Die Gartenlaube (1865)/Heft 27
[417]
No. 27. | 1865. |
Die Burgsau ist ein lachendes Hochthal, im länglichen Kreise von majestätischen Bergkolossen eingeschlossen. Da, wo das Thal allein einem Fuhrwerke zugänglich ist, an einem steilen Hohlwege liegt der Markt gleichen Namens. Der kleine, allem Weltverkehr entlegene Ort besteht aus lauter hölzernen Häusern, von welchen sich die vornehmsten entweder nur durch die geringere Baufälligleit oder eine größere Fülle primitiver Ornamentik und mehr hingekleckster, als gemalter Heiligenbilder auszeichnen.
Seitwärts auf einer Anhöhe, in der Gestalt einer abgestumpften Pyramide, erhebt sich eine alterthümliche, graue Mauermasse, einer Citadelle vergleichbar und groß genug, um dem ihr zu Füßen liegenden Orte ein solideres Material zum vollständigen Umbaue zu liefern.
Es ist das fürstliche Schloß, ein Ueberbleibsel aus der Feudalzeit, welchem von seiner ehemaligen Herrlichkeit nichts übrig geblieben ist, als der Besitz der Patrimonial-Gerichtsbarkeit, und selbst diese war zur Zeit, da die nachfolgende Geschichte gespielt, ihrem Verscheiden schon sehr nahe.
Der Fürst, kein Freund eines idyllischen Gebirgsaufenthaltes, hatte, obgleich er schon seit dreißig Jahren Majoratsherr war, seine schöne Herrschaft Burgsau noch nie betreten und auch nur selten seinen übrigen Schlössern die Ehre seines Besuches erzeigt, da er sich nur in dem Luxus der Weltstädte behaglich fühlte. Sein Hofrath, Herr von Zintner, schaltete und waltete diese ganze lange Zeit über als oberster Verwaltungschef und Gerichtsherr, so daß sich die Bevölkerung daran gewöhnt hatte, den Stellvertreter des Fürsten gewissermaßen als den regierenden Herrn anzusehen.
Der Hofrath, bereits ein Siebenziger, war ein feiner, ästhetischer Epikuräer: Wohlleben war für ihn das höchste menschliche Ideal, welches er aber auch vollständig erreichte. Geschäftssorgen kannte er nicht, er ließ Alles beim Alten und seine Berufspflichten waren damit erfüllt, daß er die Maschine durch die nöthige Zahl von Unterbeamten im Gange erhielt und zu Zeiten eine seiner Mußestunden opferte, um eingelaufene Gesuche, die unmöglich länger aufzuschieben waren, zu erledigen und angeklagte Unterthanen zu verhören und zu richten.
Dieser bureaukratische und richterliche Theil der Stellung war derjenige, welcher dem Hofrath am schwersten fiel, nicht weil er ihn mit Arbeiten überbürdete, sondern weil der gestrenge Herr für die bagatellmäßigen Anliegen der Bauern gar kein Verständniß hatte und im Gefühle seiner Vornehmheit und seines Ranges fast die Berührung mit dieser schlichten Menschenclasse scheute. In einer Gegend, deren Bevölkerung das vollkommenste Still- und Gewohnheitsleben führte und in ihrem primitiven Zustande nächst Gott den Pfarrer und den Hofrath als die höchsten Wesen verehrte, gab es wahrlich keinen Luxus von Streit- und Justizfällen, welche überhaupt nicht in der Abgeschlossenheit der Berge, sondern da, wo reger Handel und Verkehr ist, ihren fruchtbaren Boden haben. Hier in der Burgsau ging man nur selten und nur nothgedrungen zu Gericht, und was da vorkam, bewegte sich in dem alltäglichsten Geleise, gerade wie das einfache und anspruchslose Gebirgsleben der Bewohner, ohne die Obrigkeit zu belästigen oder in besonderem Maße geistig anzustrengen.
