Die Gartenlaube (1865)/Heft 28
[433]
No. 28. | 1865. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
„Mich trifft der Schlag!“ rief Leonhard aus, den Balbina’s Antwort außer sich gebracht hatte.
„Weshalb?“ entgegnete das Mädchen ruhig. „Deine Liebe kann nicht so weit her sein!“
„Liebe hin, Liebe her,“ rief Leonhard. „Eine fest abgemachte Geschichte bricht man nicht! Das ist erzschlecht, elend – Du mußt!“
„Ich muß?“ versetzte Balbina mit einem Ausdruck des Stolzes in allen Mienen. „Mir ist nicht zum Lachen, daß Du solches Zeug sprichst.“
„Ja, Du mußt,“ schrie Leonhard unbändig. „Deinetwegen hab’ ich Brigitta fahren lassen!“
„Hättest Du es nicht gethan!“ warf Balbina mit der kühlsten Gleichgültigkeit hin. „Mach’ aber keinen solchen Lärm über Etwas, worüber sich auch ruhig sprechen läßt. Ich will Dir sagen, wie es so gekommen ist, und Du wirst mir nicht bös sein können, aber wenn Du es wärst, so würde es Dir auch nichts helfen.“
„Also heraus damit!“ rief Leonhard in größter Bestürzung über die sich immer steigernde Entschiedenheit des Mädchens. „Gewiß muß mich Jemand bei Dir angeschwärzt haben!“
„Glaub’ es nicht,“ versetzte Balbina. „Es liegt anderswo. Du weißt, daß es mir vor und nach dem Tode meines Vaters nicht an Bewerbern gefehlt hat, ich aber von keinem Etwas wissen wollte –“
„Ich weiß,“ fiel ihr Leonhard mit einer gewissen Beziehung höhnisch in’s Wort. „Ich weiß auch, warum!“
„Unterbrich mich nicht!“ fuhr ihn das Mädchen heftig an.
„Wie Dich das aufbringt!“ rief Leonhard lebhaft mit schadenfroh funkelnden Augen. „Aber sprich nur weiter.“
„Am letzten Lichtmeß,“ fuhr Balbina nach einer kleinen Pause fort, „war ich schon zweiundzwanzig Jahre. Da sagte meine Mutter, als ich aus der Kirche kam: ‚Warum Du nicht heirathest! Gar so jung bist Du auch nicht mehr. Ich bin alt und kann für die Wirthschaft nichts mehr leisten, ich bin kränklich und Du kannst früher, als Du denkst, ganz allein dastehen. Unser Hof braucht längst einen Mann, heirathe, folge mir! Der Stegwirth ist ein kreuzbraver, thätiger Mann, und ich habe gehört, daß er ein Auge auf Dich hat, aber sich gar nicht hervortraut, weil gar kein Mann weiß, was er aus Dir machen soll!‘ So hat sie den ganzen lieben Tag in mich hineingeredet, ich habe es mir überlegt und endlich der Mutter den Willen gethan, einen Mann in unsere Wirthschaft zu bringen. So kam es, daß ich den Stegwirth geheirathet hätte, wenn Du mit ihm nicht am letzten Sonntag den neuen Plan ausgeheckt hättest. Der Stegwirth wollte auf einmal die Brigitta, und sie wollte ihn, und ich habe nichts dagegen gehabt, Dich zu nehmen, aber merke Dir ja gut, daß ich der Mutter versprochen habe, für unsern Hof einen Mann zu schaffen!“
Sie hatte den letzten Satz mit einer besonderen Betonung gesprochen, damit der für Leonhard unschmeichelhafte Sinn durchaus nicht mißverstanden werden könnte.
„Und was bringt Dich davon ab?“ fragte Leonhard mit der peinlichsten Spannung.
„Sieh,“ fuhr Balbina fort, „es ist mir damit Ernst gewesen. Im Gerichtssaale hab’ ich mich bis in den Boden hinein geschämt, bin aber nicht abgesprungen; noch gestern hab’ ich es Dir zugesagt. Mir war dabei, als wär’ ich bei den Haaren fortgezogen, aber ich wollte mich so fortziehen lassen; heute geht es nicht mehr, heute denk’ ich anders, himmelweit anders! Ich habe eine Nacht gehabt zum Verrücktwerden und kann es nicht mehr thun und thäte es nicht, wenn mein seliger Vater im Leichentuche vor mir erscheinen und mich bitten würde, Dich zu heirathen, damit ich seine arme Seele aus dem Höllenfeuer erlöse!“
Ihre wunderschönen Gesichtszüge, welche immer liebliche Ruhe und süße Sanftmuth waren, und ihre großen, von langen schwarzen Wimpern beschatteten, tiefblauen Augen hatten sich durch den Ausdruck einer wild kämpfenden Energie ganz verändert, aber ihre Schönheit war so vollständig und unverwüstlich, daß dieselbe auch in einem solchen Affect auf eine unerwartet neue Art leuchtete und fesselte.
„Du sprichst schrecklich,“ erwiderte Leonhard klagend und eine Hand in die Haare einwühlend, von dem Aussehen des Mädchens gepackt und von den vernommenen Worten zerschmettert. „Aber,“ fuhr er mit aufsteigendem Zorne fort, „warum Du plötzlich so wortbrüchig wirst, geht mir doch in den Kopf, es wäre denn, daß Du bei Gott und allen Heiligen Dein Seelenheil verpfändet hast, auf den Veit so lange zu warten, bis er auf dem Schub wieder heimgekommen ist!“
„Fängst Du schon wieder an?“ ermahnte ihn Balbina gereizt und böse.
„Nun,“ versetzte Leonhard rasch darauf, „warum thust Du so über Nacht Deiner Mutter den Willen nicht mehr?“
„Weil ich in mich gegangen bin,“ sprach das Mädchen im Tone der Reue, ja der Zerknirschung: „weil mir neulich die Rede des Herrn Hofraths in’s Herz gefahren ist.“
[434] „Da muß ich lachen!“ entgegnete Leonhard, „Du weißt so gut, als ich, daß der Geistliche immer predigen und der Amtsherr immer schelten muß! Wenn Du sagst, daß der Herr Hofrath Recht gehabt hat, so will ich nicht einmal Nein sagen, denn auf mich haben seine Ermahnungen nicht gepaßt. Ich habe eine himmelweit verschiedene Ursache, als der Stegwirth gehabt!“ Er ging in einen liebhabermäßigen Ton über. „Du hast mir immer besser gefallen, als Brigitta, und der wäre ein stockblinder Narr, dem Du unter Allen nicht am besten gefallen würdest! Sieh, bin ich denn meinem wahren Nutzen nachgegangen, als ich Brigitta fahren gelassen habe, die doch weit reicher ist, als Du, und zu einer Anderen hinübergelaufen bin, blos weil unsere Güter aneinander grenzen? Meine Liebe ist weiter her, als Du gemeint hast und vielleicht noch immer meinst. Ich aber sage Dir, daß Du mir so sehr gefällst, daß ich Dich heirathen möchte, wenn Du nichts weiter im Vermögen hättest, als hier diese Gießkanne!“
„Und ich,“ gab Balbina sofort zur Antwort, „würde Dich nicht zum Manne nehmen, wenn Du alle Höfe und Almen besitzen würdest, wie sie in der ganzen Burgsau liegen!“
Das war dem verzweifelten Freier zu stark. Sein Grimm wollte losbrechen und es kostete einen mühseligen Entschluß, in der Heuchlerrolle noch auszuharren.
„Ich kann es nicht glauben,“ sprach er. „Du mußt Dich noch einmal besinnen.“
„Du sprichst in den Wind,“ war die kurze Antwort.
„Wir passen so gut zu einander,“ flehte er unerschütterlich weiter. „Du bist groß, ich bin groß: was Du zu ernst bist, bin ich zu lustig; unsere Höfe liegen so, daß sie nur ein einziger Hof sein sollten; sieh, wir sind wie für einander geschaffen! Ich gebe Dir noch bis morgen Bedenkzeit!“
„Ich brauche keine,“ warf das Mädchen hin.
„Gute, beste Balbina!“ seufzte Leonhard.
„Du richtest nichts aus,“ versetzte das Mädchen, indem es auf ein haushohes Felsstück, das in länglicher Würfelform in nächster Nähe dalag, mit dem Finger zeigte. „Diesen Block wälzest Du mit gleicher Mühe weiter!“
Leonhard konnte sich nicht länger halten. Die schreckliche Ueberzeugung, daß seine Sache hier verloren sei, entzügelte seine Wuth und der schöne, aber nicht heimliche Bandit kam auf allen seinen Gesichtszügen zum Vorschein.
„Du Meineidige!“ fuhr es aus ihm heraus. „Nicht umsonst hast Du den Ruf, daß Du ein gar eigenes Ding bist, ich aber habe die Meinung, daß Du so einsam und traurig lebst, weil Dich eine böse Ursache dazu zwingt und irgend ein Fluch plagt! Darum heirathest Du nicht, doch warst Du kaum aufgeschossen, da warst Du den Männern nicht so spinnefeind, wie heute, da hast Du den Veit gern gesehen und bist auch mit ihm weit gegangen. Ich und Andere haben es gesehen, wie oft er zu Dir des Nachts hinaufgeschlichen ist! Dort drüben an den Sandgruben, um nicht an den Häusern vorüber zu müssen, ist er hinauf und herunter, knapp, ehe es Tag geworden ist! Der steckt Dir im Kopf, und wenn auch Niemand weiß, warum er davongelaufen und ganz verschwunden ist, Du wirst es wissen. Erwart’ ihn, erwart’ ihn, aber ehe er kommt, soll aus Dir ein altes, runzliges Weib werden und längst zuvor bei Eurer elenden Weiberwirthschaft Hof und Vieh zu Grunde gegangen sein!“
Er machte eine Bewegung, als ob er über Balbina herfallen wollte, ließ aber die Wuth auf einen todten Gegenstand aus, indem er mit einem gewaltigen Fußtritte Balbina’s Gießkanne weit hinschleuderte, worauf er wild umkehrte und nicht auf dem gewöhnlichen Rückwege, sondern der Schneide des Bergrückens entlang am Abhange hinlief.
Die Sonne warf ihre letzten Strahlen aus und vergoldete nur noch die höchsten Bergspitzen, als Leonhard nach langem, angestrengtem Laufe im Markte Burgsau angelangt war. Am äußersten Ende desselben, ein Stück hinausgerückt, liegt das Wirthshaus des Stegwirths. An diesem ging er, ohne sich umzusehen, vorüber und überschritt unweit davon einen ziemlich breiten Steg, der über einen wilden Bergbach führt und dem Wirthshaus am rechten Ufer sowohl, als dem Bauerhof auf dem linken den Namen giebt. Nachdem er eine mäßige Anhöhe hinaufgestiegen war, befand er sich beim Stegbauer.
Brigitta, ein Mädchen von zwanzig Jahren, klein, gewöhnlich, doch nicht ungefällig, kniete in einem Beete und war mit dem Ausjäten des Unkrautes beschäftigt. Ihre Laune war die beste, sie sang mit weitschallender Stimme ein lustiges Liedchen.
„Wer kommt denn da?“ rief sie mit einer scherzhaften Verwunderung.
Leonhard hatte nicht so viel Zeit, um bis an die Gartenthür weiter zu gehen. Er blieb, dem Mädchen gegenüber, gleich an den hölzernen Planken, welche den Hof eine halbe Mannslänge hoch umgaben, stehen und rief hinüber:
„O Brigitta! Ich bin der unglücklichste Mensch!“
Brigitta sprang auf den Wehruf empor und stellte sich auf der inneren Seite der Planke vor ihn hin.
„Was fehlt Dir denn?“ fragte sie, als sie die tiefe Röthe und das hochaufgeregte Aussehen seines Gesichtes wahrgenommen hatte. „Du mußt einen tüchtigen Rausch haben!“
„Nur Du,“ wimmerte Leonhard, „nur Du kannst mir helfen!“
„Soll ich Dir vielleicht zur Ader lassen,“ erwiderte Brigitta muthwillig, „damit Dich nicht der Schlag trifft?“
„O, Du bist lustig,“ rief Leonhard, „ich Dummkopf könnte es auch sein, wenn der verwünschte Stegwirth sein Maul gehalten hätte!“
„Was hat er Dir gesagt?“ fragte Brigitta ahnungslos. „Bring’s einmal heraus und geh’ nicht so lang’ um die Kirche herum!“
„Ach, Brigitta,“ sprach Leonhard, bereit seinen ganzen Schmerz zu entladen, „ich bereue die Geschichte, welche wir am letzten Sonntag zusammen angezettelt haben, schrecklich und möchte mir alle Haare ausreißen! Jetzt erst seh’ ich, wie ich an Dir hänge, da ich eine Andere nehmen soll! Diese Balbina, die immerfort ein Gesicht macht, als wäre das ganze Jahr Charfreitag, und Du, so lieb und herzig, voll Späße und Narrenstreiche – Ihr seid so grundverschieden, wie der Tod und das Leben! Ich kann sie nicht heiratheu, ich habe es ihr bereits gesagt, es wird nichts daraus werden.“
„Du brauchst sie nicht zu heirathen,“ gab Brigitta, ihm in’s Wort fallend, zur Antwort. „Der Priester hat noch nicht den Segen gegeben.“
„Du aber auch nicht den Stegwirth,“ bemerkte Leonhard rasch.
„Ich muß freilich nicht,“ sagte Brigitta, „aber ich will und nehm’ ihn!“
„Ei, das wäre!“ rief Leonhard, sich schüttelnd. „Einen solchen Knirps, einen solchen Pfennigfuchser, einen so habgierigen Kopfhänger könntest Du mögen?“
„Er ist nicht so schön, wie Du,“ versetzte Brigitta hitzig, „aber arbeitsam, sparsam, ordentlich, was Du Alles nicht recht bist! Aber ich heirathe ihn besonders darum, weil ich in’s Wirthshaus komme, wo ich immer andere Menschen sehe und es immer eine andere Unterhaltung giebt. Bäuerin bin ich seit Kindheit gewesen und habe die Plage satt und will nicht, sobald ich aufhöre, mich für die Eltern lahm zu arbeiten, für meinen Mann solch ein freudloses und einsames Leben fortführen. Wirthin, hab’ ich mir immer gedacht, ist das Schönste und Lustigste, was sich denken läßt, und jetzt, da ich eine werden kann, sollt’ ich mein Glück fortstoßen? Besser sterben! Ich will Wirthin sein, je eher, je lieber! Glaubst Du, Narr, daß ich zu dem Tausch Ja gesagt hätte, wenn der Stegwirth nicht ein Wirthshaus hätte? Da wären wir nicht auseinander gekommen, Leonhard!“
„Hast Du schon unterschrieben?“ fragte Leonhard erblassend mit zaghafter Stimme.
„Längst,“ war die Antwort, „die Papiere sind schon ein paar Tage auf dem Amte!“
„So!“ stieß Leonhard hervor, während ihm die erhaltene Antwort einen Stoß gab, daß die zwei Latten des Gartenzaunes, welche er mit den Händen gehalten hatte, krachten und aus den Fugen gingen.
„Du reißest den ganzen Hof ein,“ rief Brigitta überrascht. „Wie kann Dich das aufbringen? Abgemacht ist abgemacht!“
„Da bist Du auf dem Holzwege!“ rief Leonhard ganz wild, daß er nur halb und halb wußte, was die Wuth aus ihm hinausredete. „Ich habe unsere frühere Heirathsbewilligung noch in Händen und fange einen schrecklichen Proceß an!“
„Da kommst Du weit!“ hohnlachte Brigitta. „Da wirst Du ausgelacht, so viel verstehe ich auch.“
„Nein, nein,“ fuhr Leonhard fort, „ich kann sagen und beweisen, [435] daß mich der Stegwirth betrunken gemacht hat, um handelseinig zu werden. Ich war auch ganz berauscht, als ich Ja gesagt habe.“
„Aber,“ versetzte das Mädchen schlagend, „am andern Morgen warst Du auf dem Amte vor dem Herrn Hofrath ganz nüchtern! Plappre nicht so! Du hast mir gekündigt und ich Dir. Jetzt kriegst Du mich nicht!“
„Das wäre der Teufel!“ brüllte Leonhard, wie besinnungslos um sich schlagend.
„Nein,“ versetzte Brigitta. „So lasse ich mich nicht aus einer Hand in die andere schieben. Thue jetzt, was Du willst, komm aber nicht wieder. Hier ist es für Dich vorbei.“
Sie entfloh mit eiligen Sprüngen in’s Haus.
Wie im Taumel trat der Verzweifelte seinen Rückweg an.
Es war das erste Mal in seinem Leben, daß er am Stegwirthshaus vorübergegangen war, ohne dort einzukehren.
Der Stegwirth, seiner Braut sicher, hatte bereits alle Anstalten zur Feier seiner bevorstehenden Vermählung mit Brigitta zu treffen begonnen, und er war insoweit so glücklich, wie es ein Mensch bei einem Naturell wie das seinige sein kann.
