unterleibsschwachen tritt dieser Unterschied noch sichtbarer hervor. Die Mittagsmahlzeit, wenn sie nicht höchst mäßig gewesen und aus den leichtesten Speisen bestanden hat, macht ihn oft für den ganzen Nachmittag zu jeder Arbeit unfähig, beraubt ihn mindestens aller Lust zu derselben. Der Leib ist zu aufgebläht, der Kopf, vom Magen aus, zu sehr umdunstet, als daß ein solcher Mensch sich körperlich oder geistig leicht bewegen könnte. Die Augen können dem Schlummer nicht widerstehen, der Mittagsschlaf erschwert die Verdauung und vermehrt die Verstimmung. Die Abendmahlzeit hat keine günstigern Folgen. Wenn der Unterleibsschwache sich nicht die größten Entsagungen auflegt und die vorsichtigste Mäßigkeit beobachtet, so muß er durch Schlaflosigkeit seinen Genuß büßen, oder sein Schlaf ist um so unterbrochener und durch schwere, lebhafte Träume so gestört, daß er weder erquickt, noch stärkt und oft für den ganzen nachfolgenden Vormittag eine Erschlaffung und Verstimmung zurückläßt. Wer dergestalt leidet, ist mit seinem Geschick, mit seinem Beruf, mit seiner Umgebung, mit sich selbst und seinem Thun unzufrieden, schreibt seinen Trübsinn aber selten der natürlichen Ursache zu, läßt sie kaum für eine Mitursache gelten oder vergißt dies eben so oft, wie er von Andern darauf geführt wird, würde sein Leiden aber unter allen Verhältnissen äußeren Dingen beimessen, die mindestens nicht die einzige oder Hauptquelle wären.

2. Der psychische Grund der Hypochondrie.

Wäre der Mensch ganz Thier, so würde bei ihm mit einem gesunden Körper stets auch ein gesunder, heiterer Sinn verbunden sein.[2] Er ist aber nur zur Hälfte Thier, er ist durch seinen Geist ein höheres Wesen, und sein innerer Zustand ist daher das Abstimmungs-Resultat zweier Kammern: eines Hauses der Gemeinen, wo die Körpertheile, und eines Oberhauses, wo Herz und Geist und menschengesellschaftliche Verhältnisse Sitz und Stimme haben.

Als willensfreiem Wesen ist es dem Menschen unbenommen, seine Leidenschaft, wenn auch zum Unglücke Anderer, zu befriedigen, seinen Begierden wenn auch auf Kosten seiner Mitmenschen, zu fröhnen. Sein innerer Frieden geht aber mit diesem Mißbrauch der Willensfreiheit verloren: eine Schwermuth, die sich durch geräuschvolle Lust momentan wohl überschreien, durch kein irdisches Mittel aber für immer wegschaffen läßt, macht sich in vollem Maße für den beleidigten Geist bezahlt. Kein Verbrecher, kein Sünder gegen diejenigen Moralgesetze, welche von der gesunden Vernunft eines jeden Menschen anerkannt werden, er stehe noch so hoch, er genieße des vollkommensten körperlichen Wohlseins, er lebe in den erwünschtesten äußern Verhältnissen, erfreut sich des beseligenden Gemüthszustandes, welcher von der Unschuld unzertrennlich ist. Das strafende Gewissen sucht ihn, wie absichtlich er sich auch verstecken mag, mit Schwermuth heim, wenn nicht immer, doch oft, wenn nicht sichtbar vor aller Welt, doch in Stunden der Zurückgezogenheit und auf nächtlichem Lager, je mehr durch Verstellungskunst vom Aeußern fern gehalten, desto tobender und peinigender im Innern.

Man täuscht sich indeß, wenn man glaubt, daß nur schwere Vergehungen und zwar nur solche gegen die Mitmenschen eine Quelle der Schwermuth werden könnten. Je größer der Bildungsgrad bei einem Menschen ist, desto kleiner braucht die Sündenlast bei ihm zu sein, um dieselbe traurige Wirkung zurückzulassen, wie bei dem geistig Rohen oder dem sittlich Entarteten solche Thaten, vor denen das menschliche Gefühl erbebt. Eine wissentliche kleine Unrechtlichkeit aus Gewinnsucht, eine Verletzung der Wahrheit durch den Drang unvorhergesehener Umstände, eine Ehrenkränkung aus Unbesonnenheit oder Uebermuth, auch solche und ähnliche Vergehungen haben für den zarter fühlenden und gebildeten Menschen, wenn auch nicht wirklichen dauernden Trübsinn, doch eine kleinere Schwester desselben – Mißstimmung zur Folge.

Und nicht blos äußert sich solche Verstimmung bei Vergehungen gegen die Mitmenschen, sondern auch bei Pflichtversäumnissen gegen [460] sich selbst. Wer aus Trägheit seinen Beruf vernachlässigt hat und seine Vermögensumstände nun rückwärts gehen sieht; wer seine geistige Ausbildung verabsäumt und sich nun in der Berührung mit Menschen gleichen Standes und Alters unwissend erkennt; wer endlich ein unsittliches Leben geführt und sich dadurch um Ehre und guten Ruf gebracht hat: alle Diese und Andere, welche an selbstverschuldeten Uebeln leiden, fühlen sich für diese Verabsäumung der Selbstpflichten nicht minder durch Trübsinn, oder Mißstimmung bestraft, als die, welche sich mit Schuld gegen ihre Mitmenschen befleckt haben.

Hat endlich aber die Mißstimmung oder, in gesteigertem Grade, die Schwermuth keinen körperlichen Grund, so daß sie auf falschen Anschauungen und in Folge dessen auf eingebildeten Uebeln beruhen könnte, und ist sie ferner auch nicht in moralischen Gebrechen der angedeuteten oder ähnlicher Art begründet, so ist die Quelle sicher nur in einer Unzufriedenheit mit äußern Verhältnissen zu suchen.