Der Himmel weiß aber, wie der Hofrath mit diesem Theil seiner Amtspflichten fertig geworden wäre, wenn ihm das Schicksal nicht in der Person seines Gerichtsdieners einen Mann an die Seite gestellt hätte, welcher seine Gensd’armerie, sein Instructionsrichter, sein Staatsanwalt, seine Jury, sein Strafvollstrecker, oft Alles gleichzeitig bei einem und demselben Gerichtsfalle war.
Dieser Mann hieß Grüneisen und war ein alter, ausgedienter Corporal von dürrer Mittelgestalt, einem ordinären, aber biedermännischen Gesichte, welchem der borstige Schnurrbart, die buschigen Augenbrauen und die zerrauft über die Ohren herabhängenden Büschel, welche sein Kopfhaar vorstellten, einen Ausdruck von Wildheit verliehen. Er war auch ein Choleriker, aber streng rechtlich und gerecht, insoweit Heftigkeit und eine nicht geringe Beschränktheit, wie die seinige, jederzeit gerecht sein können. Seinen messingbeschlagenen Stock, den er beständig schwang und zwischen den Händen drehte, schien er sich von seiner militärischen Vergangenheit her als organischen Bestandtheil seines Wesens angeeignet zu haben.
Es war ein heißer Julitag. Der Hofrath hatte sich bequemt, wieder einmal im Gerichtssaale zu erscheinen. Seit frühem Morgen hatte er sich geplagt und auch die Streithändel einer bedeutenden Anzahl von Parteien entschieden. Mittagszeit war vom Kirchthurm längst verkündigt worden, aber es war ihm noch immer nicht vergönnt, sich in die liebliche Stille seiner Gemächer zurückzuziehen, denn es war noch der peinlichste Rest der Gerichtssession, mehrere Erkenntnisse rein strafrechtlicher Natur zu Ende zu führen.
Ein Handwerksbursche, der es gewagt hatte, mit einem abgelaufenen Wanderbuche in der Fremde zu existiren, sollte in seinem wilden Freiheitslaufe noch auf die Bahn der Polizeiordnung [418] zurückgebracht werden; ein Knecht, welcher, der Vorschrift entgegen, einen Abhang ohne Radschuh hinabgefahren war, mußte für die mißkannte Fürsorge der Obrigkeit, welche nur seinem eigenen Halse und seinen eigenen Knochen gegolten, exemplarisch bestraft werden, und endlich war noch eine Verbrecherin da, ein altes Weib, welches im herrschaftlichen Walde eine Schürze voll Laubstreu gesammelt hatte, um der Hausziege ein weiches Lager zu bereiten.
Als auch diese aufregungsreichen Verhandlungen mit des Himmels und Grüneisen’s Hülfe überstanden waren, schloß der Hofrath die Schubläden seines Secretairs für längere Zeit wieder zu und warf sich, nur Grüneisen’s Rückkehr erwartend, der die Waldfrevlerin escortirt hatte, in den weiten Lehnstuhl. Sein glatt rasirtes, wohlerhaltenes und wohlgeformtes Gesicht und seine nicht dicke, doch abgerundete Gestalt verriethen eine eigenthümliche Verweichlichung; indeß blieb es nicht räthselhaft, warum der alte Herr den ganzen Tag lang fahren, jagen und bis in die späte Nacht tafeln konnte, aber der geringsten ernsten Arbeit erlag. Stirn, Wangen bis an’s Kinn hinab waren mit Runzeln bedeckt, doch hinter jeder derselben schien schmunzelndes Wohlbehagen zu lagern.
Die Thür that sich nach ein paar Minuten auf, Grüneisen erschien. Der Hofrath erhob sich wie auf ein Signal zur Mittagstafel.
„Euer Gnaden,“ sprach Grüneisen eintretend mit sehr verdrießlicher Miene, „wir sind noch nicht fertig –“
„Was?“ rief der Hofrath zusammenfahrend.
„Eine Partei wartet noch draußen,“ fuhr der Gerichtsdiener fort, „eigentlich gesagt, zwei.“
„Daraus kann nichts werden,“ rief der Hofrath im vollsten Schrecken und wollte aus dem Gerichtssaale fliehen.