Er war ein kleines, dürres, doch sehr flinkes Männchen von dreißig Jahren, sehr fleißig und industriös, aber auch sparsam und genau bis zum Geiz. Seine flachen Gesichtszüge erinnerten an einen Knaben, welcher nun ein alter Sauertopf geworden war; in seinen Augen und Mienen lag ein beständiger Kummer, welcher die unbefriedigte Gier ausdrückte, alle Tage noch mehr Geld zu verdienen, als thatsächlich einlief. Nur, wenn das Wirthshaus so vollgepfropft war, daß er durch das unaufhörliche Einschenken und Auftragen von Athem kam und von Schweiß triefte, konnte er Späße, sogar gute, machen, aber wenn er nur eine Stunde dastand, ohne daß ein Glas Bier verlangt oder eine Zeche gezahlt wurde, versank er in die tiefste Melancholie.
Sein verschossener und abgewetzter Anzug, aus einer Jacke, farblosen Hosen und groben Schuhen bestehend, war nicht im Stande, seine armselige Erscheinung aufzuputzen, sondern erinnerte immerfort an den blutarmen Bierzapfer, der er noch vor zwei Jahren in der fürstlichen Brauerei gewesen, ehe er das Wirthshaus übernommen hatte.
Mit der Uebernahme des Stegwirthshauses hatte es folgende Bewandtniß.
Der frühere Besitzer starb, als er kaum die Frau verloren hatte, im besten Alter und hinterließ ein zweijähriges Kind als natürlichen Erben. Dieses Umstandes halber hatte er die testamentarische Verordnung gemacht, daß der gegenwärtige Stegwirth, der ein entfernter Anverwandter war, das Wirthshaus und die nicht unbedeutende Oekonomie mit allen Rechten des Eigenthümers zu übernehmen, aber nach Eintritt der Großjährigkeit des leiblichen Erben dem letzteren im Statu quo ante wieder zu übergeben habe.
So weit war der ehemalige arme Bierzapfer mit dem Testamente höchst zufrieden, denn es sicherte ihm für zweiundzwanzig Jahre, also ein halbes Menschenalter lang, den einträglichsten Besitzstand in der Burgsau, aus dessen jährlichen Einkünften sich im Laufe einer so langen Zeit ein selbständiges Vermögen leicht erwirthschaften ließ. Weniger war der im Testament vorhergesehene Fall, wenn das Kind vor zurückgelegter Großjährigkeit sterben sollte, nach seinem Geschmacke, ja geradezu ein Gegenstand ärgster Unruhe, denn an demselben Tage, wo diese Katastrophe eintrat, hatte er alle Besitzrechte verloren, und diese gingen an eine Muhme des Verstorbenen, als Universal-Erbin, über.
Der Erblasser hatte absichtlich oder zufällig ein weises Testament zu Wege gebracht, denn die angeführten Bestimmungen sicherten dem allein stehenden, hülflosen Kinde eine gute, schonende Behandlung. War es wirklich Absicht gewesen, so wurde sie über alle Erwartung erreicht. Der Stegwirth liebte das Kind. dessen Vormund und Pflegevater er zugleich war, über die Maßen. Sonst nicht zärtlicher Natur, war er hier der trefflichste Vater, ja beinahe schon die sorgsamste und ängstlichste Mutter. Bei Tag und Nacht sah er nach dem Kinde, obgleich er ihm sogar eine eigene Wärterin hielt, ohne es einmal im größten Tumult des Geschäftes zu vergessen, und scheute keine Plage und kein Opfer, damit es wohlgedeihe und die Großjährigkeit erreiche.
Diese maßlose Liebe hatte aber gräßliche Prüfungen zu erdulden, da das Kind ein sehr schwächliches und gebrechliches Wesen war, dessen Zustand beständig Besorgnisse einflößte und das Herz des Pflegevaters mit grausamen Aengsten erfüllte.
Es war ein Knäblein, Toni mit Namen, gegenwärtig vier Jahre alt, von einem angenehmen, doch blassen und schmalen Gesichte, welches, mit den spindeldürren Gliedern der Gestalt zusammengehalten, die äußerste Nervenschwäche bekundete. Für diesen feinen Körper war die größte Ruhe die erste Nothwendigkeit, wenn sich die Kräfte entwickeln und sammeln sollten, allein diese Vorschrift war bei Toni’s krankhafter Lebhaftigkeit und Aufgeregtheit gar nicht zu erfüllen. Da ihm das Weinen und alle Aufregungen sehr schadeten, blieb der Umgebung Nichts übrig, als alle seine Launen auf das Rascheste zu befolgen, und da diese Methode bei der Liebe des Stegwirths keine Grenzen kannte, wurde Toni das verzogenste und eigensinnigste Kind, das in seinem gegenwärtigen Alter sich schon klar bewußt war, daß es mit Lärm und Thränen Alles ausrichte. Das gewöhnliche Mittel, sein Toben zu beschwichtigen, waren Näschereien, namentlich Zucker, den es leidenschaftlich liebte, weshalb es auch allgemein im ganzen Orte mit einer auf den Stegwirth gemünzten Ironie nur Zucker-Toni genannt wurde.
Es war ein sehr heißer Nachmittag. Unter den Anstalten, die der Stegwirth bereits zu seiner Hochzeit traf, befand sich auch die frische Uebertünchung des Wirthshauses. Diese Arbeit war schon vollbracht und es blieb noch die Ausführung der Frescogemälde übrig, womit man hier zu Lande die Außenseite der Häuser schmückt. Auch dieser künstlerische Theil der Aufgabe ging seiner Lösung entgegen, denn der Dorfmaler, dem das Werk übertragen war, malte mit derselben raschen Virtuosität, mit welcher er kurz zuvor getüncht hatte.
Es war Peter Auringer, ein alter, aber lustiger Kauz, der Schöpfer einer Unzahl von gräßlichen Madonnen und der verschiedensten Heiligen, welche alle durch ihr bengelhaftes Aussehen die Individualität des Künstlers unverkennbar kennzeichneten. Vom Landvolke, das die Schlagwörter liebt, wurde er nie anders als Schmier-Peter genannt, eine Bezeichnung, welche er durch seine Leistungen vollständig rechtfertigte und hier und da sogar auf sich selbst anwandte, nicht aus Mangel an Künstlerbewußtsein, sondern aus Pfiffigkeit, um die Wohlfeilheit anzudeuten, wenn er die Leute plagte, sich noch mehr Gemälde hinschmieren zu lassen, als sie ursprünglich im Sinne gehabt hatten.
Schmier-Peter saß auf einem Gerüste über dem Hausthor und malte an einem von vier schweren Pferden bespannten Fuhrmannswagen. Seinem Gesellen, der seitwärts hoch auf der Leiter arbeitete, hatte er die Ausführung der schablonenmäßigen Arabesken und Borduren vertrauensvoll überlassen.
Da kam der Stegwirth zum Vorschein. Sein erster Blick fiel auf die vielen Tische und Bänke, die von alten Ahornbäumen beschattet und sämmtlich unbesetzt waren.
„Gar keine Seele da!“ seufzte er zum Gerüst hinauf. „Kein Mensch, als Ihr Beide, und Euch halt’ ich noch dazu frei! Aber es sei Euch vergönnt – da trinkt!“
Er reichte dem Maler einen Labetrunk empor, der in einem Glase zusammengegossenen Bieres bestand.
Schon wollle er sich wieder in das Haus begeben, als er bemerkte, daß eben zwei Gäste in der nächsten Nähe an einem Tische Platz genommen hatten. Hurtig rannte er auf sie zu, um sie zu bedienen.
Einer der Gäste war der Gerichtsdiener Grüneisen, der andere der Chirurg des Bezirks, Namens Weißbart, welcher mehr auf Grund seiner angekauften Gerechtsame, als seiner medicinischen Kenntnisse Menschen und Thiere curirte.
„Wo steckst Du denn?“ rief der Stegwirch dem Gerichtsdiener auf das Freundschaftlichste zu. „Wenn ein so alter Stammgast ausbleibt, das thut weh!“
„Ich war Dir recht bös!“ gab Grüneisen zur Antwort. „Du weißt auch, warum! Ich hätte Dir es nicht zugetraut! Der Hofrath hat ganz Recht gehabt, und wie er denkt, denke ich auch. Das verdaue ich schwer und es wird mir noch lang im Magen stecken,“ schloß er, sich in die Entrüstung über die Kreuzheirath hineinredend.
„Geh.“ erwiderte der Stegwirth oberflächlich, „Du mußt immer Etwas haben, worüber Du brummst! Deshalb wird Dir mein delicater Kaiserkümmel doch bei mir schmecken!“
[436] „Erst will ich einen Krug Bier,“ erwiderte Grüneisen, während Augen und Mienen fortgrollten, „dann ein Gläschen von dem Kaiserkümmel!“
„Mir ein Gleiches!“ sagte der Chirurg Weißbart und wandte sich, sobald sich der Stegwirth entfernt hatte, an Grüneisen neugierig mit der Frage:
„Was habt Ihr denn mit einander gehabt?“
„Die Heirath!“ gab Grüneisen zur Antwort. „Das ist ja eine Geschichte, die nicht unter den Wilden vorkommen könnte, ohne daß sich die Polizei hineinmengen und dareinschlagen würde! Aber unsere Gesetze sind zu mild –“
Der Chirurg besann sich, wessen Partei er ergreifen sollte, da er eben so sehr dem Hofrath, als dem Stegwirth gram war. Mistgunst und Uebelwollen waren die Grundzüge seinen Wesens. Seine kleine, überdicke Gestalt, der große Schädel, der auf einem sehr kurzen Halse saß, das grobe Gesicht, welches, von einem graugesprenkelten Barte eingerahmt, noch voller aussah, als es war, und die zwei starr hervortretenden Augen gaben ihm auch äußerlich die Aehnlichkeit mit einem bösartigen Büffel, welche er indeß nicht minder in seinem Berufe an den Tag legte, denn er war ein geschworener Feind der Zähne, des Blutes und aller jener Leute, welche sich selbst rasirten.
„Höre, Grüneisen,“ sprach er nach kurzem Besinnen, „es ist doch nicht ganz so, daß man darüber gleich herfahren und den Stab brechen kann! Nein, nein, bei Gott nicht!“
Grüneisen verschluckte die Antwort, weil der Stegwirth soeben das Bier und den Kümmel brachte, aber Weißbart war nicht willens, das Gesprächsthema einschlafen zu lassen.
„Du strengst Dich aber an.“ sagte er zum Stegwirth, auf die Tüncharbeiten hindeutend. „Dein Wirthshaus wird jetzt ein nobles Gesicht kriegen! Sapperment! Du beschämst den Leonhard! Ich bin schon heute bei ihm vorübergegangen, aber sein Wohnhaus sieht noch immer so schmutzfarbig aus, wie wenn seine Hochzeit gar nicht vor der Thür wäre!“
„Es wird auch Nichts daraus!“ platzte der Stegwirth heraus. „Ich stehe gut dafür!“
„Was Teufel!“ rief Weißbart überrascht.
„Nichts wird es!“ wiederholte der Stegwirth.
„Geh,“ wunderte sich Weißbart. „Daß ich noch Nichts gehört haben sollte?“
„Der Stegwirth hat Recht,“ ergriff der Gerichtsdiener mit einer gewissen Prätension das Wort. „Das ist eine ausgemachte Sache. Balbina will nicht –“
„Könnte sein,“ rief der Maler von seinem Gerüste herunter, „daß sie auf den Veit noch wartet, aber da könnte ich eben so gut warten, daß mir die Zähne wieder nachwachsen, welche mir Herr Weißbart seit ein paar Jahren gerissen hat!“
„Versteht sich!“ rief der Stegwirth. „Vom Veit wird kein Stäubchen mehr da sein! Am nächsten Himmelfahrtstag werden es sechs Jahre sein, daß er verschwunden ist. Hätte man nicht schon eine Silbe über ihn gehört? Wo sollte er hingerathen sein?“
„Das denk’ ich auch!“ versetzte der Gerichtsdiener. „Wir haben ihm gleich Steckbriefe nachgeschickt, weil er ohne Wanderbuch davongelaufen ist, aber wenn wir es nicht gethan hätten, so wüßten wir eben so viel!“
„Drum mein’ ich das!“ sagte der Stegwirth entschieden. „Er ist verunglückt und in eine Felsscharte hineingefallen, wo ihn die Geier und Füchse gefressen haben.“
„Das ist nicht dumm!“ rief der Maler von oben herab. „Er war ein fideler, kreuzlustiger Kerl und hat die Balbina gern gesehen, wie sie ihn. Das ist weltbekannt. Er war in das Mädchen gerade vernarrt, das muß ich am besten wissen. Da läuft man nicht ohne Ursache davon und eine Ursache war nicht dagewesen!“
„Keine Spur davon!“ rief der Stegwirth.
„Sonderbar,“ sagte Weißbart verwundert. „Vor sechs Jahren, kurz vor Himmelfahrt, hab’ ich mich hier ansässig gemacht und so hab ich den Veit ein paar Mal nur noch gesehen. Ich erinnere mich an ihn und doch wieder nicht so recht, das weiß ich aber, daß er ein sehr schöner Kerl gewesen ist –“
„Wie der Leonhard,“ bestätigte der Stegwirth, „wenn nicht weit schöner, und müßte auch jetzt in seinem Alter, den Dreißig nahe, sein!“
„Ihr könnt glauben,“ hob der Chirurg wieder an, „daß ich seither mit keinem Gedanken auf ihn verfallen bin. Was geschieht mir aber, als ich einmal in diesem Frühjahr zu meinen Patienten nach Steinkirch in meinem Einspänner fahre? Auf halbem Wege begegnet mir ein zugedeckter Einspänner, der nach Burgsau hinfährt, und darin sitzt ein junger Franciscaner. Sobald ich den erblicke – es war freilich im Flug, mein Pferd ist gar scharf – kommt mir der Gedanke, wie wenn es in mich eingeschlagen hätte: Das ist der Veit!“
Die Augen von ganz Deutschland richten sich jetzt auf die alte Hansestadt an der Weser, wo in wenigen Wochen ein gut Theil von deutscher Männerkraft, und darunter sicher gar viele Leser der Gartenlaube, zum ernsten Spiele versammelt sein wird. Darum wird Jeder gern jetzt von dieser alten Weserstadt erzählen hören und erfahren, was dort vor Anderm seine Aufmerksamkeit verdient. Unter den mancherlei Sehenswürdigkeiten und historischen Denkmalen, die Bremen zu bieten hat, steht unstreitig der Bau oben an, dessen Inneres man vor einigen Jahren umzuschaffen begann und der nun nach Vollendung dieser Umgestaltung zum sogenannten „Gewerbehaus“ bestimmt worden ist.
Noch im vorigen Jahrhundert hatte fast jede irgend bedeutende Stadt ihre eigenen „Hochzeitshäuser“. Die Räume der Privatwohnungen waren damals noch zu eng und klein für den Kreis der Freunde und Verwandten, die bei den verschiedensten freudigen Gelegenheiten gern sich versammelten, bei Brautfesten und Taufen, wie an Gedenktagen mancher Art. Welches Haus eines gewöhnlichen Bürgers hätte früher wohl in einer einfachen norddeutschen Stadt alle die Männer und Frauen der Sippe fassen können, die oftmals geladen wurden, bei frohem Gelage, bei heiterem Tanz einige Stunden beisammen zu verleben? Kaum waren die Wohnungen einzelner Vornehmen für solche Zwecke geräumig genug; die Meisten mußten in’s städtische Hochzeitshaus gehen, wenn sie Feste feiern wollten, in’s Ballhaus, Kosthaus, oder wie die Namen sonst lauten. In diesen Gebäuden befanden sich die Säle für prangende Tafeln, für bunte Reigen, da genügte der Hausrath für das Bedürfniß Vieler, da gab es die erforderlichen Einrichtungen in Küche und Keller. Allein selten war in früheren haushälterischen Jahrhunderten ein Ort Norddeutschlands so üppig, blos zu diesem Zwecke einen Prachtbau zu errichten; das Hochzeitshaus diente in gewöhnlichen Zeiten noch anderer Bestimmung; meistens war es zugleich der Versammlungsort einer Gilde. So war es auch in Bremen. Diese Stadt besitzt ihr altes Hochzeitshaus – es ist eben das jetzige Gewerbehaus – in gewisser Weise noch heute, und das auf unserer Abbildung dargestellte Gemach ist der vorzüglichste Schmuck desselben.