Seitdem die Menschheit sich durch Cultur von ihrem ursprünglichen Naturzustande weit entfernt hat, ist die Zahl der Lebensbedürfnisse zu einer solchen Höhe gestiegen, daß selten Fleiß und Umsicht ausreichen, dieselben allseitig beschaffen zu können. Daneben wird zugleich, vermöge eben dieser Entfernung vom Naturzustande, dem materiellen Besitze ein so hoher Werth in der menschlichen Gesellschaft beigemessen, daß die besitzreiche Classe zugleich die einflußreichste, die regierende ist. Zu dieser Classe zu gehören, ist daher begreiflich das Streben der meisten Menschen, und in der vergeblichen Anstrengung dieses Ziel zu erreichen, oder in dem Bewußtsein, nur scheinbar zu jener beneideten Classe zu zählen, liegt der Grund, weshalb so Viele mit ihren äußern Verhältnissen unzufrieden und in ihrem Innern daher nicht heiterer Stimmung sind. Wenn die natürlichen Kräfte zum Emporkommen nicht ausreichen, wird zu künstlichen Mitteln die Zuflucht genommen; der Schein, das Schattenbild des Ziels, wird dadurch erreicht: der Emporstrebende wird für einen Emporgekommenen gehalten, obschon der Arme unter der Last, welche ihn innerlich drückt, schier zu Boden gezogen wird. Und auf dieser künstlichen Höhe sollte noch so viel Lebenslust sein, daß das Athmen nicht bis zur Unerträglichreit erschwert würde? Neunzig von je hundert unter den beneideten Reichen gehören zu diesen Scheinglücklichen, die von einem günstigen Zufall Rettung hoffen, oder den Einsturz ihres künstlichen, fundamentlosen Gebäudes täglich erwarten müssen, und die daher, wenn auch äußerlich oft bis zum Uebermuth heiter, innerlich stets niedergeschlagen und in der trübsten Stimmung sind.

Und wie Manche so ihren Blick nach den höhern Sphären des Handelsstandes erheben, wo sie vorzugsweise zu dem begehrten materiellen Besitze zu gelangen hoffen, so gelüsten Andere wieder nach dem Stande der Angestellten, um dadurch zu Glanz und Einfluß zu gelangen. Die Ehren und das gesicherte Auskommen, welche mit diesem Stande verbunden sind, sehen aus der Ferne zu lockend aus, als daß sie nicht Manche, die sich für ein Handwerk zu hoch dünken und in dem Handelsberuf, bei ihrer Mittellosigkeit, doch ein zu fern liegendes, zweifelhaftes Ziel erblicken, mächtig anziehen sollten. Ohne Rücksicht auf die nöthige Qualification dazu, stellen Eltern so ihre Söhne auf ein Feld, das der sorgfältigsten Bebauung bedarf, wenn die Ernte allseitig eine befriedigende werden soll. Bei Mangel an natürlicher Anlage und bei ungenügendem Fleiß wird dann oft nur nothdürftig die Befähigung erlangt, die zu dem gewünschten Ziele führt. Das sichere Brod wird endlich gewonnen, aber da die Erfüllung der Berufspflichten nun beängstigend schwer wird und da die Leistungen daher auch hinter den Erwartungen zurückbleiben müssen, so bleibt die Ehre ein unerreichtes Ziel. Ein Vergleich mit Andern, mit begabten Berufsgenossen, führt zur Selbstprüfung und zur Selbsterkenntniß, und wer weder Andere, noch sich selbst befriedigt, verliert die Kraft zu seinem Berufswerk, arbeitet mit Verwirrung und Zerstreutheit, vernachlässigt immer mehr, was ihm doch nicht gelingen will, und geht so seiner inneren Zufriedenheit und heitern Stimmung verlustig, weil sein gewählter Beruf ein verfehlter ist.

Zu den äußeren Verhältnissen, wodurch die Gemüthsstimmung mit bedingt wird, gehört endlich und vorzüglich auch noch das Familienleben.

Aus einem Kreise, den die Natur gebildet, aus dem Bande einer mächtigen Liebe, die sich instinctmäßig erzeugt, tritt der Mensch in ein freiwilliges, neues Band: das eine Geschlecht wählt sich aus dem andern einen Gefährten für das ganze Leben. Beide Theile hoffen durch ihre Vereinigung ihr Glück zu begründen oder zu vollenden. Dazu ist Uebereinstimmung in gemüthlicher und geistiger Beziehung unerläßliche Bedingung. Nicht selten wird aber die Wahl, statt von der Vernunft, von dem Trieb der Sinne oder von äußeren Dingen und Verhältnissen geleitet. Nicht selten auch ist elterlicher Zwang, in vermeintlich wohlbegründeter Fürsorge, an die Stelle der eigenen, auf vernünftiger, höherer Zuneigung gegründeten Wahl getreten. Anmuth und Schönheit haben das äußere Auge geblendet, so daß das innere dadurch seine klare Sehkraft verloren; Familienansehen hat Ehre und Vortheil verheißen, gegen welche alles Andere übersehen wurde; Geld und Gut sollten die engen Räume des Hauses erweitern und das Leben gemächlicher und angenehmer machen; kurz, ein solcher oder ein ähnlicher Nebenzweck hat sich mit dem Hauptzweck vereinigen sollen und ist statt dessen bestimmend und entscheidend in den Vordergrund getreten. Diese Nebenzwecke werden nun oft auch erreicht, aber die Befriedigung eines erlangten bleibt nicht lange die eines zweifelhaft ersehnten Besitzthums. Die Gewohnheit stumpft den Reiz ab und drückt den Werth äußerer Güter eben so tief unter das wahre Maß herab, wie sehnsuchtsvolles Verlangen danach ihn früher hoch über dasselbe setzte. So werden nach dem Genuß der reizenden Frucht die geblendeten Augen geöffnet, die unerläßlichen Bedingungen häuslichen Glückes, innerer Werth und möglichste Uebereinstimmung, werden vermißt oder nicht befriedigend gefunden, unausbleibliche Zerwürfnisse trennen die äußerlich Vereinigten, der Gatte wie die Gattin verlieren die bewegende Federkraft für ihren Beruf, das Wesentlichste des ehelichen Bundes, die gemeinschaftliche Erziehung, kann nicht gelingen, die Kinder erwachsen unter dem steten Hader ihrer Erzeuger, sie neigen sich auf die Seite des milderen Theiles, der darum für sie nicht immer der wahrhaft bessere ist, sie verlieren die Ehrfurcht vor Beiden, machen sich überfrüh selbständig und vermehren durch allerlei Fehltritte den häuslichen Kummer. So schwindet zusehends das eheliche Glück. Beide Gatten, wenn auch nur einer derselben die Schuld tragen sollte, sehen sich bald aus ihrem geträumten Paradiese vertrieben, das zweischneidige Schwert des Haders und die mißrathenen Cherubim, ihre Kinder, versperren ihnen vereinigt den Wiedereintritt, und kein irdisches Gut vermag den Spiegel des Gemüthes klar zu machen, den gegenseitige Abneigung immer auf’s Neue über und über anhaucht.