Die Hansestadt an der Weser ist nicht so reich an altehrwürdigen Bauten, wie Mancher wohl erwarten mag; von mittelalterlicher Herrlichkeit finden sich nur wenige unscheinbare Spuren; dagegen sind in ihr noch etliche Zeugen von einer anderen Zeit bedeutenden Aufschwungs des städtischen Wesens erhalten, Denkmäler aus dem Beginn des siebzehnten Jahrhunderts, einer Epoche, in der Bremen zur freien Reichsstadt sich erhob; Schöpfungen norddeutschen Renaissancestyls, die einen eigenthümlichen Reiz besitzen. Zu den Bauwerken dieser Art gehört jenes Bremische Hochzeitshaus. Das Gebäude ward wenige Jahre nach der Vollendung des am Rathhause vorgenommenen Umbaus von der Tuchhändlerinnung erbaut, der vornehmsten unter den nicht kaufmännischen Genossenschaften der Stadt. Angeregt durch jenen Bau, wollten die Gewandschneider 1619 ein Amtshaus errichten, welches an Pracht das Kaufmannsgildehaus weit überstrahlte, den „Schütting“, der dem Rathhause gegenüber lag, als wollten seine Besitzer, die „Elterleute des gemeinen Kaufmanns“, den Herren des Rathes den Rang streitig machen. Freilich konnten die Gewandschneider am Markte keine Baustätte finden: allein dicht bei dem „Hause Seefahrt“, dessen Bestimmung der Name schon angiebt,
[437][438] bot sich ihnen ein würdiger Platz, der Kirche des Ansgarius gegenüber. Dort bauten sie 1619–1621 das stattliche Haus mit den beiden hohen Giebeln, das noch heute steht, wie eine alte Gedenktafel sagt; „dem Vaterland zu Ehren, die Nachkommen zu lehren“. Die Zeit der Blüthe des norddeutschen Tuchhandels war jedoch dahin, der Bau war für das Amtshaus zu prächtig, und so war der Plan gefaßt, dasselbe zugleich als Hochzeitshaus zu benutzen. Die Gewandschneider konnten mit dem stolzen Gebäude prunken und zugleich aus seinen Räumen den ihrer Casse erwünschten Verdienst ziehen; eine Verordnung des Raths befahl, daß in ihnen allein die „Braut- und Kindtage“ abzuhalten seien, Das Haus war auch ausgestattet; wie es sich für Feste ziemt; unter seinen Gemälden verdient ein Bild von dem namhaften Maler Franz Wulfhagen Erwähnung, die Hochzeit zu Kana darstellend, den in allen Hochzeitshäusern üblichen Gegenstand.
Lange erfreute sich die Tuchhändlerinnung ihres Bauwerkes nicht, 1685 mußte sie dasselbe an das Krameramt verkaufen; allein das Gebäude behielt seine alte Bestimmung. Mancherlei Privatfeste wurden in seinen Räumen gefeiert; im Laufe der Zeit kamen andere Geselligkeiten hinzu. Versammlungen zu wissenschaftlichen Zwecken, Schaustellungen der verschiedensten Art, Theateraufführungen und Concertvorträge, Wachsfigurencabinete und Taschenspielerproductionen riefen Manchen in’s Amtshaus der Kramer. Obwohl die Sitte dann mehr und mehr abkam, in ihm Hochzeiten und ähnliche Familienfeste zu feiern; obwohl das reiche Silbergeschirr der alten Zeit veräußert wurde: bewahrte das Krameramthaus im vorigen und selbst noch in diesem Jahrhundert noch alle die Eigenthümlichkeiten des alten Hochzeithauses, die mit dem neuen Wesen, den modernen Verhältnissen in Einklang zu bringen waren; es blieb ein städtisches Gesellschaftshaus eigenthümlicher Art.
Diesen Charakter bewahrt das Gebäude auch jetzt noch, obwohl es in jüngster Zeit in die Hände des Staates kam und zum Mittelpunkte der gewerblichen Interessen Bremens, zum Sitz der Gewerbekammer und des Gewerbeconvents gemacht wurde. Wohl eignete sich das stattliche Amthaus, das aus der zünftigen Zeit der Stadt in die moderne Periode der Gewerbefreiheit sich hinübergerettet hatte, zum „Gewerbehause“; aber man vergaß nicht, daß es auch „Hochzeitshaus“ gewesen war. Als 1861 der verdienstvolle Architect S. Loschen den im Innern vorzunehmenden Umbau leitete, ward in sehr glücklicher Weise die doppelte Bestimmung des Bauwerkes zur Geltung gebracht, das neue „Gewerbehaus“ blieb den geselligen Zwecken erhalten, denen sein Bau von Anbeginn gedient hatte. Freilich werden seine Räume wohl schwerlich jemals für Privat- und Familienfeste benutzt werden; freilich werden von ihnen Schaustellungen fern gehalten bleiben, die in Marktbuden und Trinkstuben gehören, aber seit ihrem kurzen Bestehen sind sie schon oftmals zu großen Ausstellungen, zu Vorlesungen, zu berathenden Versammlungen aller Art benutzt, hat schon manche Festtafel an der Stätte gestanden, wo die Hochzeitstische in früherer Zeit sich befanden.
Das Gewerbehaus in Bremen umschließt nicht blos die Räume für die zur Förderung von Industrie und Gewerbe bestehenden Staatskörperschaften und freien Vereine; es enthält nicht blos die Gewerbebibliothek und die Zeichenschule für Handwerker: die ganze Einrichtung seines Innern zeigt vielmehr, daß das öffentliche Gebäude noch den weiteren Zweck eines allgemeinen Gesellschaftshauses hat. Treten wir durch das alte Portal in den unteren Raum, so schauen von den Wänden die lebensgroßen Portraits Bremischer Rathsherrn auf den Besucher herab, ernste, würdige, kraftvolle Gestalten. Dem Kreise der Vertreter Bremischer Geschichte wird man beim Besteigen der breiten Treppe entrückt; hier schmücken Symbole der Künste die Seiten, unter ihnen das große Bauhüttenwappen, das auf Kaiser Maximilian zurückgeführt wird. Ein breiter lebensvoller Fries zeigt dann im oberen Treppenhause das Leben, das dem Handwerksmanne in jener Zeit deutschen Bürgerthums blühte, wo das Handwerk die Hauptstütze städtischen Wesens war. Zur Linken öffnet sich hier die Thür des großen Saales, auf dessen Längswänden in breitem Friese die Entwicklung des menschlichen Geistes in energischen charakteristischen Zügen dargestellt ist; der Treppe gegenüber befindet sich der Saal, den unsere Abbildung darstellt, wohl der gelungenste Theil im Inneren des Baues, ein Werk aus einem Guß, im Großen, wie im Einzelnen mit feinem Tacte ausgeführt, eine der vollendetsten Schöpfungen der modernen Gothischen Schule. Sein Schmuck hat dem Zimmer den Namen des „Kaisersaales“ gegeben; auf der Decke zeigt sich der deutsche Reichsadler mit den städtischen Wappenzeichen auf der Brust; die Schilde der deutschen Staaten rahmen die Decke ein und oben an den Wänden prangen die Brustbilder der deutschen Kaiser.
In der Ausschmückung dieses Zimmers, wie des ganzen Gewerbehauses offenbart sich deutlich, welche Fortschritte der Geschmack unserer Zeit gemacht hat. Was hätten die Männer, die das Hochzeitshaus zu Bremen bauten, wohl gesagt, wenn ihnen in dieser Weise ein Zimmer decorirt wäre? Sie hätten für einen Rathhaussaal, für den Saal eines fürstlichen Schlosses solchen Schmuck vielleicht geeignet gefunden, nicht aber für ein Zimmer, in dem heut Diese, morgen Jene sich versammeln, bald zu ernster Verhandlung, bald zu festlichem Vereine. Unserer Zeit ist es eigen; daß die Kunst ihren veredelnden Einfluß, wo immer sie thätig wird, geltend zu machen sucht; sie strebt überall die ideale Seite des Lebens uns vor die Augen zu führen, und sicher ist der künstlerische Schmuck des Gewerbehauses ein Zeichen, daß Bremen nicht aufgeht in Handel, Geschäft und Materialismus.
Noch war es nicht heller Tag; die Sonnenscheibe berührte allerdings schon den Horizont, aber im Walde selber lag noch Dämmerung, wenn sich die nächsten Gegenstände auch deutlich erkennen ließen. Jedenfalls hatten die Moderatoren schon, was man „Büchsenlicht“ nennt; es war so hell, daß der Jäger das Korn an seiner Büchse im Visier unterscheiden kann, allein die Gestalt schien keine Ahnung der nahen Feinde zu haben, die mit ihren waldfarbenen Jagdhemden auch allerdings in Nichts von dem sie umgebenden Dickicht abstachen. Jetzt war sie auf kaum zehn Schritt herangekommen und erkannte den Pfad, als Jenkins plötzlich mit erstaunter, aber vorsichtig gedämpfter Stimme rief: „Nelly!“
Die Flüchtige stutzte und erschrak, einen Moment stand sie wie unschlüssig, wohin sie sich wenden sollte, doch im nächsten erkannte sie ihren alten Herrn, stürzte mit einem Freudenschrei auf ihn zu, warf sich vor ihm nieder und umklammerte seine Kniee.
Und wie sah die Unglückliche aus! Ihr Antlitz war aschfahl geworden, die dünnen Kleider hingen ihr, von dem Rohr zerrissen, nur noch in Streifen um die Glieder, und scheu und entsetzt flog ihr Blick zurück, als ob sie die Verfolger noch immer auf ihren Fährten fürchte.
Des alten Jenkins Frage brachte sie aber bald wieder zu sich selber. „Wo sind sie?“ flüsterte er leise.
„Dort,“ sagte das Mädchen und zeigte entsetzt mit dem Arm zurück.
„Wieweit?“
„Gar nicht weit mehr, dicht am Fluß.“
„Wie viel?“
„Elf Mann, zwei wurden heute Nacht fortgeschickt, um Master Joe’s Canoes zu holen, sind aber noch nicht zurück.“
„Haben sie kein Canoe im Fluß?“
„Ich habe keins gesehen, aber ein Floß haben sie gebaut und die Pferde heute Morgen hinaufgeschafft, und fünf Neger sind auf dem Floß. Sie wollen fort, sie warten nur auf die Canoes.“
„Aber in der Slew ist ein Canoe?“
„Ja, aber ein kleines, das nur zwei Mann tragen kann. Sie haben es vorhin in den Fluß hinüber geschleppt.“
[439] Der alte Jenkins warf, während sich der kleine Trupp schweigend und gespannt um ihn schaarte, den Blick umher. Mit jenem Instinct, der allen diesen Leuten eigen ist, die ihre Lebenszeit im Wald verbracht, hatte er sich jetzt in dem ihm fremden Terrain zurecht gefunden. Er hob die Hand, um den Zug des Windes zu fühlen, derselbe kam genau von Osten und trieb in den Bruch schräg hinein[WS 1] und nach dem Fluß zu.
„Schlag einer von Euch Feuer; rasch, wir dürfen keine Zeit versäumen!“
Im Nu hatten Zwei ihren Stahl und Schwamm herausgeholt.
„Ihr Anderen sammelt trockenes Rohr – da hinein beginnt der alte Rohrbrand; wenn wir den Haufen dort zur Flamme bringen, läuft die Gluth in wenigen Minuten auf dieser Seite hin.“
„Aber dann jagen wir’s Ashley gerade entgegen,“ warf einer der Leute ein.
„So rasch geht es nicht,“ sagte Jenkins, „und der hat immer den Pfad zurück und kann im schlimmsten Fall die Slew zwischen sich und das Feuer bringen – brennt es noch nicht?“
Sip hatte am schnellsten Feuer bekommen, und aus einem hohlen Baum trockenes, dort hineingewehtes Laub raffend, that er den Schwamm dazwischen, schwenkte es durch die Luft und blies es bald zur hellen Flamme an.
„So – dort hinein – der Wind weht vortrefflich. Wenn das Feuer in Gang kommt, machen wir den oberen Pfad unpassirbar, auf dem anderen müssen sie uns dann in die Büchse laufen.“
Es bedurfte für diese Männer keiner weiteren Anordnung. Im Nu hatten sie begriffen, was ihr Führer bezweckte, und der hier beginnende alte Rohrbrand, durch den das noch stehen gebliebene Rohr abgestorben und trocken geworden, kam ihnen dabei wacker zu Hülfe. Rasch hatte auch Jeder von ihnen eine kleine Fackel aus trockenen Rohrstücken gemacht und entzündet; mit denen vertheilten sie sich, und kaum zehn Minuten später schlug die Flamme züngelnd empor und verwandelte sich mit fabelhafter Schnelle in eine Feuersäule, die querüber nach dem Fluß zu fraß und ein Durchdringen derselben, da man in dem zusammengebrochenen Rohr nicht rasch vorwärts konnte, zur Unmöglichkeit oder doch äußerst gefährlich machte.
Jenkins’ Augen leuchteten von wilder Freude, als er den Erfolg sah, den sein neuer Angriffsplan hatte. Aber er hielt sich nicht lange auf, die Wirkung ihrer List zu betrachten.
„Du gehst hier am Wasser hinauf,“ rief er Nelly zu, „und hältst Dich dort irgendwo im Dickicht versteckt, bis wir Dich abrufen, und nun vorwärts, Jungen, mir nach, jetzt haben wir die Hunde!“
John Jenkins war vierundsechzig Jahr alt, aber keiner der jungen Leute die ihm heute folgten, wäre im Stande gewesen ihm voraus zu kommen, so wild und kampfesmuthig und so jugendfrisch in dem Gefühl seiner Rache warf er sich der Gefahr entgegen.
Indessen waren aber auch die anderen beiden Abtheilungen nicht lässig in Erfüllung der ihnen anvertrauten Posten gewesen; Billins besonders war mit seinen beiden Piroguen scharf stromab gerudert, um jene Stelle zu erreichen, von der aus sie die Mündungen der Bayous beobachten konnten.
Der Platz erwies sich auch dazu ganz vortrefflich und Billins selber glitt, seine Canoes zurücklassend, über die schmale, dicht mit Schilf und Cottonwoodschößlingen bewachsene Landzunge hinüber, um zu beobachten, was da drüben vorging. Der Tag brach mit Macht an, die Vögel im Wald wurden lebendig, und große Ketten Wildenten und Gänse strichen über den Strom schwirrend dahin, ihre Aeßungsplätze aufzusuchen. Schon aber verloren die Wolken ihren rosigen Schein, die Sonnenscheibe blitzte durch die gegenüberliegenden Wipfel der Bäume, und noch immer lag die Wildniß still und ruhig – nur dort drüben – über der Bayou, hob sich ein dicker schwarzer Rauch empor, der konnte doch nicht vom Lagerfeuer der Verbrecher herrühren, die sich ihr Frühstück kochten, nein – er wurde breiter und mächtiger – das war ein Schilfbrand, der seinen schwarzen Qualm jetzt über den Bruch wälzte. Hatte da Jenkins gearbeitet, oder die Regulatorenbande vielleicht selber den Wald entzündet, um ihre Flucht in dem Rauch zu verbergen? Nicht lange jedoch sollte ihm Zeit zum Ueberlegen bleiben, denn jetzt plötzlich glitt ein kleines Canoe, aber nur von einem Manne gerudert, aus der Mündung der Bayou heraus. Wollte er fliehen? Nein, er hielt nur etwa zehn oder zwölf Schritt in den Strom hinaus, als ob er dagegenarbeiten wollte, er sah sich vielleicht um, ob die erwarteten Canoes noch nicht in Sicht kämen, konnte sich aber nicht gegen die Strömung halten und mußte aus Leibeskräften arbeiten, um nur wieder stilleres Wasser zu erreichen.
Billins wußte jetzt nicht, was er thun sollte. Vorbrechen und sich vor die Mündung legen? aber dann blieb er im offenen Wasser den Schurken mit ihren Büchsen vollständig preisgegeben, die aus ihrem Versteck heraus seine Leute einzeln wegblasen konnten, ohne daß er nur einen Hutrand von ihnen zu sehen bekam. Das ging auf keinen Fall. Und noch keine Zeichen weiteren Lebens, als der immer stärker und schwärzer emporqualmende Rauch. Ha! da fiel ein Schuß! der mußte von Ashley’s Partei gefeuert sein – oder war es ein Signal? Und jetzt regte sich Etwas drinnen im Schilf und rückte mehr und mehr heraus. Das Canoe kam wieder zum Vorschein, allein diesmal langsam – wahrhaftig, eine Leine zog es hinter sich her, zwei Männer saßen jetzt darin und sie ruderten aus Leibeskräften, aber sie zogen ein großes Floß hinter sich, auf dem eine Anzahl Pferde festzusammengekoppelt standen und Menschen darauf; Neger ruderten es und halfen dem vorgespannten Canoe.
Billins sah nicht mehr; wie eine Schlange glitt er durch das Gebüsch zurück und in seine Pirogue hinein.