Hiermit würden die Hauptquellen der Hypochondrie gefunden sein. Einleuchtend ist es übrigens, daß diese Quellen nicht streng gesondert bleiben, sondern daß meistens mehrere sich vereinigen und einen mächtigen Strom bilden, welcher die trübe Farbe mit ihnen gemein hat und sich nur durch seine Tiefe von ihnen unterscheidet.




Ein neuer Bewohner des Dresdener Thiergartens.
Der Büffel mit dem Roßschweif.

Das Schönste, dessen wir Leipziger uns rühmen können, ist, wie alle Welt weiß – Dresden, und in Dresden, wo im Sommer Reiz und Schönheit zu allen Thoren hereinschauen und hereinwinken – wenn es noch Thore gäbe – gehören für mich zu dem Schönsten die Baumgänge und Wiesenflächen des sogenannten „großen Gartens“, welcher in neuerer Zeit noch um einen Hauptanziehungspunkt reicher geworden ist, den sich an seinem Saume hinstreckenden Zoologischen Garten, in welchen die Leser der Gartenlaube schon verschiedene Male hineingeblickt haben.

Ich bin oft in Dresden und selten verabsäume ich einen Gang hinaus in diesen so anmuthig gelegenen und umgebenen Thiergarten, gewiß, darin immer irgend eine neue Erscheinung aus der Thierwelt, mindestens ein neues Exemplar schon vorhandener Thiergeschlechter zu finden. So wanderte ich auch vor wenigen Tagen

[461]

Der Jak im Dresdener zoologischen Garten.
Nach der Natur gezeichnet von H. Leutemann.

[462] wieder hinaus in jene Gehege, wo man nach und nach Kinder aus allen Zonen, Geschöpfe, die in ihrer heimathlichen Freiheit durch Tausende von Meilen von einander geschieden sind, als Nachbarn und Gartengenossen, wenn auch durch Schloß und Zaun vor zu engen Beziehungen geschützt, auf den Raum weniger Acker Landes zusammengesiedelt hat. Es war noch früh und der Morgen kühl, wie fast durchgängig in diesem schönen Sommer von 1865; das Raubgethier dehnte sich noch schlaftrunken in seinem Sommerpalais, ich wandte mich an einigen Schlangenbehausungen vorüber der Mitte des Gartens zu, als mir ein ganz eigenthümliches Grunzen, ein kurzes, abgestoßenes Grunzen, das mit dem Murren eines übellaunigen Hypochondristen eine frappante Aehnlichkeit hatte, in’s Ohr klang. Nach der Richtung dieses sonderbaren Gegrunzes mich umsehend, gewahrte ich zunächst aus einer noch eine Strecke von mir entfernt liegenden Einfriedigung heraus das zornsprühende Auge eines merkwürdigen Geschöpfes auf mich gerichtet, als wollte es mir allerhöchstseine Mißbilligung zu erkennen geben, daß ich mich erdreistet, die Ruhe des Thiergartens zu so früher Stunde zu stören. Von Weitem glich das Thier einem großen dicken Ziegenbocke mit langherabhängendem Haar, hinter welchem die Füße fast verschwanden. Ich ging näher, das Grunzen wurde lauter und wiederholte sich in immer kürzeren Pausen, je mehr ich an die Umzäunung herankam. Jetzt konnte ich die Gestalt des Unwirschen genau unterscheiden, und nun sah ich, daß ich jene merkwürdige Büffelart vor mir hatte, die in den Gebirgen Tibets auf einer Meereshöhe von 16–18,000 Fuß heimisch, nach Dresden aber aus dem Pariser Acclimatisationsgarten erworben worden ist, den Jak oder Grunzochsen (Bos grunniens). Der gefällige Inspector des Gartens, Herr Schöpf, theilte mir nachher über diesen wunderlichen Grunzer gar interessante Einzelheiten mit, deren hauptsächlichste der Leser im Nachstehenden finden wird.

Zwar halten die Mongolen das Thier, welches der berühmte Naturforscher Pallas sehr richtig als den „Büffel mit dem Pferdeschweif“ bezeichnet, gezähmt – das heißt, wenn sie das Thier jung eingefangen haben, denn ein alter Jak wird nie zahm – allein immer bleibt es ein schlimmer Gesell. Die Jagd auf denselben mit hetzenden Hunden oder mit Pfeil und Bogen verläuft darum oft genug nicht ganz harmlos. Sobald er verwundet ist, greift der Jak seinen Verfolger mit furchtbarem Ungestüm an, und schon mancher edle Mongole mit gelbem Teint und schiefgeschlitzten Aeuglein hat dabei den Kürzern ziehen und sein theueres Leben unter des Grunzochsen Gehörn aushauchen müssen.

Das Charakteristische des Thieres ist sein langes, feines, seidenglänzendes Haar, welches an das Fell der Angoraziege erinnert, und vor Allem der erwähnte dicht behaarte Schweif. Dieser Schweif ist es, welcher den Jak den eifrigsten Verfolgungen und Nachstellungen aussetzt und das Thier gewissermaßen zu einer politischen Person macht – denn der Schwanz des Grunzochsen liefert die bekannten Abzeichen der türkischen Großwürdenträger, der Paschas mit einem, zwei, drei oder X carmoisingefärbten Roß- oder also vielmehr Ochsenschweifen. Ein solcher Schweif des weißen Jaks – denn es giebt auch schwarze und gefleckte – wird oft mit vier, fünf und mehr Ducaten bezahlt. Ungefärbt muß der Schwanz des weißen Grunzochsen sich zum Schmuckbehang der Hofelephanten und Staatspferde, desgleichen zum Fliegenwedel hergeben.

Wie flink und kräftig der Jak auch in der Gefangenschaft ist, sollte der Wärter des Dresdener Thiergartens vor Kurzem und beinahe zu seinem ernstlichen Unheile erfahren. Das Thier sollte in eine andere Gitterabtheilung gebracht werden, und um es zu diesem Umzüge zu vermögen, applicirte der Wärter ihm einige Peitschenhiebe. Der Jak scheint jedoch durchaus kein mecklenburgisches Unterthanenbewußtsein zu besitzen, er empfand vielmehr die patriarchalische Berührung äußerst übel, faßte den Mann mit den Hörnern, die zum Glück mit eisernen Kugeln unschädlicher gemacht sind, und schleuderte den Erschrockenen zwei, drei Male hoch in die Luft, fast so hoch wie den leeren Korb, welchen man dem Thiere, um seine volle Lebhaftigkeit zur Anschauung zu bringen, zum Spielzeuge gegeben hatte, als der Künstler es für unsere Abbildung portraitirte. Erst mehreren Arbeitern, die das Geschrei des Ballgeschlagenen herbeirief, gelang es durch vorgehaltene Stangen den Ochsen von seinem Opfer abzulenken; der Wärter aber hatte mehrere Tage an seiner Jakberührung zu leiden.

Zum Schlusse sei noch erwähnt, daß der männliche Jak eine Länge von etwa sechs Fuß, sein Schwanz ohne die denselben bedeckenden Haare von anderthalb Fuß besitzt und daß mitunter auch hörnerlose Exemplare vorkommen. Die Kuh wirft immer nur ein Junges, welches der Mutter alsbald auf Schritt und Tritt bis in die unzugänglichsten Felshöhen der tibetanischen Hochgebirge nachfolgt. In Indien ist es gelungen, den Jak mit gewöhnlichen Hauskühen zu kreuzen, in England hingegen sind alle derartigen Versuche bis jetzt noch vergeblich gewesen.




Londons unterirdische Reinigungsadern.
Ein Wink für Deutschlands Großstädte.

Wieder sind Rachegeister für Unreinlichkeit, schlechte Luft, Kost und Wirthschaft auf dem ersten Wege der Cholera unterwegs. In Deutschland scheint man sich nicht viel daraus zu machen, während in dem entlegneren England, wo Sinn, Bildung und Anstalten für öffentliche Gesundheitspflege – ganz besonders seit der Cholera – ungemein entwickelt sind, Staats- und Gesundheitsbehörden, Gesandte, Consuln und specielle sachverständige Missionäre sich vereinigen, um das Wesen dieser Rachegeister kennen zu lernen und den Feind möglichst gerüstet zu empfangen.

Sie sind gerüstet, wie kein Volk in der Welt, namentlich in London. Gerüstet mit einem zweiundachtzig englische Meilen langen Systeme massiver, weiter Auffange-Cloaken (intercepting sewers), welche den Inhalt der 1300 englische Meilen langen älteren Cloaken unter den verschiedenen Stadttheilen entlang in sich aufnehmen, um ihn ganz unten in das Meeresbereich der Themse abzuleiten, von wo die Spülicht- und Exkrementen-Masse nicht mehr in das Londoner Bereich zurückgefluthet werden kann, außerdem in den ungeheueren, stets stark bewegten Wassermassen so verdünnt wird, daß schädliche Ausdünstung nicht mehr möglich ist. Dies mit einem Kostenaufwande von etwa fünfundzwanzig Millionen Thalern unternommene Riesenwerk ist jetzt in der Hauptsache vollendet und in diesem Frühjahr vom Prinzen von Wales feierlich eingeweiht worden; es ist die großartigste That unterirdischer Ingenieur-Kunst.

Suchen wir uns von diesem Londoner Cloakensystem nun eine Vorstellung zu machen, so weit dies ohne Bild und Ortskenntniß dem Leser möglich sein mag. Die neuen großen Auffange- und Ableitungs-Canäle bestehen aus drei gigantischen Haupttunnels, die sich vom äußersten Westen unter der Stadt hin nach dem äußersten Osten senken und die alten Canäle und Cloaken in rechten Winkeln durchschneiden und zwar etwas tiefer, als letztere liegen, damit diese ihren Inhalt kräftig fallen lassen. Diese großen Tunnels führen allen Cloaken-Inhalt vierzehn Meilen weit östlich von der Londonbrücke meerwärts zunächst in Reservoirs am Ufer, aus welchen sie während der Fluthzeit in die abwärts sich wälzenden Wassermassen entleert werden. Hat man sich erst über Benutzung dieses Düngerreichthums geeinigt, so kann man ihn von diesen Reservoirs aus verwerthen. Wenigstens existiren darüber verschiedene Pläne. Um alle Stadttheile auf dem hügeligen Terrain in die Gewalt dieser Haupttunnels zu bekommen, mußten auf jeder Seite der Themse drei verschiedene Tiefen von Tunnels gezogen werden, Hoch-, Mittel- und Tief-Cloaken.

Der Hochtunnel für den höchsten und größten Theil der Stadt vom Norden herunter beginnt auf den im Norden von London sich erhebenden Höhen von Hampstead und drainirt zehn Quadratmeilen. Ein Theil derselben liegt so niedrig, daß ein Zweigtunnel unmittelbar in die Tief-Cloake ablenkt, während der Hochtunnel über der Erde wie ein hoher Eisenbahnbau fortläuft. Doch muß er auf seinem zehnmeiligen Wege, rund, bis zwölf Fuß im Durchmesser, noch ganz andere Schwierigkeiten überwinden. So läuft er häufig unmittelbar unter Häusern und Straßen, die während der Aushöhlung und Mauerung zum Theil durch eisernes Säulenwerk gestützt werden mußten. An einer andern Stelle war ein Weg unter dem Neuen Flusse (New River) und [463] dann wieder unter einer großen Eisenbahn hindurchzuarbeiten, und sogar unter einem Canale hin blos vierundzwanzig Zoll tief unter dessen Bett, so daß auf die genialste Weise innerhalb dieser vierundzwanzig Zoll für Wasserdichtigkeit gesorgt werden mußte. Größere Schwierigkeit gab es noch bei Tunnelirung der südlichen Haupt-Cloake zu überwinden, da sie tausend Fuß lang dicht unter Häusern und Straßen wegläuft. An anderen Stellen drang beim Tunneliren das Wasser so mächtig ein, daß man es nur durch Pumpwerke, die in jeder Minute achttausend Gallonen (eine Gallone enthält etwa zehn Pfund destillirten Wassers) emporrissen, zu bewältigen im Stande war.