„Fort!“ rief er, „sie fliehen! Jetzt haben wir die Canaillen!“ und im nächsten Augenblick schon stießen beide Fahrzeuge vom Ufer ab und schossen in den Strom hinaus. Im Anfang schienen sie auch von denen an Bord des Flosses nicht bemerkt zu sein, denn die hatten mit dessen Führung zu viel zu thun, um es frei in den Strom zu bekommen, daß es nicht unterhalb auf die dort angeschwemmten und eingestürzten Baume trieb. Das war auch wirklich kein leichtes Stück Arbeit, denn in dem Fall wäre es rettungslos verloren gewesen, ja, die Menschen hätten in der gurgelnden Fluth kaum selber zurück an Land kommen können. Alle arbeiteten denn auch mit gutem Willen, und es gelang ihnen, die gefährlichste Stelle zu passiren. Erst einmal von der wirklichen Strömung erfaßt und im offenen Wasser, brauchten sie Nichts mehr zu fürchten. Kaum aber hatten sie das eigentliche Fahrwasser des Stromes erreicht, das sie mit wilder Schnelle an den bisher so ängstlich gemiedenen eingebrochenen Baumwipfeln und ihren Wirbeln vorüberführte, als ein Schrei vom Bord aus die Aufmerksamkeit Aller nach außen lenkte, und jetzt erst entdeckten sie die beiden Piroguen, die mit der Strömung, und von den kräftigen Armen der Neger gerudert, rasch ihnen näher rückten.
Billins erkannte jetzt, daß sich auch zwei Weiße an Bord des Flosses befänden, als diese ihn nicht lange über ihre Absicht in Zweifel ließen, denn im Nu wurde der scharfe Blitz einer Büchse sichtbar, und die Kugel riß, in demselben Moment fast, einem der Männer den Hut vom Kopf.
„Alle Teufel, jetzt wird’s Ernst,“ lachte Billins, „aber ich denke, wir können ihnen da an Bord alle Hände voll zu thun geben,“ und ohne ein Wort weiter zu sagen, hob er seine eigene Waffe und feuerte auf die ihm nächste Gestalt, die eben ihre Büchse wieder lud und gerade vor den Pferden stand.
Ob die Kugel den Menschen getroffen, konnten sie nicht gleich erkennen, aber eins der Pferde bäumte hoch auf und brachte dadurch die anderen mit in Verwirrung. Sie drängten gegeneinander und fingen an auszuschlagen, das Floß schwankte und an ein ruhiges Zielen von dort her war nicht mehr zu denken.
Die Leute in den Piroguen sahen, wie ein paar von den Negern, um nicht von den Pferden getroffen zu werden, in’s Wasser sprangen und sich an dem Floß anklammerten, und das Canoe, das sich bis jetzt an dessen Seite gehalten, verschwand plötzlich dahinter, vielleicht nur um aus dem Bereich der Büchsen zu kommen. Billins ließ sich aber nicht auf Möglichkeiten ein.
„Die beiden Burschen im Canoe,“ rief er der anderen Pirogue zu, „geben Fersengeld; macht, daß Ihr dahinter herkommt. Wenn sie nicht gutwillig halten, schießt sie zusammen, ich nehme indessen das Floß.“
Die Pirogue beschrieb einen kleinen Bogen, um in Sicht der Flüchtigen zu gelangen, und die Leute legten sich aus allen Kräften in die Ruder. Billins selber war indeß dem Floß auf kaum fünfzig Schritt nahe gerückt. Die Neger suchten sich noch immer [440] vor den Pferden zu schützen, und der eine Weiße zielte mit seiner Büchse herüber, war aber nicht im Stand sich ruhig zu halten. Billins stand in der Pirogue und lud, jetzt hatte er die Kugel aufgestoßen, schüttete Pulver auf die Pfanne und hob die Büchse wieder. Der eine Weiße lehnte auf dem Rand des Flosses; er mußte von der Kugel getroffen sein. Der Andere drückte ab, aber es war nicht möglich gewesen ordentlich zu zielen, die Kugel zischte weit ab in’s Blaue und seine Waffe auf die Balken werfend, sprang er jetzt in die rothe Fluth hinein und tauchte unter. Es war der letzte Act der Verzweiflung gewesen; als er zwanzig Schritt davon wieder, von dem langen Anhalten des Athems halb betäubt, an die Oberfläche kam, war die erste Pirogue dicht neben ihm – noch einmal tauchte er – umsonst; er konnte es nicht mehr lange unter Wasser aushalten. Als er wieder nach oben kam, schoß das Fahrzeug neben ihm hin, und der eine Neger, der vorn am Ruder saß, erfaßte ihn gerade bei den langen Haaren, als er noch einmal untertauchen wollte.
Das Floß trieb indessen mit der Strömung den Fluß hinab, denn die Neger zeigten nicht die geringste Lust es zu regieren, während das Canoe von der zweiten Pirogue verfolgt wurde. Leicht hätte es hier noch an das rechte Ufer zurückgekonnt, aber theils war die Uferbank zu schroff, theils lagen dort eine Masse eingestürzter Stämme, zwischen die es sich nicht hineinwagen durfte. Es konnte den Moderatoren nicht mehr entgehen.
Ashley war indessen auf dem schmalen Pfad, der durch den Bruch führte, rüstig vorgerückt. Er selber kannte ja auch das Terrain besser als irgend ein Anderer und wußte genau, wo sich die Verbrecher halten konnten, wenn sie überhaupt in diesem Dickicht staken. Außerdem war auf dieser Seite auch das Unterholz nicht so dicht wie dort, von woher Jenkins vordrang, und wie der Tag dämmerte, konnte er zwanzig bis fünfundzwanzig Schritt rechts und links von seinem Pfad recht gut übersehen. Plötzlich hielt er an.
„Was das nur für ein scharfer Geruch von Rauch ist!“ sagte er leise zu dem ihm folgenden Cameraden. „Sollte mich gar nicht wundern, wenn die Schufte schon in dieser Nacht durchgebrannt wären und nun die alte Shanty und das benachbarte Holz angezündet hätten, um jede Spur ihres Aufenthaltes zu verwischen.“
„Wo liegt denn die Shanty?“
„Der Platz muß gleich dort drüben sein; kaum noch dreihundert Schritt von hier, soweit ich mich erinnere.“
„Aber der Rauch kommt von dort her,“ sagte der Mann, „seht Ihr? jetzt könnt Ihr ihn sogar durch die Wipfel erkennen.“
„Alle Wetter!“ rief Ashley erschreckt, „dann hat Jenkins den trockenen Bruch angezündet, und wenn sich der Wind nur um einen Strich dreht, kommen wir in Teufels Küche.“
„Er will sie hinaus räuchern.“
„Ja, und uns mit – jetzt dürfen wir am Ende gar nicht weiter vor, bis wir nicht wenigstens wissen, wie das Feuer läuft.“
„Ach was,“ sagte der hinter ihm Gehende, „gleich rechts in die Gründornflat dringt das Feuer nicht so leicht, und so weit ist’s auch gar nicht zurück bis zu der Slew. Der Henker weiß nur, nach welcher Seite sie jetzt ausbrechen werden.“
„Dort kommt Einer!“ flüsterte Ashley, „fort mit Euch!“ und noch während er sprach, drückte er sich hinter den nächsten Stamm, während die Uebrigen entweder, wo sie standen, niederkauerten, oder sich auch hinter die nächsten Büsche duckten. Die Gestalt des Mannes kam indeß in flüchtigem Lauf, eine Büchse in der Hand, den Pfad entlang, und wie er scheu den Blick nach rechts und links warf, sah er die vor ihm liegende Gefahr nicht. Auf kaum zehn Schritte war er auch herangekommen, als Ashley, sein Gewehr im Anschlag, auf ihn einsprang.
„Steh’, Hund, oder ich schieße Dich nieder!“
Einen Angstschrei stieß der Ueberlistete aus und unwillkürlich sein eigenes Gewehr emporreißend, spannte er den Hahn, aber ehe er nur die Büchse an den Backen heben, ja nur die Mündung richten konnte, berührte Ashley’s Finger den Stecher und durch den Kopf geschossen brach er zusammen.
Jetzt aber war der alte Mann auch warm geworden. Daß die Verbrecher gewarnt sein mußten, lag hier zu deutlich auf der Hand; Billins hatte ihnen auch jedenfalls den Weg zu Wasser abgeschnitten, sonst würde es dieser da wahrlich nicht versucht haben, mitten durch seine Feinde zu entkommen. Ashley nahm sich deshalb kaum Zeit, nur wieder zu laden, und mit dem Ruf: „Drauf, Cameraden, drauf!“ stürmte er dann den Pfad entlang.
Jetzt knatterten auch dort drüben Gewehre, aber es blieben nur vereinzelte Schüsse; die umzingelten Räuber hatten sich zerstreut und es kam nur darauf an, ob sie das entzündete Feuer ihnen entgegen zwang.
Ashley schien in seiner Voraussetzung das Richtige getroffen zu haben. Der von dem Floß – das den Raub in Sicherheit bringen sollte – gefeuerte Schuß warnte die Verbrecher zuerst vor der drohenden Gefahr, die sie aber noch immer nicht so nahe glaubten. Da trieb die Strömung ihnen die beiden Piroguen in Sicht und zu gleicher Zeit mahnte sie der wachsende Qualm des Feuers, daß auch dort ein Feind auf sie lauern könne. „Rette sich, wer kann,“ war jetzt die einzige Losung, denn ihr Führer, der sich auf dem Floß mit eingeschifft, fehlte, und einzeln hofften sie auch viel leichter zu entkommen, als in geschlossenem Trupp mit überdies jetzt zusammengeschmolzener Zahl. Zwei waren auf dem Floß, zwei im Canoe, zwei nach den beiden Piroguen ausgesandt gewesen, um diese herbeizuholen; was konnten die übrigen sieben gegen eine überlegene Zahl der Ansiedler ausrichten? und in den Schilfbruch hinein stoben sie nach allen Seiten.
Der alte Jenkins hatte jedoch recht gut gewußt, sie würden dem Feuer nicht entgegenfliehen, das sie leicht in einem Dickicht und in dornigen Schlingpflanzen überraschen konnte. Deshalb suchte er auch, sobald er nur den ersten Schuß hörte, in vollem Lauf den südlichen Theil des Bruches zu gewinnen und ihnen den offenen Wald abzuschneiden. Da kroch es und prasselte es im Dickicht und vier wilde, verstörte Gestalten setzten hindurch; aber wie konnten sie vor sich sehen, wenn sie zugleich Gesicht und Augen gegen die schlagenden Schilfruthen schützen mußten? erwarteten sie doch auch hier noch keinen Feind. Da stürmte es von allen Seiten auf sie ein; sie wollten ihre Waffen gebrauchen, aber in dem Gewirr von Zweigen und Ranken war es nicht möglich; zwei flohen, der Eine rechts, der Andere links, und Kugeln pfiffen hinter ihnen her; die andern Beiden stutzten, zurück konnten sie nicht, also vorwärts; die Feinde waren ebensowenig im Stande, sicher zu zielen, wie sie selber, und wie gehetzte Bären setzten sie durch den Busch. Umsonst, wie die Meute hinter dem Bär, so sprangen die Verfolger auf sie ein.
„Netley!“ kreischte Jenkins und flog nach vorn; eine Dornenranke riß ihm die Büchse aus der Hand, er fühlte es gar nicht; ein Baumstamm lag im Weg, wie ein Hirsch setzte der alte Mann darüber hin. Der Verbrecher hörte die Schritte dicht hinter sich, er wandte den Kopf und erkannte den, den er gepeitscht – seinen schlimmsten Feind. Fliehen konnte er nicht mehr, die Füße versagten ihm den Dienst; auf dem Absatz drehte er sich um und hob sein Gewehr; Jenkins sah es gar nicht, sein Messer aus der Scheide reißend, flog er gegen ihn an, und wenn in diesem Augenblicke des Verbrechers Büchse gefeuert hätte, wäre es um den alten Mann geschehen gewesen; doch todt schlug der Hahn gegen den Pfannendeckel, ein Schilfblatt hatte sich auf der Flucht dazwischengeklemmt und den Stein gefeuchtet; im nächsten Moment lag ihm Jenkins’ Hand an der Kehle und Beide wanden sich in tödtlichem Ringkampf am Boden.
Das aber dauerte nicht lange; eine Kugel der Moderatoren hatte den Zweiten erreicht, daß er in den Wald taumelte und keinen Widerstand mehr leistete. Sip, der seinem Herrn dicht gefolgt war, sprang ihm jetzt zu Hülfe und holte schon mit seinem Beile aus, um den Schädel des Buben zu spalten, als Jenkins’ Blick ihn traf.
„Halt, Sip, lebendig!“ schrie er, und der Neger, seine Waffe von sich schleudernd, umschlang den Räuber mit den Armen und hielt ihn dort wie in einem Schraubstock, bis die übrigen Moderatoren zur Hülfe herbeikamen.
Hie und da fielen jetzt noch vereinzelte Schüsse, aber der eigentliche Kampf war beendet, und wenn sich die Männer auch, nachdem sie den Gebundenen unter Sip’s Wacht zurückgelassen, auf dem Pfade vertheilten, um noch vereinzelte Flüchtige abzufassen, kam doch keiner mehr auf dieser Seite in Sicht.
Allein der Wind drehte sich und schlug mehr vom Fluß herein, und nicht lange, so konnten sie schon den Schilfbruch brennen hören, wie die Knoten des Rohrs, wenn sie das Feuer ergriff, von der Hitze mit einem Knall, wie fast ein Pistolenschuß, zersprangen. Dies drohende Knattern kam in der That immer näher, [441] und es galt jetzt, sich vor dem heranwälzenden Feuer zurückzuziehen. Sip wurde indeß der Richtung zugesandt, in der sie Nelly wußten, um diese zu rufen und zum Haus zu bringen, während die Moderatoren mit ihren beiden Gefangenen, denn der Getroffene lebte ebenfalls noch, langsam nach Süden hinunter, der Grenze des Schilfbruches zurückten. An dieser hinauf zogen sie sich dann langsam Joe’s Ferry zu, die als Sammelplatz nach beendigtem Kampf bestimmt worden war.
Mit Ashley’s Schaar trafen die Männer dort zusammen, und laut jubelnd grüßten sich die Sieger, aber Abend wurde es fast, bis Billins mit den Seinen und mit den erbeuteten Pferden und Negern zu ihnen stoßen konnte. Er hatte ja nahe an fünf englische Meilen den Strom mit dem Floß hinabtreiben müssen, ehe er wieder eine menschliche Wohnung und einen Landungsplatz am Ufer antraf. Den Negern, denen er für jede Pirogue einen der befreiten Schwarzen beigab, überließ er es dann, die beiden Fahrzeuge wieder stromauf zu schaffen, und die armen Teufel hatten harte Arbeit genug damit und kehrten auch erst am nächsten Tage zu der Fähre zurück, während er selber mit den Seinen und den übrigen Negern die vier Gefangenen und die Pferde transportirte.
Einer der „Regulatoren“ war allerdings durch den Leib geschossen und zum Gehen zu schwach, aber wenig Umstände genug wurden mit ihm gemacht. Man band ihn auf ein Pferd, das Billins selber an die Leine nahm, und wie sie nur erst einmal die unmittelbare Nähe des Stroms hinter sich hatten und aus der Niederung heraus waren, ging es in einem scharfen Trab dem Sammelplatze zu, wo jetzt Gericht gehalten werden sollte.
Gericht? es bedurfte dessen fast nicht. Der Bube, den die eine Pirogue aus dem Strom aufgefischt, war der Führer jener nämlichen Schaar, die Jenkins’ Hütte überfallen, auch der Verwundete gehörte dazu, der mit Netley hatte fliehen wollen. Die Beiden im Canoe waren dieselben, welche Ashley an jenem Tage mit an dem Baumast festgebunden; alle die gefundenen Pferde gehörten außerdem in die Ansiedlung, ebenso die Neger. Bedurfte es da eines weiteren Verhörs, weiterer Umstände?
Keiner der Gefangenen verlor auch ein Wort, das ihnen jetzt drohende Verhängniß abzuwenden, nur Netley warf sich in feiger Todesfurcht vor seine Richter auf die Kniee und flehte um sein Leben. Er hätte ebensogut den Himmel anflehen können, über ihm zusammenzustürzen.
Acht von den „Regulatoren“, mit den beiden, die Joe in Bewachung gehabt und unter denen sich Boyd mit dem einen Ohr befand, waren gefangen genommen, drei auf der Flucht getödtet worden, zwei nur entkommen oder wenigstens für jetzt in den Wald geflohen, und die Moderatoren saßen zum ersten Mal furchtbar zu Gericht.
„Was haben die Buben verdient,“ schrie Jenkins mit heiserer Stimme, „die Raub und Mord in unsere friedlichen Wohnungen getragen?“
„Den Tod!“ lautete die einstimmige dumpfe Antwort, und kaum fünfzehn Minuten später hingen die Verbrecher draußen im Wald an den breiten Aesten eines Maulbeerbaumes, ein furchtbar leckeres Mahl für Raben und Geier. Da Joe aber erklärte, daß er es in der Nachbarschaft nicht aushalten könne und seine Frau die nächste Nacht jedenfalls aus Furcht und Entsetzen kein Auge schließen würde, wenn die acht Leichen da kaum hundert Schritt von seinem Haus entfernt an den Zweigen hingen, schnitten sie die jungen Leute noch gegen Abend ab und warfen die Leichname in den Strom.