Andere dieser mächtigen Tunnels sind dicht unter großen Eisenbahnen, auf denen fast immer ankommende und abgehende Züge donnern, hindurchgehöhlt und gemauert worden ohne jegliche Unterbrechung des Verkehrs oben darüber. Das merkwürdigste Ingenieur-Kunststück ward aber bei Ausführung der Mittel-Cloake über der unterirdischen Metropolitan-Eisenbahn hin glücklich vollendet. Der Tunnel besteht hier aus einem Aquäduct von Gußeisen mit 150 Fuß Spannung, 2800 Centner von Gewicht. Da er wegen des Falles blos zwei und einen halben Zoll über dem unterirdischen Eisenbahntunnel hinweggelegt werden mußte und der Verkehr der Eisenbahn darunter nicht gestört werden sollte, wurde jene gigantische Eisenröhre zunächst fünf Fuß über ihrer nothwendigen Lage auf ein ebenso gigantisches Rüstwerk gelegt und dann vermittelst der Gewalt „hydraulischer Böcke“ erst in die richtige Lage hinuntergetrieben. Ja, diese zweiundachtzig Meilen langen tunnelirten Mauerwerke unter Straßen und Häusern, unter Flüssen, Canälen, über und unter Eisenbahnen hin bilden eine lange Heldengeschichte unterirdischer Ingenieurkunst.

Der Nord-Mittel-Tunnel drainirt über siebenzehn Geviertmeilen der Stadt und läuft vom Nordwesten unter den mittleren Theilen Londons, unter Eisenbahnen und Canälen hin nach der nordöstlichen Vorstadt Bow, wo er sich in den Hoch-Tunnel ergießt. Der Tief-Tunnel drainirt außer den vierzehn Quadratmeilen seines Terrains in der Stadt noch über elf Geviertmeilen der westlichen Vorstädte und mußte in dem Stadttheile Chelsea so tief gesenkt werden, daß sein Inhalt, um an der Themse hinunter wieder Fall zu bekommen, mit Dampfmaschinen in das obere Ende des Tief-Tunnels gepumpt wird. Ein Theil davon macht das noch nicht vollendete Innere der großartigen granitnen Einuferung der Themse aus, die vom Parlamentsgebäude bis in die Gegend der Paulskirche eine lange, prächtige Terrasse bis 450 Fuß breit am nördlichen Ufer entlang bilden wird, oben heiter und prächtig durch Park- und Blumenanlagen, macadamisirte Fahr- und kiesige Fußwege mit Palästen und Villen an der Seite, und unten belebt durch ewigen, dichten Omnibus-Dampfschiff-Verkehr, im Innern außer durch den Cloaken-Tunnel und anderes Geäder durch eine unterirdische Eisenbahn minirt, die in allen Richtungen zum Theil unter einander hin theils gegraben werden, theils projectirt sind. Dieser Theil des großen Cloakensystems ist noch nicht fertig, weil das Einuferungswerk erst bis zu einem gewissen Grade vollendet sein muß. Man arbeitet aber an beiden mit vielen Tausenden von Menschen- und Dampfpferdekräften.

Jenseits des Einuferungswerkes läuft dieser Tunnel bis nach dem Tower hinunter neben einer neuen unterirdischen, der „Inner-Cirkel“-Eisenbahn hin bis nach der Haupt-Pumpstation, wo der Inhalt sechsunddreißig Fuß hoch gehoben werden muß, damit man ihn dann wieder weiter abwärts fördern kann. Ein anderer hier ausmündender Tunnel fließt in ein Pumpwerk, das mit 1,140 Pferdekraft die hier zusammenströmende Flüssigkeit, und zwar 15,000 Cubikfuß pro Minute, 36 Fuß hoch pumpt. Es ist die „Abbey-Mühlen“-Station, das größte Dampf-Pumpwerk. Dies und alle anderen sind großartige Kunstwerke, um das riesige Adersystem der Auffange-Cloaken in ihrem unter Thal und Hügel und den verschiedensten Hebungen und Senkungen des Terrains immer abwärts gerichteten Laufe an allen Stellen, wo die unterirdische Vertiefung nicht fortgesetzt werden kann, durch Mechanik und Dampf fünfzehn bis vierzig Fuß zu heben, von welchen Höhen dann dem natürlichen Laufe der Flüssigkeiten der Weg bis zum Ende wieder freisteht.

Man wird leicht begreifen, daß auf diese Weise alle Schwierigkeiten der Terrainbildung überwunden werden können und man im Stande sein würde, diese Flüssigkeiten sogar bergauf laufen zu lassen. Man brauchte nur jedesmal, so oft die betreffende Cloake in aufsteigendem Terrain nicht mehr in schiefer Ebene abwärts gelegt werden könnte, immer ein Pumpwerk anzulegen und den Strom in die Höhe zu heben, um ihn dann wieder in dem Cloaken-Tunnel abwärts zu leiten, bis eine neue künstliche Hebung nothwendig würde. Wie man auf diese Weise hügeliges Terrain entwässern kann, so würden sich Ebenen, wie z. B. die Berlins, noch leichter drainiren lassen, so daß der seit Jahren wiederholte Einwand, in dem ebenen Berlin gehe so Etwas gar nicht an, auf der größten Unwissenheit und Feigheit des Unternehmungsgeistes beruht.

Die Süd- und Surrey-Seite Londons liegt zum Theil viel tiefer, als der Spiegel der Themse und wurde manchmal ziemlich stark überfluthet, abgesehen davon, daß Feuchtigkeit und Wasser nicht selten in Souterrains und Parterres von unten auf drang. Deshalb waren hier für die neuen Auffange-Cloaken mancherlei besondere Vorkehrungen nöthig, die aber nur für Ingenieurs von Fach besonderes Interesse haben und sich ohne Zeichnungen und weitläufige Auseinandersetzungen nicht gut allgemein verständlich machen lassen. Wir beschränken uns deshalb auf allgemeine Angaben.

Der Hochtunnel auf dieser Seite drainirt zwanzig Quadratmeilen und schließt eine Menge südliche und südöstliche Vororte ein. Die Länge beträgt blos vier und eine halbe Meile, die Tiefe stellenweise bis fünfunddreißig Fuß unter der Oberfläche. Der Tieftunnel drainirt ebenfalls zwanzig Quadratmeilen, die zum Theil fünf bis sechs Fuß tiefer liegen, als die Fluth-Themse. Für diese Theile hatte das jetzige Cloakensystem den Werth, als wären sie zwanzig Fuß höher gelegen, abgesehen von den sonstigen gesundheitlichen Wirkungen. Die Länge dieses Tunnels beträgt zehn Meilen und die Weite steigt von vier bis zwölf Fuß Durchmesser. Der unterirdische Weg, den er zurücklegt, sinkt unter Woolwich bis zu achtzig Fuß unter der Oberfläche. Die große Arsenal- und Maritim-Vorstadt wurde in ganzer Länge in dieser Tiefe unterminirt, ohne daß oben Jemand Etwas davon bemerkte. Die Dampf-Pumpwerke auf dieser Seite heben die Flüssigkeiten dieser Cloaken-Tunnels von zehn bis dreißig Fuß und zwar an der Hauptstelle 10,000 Cubikfuß in der Minute. Auch die Einrichtungen, durch welche ungewöhnlichen Regenmassen und schweren Platzregen im Falle zu großer, plötzlicher Anhäufung Auswege geboten werden, sind in technischer Hinsicht höchst interessant, allein eine eingehende Beschreibung würde hier zu weit führen.

Das Bild von diesem dreizehnhundert Meilen langen unterirdischen Reinigungs-Geäder mit den neuen, aus 318,000,000 Steinen gemauerten, 82 Meilen langen Pfort-Adern, die täglich bis 63,000,000 Cubikfuß unreine Säfte ableiten (mit Regenwasser und in Rücksicht auf vermehrte Bevölkerung) – dieses Bild wird nur vollständig, wenn man sich mehrere Tausend Meilen Gas-, mehrere tausend Meilen Reinwasserröhren, unterirdische Luftröhren für „pneumatischen“ Postverkehr, unzählige elektrische Drahtleitungen, mehrere unterirdische Canäle und fertige, alle fünf Minuten hin und herdonnernde und eine Menge im Bau begriffene unterirdische Eisenbahnen hinzudenkt. Das Städteungeheuer London ist unter der Erde beinahe großartiger, als auf dem Boden. Im Innern unten circulirt eine ungeheure Masse Venen und Arterien und Verkehrsblut. Aber drüber, über dem Straßenverkehr, fehlt’s freilich auch nicht. Die Bogen, auf denen sich Verbindungs-Eisenbahnen über Häuser und Straßen hinschwingen, zählen sich nach vielen Hunderten und vermehren sich täglich. An diesen Bahnen hin ziehen sich dichte Reihen von elektrisch lebendigen Drähten. Dazu kommen die Stadtpost-und Privat-Telegraphendrähte, die an manchen Stellen die Stadt so dicht übersponnen haben, daß man wie durch ein Sieb in den Himmel hineinsieht. Alles unter, in, auf und über London ist intensivste, massenhafteste Circulation. Verkehrs- und Lebensblut-Bewegung in civilisirtester, fieberhafter Heftigkeit und Schnelligkeit. Diese massenhaft pulsirenden Säfte und Kräfte schlagen elektrisch in Dampf- und Segelschiffen fortwährend nach aller Welt hinaus bis in die fernsten Häfen und Länder und wallen und pochen eben so regelmäßig in dieses Herz der Welt zurück.

In Bezug auf Verkehrsbewegung, ideelle und materielle Circulation und Communication war London schon längst Muster für alle Welt. Es war auch schon vorher, medicinisch-statistisch erwiesen, die gesundeste Großstadt der Erde. Nach Vollendung dieses Riesenwerkes für fortwährende Reinigung aller Lebenssäfte wird die Sterblichkeit noch tiefer sinken und jeder der 318,000,000 Steine zum Brod für verlängertes, gesunderes Leben werden, während wir in Deutschland für Vernachlässigung öffentlicher Gesundheitsbedingungen immer theurer mit unserem Leben zahlen.
H. B.



[464]
Blätter und Blüthen.

Gemüthliche Wartburgfahrt. Wenn man sich erinnert, auf welche Weise politische Verbrecher auf ihrem Transporte nach dem Gefängniß und in demselben jetzt gewöhnlich behandelt werden, so wird Manchem nicht uninteressant sein, zu vernehmen, mit welcher Gemächlichkeit im Anfange dieses Jahrhunderts beim Transport eines Gefangenen im Großherzogthum Weimar verfahren wurde, obgleich derselbe, wenn auch kein gemeiner Verbrecher, doch zu schwerer Strafe verurtheilt war. Der Hergang ist der Wahrheit getreu erzählt und ich lasse den damals Verurtheilten selbst reden.

Im Jahre 18– studirte ich in Jena und wurde in eine Pistolen-Duellgeschichte verwickelt, die leider zu einer gerichtlichen Untersuchung führte und mir eine zweijährige Gefängnißstrafe zuzog. Zur Abbüßung derselben sollte ich nach der Wartburg transportirt werden. Eisenbahnen gab es damals noch nicht und meine Uebersiedelung geschah auf meine Kosten in einem bequemen Wagen. Am Tage vor der Abfahrt wurde mir ein Unbekannter in meine Zelle geführt, der mich fragte, ob ich wohl erlauben wollte, daß er morgen mitführe. Er müsse nach Eisenach und habe gehört, ich führe morgen nach der Wartburg und hätte noch Platz im Wagen. Ich sagte ihm, daß ich darüber wohl nichts zu bestimmen haben könnte, da ich als Gefangener nach der Wartburg transportirt würde, sonst aber recht gern Gesellschaft haben möchte, weil die Reise lang genug wäre; er solle sich doch an den Unterofficier wenden, dem ich zum Transport überwiesen sei. Ja, meinte er, gerade der habe ihm davon gesagt und habe nichts dagegen, sobald ich einwilligte.