Von der Zeit an hatte die Ansiedlung am Red River Ruhe und kein Regulatorenbund wagte mehr, sein Haupt zu erheben. Zwei von der Bande waren allerdings entkommen, und trotzdem, daß am nächsten Morgen sämmtliche Backwoodsmen den Wald durchstreiften und sie aufzufinden suchten, liefen sie keinem von diesen in den Weg. Aber die Gegend war ihnen auch zu warm geworden und nur vereinzelt trieben sie sich Jahre lang in den westlichen Staaten herum, bis endlich im Jahre 1848 der Goldreichthum Californiens entdeckt wurde. Das befreite Texas mit einem Schlage von all dem gesetzlosen Volk, denn diese Burschen wußten sich sämmtlich Geld zur Ueberfahrt zu verschaffen, und der noch junge Staat konnte von da an ruhig seiner Entwickelung entgegengehen.
Das achtzehnte Jahrhundert beugte fast überall in Deutschland die Adelsmacht und den Adelsübermuth. Nur in Mecklenburg geschah dieses nicht, im Gegentheil ging die dortige Ritterschaft aus allen Kämpfen, die sich zwischen ihr und der fürstlichen Gewalt entsponnen hatten, als vollständige Siegerin, mit vielfach vermehrten und neuverbrieften Privilegien, hervor. Diese Privilegien sind denn auch bis auf den heutigen Tag conservirt worden, und die Ausnahmestellung, welche der mecklenburgische Adel dadurch vor seinen Standesgenossen in allen übrigen Culturländern einnimmt, hat es zu einer natürlichen Folge gehabt, daß seine Ansichten über staatliche und andere menschliche Verhältnisse und demnach auch seine Handlungen oft seltsam von denjenigen abweichen, welche anderswo gebräuchlich sind. Die nachfolgende, kaum glaubliche und doch buchstäblich wahre Geschichte wird dies darthun.
Mecklenburg, durchweg sehr schwach bevölkert, ist es am schwächsten in seinem südöstlichen, an die Mark grenzenden Theile. Hier finden sich zwischen zahlreichen, mannigfach verschlungenen Landseen meistens nur sandige Aecker, große Waldungen, morastige Brüche und ausgedehnte Wiesenflächen. In den hier belegenen ritterschaftlichen Aemtern Lübz, Slan und Wredenhagen wohnen auf der Quadratmeile kaum eintausend Menschen.
Die einzelnen Güter sind groß und oft befinden sich mehrere zusammengrenzende in den Händen eines Besitzers. Die Bauern, welche ehedem zahlreich darin wohnten, sind bis auf einige wenige, die zu Kossathen abgemindert und meistens in die abgelegensten und unfruchtbarsten Flecke der Feldmark ausgebaut sind, während der letzten achtzig Jahre von den Gutsherren abgeschlachtet worden und auf den Aeckern, welche sie ehemals inne hatten, sind neue Gutshöfe entstanden. So ist denn in den meisten Gütern der sämmtliche, in den übrigen aber fast aller Grund und Boden ein directes Eigenthum des Gutsherrn, und ebenso sind auch alle im Gute wohnenden Menschen, mit Ausnahme von Predigern und Küstern, vollständig abhängig von ihm, ihm zur täglichen Arbeit verpflichtet, seiner Polizeigewalt und seinem Patrimonialgericht unterworfen.
Domanialbesitzungen finden sich in dieser Gegend nur wenige. Größere Städte fehlen gänzlich und auch die kleineren sind dünner gesäet, als in den übrigen Landestheilen. Die Städte, obschon keine derselben sich jetzt noch unter adliger Herrschaft oder Gerichtsbarkeit befindet, sind doch mehr oder minder abhängig von einem oder einigen der umwohnenden Herren: Malchow von den Flotows, Röbel von dem Grafen Blücher-Finken und dem Baron von Langermann, Mirow von dem Baron von Hammerstein-Retzow und dem Herrn von Arenstorff-Krümmel, Wesenberg von dem Herrn von Voß-Ahrensberg. Denn da die genannten Herren die bedeutendsten Güterbesitzer im Umkreis der betreffenden Städte sind und diese ihre körperliche Nahrung meist aus jenen entnehmen müssen, so haben die Gutsherren das Wohl und Wehe jener Städte in ihrer Hand. Sie dürfen ihren Verbrauch nur anderswo entnehmen und ihren Tagelöhnern ein Verbot zugehen lassen, die betreffende Stadt zu besuchen, und diese wird sich, falls sie nicht ruinirt sein will, gar bald in den Willen der Gnädigen schicken. Die Stadt Hagenow, obschon dieselbe doch schon viele Domanialdörfer in ihrer Umgegend hat, wurde vor etwa fünfzehn Jahren von den benachbarten adeligen Familien in Verruf gethan, und dies wirkte derartig, daß die Bürger nach Kurzem die beleidigten Herren durch Deputationen um Verzeihung und um Zurückschenkung der ehedem genossenen Gunst inständigst anflehen ließen.
Dieser Landestheil, welcher weitab von jeder Eisenbahn liegt und den auch nicht einmal eine irgend beträchtlichere Handelsstraße durchstreicht, wurde früherhin nicht selten das mecklenburgische Sibirien genannt. Mit einem weit größeren Rechte könnte man ihn [442] aber die mecklenburgische Mancha nennen, denn die curiosesten Ritterthaten, so in Mecklenburg während der letzten vierzig Jahre ausgeführt worden sind, hatten hier ihren Schauplatz. Hier war es, wo der Herr Major von Flotow auf Walow seinen Prediger in Satow durch Abschneidung des Wassers zum Verkaufen seines Pfarrdienstes zu bringen gedachte und fast auch gebracht hätte; hier spielte (1854-1855) der Suckow-Zislow’sche Schafkrieg, dessen Gedächtniß ein Siegeszeichen mit lateinischer Zuschrift der Nachwelt bewahrt, und hier wohnte auch jener Herr von Arenstorff, der im Jahre 1842 den Flecken Mirow mit Fehde überzog.
Zu Anfang der vierziger Jahre hielt ich mich öfter in diesem Theile Mecklenburgs auf und verkehrte viel zu W. auf dem dortigen Domanialpachthofe. Der Pächter, eine durch ganz Mecklenburg und die Mark weithin bekannte Persönlichkeit, war zwar kein Edelmann, dennoch aber nahm er, durch seine finanzielle Lage, weit mehr aber noch durch seine außergewöhnlichen körperlichen und geistigen Eigenschaften begünstigt, zu jener Zeit eine bedeutende Stellung in den gesellschaftlichen Kreisen ein. Er verkehrte fast nur mit adeligen Grundbesitzern, höheren Beamten und preußischen Cavalerieofficieren. Zur Jagdzeit logirten nicht selten dreißig bis vierzig Gäste mit der doppelten Anzahl Pferde zu W. und ohne irgend welchen Besuch war das Haus eigentlich nie.
Der Hof zu W. liegt hoch auf einem alten Burgwalle, und es stehen noch mehrere Baulichkeiten, welche den Fehdezeiten entstammen. Alte und neue Localitäten hatte der Pächter geschmackvoll und komfortabel eingerichtet, ein großer, wohlgehaltener Park schloß sich ihnen an. Wurden Gäste zu festlichen Gelagen erwartet, dann begrüßte die Kommenden vom Burgthurme her Hörnerschall, und sobald sie auf den Hof einfuhren, umkläfften die Wagen zahlreiche Meuten von Dachshunden, Saupackern und Windhunden, alle in ihrer Art von seltener Schönheit und merkwürdig gut dressirt. Auf der großen Freitreppe des Haupthauses empfing der Wirth seine Gäste. Er war, obschon damals bereits ein starker Vierziger, der schönste und kräftigste Mann, der mir jemals zu Gesicht gekommen ist, auch hat er lange Jahre hindurch für den verwegensten Reiter und geschicktesten Schützen Norddeutschlands gegolten, und in allen anderen körperlichen Künsten suchte er gleichfalls seinen Meister.
Damen fanden sich zu jener Zeit nur selten in W. ein, denn Herr X. lebte von seiner Frau getrennt. Die Honneurs seines Hauses machte eine alte adelige Dame, und diese bemutterte auch die erwachsenen Töchter, letztere kamen bei den meisten Diners nicht zum Vorschein; die Frau von B. repräsentirte dann allein das schöne Geschlecht, zog sich aber auch, sobald sie es irgend konnte, hinter die Coulissen zurück.
Wer zum ersten Male in den Speisesaal trat, pflegte sich immer über die Masse des aufgestellten Weins und über die Gläser, von denen die kleinsten das Sechstel einer Flasche faßten, zu verwundern. Die Speisen waren stets vortrefflich und außer Bedienten und Jägern warteten auch Mädchen auf, die fast immer als Houris in einem muhamedanischen Paradiese hätten passiren können. Nicht allzu lange hielt man sich beim feinen Bordeaux, beim Chambertin, Hochheimer und Portwein auf; sobald der Bratengang seinen Anfang nahm, commandirte Herr X. seinem Leibdiener: „Heinrich, Bowle!“ Dann schleppte Heinrich, oft mit Hülfe eines Collegen, ein ungeheures Porcelangeschirr herbei. Nie wurde nämlich eine kleinere Bowle gemacht, als eine solche, wobei auf jeden Tischgast zwei Flaschen gerechnet waren. Vierzig und noch mehr Flaschen Champagner wurden auch oft gleichzeitig in Eis gelegt, das in großen Kufen in der Ecke des Speisezimmers stand.
Wollte nach des Wirthes Ansicht nicht rechte Lustigkeit und Trinklust in seine Gäste kommen, so empfing Heinrich einen Wink, und es wurden nunmehr Gläser präsentirt, die eine gute halbe Flasche faßten und die man wohl oder übel rasch austrinken mußte, weil sie so eingerichtet waren, daß man sie nicht niedersetzen konnte, ohne den Wein zu verschütten. Oft ließ Herr X. sich auch große Pocale bringen, die mehr als eine Flasche faßten, leerte einen solchen in einem Zuge auf das Wohl seiner Gäste und trank dann einen frischgefüllten einem seiner Tischnachbarn zu. So war das Bacchanal dann bald im Gange und man meinte, „lasterhaft“ mäßig gewesen zu sein. wenn man sich vom Tische erhob, bevor die zweite oder dritte Bowle getrunken war. Vom Tische erhob sich selber aber immer nur ein Theil der Gäste; viele mußten erhoben und aufgehoben werden, und dieses letztere Schicksal betraf am häufigsten die Beamten, welche trunken und dann zu Zielscheiben des Spottes zu machen Hausordnung war.
Herr X. selber wurde nie betrunken. Unmittelbar nach einem Bacchanal, in welchem er wenigstens zwölf Flaschen geleert hatte, habe ich ihn Billard spielen sehen und einen jeden Ball hatte er in seiner Gewalt. „Heinrich, bringe mir meine Pistolen!“ Dann hielt der Diener auf zwanzig Schritte Entfernung ein Endchen Licht zwischen Daumen und Zeigefinger, und der Herr schoß ihm solches dazwischen heraus. „Halten Sie mir auch einmal ein Licht so hin!“ heischte dann wohl einer der Gäste, aber Heinrich war schlau und ließ sich auf derartige Forderungen nicht ein.
Eines Tages kam bei der Tafel die Rede auf’s Reiten. Es befanden sich gerade einige der berühmtesten Pferdezüchter und steeple-chase-Reiter zu W., unter ihnen der Baron W… M…. Zwischen Letzterem und dem Hausherrn kam es zu einer sehr beträchtlichen Wette, weil dieser es in Zweifel gezogen hatte, daß jener ihm allenthalben hin nachreiten werde.
Der Speisesaal zu W. stößt an einen Altan, welcher mit einer drei Fuß hohen Balustrade umgeben ist und etwa zwölf Fuß höher als der Garten liegt. Dieser fällt kaum eine Ruthe jenseits des Altans in hohen, steilen Terrassen ab, die mit Wein, der an Pfählen gezogen ist, bepflanzt sind. Die Pferde wurden gebracht. Herr X. ritt nunmehr die vordere Treppe hinauf über den Hausflur in den Speisesaal und setzte dort zunächst über die Tafel hinüber. Dann ritt er auf den Altan und von dort ging es nun über die Balustrade in den Garten hinab. Es glückte ihm auch, sein Pferd auf dem schmalen Raume dahinter zu halten, und wunderbarer Weise hatte auch weder er noch jenes sich verletzt. Lachend forderte er nun den Baron auf, ihm dies Stück nachzumachen, aber dieser stand kläglich davon ab und bezahlte die Wette. Einige Jahre später wurde Herr X. beim Hubertusfest nur mit großer Mühe davon abgehalten, daß er nicht aus dem oberen Stockwerk eines Gasthauses zu Röbel durch das Fenster mit seinem Pferde auf die Straße hinuntersetzte.
Herr X. gerieth mehrfach mit den benachbarten preußischen Behörden, obschon, wie gesagt, die höheren Beamten viel bei ihm gastirten, in Conflicte. Einmal war er im Rheinsberger Forst mit dem Oberstlieutenant v. K. auf’s Pirschen gefahren, als plötzlich die Wilderer sich von dem Jagdgefolge des Prinzen, welcher damals diese Domaine nutzte, umringt sahen. Der Oberstlieutenant v. K. wurde auch bald gefangen, aber Herr X. hielt in vollster Carrière gerade auf den Prinzen und sein Gefolge ein. „Heda! Halten! Wer sind Sie?“ wurde ihm zugeschrieen. – „Sultan Mahmud!“ erwiderte er, und obschon die ganze Hetze sich auf seine Verfolgung machte, erreichte er dennoch wohlbehalten die Grenze.
Zu einer anderen Zeit holte Herr X., in Folge einer Wette mit einem Justizbeamten, einen mecklenburgischen Commissionsrath, der bei gewerbsmäßig betriebener Schmuggelei in Preußen abgefaßt war und Tags darauf nach Spandau abgeführt werden sollte, aus dem Thurm zu Wittstock., wo er eingesperrt lag, heraus, und später äffte er wochenlang mehrere preußische Gensdarmen, die nur, um ihn zu fangen, nach Wittstock commandirt waren, dadurch, daß er täglich dort einritt. Einmal fand er beim Wegreiten das Thor verschlossen, aber ohne sich zu bedenken, setzte er von der Brücke in den Mühlenteich hinunter und kam, denselben durchschwimmend, glücklich davon. Endlich wurde er zwar gefangen, aber da hin und wieder auch Prinzen in W. gejagt und gehaust hatten, so kam er noch ziemlich milde davon.
Mit seinen Landesbehörden und Gerichten gerieth Herr X. fast nie in ernstlichere Conflicte, obschon es oft geschah, daß er Knechte, Mägde und selbst Wirtschafterinnen grausam mit der Peitsche tractirte und es oft aussprach, wie er es als sein Herrenrecht fordere, daß seine gesammten weiblichen Dienstboten ihm in jeglicher Weise zu Willen wären.
Zu W. war auch der Herr von Arenstorff auf Krümmel, Ichlim und Troja ein häufiger Gast, und er suchte Herrn T., welcher überhaupt der Abgott der jeunesse dorée der ganzen Gegend war, nach besten Kräften nachzustreben. Herr von Arenstorff trug auch einen bis auf die Brust herabhängenden Vollbart und suchte ebenfalls im Trinken, in Liebesabenteuern und in kühnen Reiter- und Ritterstücken zu excelliren, was ihm aber doch lange [443] nicht so wie seinem Vorbilde gelingen wollte. Während Herr X. mehr oder minder immer die äußeren Formen eines Gentlemans bewahrte, artete Herrn von Arenstorff’s Betragen oft in unmäßige Rohheit aus. Er zerschlug in Wirthshäusern oft Fenster, Thüren und Mobilien, prügelte und tribulirte die Kellner und Mädchen, bezahlte aber schließlich Alles, denn seine Mittel erlaubten ihm das.
Bei einem mehrtägigen Bacchanal, welches im April des Jahres 1842 im Schloß zu Krümmel abgehalten wurde, geschah es, daß endlich der Champagner im Burgkeller ausging, und so wurden denn zwei Reiter in den eine halbe Meile entfernten Flecken Mirow gesandt, um dem Mangel abzuhelfen. Die Reiter jagten in rasender Carrière in Mirow ein, was einige Bürger veranlaßte ihnen solches zu verweisen. „Man könne gar füglich Champagner holen, ohne wie toll und blind durch die Straßen zu sprengen.“ Die Reiter, stolz einem Herrn, wie der ihrige, zu dienen, replicirten mit Schimpfreden und Peitschenhieben und verfügten sich dann mit dem Weine auf die Burg.