„So fahren Sie getrost mit,“ sagte ich, „morgen früh um drei Uhr geht’s fort.“

Zur gedachten Stunde traf der Herr auch pünktlich ein und mit ihm mein Unterofficier, ein recht gemüthlich aussehender, dicker Kerl. Er grüßte mich freundlich und sagte, indem er auf sein vollständig ausgerüstetes Gewehr zeigte und seinen Mund lächelnd bis an die Ohren zog: „Is nich geladen.“

Ich lachte, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: „Brauchen’s auch nicht.“

Wir gingen nun hinunter. Der Regen floß in Strömen. Ich mußte zuerst in die Kutsche, hierauf kam der blinde Passagier und dann schlug der Unterofficier den Wagen zu und wollte sich auf den Bock setzen.

„Um Himmelswillen, kommen Sie doch bei dem scheußlichen Wetter mit in den Wagen!“ rief ich.

„Nun, wenn Sie’s erlauben. Aber – es geht doch nicht, ich bringe mein Gewehr nicht in den Wagen hinein.“

„Dann lassen Sie es doch draußen!“

„Ja, das darf ich nicht. Aber – das Wetter ist doch gar zu schlecht. Sie werden mir nicht weglaufen, ich will es riskiren.“

So wurde das Gewehr dem Kutscher übergeben und mein Unterofficier setzte sich zu uns in den Wagen. Unterwegs wurde hie und da ein Bischen gekneipt, bis wir gegen Mittag nach Erfurt kamen. Dort wohnte ein Onkel von mir und zu ihm zog ich in Begleitung meiner Militärbedeckung und unseres Gefährten. Wir wurden mit Freuden aufgenommen, brillant bewirthet und bestiegen vollgestopft und vollgetrunken in sehr heiterer Stimmung wieder unsern Wagen. Gegen Abend kamen wir nach Eisenach und vermehrten dort unsere Heiterkeit noch durch einige Seidel, bevor wir den Weg auf die Burg antraten, den wir zu Fuß abmachten, weil unser Kutscher aus Schonung für seine Pferde uns gebeten hatte, ihm die Strecke auf die Höhe zu erlassen. Das Wetter war schon gegen Mittag schön geworden. Unser Gefährte blieb in Eisenach zurück.

Als wir ungefähr zehn Minuten gegangen waren, schrie der Unterofficier plötzlich:

„Alle Donnerwetter! ich habe mein Gewehr und meine Handschuhe unten gelassen.“

„Was schadet denn das?“ sagte ich. „Sie haben, dächt’ ich, doch nun zur Genüge gesehen, daß Sie es nicht brauchen.“

„Um Himmelswillen, das geht nicht!“ rief er, „wie soll ich mich oben präsentiren mit einem Gefangenen ohne Gewehr und ohne Handschuhe? Das wäre eine schöne Geschichte! Nein, nein, es geht durchaus nicht.“

„Nun, so laufen Sie zurück und holen Sie die Sachen!“

„Und soll Sie hier allein lassen? Das ist doch fast zu arg!“

„Dummes Zeug! laufen Sie schnell zurück; ich gehe langsam weiter, und Sie werden mich bald wieder eingeholt haben.“

Der Unterofficier schüttelte zwar den Kopf, trabte aber davon. Ich war beinahe bis an die Burg gelangt, als er keuchend und schweißtriefend wieder ankam. Nun ging’s in die Burg hinein und zum Castellan. Der war nicht da, aber seine Frau.

„Ach, schönen guten Abend! Die Herren wünschen wohl die Burg zu sehen. Mein Mann kommt gleich.“

„Um Vergebung,“ sagte ich, „ich denke, ich werde wohl noch Zeit genug haben die Burg zu sehen. Ich bin als Gefangener hier.“

„Als Gefangener? Davon wissen wir ja gar nichts. Sie können heute nicht hier bleiben; wir – nun, da kommt mein Mann.“

Jetzt trat der Unterofficier auf den Castellan zu und meldete militärmäßig mich als Gefangenen an.

„Einen Gefangenen!“ sagte dieser. „Davon wissen wir hier nichts. (Später stellte es sich nämlich heraus, daß aus Versehen die gerichtliche Benachrichtigung nicht angelangt war.) Es ist nichts vorbereitet und der Gefangene kann nicht hier bleiben.“

„Ja, was sollen wir da machen?“ sagte der Unterofficier.

„Machen Sie was Sie wollen; hier bleiben kann er heute Nacht nicht. Gehen Sie mit ihm zum Herrn Director, der ist jetzt unten in Eisenach in seiner Wohnung, und hören Sie was der sagt.“

Es blieb uns nichts Anderes übrig; wir stiegen wieder hinab und gingen zum Burgdirector in Eisenach. Der wußte auch von nichts. Uebrigens hatte ich aber an ihn eine Empfehlung von einem meiner Verwandten.

„Ich freue mich sehr Ihre Bekanntschaft zu machen,“ sagte er. „Es muß ein Versehen sein, daß wir gar keine Nachricht bekommen haben. Hm! Was machen wir nur? Ich würde Sie sehr gern bei mir im Hause beherbergen, aber ich habe die Räumlichkeit nicht dazu. Wissen Sie was! Gehen Sie doch für eine Nacht in den ‚Mohren’; das ist ein sehr guter Gasthof, und morgen begeben wir uns dann zusammen auf die Wartburg. Sie geben mir natürlich Ihr Ehrenwort, daß Sie nicht durchbrennen.“

Das gab ich und ging in den „Mohren“, wo sich der Unterofficier bei mir verabschiedete. Andern Tages ging ich mit dem Director auf die Burg und wurde als Gefangener installirt, d. h. ich erhielt ein sehr gutes Zimmer und ausgezeichnete Kost, die ich mir gegen Bezahlung nach Belieben bestellte.

„Wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben, daß Sie keinen Fluchtversuch machen wollen,“ sagte mir am Nachmittag der Castellan, „so könnten wir hier oft zusammen auf die Jagd gehen; es hat hier einen schönen Wildstand.“

So jagte ich, aß und trank vortrefflich und lebte so angenehm, daß es mir beinahe leid that, als ich erfuhr, daß meine Haft im Wege der Gnade von zwei Jahren auf vier Wochen herabgesetzt worden war.