Einige Stunden später kamen sie wieder, nunmehr mit Säbeln bewaffnet, um auf’s Neue Champagner zu holen. Sie rasten wieder wie vorhin durch die Straßen, verwundeten auch einen Bürger mit ihren Säbeln, und das hatte zur Folge, daß schließlich der eine von ihnen arretirt wurde, während der andere entkam und seinem Herrn das Geschehene meldete. Dieser gerieth darüber in grimmigen Zorn, und obschon es bereits Nacht war, wurden doch sofort alle männlichen Bewohner von Ichlim, Troja und Krümmel auf den Burghof entboten und mußten sich dort mit Sensen, Mistgabeln und Säbeln bewaffnen. An ihre Spitze stellte sich der edle Ritter hoch zu Roß und bis an die Zähne bewaffnet. Mehrere kleine Kanonen, welche bis dahin nur die Kunde von hochadeligen Geburtstagen und anderen Freudenfesten in’s Land hineingeknallt hatten, wurden auf einen Wagen gesetzt, und so rückte das Heer denn wider Mirow und seine eintausendundsiebenhundert Einwohner.
Herr von Arenstorff hatte auch mehrere seiner Gäste gezwungen sich seinem Zuge anzuschließen; einem derselben, einem Justizbeamten, war es jedoch gelungen sich vorher heimlich aus dem Schlosse zu stehlen und er hatte bereits gegen eine erlegte Caution die Freilassung des Arretirten erwirkt, als der Ritter vor der Stadt anlangte. Trotzdem aber ließ derselbe nicht zum Rückzug blasen; die Geschütze wurden auf einen Hügel postirt, aber, wie es später hieß, nur blind damit geschossen, Gartenzäune wurden niedergerissen und Fenster und Thüren eingeschlagen und dann wurde das Gefängniß, das zugleich dem Polizeidiener als Wohnung diente, mit stürmender Hand genommen und noch unsäglicher anderweitiger Unfug angerichtet. Mittlerweile waren einzelne erschrockene Bürger zum Amt gelaufen, und bald bliesen die Nachtwächter Feuerlärm und die Sturmglocke rief alle Schläfer wach. Rasch kam es denn auch zu einem Gefecht zwischen den Bürgern und den Eindringlingen, und nachdem es manche blutige Köpfe gegeben, wurden die letzteren zerstreut und hinausgetrieben, auch mehrere von ihnen gefangen genommen.
Mirow liegt im Strelitzischen Gebiet, während Krümmel unter Schwerinscher Oberbotmäßigkeit steht. Es wurde nun Seitens der Strelitzer Behörden ein Proceß wider die Ruhestörer angestrengt, und die Hintersassen des Herrn von Arenstorff trafen, obschon man die ganze Sache möglichst in’s Gute zu redigiren suchte, scharfe Gefängnißstrafen bei Wasser und Brod etc., während der edle Ritter selber, nach dreijährigem Processe, zu einer viermonatlichen Festungshaft in Dömitz verdonnert wurde. Diese erstand er in der Manier, daß er im ersten Gasthofe aß, täglich in seinem Gefängniß mit zahlreichen Freunden Bacchanalien anstellte und zuweilen auf seinem Roß in die Gastzimmer des Rathskellers einritt, ja es sogar einmal daselbst auf das Billard hinauf spornte. Im Mai 1845 kehrte Herr von Arenstorff aus seiner Festungshaft zu seinen Penaten zurück. Im Freimüthigen Abendblatt, Jahrgang 1845, findet sich darüber Folgendes, was ich, da es mecklenburgische Verhältnisse ganz außerordentlich gut charakterisirt, hierhersetze.
„Aus der Umgegend von Mirow, vom 6. Mai. Nach viermonatlicher Abwesenheit kehrte Herr von Arenstorff auf Krümmel am zweiten d. M. auf seine Besitzung zurück, und der ihm bei dieser Gelegenheit bereitete Empfang war jedenfalls glänzender als seine berühmte nächtliche Expedition gegen den benachbarten Flecken Mirow, deren in öffentlichen Blättern vor Jahren Erwähnung geschah. Nicht nur die Bewohner von K., sondern auch die der benachbarten Dörfer und selbst eine große Anzahl Mirower hatten sich trotz des unfreundlichen Wetters an einer verabredeten Stelle versammelt, um den Herrn von Arenstorff zu begrüßen. Es war um neun ein halb Uhr Abends, als seine Ankunft ein freudiges Jubeln und Hurrahrufen veranlaßte, und in einem prächtigen Fackelzuge, dem ein Musikchor voranschritt, wurde er zu seinem Park geleitet, wo nach Ueberreichung eines Gedichtes bei Verbrennung der Fackeln ein voller Gesang erscholl. Der Donner aus fünf Kanonen, welcher seit vier Monaten nicht mehr gehört worden war, sagte auch den Fernwohnenden, was sich an diesem Abend in K. ereigne. Ein Transparent auf dem Gutshofe zeigte die Inschrift:Wie der edle Ritter von der Mancha starb der Herr von Arenstorff schließlich nicht auf dem Felde der Ehre, sondern ruhig in seinem Bette, ob aber über das eigentliche Wesen seiner Thaten vorher noch aufgeklärt, möchte zu bezweifeln sein.
Ihr deutschen Männer und Frauen, die Ihr eben wieder in Braunschweig die Macht der Töne siegreich verkündet und Zeugniß abgelegt habt, daß Deutschland seinen Ruhm zu wahren weiß, die eigentliche Heimath des Liedes und der Musik zu sein; Ihr Sänger alle, die Ihr die Kehlen übt, den Preis zu erringen, welcher Euch in der großen Festhalle zu Dresden winkt – gewiß ist’s auch Euch nicht beschieden, das Ziel sonder Mühe und Studium, sonder Zagen und Arbeit zu gewinnen; gewiß haben Eure Directoren und Sangesmeister gar manchmal mit Bangen dreingeschaut und ungeduldig den Tactirstock geschwungen, ehe sich der Ein- und Zusammenklang einstellte, den es zu erreichen galt. Allein was bedeuten alle Euere Mühen, was ihre Sorgen gegen die Aengste und Beschwerden jenes armen Dorfcapellmeisters, den ich vor Kurzem einmal auf einer meiner Wanderungen in den Vorlanden der deutschen Alpen aufstöberte! Was hatte der alte Schul- und Chorregent zu erdulden, zu laufen, zu werben, ehe er seine Capelle zusammen hatte, und welche Gefahren und Schrecken zu bestehen, als er endlich seine Messe, den Gegenstand langer Sehnsucht, wirklich in’s Werk richten konnte! Jetzt, wo die Zeitungen so viel zu erzählen wissen von den Festen der nächsten und den Musikgenüssen der letzten Wochen, tritt mir das Bild jenes wunderlichen Concerts wieder lebhaft vor die Seele, und der Leser wolle mir gestatten, daß ich’s auch ihm zu Kurzweil und Vergleiche vor die Augen führe. – Wieder einmal auf der Wanderung mühte ich mich eines Tages auf dem knorrigen, nur zwei Hände breiten Holzpfade ab, der durch eines der Hochmoore im Norden der München-Augsburger Bahn führt. Ich fand allerlei Ausbeute; die bunten Blüthen der Polygale, des Epilobium, der Euphrasia füllten meine Botanisirbüchse, die ich kaum berühren konnte, so sehr brannte die Sonne der Hochebene auf den Firniß des Metalles. Oft blieb ich stehen, um den Schweiß von der Stirne zu trocknen; dann schaute ich jedesmal rings um. Vom Wirthshaus am dunkeln Rand trug der Wind den Knall einer Vogelflinte herüber; es mochte einem Rohrhuhn oder einer Wasserralle gegolten haben. Dann schwieg wieder die Wüste.
Ein dunkler Punkt kam mir, weil ich so häufig still stand, immer näher. Durch’s Fernglas blickend sah ich einen graubärtigen Mann mit einer Jägerjoppe auf mich hereilen. Er trug ein Gewehr, ein Hühnerhund trabte hinter ihm auf den verwitterten Prügeln; [444] dieser schien so wenig Lust zu haben, wie sein Herr, im Quatsch des Moores zu laufen. Die Ausbeute mußte nicht groß gewesen sein, denn die Jagdtasche schien schmächtig.
„Grüß Gott!“ rief mir die Stimme zu und eine Nasevoll Rauch vom allerschlimmsten Knaster verkündete den herantretenden Waidmann. „Wo aus bei der Hitz’? Der Teufel soll die Bremsen holen!“
Ich antwortete, so gut es ging, und wir balancirten zusammen auf den Prügeln weiter, neben denen unsere Stöcke keinen Boden fanden.
Bald merkte ich, daß der Mann nicht gut hörte. Er war ein Forstwart und sein einsames Haus stand, uns bereits sichtbar, in einer hufeisenförmigen Lichtung im Föhrenwald, der in der Ferne das Moor überlagerte. Er lud mich ein, ihn zu begleiten.
„Ich hab’ mir jetzt Flaschenbier eingelegt,“ sagte er, „das müssen Sie probiren. Ich hab’s nimmer aushalten können mit dem Wirth droben. So hab’ ich mir’s von München kommen lassen, und das ist dann doch zum Aushalten.“
Ich war froh und ging mit ihm. Kaum hatten wir uns in der reinlichen Stube des Forstwartes niedergelassen, als das Ticken der Schwarzwälder Uhr von einem kräftigeren Schlage unterbrochen wurde. Ein glatzköpfiges Männlein mit behäbigem Gesicht trat ein. Ich wußte nicht, sollte ich einen Geistlichen oder einen Schullehrer aus ihm machen. Er war Letzteres. Bei der Flasche wurde er gesprächig.
„Sie wissen schon, warum ich da bin,“ sagte er zum Forstmann. „Morgen heißt’s pünktlich sein. Nun, mit Ihnen und den Mannsbildern überhaupt thue ich mir leicht, obwohl ich dem Bader auch nicht viel Zutrauen schenke. Der Kerl lauft den ganzen Tag herum und ist jetzt, weiß Gott, wo. Aber die Weibsleut! Die werden mir wieder mit ihren Fälteln, Brustflecken und Schnürhaken nicht fertig. Die Reichertsrieder Liesel denkt schon die ganze Woche mehr an die Sachen, als an ihre Noten, denn der Postexpeditions-Prakticant geht ihr nicht aus dem Kopf.“
„Nun, es wird schon werden,“ tröstete der Forstwart. „Es wird sich doch Jedes vor dem Herrn Pfarrer und den Leuten schämen, daß es zurückbleibt.“
„Für Almenlieder und Schnaderhüpfeln und solche Schnacken, da haben sie glockenhelle Stimmen. Kein Mensch braucht sie zu bitten, daß sie in der Dämmerung, wenn sie draußen auf der Bank oder am Brunnen sitzen, miteinander schnattern und singen, so viel Einer nur will. Aber wenn man sie in die Kirche braucht, da wissen sie kein Ende vor Entschuldigungen.“
Ich merkte, daß es sich um ein musikalisches Amt oder dergleichen handelte. Meine bescheidene Anfrage erwiderte der Schulmeister mit einem stolzen: „Missa brevis von Palestrina, Opus …“ (die Zahl habe ich vergessen).
Ich schaute ihn erstaunt an.
„Ha, Sie haben nicht vermeint, etwas von alten Meistern zu hören, hier im Moose an der trüben schlammigen Glon? Was sind denn die neueren –?“
Nun begann ein Excurs über die Musik zu den verschiedenen Officien, mit dem ich Andere verschonen will. Das Interessanteste daraus war, daß der wackere Schulmeister nicht weniger als siebenzehn Proben hatte veranstalten müssen, um die artistischen Elemente seines Dorfes zur „Missa brevis“ einzupauken. Dem Forstwart wurde es allmählich zu langweilig; nachdem er mehrere Mal bemerkt hatte: „Ich bin schon um sieben Uhr auf dem Chor!“ wodurch er den Lehrer zu besänftigen und auf etwas Anderes oder noch besser fortzubringen suchte, nahm er endlich einen Fliegenwedel und schlug die Mücken todt, welche überall an der weißen Wand saßen.
Endlich nahm der Lehrer Abschied; er that sehr geschäftig und hatte noch viele Gänge zu machen.
„Das ist der ‚lateinische‘ Schulmeister,“ sagte der Forstwart, nachdem sich die Thür hinter dem Männlein geschlossen hatte. „Sein höchster Gedanke sind ‚lateinische‘ Messen; die gewöhnliche Meß’ ist ihm nicht gut genug, es muß etwas ganz Extraordinäres aufgeführt werden, als wenn die Hofcapelle von München da heraus wäre. Tag und Nacht läßt er uns keine Ruh mit seiner alten Musik und der lateinischen Meß’.“
„Da rappelt’s bei ihm wohl ein wenig?“ frug ich.
„Im Latein schon, aber sonst ist er ein gar gescheidter Bursch, der sich auf seinen Vortheil versteht, wie Einer,“ antwortete der Alte.
„Singen Sie auch mit?“ frug ich den Forstwart, verwundert, einen harthörigen Sänger zu finden. „Vielleicht Baß?“
„Nein, ich schlag’ nur die Pauken. Sind freilich keine gar guten; das Fell sollt’ eigentlich Eselfell sein, aber das unsrige ist nur Kalbfell; besonders für die Pauken hergerichtet ist’s aber doch. Uebrigens kommen Sie doch morgen hinauf zu uns auf den Chor oder in die Kirche, wohin Sie wollen,“ sagte der freundliche Forstwart, als ich dankend Abschied nahm, „wir können dann in den Pausen zusammen plaudern.“
Als ich dem Dorfwirthshause zuschritt, hörte ich einen ungeheueren Lärm. Eine schrille Trompete drang durch Mark und Bein und ein wüstes Geschrei ertönte aus dem dichten Knäuel.
„Was giebt’s?“ fragte ich einen der Burschen.
„Ah, das ist der Simmer, der heut den ganzen Tag Trompeten blast, weil er morgen in der Kirch’ mitthun muß.“
Simmer blies auf einer Es-Trompete das Trinklied aus dem Vampyr. Die Bauern heulten vor Vergnügen. Als der Sturm sich ein wenig gelegt hatte, frug ich den Simmer, ob es wahr sei, daß er morgen in der lateinischen Messe mit blase.
„Freilich,“ sagte er, „dös is mei Es-Trompeten und i blas’ mit in der Musi von Palästina.“
Er handhabte wirklich das Instrument nicht übel, so weit ich aus seiner Leistung in der Profan-Musik schließen konnte. Ich hatte also bereits zwei Mitwirkende durch Zufall getroffen und mochte mich nicht des Vergnügens berauben, auch die übrigen Künstler kennen zu lernen. Dazu aber noch ferner auf das Ungefähr, den Glücksstern der Reisenden, zu rechnen, wäre zu verwegen gewesen, ich beschloß deshalb, der Einladung des Forstwarts zu folgen und am kommenden Morgen den Chor mit meiner Gegenwart zu beehren.
Der folgende Tag war ein „Frauentag“. Freudig hallten die Glocken unter dem tiefblauen Himmel des Vaterlandes. Ein kühlender Nordwind strich über Wald und Moor. Ich betrat den Friedhof, der die weiße Kirche umgiebt. Vögel schwirrten darüber hin, Kränze und Bänder rauschten im Wehen an den eisernen Kreuzen. An der Kirche waren verbleichte Bilder von seltsamen Mirakeln. Links stand ein schmales Haus, eine Art Krypte. Dort waren hinter einem eisernen Gitter unzählige Menschenschädel und Gebeine zu sehen. Ein Licht flackerte vor den Ueberresten der selig Verstorbenen. Langsam schritt ich neben den Levkoien und Rosen der Grabhügel dem sonderbaren Verließe zu. Es war nicht leer. Von der links und rechts etwas vortretenden Mauer versteckt, redeten dort zwei Menschen.
„Geh, laß Di nit auslachen, mit Deiner Eifersucht, Du bist ja gar kein Mannsbild,“ tönte es von einer weiblichen Stimme.
Der Rasen, welcher Gräber und Wege in jener versteckten Gegend überwucherte, erstickte das Geräusch meiner Schritte.
„Wenn Du so sprichst, bin ich immer wieder so dumm und glaub’ Dir; aber kaum seh ich Dich nimmer, so geht’s mir halt nit aus dem Kopf mit dem –“
„Obst’ still bist jetzt; wenn i Di stimmen[1] wollt’, hätt’ i scho ganz andere Gelegenheit g’habt, als so. Aber jetzt paß auf, heut is der Sepp auf der Anten-[2] Jagd; um fünf hol i beim obern Wirth ’s Bier, da sei feil[3] da, Du woast scho, wo.“
Es war höchste Zeit, daß ich mich bückte, um nach dem frommen Spruch zu sehen, der auf der Blechtafel eines Kreuzes unter den „armen Seelen“ stand, denn das Geräusch eines Kusses verkündete das Ende des verliebten Gespräches. Ein Mädchen in der kleidsamen Tracht, welche der geneigte Leser genau wiedergegeben auf dem Bilde meines Wandergenossen Stauber findet, eilte rasch der Seitenthür der Kirche zu. Wir schauten uns nach einander um; sie erröthete und sprang mit verdoppelten Schritten weiter.