Der sechste deutsche Feuerwehrtag zu Leipzig. Die freiwilligen Feuerwehren Deutschlands, diese schönste Blüthe des deutschen Turnwesens, werden, zum ersten Male in solcher Weise, mit den bezahlten stehenden Corps in Verbindung, im August d. J. in Leipzig zusammenkommen zum sechsten allgemeinen deutschen Feuerwehrtag. Sie finden sich zusammen, um über ihre ernste Sache zu berathen, die namentlich in letzter Zeit vielfach verbesserten Lösch- und Rettungsgeräthe zu erproben und im geselligen Verkehr mit gleichgesinnten Strebensgenossen aus allen Gauen des gesammten Vaterlandes neuen Muth und frische Kraft zu sammeln für jene Stunden, wo man ihrer so nöthig bedarf. Aus der uns vorliegenden officiellen Einladung des Local-Comités entnehmen wir im Nachstehenden zu Nutz und Frommen unserer Leser, unter denen sich auch wohl gar mancher Feuerwehrmann befinden mag, die hauptsächlichsten Punkte.

Die Versammlung findet statt vom 19. bis 22. August und sind Anmeldungen zu derselben, möglichst durch die Commandos gemeinschaftlich für alle sich Betheiligenden der betreffenden Corps, unter Einsendung des geringen Beitrages von einem Drittel Thaler pro Mann bis spätestens den 20. Juli zu bewirken, worauf die als Legitimation dienenden Karten zugefertigt werden. Diese Karte ist erforderlich den möglicherweise Fahrpreisermäßigung bewilligenden Eisenbahn-Verwaltungen gegenüber und gewährt freien Zutritt zur Hauptversammlung, zu den Festlichkeiten und zum Besuche der während der Versammlung ununterbrochen geöffneten Ausstellung von Feuer-, Lösch- und Rettungsgeräthen und Wasserleitungs-Utensilien. – Das Programm für den sechsten deutschen Feuerwehrtag, den ersten, der überhaupt in Norddeutschland abgehalten wird, ist in Kürze: Den 19. August Abends acht Uhr Empfang der Gäste im Schützenhause; den 20., früh ein halb elf Uhr Feuerwehrtag (Berathungen) im Schützenhause, nach dessen Beendigung Concert am gleichen Orte. Der Vormittag des 21. August ist den Gästen zur freien Verfügung, zur Besichtigung der Sehenswürdigkeiten Leipzigs und dergleichen überlassen, Nachmittags findet Manöver der Leipziger Feuerwehr, Abends acht Uhr Commers im Schützenhause statt. Vom letzten Tag, dem 22., wird der Vormittag durch specielle Besichtigung und Prüfung ausgestellter Feuerwehrrequisiten, der Nachmittag durch gemeinschaftlichen Ausflug mit Dampfboot nach dem Forsthause zum Kuhthurm ausgefüllt.

Möge dem Rufe des Local-Comités recht zahlreiche Theilnahme folgen! An hinlänglich anregendem Stoff wird es der Versammlung nicht fehlen, wie andererseits die Feuerwehrmänner einer freundlichen Aufnahme seitens des Leipziger Publicums versichert sein können, das, wenn in letzter Zeit auch öfters in Anspruch genommen, den Männern nicht ungastlich begegnen wird, die neben ihren Berufsgeschäften noch Zeit und Kraft zu erübrigen wissen für die Erhaltung von Leben und Eigenthum ihrer Mitbürger.
St.


Dank nach Südamerika und Asien (Philippinen). Herrn Justo H. Geiße in Osorno (Provinz Valdivia, Süd-Chile) und Herrn Labhart-Lutz[WS 4] in Manila sendet der Unterzeichnete hierdurch seinen herzlichsten Dank, nicht nur für die richtig empfangenen Zuneigungsgaben, sondern ganz besonders auch für die schriftliche Anerkennung seines Strebens, der Menschheit in Bezug auf ihre Gesundheit nützlich zu sein, welche sie jenen Gaben beifügten. Mit großer Freude erfüllt mich diese Anerkennung, weil sie mir die Befriedigung giebt, daß sich nicht blos in der nächsten Nähe, sondern auch in weiter Ferne die naturgemäße Gesundheits- und Krankheits-Behandlung Bahn bricht. Freilich werden noch manche Jahrzehnte vergehen, ehe die abergläubische Menschheit sich von der allopathischen Arzneimittelsucht und dem unsinnigen Hocuspocus mit homöopathischen Nichtsen, trockner Semmel, sympathetischen Curen und dergleichen trennen und den Naturheilungsprocessen vertrauen wird.
Bock.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Was Verfasser von dem dicken schlammigen Blute als physischem Grund der Hypochondrie sagt, dürfte auf ein Blut zu beziehen sein, das innerbalb der Pfortader nicht flott genug durch die Leber floß, also nicht gehörig gereinigt wurde, sich an den Verdauungsorganen staute und schließlich durch die Hämorrhoidaladern in den gesunden Blutstrom (also auch in das Gehirn) gelangte. Ausführlicheres hierüber findet sich Gartenlaube Jahrg. 1854, Nr. 18 und 1857, Nr. 19.
    Bock.
  2. Der Verfasser irrt, wenn er meint, daß nicht auch Thiere bei ihren geistigen und gemüthlichen Eigenschaften hypochondrisch sein könnten.
    Bock.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. nach Moritz Wilhelm von Löwenfels: Gustav Struve’s Leben, nach authentischen Quellen und von ihm selbst mitgetheilten Notizen, Basel 1848, S. 12, ging Struve 1833 nach Mannheim und wurde dort erst 1836 Obergerichts-Advocat
  2. ADB:Blittersdorff, Friedrich Freiherr von
  3. ADB:Metternich, Clemens Fürst von
  4. Johann Conrad Labhart-Lutz (1825–1887). Vorlage: Lathart-Lutz

Anmerkungen des Autors

  1. S. Diesseits und Jenseits des Oceans. Von Gustav Struve. Coburg 1864, F. Streit’s Verlagsbuchhandlung.
  2. Die Weltgeschichte von Gustav Struve in Coburg. 1864/65
  3. S. Sachsen und Coburg gegen Streit und Struve. V. Auflage. Coburg 1864.