Nun war ich begierig nach dem Helden. Doch dieser war vorsichtig. Ich stand fast eine Viertelstunde da, und noch immer hielt er sich hinter der Mauer und dem Gitter vor den gebleichten Knochen. Endlich, als ich selbst hingehen wollte, trat er heraus. Er trug eine blaue Dienstmütze und mochte siebenzehn Jahre zählen. Der blonde Knabe mußte ein schüchterner Liebhaber sein. Augenblicklich fiel mir der Postexpeditions-Prakticant ein; wenn er es war, so mußte das Mädchen die kokette Reichertsrieder Liesel sein. Der Arme!
Bald darauf ging ich selbst in die Kirche. Ich wollte die Andächtigen unten besichtigen, ehe ich den Chor betrat. Der Liebende
[445][446] stand neben einem Beichtstuhl und ließ keine fünf Minuten vorübergehen, ohne den Kopf nach oben zu drehen. Ich folgte den Augen und sah die Liesel neben einem großen Notenblatte, das sie vor’s Gesicht hielt, hervorblinzeln, wie ein Sonnenstrahl am Rand grauer Wolken. Es war ein feines dunkeläugiges Gesicht. Die Spitzen an dem goldgeschmückten Häubchen umgaben es mit einem leichten Schattenrahmen. Nachdem ich mich eine Weile an diesem Spiel ergötzt, stieg ich hinauf. Man mußte von der Emporkirche noch einige Stufen zum Chore hinauf. Der Lehrer stand neben drei riesigen Balken an der Orgel, den Hebeln des Blasebalges. Er grüßte mich mit herablassendem Nicken, wie ein Feldherr am Tage der Schlacht einen Zeitungscorrespondenten.
Der Förster, mit dem ich ein Gespräch anknüpfen wollte, war nicht in guter Laune; er konnte es nicht leiden, wenn man ihn ermahnte, Tact zu halten, und das hatte heute der Lehrer schon ein halbes Dutzend Mal gethan. Mißmuthig winkte er mir mit der Achsel und meinte: „Der T– soll den lateinischen Narren holen! Es ist aber noch nicht aller Tage Abend, wart nur!“
Zwei Buben, die an der Chorbrüstung vorn standen, drehten sich dann und wann um, und spähten, ob sie nicht beobachtet würden. Beide hatten Lippen und Backen schwarz geschmiert. Sie hatten Kirschen verzehrt und belustigten sich, wie es schien, damit, die Kerne mit dem Zeigefinger nach der Tiefe zu schnellen. Liesel mußte diesen Unfug sehen, aber sie sah ihn nicht. Hinter ihr standen zwei zaghafte Backfische, welche in ihrer Verwirrung sich an ihre Schürzen klammerten; die Angst stand ihnen in den Augen geschrieben.
Auf der andern Seite des Chors stand ein großer Kasten mit allerlei Musikalien. Hinter diesem hörte ich ein Geräusch, welches nicht von einem Musikinstrumente herkam. Ich sah hin. Simmer, der wackere Trompetenbläser, schnarchte, auf den Boden in einem Winkel zusammengekauert. Eben kam die Ziehposaune ihn zu wecken.
„Der Kerl hat heute in aller Früh schon wieder trinken müssen, um sich seinen Katzenjammer zu vertreiben. Sechsunddreißig Halbe Bier – es is ja dengerscht nimmer schön.“
Das Weitere hörte ich nicht mehr, denn in diesem Augenblick hob sich der Tactstock des Chorregenten und der Discant begann. Bald wirbelte die frische Stimme Liesel’s hinein, und der Strom der Töne floß in die weihrauchduftende Kirche nieder. Es klang nicht so übel, wie ich dachte. Der Förster, der vorher nach Kräften auf den Lehrer geschimpft hatte, schaute jetzt unverwandt nach ihm, statt nach seinen Noten, weil ihm diese weniger verständlich waren, als das Kopfnicken und Maulaufreißen vom erhabenen Pfühl. Der Meßner mit seinem weißen Spitzenhemd und rothen Chorrock schien mir der schlimmste von Allen, denn er that nur, als ob er sänge – in der Wirklichkeit aber stand er auf den Fußspitzen und schaute nach dem Beichtstuhl hinab, an dem die blauen Augen des Expeditions-Prakticanten nach oben Wacht hielten. Es war mir bald einleuchtend warum.
Einmal – aber auch nur einmal gab ich die Schlacht verloren. Kurz vor dem Gloria hatte die Liesel ein Solo, welches wie ein lauter Jubelruf an die Wölbung scholl. Aber mitten in’s Solo fiel Simmer’s Trompete und, als der Lehrer darüber entsetzt in die Höhe fuhr, auch des Forstwarts Pauke. Jemehr der Regent herübergesticulirte, desto mächtiger dröhnten die kupfernen Becken. Ein dickbackiger Junge lachte laut auf, doch ein Hieb vom Fiedelbogen seines glatzköpfigen Nachbars verwandelte seine Wonne in Zähneklappen.
Den Heiligen an den Wänden mag es geschaudert haben vor den Kraftworten des Herrn Chordirectors. Sicher aber ist, daß sie der frommen Kunst ihren Schutz nicht entzogen. Die letzten Töne verhallten feierlich und auf dem Gesichte des Lehrers glänzte ein Freudenroth wie im Gewände der heiligen Elisabeth im Glasgemälde des Fensters, auf das die Sonne schien. Meine Glückwünsche begegneten dem Stolz des Erfolgs. Nachdem ich mich mit dem Forstwart in’s Wirthhaus verabredet, stieg ich die Treppe hinab. Vor mir gingen der Meßner und die Liesel; ein Händedruck von ihm wurde mit süßem Lächeln belohnt. Beim Meßner ist eben das Haus fetter bestellt, als Gegenwart und Zukunft des schmächtigen Prakticanten. Während dieser umsonst Briefmarken aufpappt, schneidet jener die saftigsten Gänsebraten an.
Der Simmer wurde heute Abends bewußtlos aus dem Wirthshaus getragen, und die Chöre, welche man in der Nacht nach der „lateinischen Messe“ beim obern Wirth hörte, hatten wenig Ähnlichkeit mit der Partitur des italienischen Meisters.
Ein französischer Artillerie-Lieutenant brachte es bekanntlich, wie man zu sagen pflegt, „durch Kopf, Genie und Ellbogen“ zum mächtigen Kaiser Napoleon. Ich will heute erzählen, wie ein preußischer Artillerie-Lieutenant durch gleiche Mittel zum großen Industriellen, nebenbei zum Commerzienrath und Millionär, aber auch zum Wohlthäter von Tausenden fleißiger Arbeiter, zum väterlichen verehrten Freund seiner Beamten, zum Begründer eines deutschen Seraing geworden ist. Der jetzige Commerzienrath Kulmiz in Saarau in Schlesien hatte 1842 schon die hierarchische Stufenleiter bis zum Premierlieutenant der Artillerie erklommen, als ihm ein guter Genius den Gedanken eingab, er könne seinen Thätigkeitstrieb auch wohl besser, als auf dem Parade- und Exercirplatze verwerthen. Er nahm seinen Abschied, steckte sein bescheidenes Vermögen in eine Anzahl Erdkarren, Schaufeln, Spaten, Pferde und übernahm die Erdarbeiten an einzelnen Theilen der Breslau-Freiburger und der Niederschlesisch-Märkischen Bahn. Das war der bescheidene Anfang einer immensen industriellen Thätigkeit.
Bei Gelegenheit dieser Arbeiten wurden Anzeichen von Braunkohle in der Nähe des kleinen Dörfchens Saarau entdeckt, und es bildete sich eine Gewerkschaft, welcher Kulmiz als Haupttheilnehmer und Leiter beitrat. Das Kohlenlager erwies sich als ein sehr mächtiges und auch wissenschaftlich sehr interessantes. Der botanische Garten Breslaus verdankt der Freundlichkeit von Kulmiz ein prachtvolles Exemplar eines fossilen Baums, der in Saarau gefunden ist.
In dieser materiellen Welt hat aber das wissenschaftliche Interesse kaum einen in Thalern und Groschen ausdrückbaren Werth, und da der Feind des Guten das Bessere ist, d. h. da die Waldenburger Steinkohlen so nahe waren, so wollte Niemand die Braunkohle kaufen oder wenigstens ihrem Werthe entsprechend bezahlen. Hatte ja doch Kulmiz selbst die Eisenbahn gebaut, welche die Steinkohlen so billig heranführte. Es galt jetzt an der Grube selbst eine Verwerthung für die Braunkohle zu schaffen. Kulmiz gründete daher im Jahre 1846 eine Glashütte – die Idahütte – für Flaschenglas, das mit den aus der Braunkohle erzeugten Gasen, sogenannten Generatorgasen, geschmolzen werden sollte. Die Braunkohle wurde getrocknet und in Schachtöfen durch eingeblasene Luft verbrannt. Die am Roste erzeugte Kohlensäure wandelt sich beim Durchpassiren durch die darüberliegenden glühenden Kohlenschichten in Kohlenoxyd um, ein brennbares Gas, welches in den Ofen geleitet und durch mehr Luft verbrannt wird. Dieses in der Technik vielfältig, namentlich für solches geringhaltiges, pulverförmiges Brennmaterial, angewendete Verfahren genügte indessen nicht, indem der beigemischte ziemlich beträchtliche Antheil Wasserdampf die Temperatur der Verbrennungsproducte zu sehr herabdrückte. In neuerer Zeit will bekanntlich Siemens durch seine sogenannten Regenerator-Oefen, in denen er sehr stark erhitzte Luft, sowohl zur Erzeugung des brennbaren Gases als zur schließlichen Verbrennung desselben anwendet, die Aufgabe gelöst haben.
Damals war diese Methode noch nicht bekannt. Trotz der mit großer Ausdauer durchgeführten Versuche, die bedeutende Summen verschlangen, wollte es nicht gelingen, allen Anforderungen entsprechende Flaschen darzustellen. Das dazu angewendete Thonerde-Kalk-Natronglas ist sehr schwer schmelzbar; wenn man die Abhülfe in einer gesteigerten Natrondose sucht, macht man das Glas zu theuer und zu wenig widerstandsfähig gegen chemische Einflüsse. Nothgedrungen mußte die Braun- der Steinkohle weichen. Anfangs erforderte der anspruchsvolle Glasofen noch die beste Stückkohle; jetzt ist man in Saarau wenigstens dahin gekommen, mit Hülfe besonders construirter Treppenroste den sonst fast werthlosen Staub-Abfall der Steinkohle verwenden zu können. [447] Ein fast eben so wichtiger Punkt, wie das Brennmaterial, ist für die Glasindustrie die Beschaffung feuerfester Thone zu den Oefen und Häfen. In dieser Beziehung erwies sich die Braunkohlengrube werthvoller, als man gedacht. Das Deckgebirge derselben, das man bei dem damals angewandten Tagebaue ohnedies entfernen mußte, bestand nach der Abräumung der oben aufliegenden Lehm- und Kiesschichten aus einem mächtigen Lager eines dunkelgrauen, sehr zähen plastischen Thons (sog. graue Lette), der sich indessen vollkommen weiß brannte und fast frei von Kalk, Eisenoxyd und Alkalien erwies, die sonst die Strengflüssigkeit der Thone beeinträchtigen. Ueberdem fand sich am Ausgehenden der Braunkohle, bergmännisch gesprochen, als Liegendes derselben, ein sehr schöner, blendend weißer Thon, der bis auf einen bedeutenden Gehalt an rein weißem Quarzsand dem Kaolin oder der Porcellanerde sehr ähnlich sich erwies. Wenn man den blauen und den weißen Thon in passenden Verhältnissen mit einander mischte, natürlich unter Zusatz schon gebrannten Thons, der sogenannten Chamotte, so erhielt man in der That Steine und Glashäfen, die wenig zu wünschen übrig ließen.
Die Eisenbahnbauten, sowie die neuen Anlagen in Saarau erforderten viel Ziegel. Es bot sich ein neuer Absatzweg für die Braunkohle zum Brennen derselben; daher wurde der blaue Thon zu Bauziegeln verwendet. Derselbe zeigte sich indessen keineswegs so gutartig, wie man geglaubt. Soviel man ihm auch durch Frierenlassen, Einsümpfen, Umstechen, Thonschneider zusetzen mochte, so blieben doch unaufgeweichte Knoten darin zurück, die hartnäckig allen Auflösungsversuchen widerstanden.
Die so sehr wichtige Ziegelindustrie ist bekanntlich jetzt in einem Kampfe zwischen Hand- und Maschinenarbeit begriffen, der noch heute nicht ganz entschieden ist. Es ist ein unleugbares Verdienst von Kulmiz, daß er selbst durch sehr schwere Opfer, die noch dazu theilweise in die bedrängten Jahre 1848 und 1849 fielen, sich nicht abschrecken ließ, die Frage, wenigstens für diese specielle Thonsorte, zu entscheiden. Der Versuch fiel ungünstig für die Maschine aus. Erst durch Adoption einer ganz neuen Methode, durch vorheriges Pulvern des getrockneten blauen Thons und nachheriges Anfeuchten, gelang es später, dieses obstinaten Materials vollkommen Herr zu werden.
Da die Anlage nur eine provisorische war, stand Kulmiz davon ab, kostspielige Trockenschuppen zu bauen. Er substituirte tragbare Gestelle, aus dünnen unbehauenen Stämmchen zusammengesetzt, und mit Schalbretern gedeckt, die sich vortrefflich bewährten. Wer damals von Technikern die neuen Bauten in Saarau besichtigte, pflegte sich über den Luxus zu verwundern, daß man zum gewöhnlichen Mauerwerk feuerfeste Ziegel verwendete.
In der That unterschieden sich die gleichzeitig angefertigten feuerfesten Steine nur durch einen größeren Zusatz von weißem Thon und dadurch, daß statt des Sandes Chamottemehl zugemischt wurde. Allmählich hat die Chamotteziegel-Fabrikation das Uebergewicht gewonnen. Neue, bis 150 F. mächtige Lager des ausgezeichnetsten weißen Thons sind aufgefunden worden; die gebrauchten Kapseln der in Waldenburg bestehenden ausgedehnten Porcellanfabriken gewähren das vorzüglichste Chamottematerial; die Zubereitung des Thons, das Mischen der Bestandtheile als trocknes Pulver unter mäßigem Wasserzulauf ist ein ungemein vollkommenes, und so erhält man durch Streichen der Ziegel mit der Hand und sehr scharfes Brennen feuerfeste Steine, welche den besten englischen und schottischen Chamotten gleichkommen, wo nicht sie übertreffen. Das weltbekannte Borsig’sche Etablissement in Moabit bezieht jährlich 500,000 Chamotten von Saarau, etwa ein Fünftel der ganzen Production.
Daß daneben Gasretorten, große Chamotteblöcke zu den verschiedensten Ofenconstructionen, Thonröhren für chemische Fabriken angefertigt werden, braucht wohl kaum erwähnt zu werden. Als Anhängsel ist noch die Kachelfabrik zu berühren, aus der sowohl die geringeren, wie die feinsten Oefen hervorgehen. Schlendert man jetzt durch die ausgedehnten Anlagen zu Saarau, so kommt man auch an ein niedriges schuppenartiges, sehr verrußtes Gebäude und enträthselt bei näherer Betrachtung die Zuschrift: „Marienhütte“.
Dies ist der bescheidene Anfang eines zweiten wichtigen Zweiges der Saarauer Fabrikthätigkeit. Der geringschätzige Nebenbegriff, der sich mit den Worten „alt Eisen“ verbindet, ist ein Beweis, wie häufig solche Abfälle von altem Eisen und wie verhältnißmäßig werthlos sie sind. Mit sicherem technischen Instincte bemächtigte sich Kulmiz dieses Gegenstandes. In der ganzen Umgebung war damals keine Eisenhütte, der sonst diese Abfälle zugeflossen wären. Er gründete eine Schmiede mit Dampfhammer für die Abfälle von Schmiedeeisen, dann eine Gießhütte, um auch das alte Gußeisen in neue nutzbare Formen zu bringen.
Es liegt eine Art von Pietät darin, diese Anfangswerke noch heute zu conserviren, wo sich die bescheidene Schmiede zu einer sehr stattlichen Maschinenbauanstalt erweitert hat, die allen Aufgaben gewachsen ist. Keine kleine Genugthuung war es für den ehemaligen Artilleristen, daß seiner Maschinenbauanstalt vor einigen Jahren die Anfertigung eines Theils der eisernen Laffetten für die preußische Artillerie übertragen wurde. Kulmiz’s Freunde behaupteten oft scherzhafter Weise, er habe die Maschinenfabrik blos gebaut, um in Bezug auf Reparaturen und Neubeschaffungen für seine sonstigen Anlagen selbständig dazustehen. Der Scherz beruht insofern auf Wahrheit, als in der That die Kulmiz’schen Werke so zahlreich sind, daß sie recht gut eine kleine Maschinenbauanstalt allein beschäftigen könnten.
Im Anschluß an die Maschinenfabrik ist eine große Dampfkesselschmiede zu erwähnen, die auch die Anfertigung von Gasometern, Bassins für Oel, Syrup etc., kurz alle einschlagenden Arbeiten übernimmt. Schwachnervige Damen mögen fern davon bleiben, denn infernalisch ist das Getöse. Als dritte und jüngste im Bunde schließt sich an die Ida- und Marienhütte die Silesia, die chemische Fabrik, an. Bis jetzt die einzige Fabrik in Schlesien, welche den jährlich steigenden Bedarf an Schwefelsäure, Salzsäure, Soda und Chlorkalk deckt, wurde sie im Jahre 1858 von einer Gesellschaft gegründet, der auch bedeutende chemische Autoritäten der Universität Breslau angehören, und Kulmiz zum Haupt-Geschäftsinhaber bestellt. Aus sicilianischem Schwefel, früher aus Schwefelkies, wird in drei Bleikammersystemen Schwefelsäure dargestellt und zum Verkauf in Bleipfannen und einer achttausend Thaler kostenden Platinblase concentrirt. Die Säure aus den Bleipfannen, mit Staßfurter Krystallsalz erhitzt, liefert Glaubersalz und Salzsäure. Aus dem Glaubersalz wird durch Glühen mit Kohle und Kalkstein Soda gewonnen, die theils in calcinirter, theils in krystallisirter Form in den Handel kommt. Die Salzsäure, soweit die Zuckerfabrikanten sie nicht brauchen, wird mit Hülfe von spanischem Braunstein auf Chlorkalk verarbeitet. Der Rückstand der Sodafabrikation endlich, das Schwefelcalcium, wird nach einem neuen Verfahren auf Schwefel zu Gute gemacht, der auf’s Neue zur Schwefelsäurebildung dient. Man sieht, daß in einer solchen chemischen Fabrik nichts umkommt und daß die Wissenschaft die eigentlich verbrauchten Materialien zur Fabrication auf Luft, Wasser, Kohle, Kalkstein, Kochsalz und andere wohlfeile Substanzen mit Erfolg zurückzuführen verstanden hat.
In Saarau, seiner Lieblingsschöpfung, hat C. R. Kulmiz sich sein Heimwesen gegründet. Früher, als es noch zu schaffen und aus dem Rohen zu gestalten gab, begnügte er sich als alter Soldat mit sehr bescheidenen Räumen; jetzt schließt ein geschmackvolles Schloß, ein sorgfältig gepflegter Park mit sehr schönen ausgedehnten Gewächshäusern die Werke nach der einen Seite ab. Für die zahlreichen Beamten und Arbeiter sind geräumige und bequeme Häuser gebaut. Wo früher ein bescheidener Schenkwirth die Arbeiter und Beamten gleichmäßig aus einem Topfe vorwaltend mit den beliebten schlesischen „Kließeln“ speiste, erhebt sich jetzt das gut und elegant eingerichtete Gasthaus „zur Hütte“. Auch den Ureinwohnern des Dörfchens Saarau hat sich etwas von dem Kulmiz’schen Go-ahead-Geiste mitgetheilt. Es werden passende Baustellen in Saarau in den schlesischen Zeitungen ausgeboten, und neuerdings habe ich dort sogar ein Putz- und Schnittwaaren-Schild gesehen. So Gott will, hoffe ich noch eines Tages den Bürgermeister der Stadt Saarau begrüßen zu können.
Wenn man glauben wollte, daß Saarau allein der Thätigkeit Kulmiz’s genügte, würde man sich sehr irren. Große Granitsteinbrüche auf dem Streitberge bei Striegau, von welchen die prachtvollsten Blöcke weit bis nach Norden gehen und unter Anderem zur Dirschauer Brücke mit verwendet worden sind, eine sehr ausgedehnte Coaksfabrik und der Generaldebit der bedeutendsten Waldenburger Kohlengruben schließen noch immer den Kreis seines Wirkens nicht ab. Er kauft einen großen Wald, stellt mitten drin eine Dampfsägemühle auf und vertreibt Breter, Latten und Balken bis nach Berlin und weiter. Er kocht Zucker in Lanisch bei Breslau, Bier in Gorkau am Fuße des Zobten. Seine Comptoirs [448] an fast allen Stationen der schlesischen Bahnen, natürlich auch in Breslau, Berlin, Magdeburg, sind für die Anwohner eine wahre Wohlthat. Ein Gutsbesitzer sagte mir neulich, vom Kulmiz’schen Comptoir könne man Alles, Kohlen, Holz, Ziegel, Glas, Chamotten, Granitsteine, Zucker, Bier, Schiefer beziehen. Wenn man etwas Beliebiges dort bestelle, so höre man nur die Antwort „Sehr wohl,“ und nach wenig Tagen hätte man das Gewünschte auf dem Hofe. Wenn man einmal Lust zu Meerkatzen hätte, so würden sie auf den Kulmiz’schen Comptoiren auch nicht aus der Fassung kommen, das stereotype „Sehr wohl“ erwidern und die Meerkatzen würden besorgt werden.
Beiläufig gesagt, setzten die Comptoire von Kulmiz schon vor mehreren Jahren über achtmalhunderttausend Tonnen Kohlen alljährlich ab, und jetzt mag der Absatz leicht über eine Million Tonnen betragen. Rechnet man für die Tonne nur sechs Pfennige Gewinn, so macht dies schon ein ganz respectables Auskommen aus. Fragt man nun nach den Mitteln und Wegen, auf welchen sich aus so unscheinbaren Anfängen ein so großes Geschäft entwickelt hat, so ist es hauptsächlich die große Thätigkeit und Energie des Inhabers, wodurch der günstige Erfolg zu erklären ist. Der Geist der Initiative, des Eingehens auf neue Pläne, ihr rasches Erfassen und thatkräftiges Durchführen hat sich überall auf das Glänzendste bethätigt. Die Wissenschaft, die leider oft genug von unsern routinirten Geschäftsleuten als unpraktisch über die Achsel angesehen wird, hat bei Kulmiz stets eine freundliche Aufnahme und ein bereites Ohr gefunden. Mit den Professoren der naturwissenschaftlichen Facultät in Breslau steht Kulmiz auf dem freundschaftlichsten Fuße. Nicht minder ist der Erfolg dadurch bedingt, daß Kulmiz es verstanden hat, durch liebenswürdige Freundlichkeit und Wohlwollen seine Beamten und Arbeiter an sich zu fesseln. Er hält darauf, daß seine Leute sich bei ihm wohl befinden. „Wenn bei einer Fabrication,“ sagte er mir selbst, „nicht so viel bleibt, daß meine Arbeiter einmal ein gut Glas Bier, meine Beamten ein Glas Wein trinken können, dann laß ich mich nicht darauf ein.“
Als ich bei ihm verweilte, war eine schlechte, theure Zeit. Kulmiz gab seinen Arbeitern damals nicht allein einen anständigen Lohn, nein, er ließ ihnen auch allwöchentlich eine Zulage in Naturalien, Mais, Linsen. Bohnen etc. zukommen. Er hat oft genug mit mir überlegt, auf welche Art am Besten der Speisezettel für die Arbeiter aufzustellen sei, damit sie genügend stickstoffhaltige Kraft-Nahrungsmittel erhielten. Seinen Beamten standen Wein und Cigarren zum stricten Kostenpreise stets zur Verfügung, und manchen heitern Sonnabend-Abend haben wir gefeiert. Die großartigste Gastfreiheit, mit der er seine Geschäftsfreunde und sonstigen sehr zahlreichen Gäste empfängt, ist selbst weit über Schlesiens Grenzen bekannt und berühmt. Es ist eben eine durch und durch wohlwollende Natur, die selbst einen gerechtfertigten Unwillen siegreich bekämpft. Nur ein einziges Beispiel aus vielen. Einer seiner Beamten, ein tüchtiger, aber etwas widerhaariger Charakter, war nach einem lebhaften Streit mit ihm aus Saarau geschieden. Er fand nicht gleich eine Stellung, wohl aber Kulmiz eines Tages auf der Straße. Kulmiz redet ihn an, erkundigt sich nach seinem Ergehen, und als er von seinem Mißgeschick hört, weist er ihm ohne Weiteres eine nicht unbedeutende Summe bei seinem Comptoir an und verschafft ihm auch nach kurzer Zeit eine sehr angenehme, lohnende Stellung an einer benachbarten Eisenbahn. Was Wunder, daß Kulmiz sich der allgemeinsten Achtung und Liebe erfreut. In seinem ältesten Sohne erzieht er sich einen würdigen Nachfolger. Möge das Kulmiz’sche Haus als Vorbild unserer Industriellen und zum Segen der Provinz Schlesien noch lange blühen und gedeihen!
Die Romantik in Amerika. Binghamton ist ein Stationsort der Erie-Eisenbahn und liegt 225 englische Meilen in nordwestlicher Richtung von New-York entfernt. Hier lebte 1855 ein junges, sehr scheues Mädchen, dessen geistige Ausbildung nach den herrschenden Begriffen hervorstechend genannt wurde. Zu gleicher Zeit befand sich daselbst ein junger hübscher Mann, Mr. S., in einem Schnittwaarengeschäft als Verkäufer, mit dem die Schöne bald bekannt wurde und ein näheres Verhältniß einging, dem eheliche Verbindung folgen sollte. Inzwischen hatte ein reicher Bewohner von Binghamton, Mr. L., sein Auge verlangend auf die schöne Sarah geworfen, ohne bei dem Mädchen zum Ziele kommen zu können. Umsonst bestrebte sich Mr. L. Sturm auf das Herz der blühenden Rose zu laufen, und als die angewandten Mittel sämmtlich fehlschlugen, beschloß der Verschmitzte seine Zuflucht zu einem Yankee-Trick, auf deutsch Schurkenstreich, zu nehmen. Es klagte nämlich eines schönen Tages Mr. L. gegen seine persönlichen Bekannten, daß ihm eine Brieftasche mit 500 Dollars abhanden gekommen sei, ohne daß er deshalb irgend einen Verdacht gegen Jemand aussprechen könne. Auch S. wurde von dem Vorfall unterrichtet und bemühte sich der Sache auf die Spur zu kommen, so weit dies möglich; allein es war durchaus nichts zu entdecken, obschon mehrere eingängliche Berathungen zwischen L. und S., zum Theil in des letztern Behausung, deshalb gepflogen wurden. Nach der Zeit fing L. an sich gegen S. auffallend kalt und zurückziehend zu benehmen, besonders wenn dessen Geliebte zugegen war, wobei ein gewisser Argwohn durchschimmern gelassen wurde, der dem schönen Mädchen nicht entgehen konnte.
Nach Verlauf etlicher Wochen trat eines Morgens in das Geschäftslocal, wo S. angestellt war, ein Gerichtsbote, um dem erstaunten jungen Mann seine Verhaftung anzukündigen, indem er denselben benachrichtigte, daß sein Freund L. ihn angeklagt habe, des an ihm begangenen Diebstahls verdächtig zu sein. Darauf wurde das Zimmer des Unschuldigen genau durchsucht und man fand wirklich an einem verstecktem Platze die vermißte Brieftasche sammt deren gewichtigem Inhalt. Dadurch wurde die Verurtheilung des armen S. zu dreijährigem Zuchthaus herbeigeführt, und das berüchtigte Staatsgefängniß von Sing-Sing am Hudson nahm den heillos Betrogenen auf.
L. spielte die Heuchlerrolle so vollkommen, wie es nur geschehen konnte, indem er große Niedergeschlagenheit über den Vorfall an den Tag legte und viel über die Verdorbenheit unserer Zeitgenossenschaft klagte. Besonders wurde von ihm Alles aufgeboten, um die tiefbetrübte Braut zu trösten und das Bild des Geliebten aus ihrer Brust zu reißen, was nach und nach auch gelang; denn der weibliche Stolz war durch eine so schmachvolle Verurtheilung schwer verletzt und die Amerikanerinnen sind zu sehr daran gewöhnt das Urtheil der Welt zu berücksichtigen, als daß andere Gefühle bei ihnen nicht darunter zu leiden haben sollten. Allmählich ging das schöne Mädchen in die ihr gelegten Netze des schändlichen L., glaubte fest an die Schuld des unschuldigen S. und ließ sich endlich bewegen, die dargebotene Hand des L. anzunehmen, zumal es ihr immer unerträglicher wurde, als Braut einen verurtheilten Verbrechers und gemeinen Diebes betrachtet zu werden.
Zwei Jahre lang brachte S. im Staatsgefängniß zu und wurde dann vom Gouverneur begnadigt, mit Rücksicht auf sein musterhaftes Verhalten.
Er wollte nicht auf den Schauplatz seiner Entehrung zurückkehren, sondern ging nach der Hauptstadt Indiana’s, um daselbst als Geschäftsmann ein Fortkommen zu suchen. Anfänglich glückte ihm dies auch und er verheirathete sich 1861 mit einem Mädchen, das auch sehr schön war, aber den Keim der Schwindsucht in sich trug, so daß sich bald Kränklichkeit bei ihr einstellte, nachdem sie ein Kind geboren, das nur kurze Zeit am Leben blieb. S. selbst hatte schon im Gefängniß sehr an seiner Gesundheit gelitten, wozu Kummer und Gram besonders beitrugen, die ihn auch nachher nicht verließen. Durch den Tod seines Kindes, dem der seiner Frau bald folgte, erhielt seine Körperbeschaffenheit harte Stöße; hierzu traten noch geschäftliche Unglücksfälle, so daß er endlich so vielen Schlägen nicht mehr zu widerstehen vermochte und öfter krank darniederlag. Aus Gesundheitsrücksichten, sowie um einen neuen Schauplatz zu suchen, auf dem er besser gedeihen könne, verließ S. Indianopolis und siedelte nach Chicago über, wo ihm das Glück indeß auch nicht lächeln wollte. Ein finsteres Geschick schien sich an seine Fersen geheftet zu haben, und nur mühsam schleppte er das Leben in trauriger Weise fort.
Unterdessen hatte der Congreß das Conscriptionsgesetz erlassen und bei der ersten Ziehung zur Aushebung kam der Name unseres S. unter die Vordersten auf die Liste. Ohne die Geldmittel, sich einen Stellvertreter kaufen zu können, blieb dem Unglücklichen nichts übrig als der Eintritt in’s Heer, wo vielleicht eine mitleidige Kugel allem Elend ein Ende machen konnte. Etwa acht Tage, nachdem sich S. dem Provost-Marschall überliefert, theilte ihm dieser mit, daß ein Substitut für ihn gestellt sei und er demzufolge entlassen wäre. Alle Nachfragen darüber, woher diese überraschende Hülfe gekommen, waren vergebens, und selbst der Stellvertreter wußte nur zu sagen, daß er achthundert und fünfzig Dollars von einem Rekruten-Makler unter der Bedingung erhalten habe, für S. einzutreten.
Nach Verlauf eines Monats erhielt S. einen Brief ohne Namensunterschrift, worin er gebeten wurde, in ein prachtvolles Haus auf der Michigan-Avenue zu kommen, indem sich daselbst Jemand befinde, den sein Schicksal nahe angehe. Er eilte natürlich, dieser Einladung zu folgen, und die Thür wurde ihm von – Sarah geöffnet.
Mr. L. war kurze Zeit nach seiner Verheirathung nach Chicago gezogen, wo er mit seinem Gelde große Geschäftsunternehmungen machte, die dergestalt glücklich ausfielen, daß sein Reichthum von Jahr zu Jahr anwuchs. Anfangs wurde Sarah von ihm gut behandelt, doch trat später unter Beiden Entfremdung ein, die zuletzt in Bitterkeit ausartete. L. legte dabei große Leidenschaftlichkeit an den Tag, welche ihn einmal so weit hinriß, daß er seine Frau wegen ihrer frühern Liebschaft mit dem „Galgenvogel“ höhnte und damit prahlte, das Geld wäre von ihm selbst auf das Zimmer ihres Geliebten getragen und dort versteckt worden. Man kann sich denken, welchen Eindruck dieses Geständniß auf Sarah machen mußte, die keine Thräne vergoß, als L. vor zwei Jahren starb und sie als reiche Wittwe zurückließ. Langeweile hatte Sarah veranlaßt, die Namenliste der Conscribirten in den Zeitungen zu durchlesen, und dabei war ihr der unseres S. aufgestoßen, für den sie sofort einen Stellvertreter kaufte, als sie sich überzeugt hatte, daß es sich wirklich um ihren früheren Geliebten handle.
Wie der Schluß des interessanten Dramas war, das brauchen wir unsern Lesern nicht zu erzählen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: hineinein