„Euer Gnaden haben zu befehlen,“ sprach Grüneisen mit scheinbarer Ergebung, „aber dann werden wir die Leute jeden Tag auf dem Halse haben; es sind Brautleute und die haben es sehr dringend.“
„Wer ist es denn?“ fragte der Hofrath sehr desperat.
„Der Stegwirth und Leonhard vom Unteranger,“ begann Grüneisen, als ihm der Hofrath schon dazwischenfuhr, indem er ausrief:
„Die haben ja bereits ihre Heirathsbewilligung, womit kommen sie denn noch? um mich todtzuplagen?“
„Ich weiß nicht,“ brummte Grüneisen, welcher es wirklich nicht wußte, aber doch die Audienz zu Stande bringen wollte, nicht aus Amtseifer, sondern aus Rücksicht auf den Stegwirth, bei welchem er des Jahres manches Gläschen Bier und Schnaps unentgeltlich leerte. „Etwas wegen Grundstücken, so habe ich halb und halb gehört; die Leute haben sich so rasend lieb und wollen sich vermuthlich noch Etwas zuschreiben.“
„Die Angelegenheit hat mir schon so viel Mühe gemacht,“ sprach der Hofrath, die Stirn reibend, „doch weiß ich nicht mehr, wen die beiden Burschen heirathen! Helf’ Er meinem Gedächtniß ein Bischen auf die Beine!“
„Na,“ erwiderte Grüneisen, „der Stegwirlh nimmt die Balbina vom Oberanger, das schönste Mädchen im ganzen Pfarrbezirk, und Leonhard nimmt die Brigitte, die Tochter vom Stegbauer, über die sich nur sagen läßt, daß sie nicht übel ist und eine eben so schöne Aussteuer hat, wie die Andere.“
„Richtig, richtig,“ murmelte der Hofrath.
„Da dächt’ ich nun,“ fügte Grüneisen wärmer hinzu, „Euer Gnaden sollten die Leute doch vorlassen, damit die Sache in Ordnung kommt; sie haben sich so lieb und haben eine höllische Mühe gehabt, ehe sie es so weit gebracht haben!“
„Ich sehe,“ versetzte der Hofrath einlenkend, „daß ich doch nicht früher zum Mittagstisch komme! Also schnell herein mit ihnen, aber, hör’ Er, wir wollen es kurz machen, recht kurz!“
Er nahm seinen Richterstuhl wieder ein. Der Gerichtsdiener ging, mit seinem Erfolge zufrieden, an die Thür und rief laut, nachdem er geöffnet:
„Ihr dürft hereinkommen, aber müßt Euch kurz fassen, sonst kommt unser gnädigster Herr vor lauter Verhören heute nicht zum Mittagsessen!“
Die beiden Brautpaare traten mit dem gedrückten Ernst, der den Bauern in der Kirche und im Amtssaale eigen ist, ein. Die Mädchen blieben dicht an der Thür, die Männer hatten sich kaum zwei Schritte weiter vorgewagt. Der Anzug Aller bezeugte, daß sie aus wohlhabenden Häusern waren. Die beiden Männer, ungefähr dreißig Jahre alt, hatten schwarze Sammtjacken mit dicken Seidenschnüren und funkelnagelneue Filzhüte mit schweren, echten Goldtroddeln, die Mädchen waren gleichfalls im Sonntagsstaate, sie trugen seidene Jacken, weite Schürzen von schwerster Seide, Hauben von Golddraht, der Hals war mit Perlenschnüren und Goldmünzen überladen.
Der Hofrath war plötzlich aufgestanden und näher gekommen. Seine Mienen waren die freundlichsten, doch war es nicht herablassendes Entgegenkommen gegen die schüchternen Unterthanen, sondern eine Folge der Anziehungskraft, welche Balbina’s hohe, reizende Gestalt und ihr madonnenähnliches Gesicht auf den hochbetagten Kenner weiblicher Reize ausgeübt hatten.
„Was giebt es noch immer?“ redete der Hofrath die Leute überaus leutselig an. „Ich hätte geglaubt, daß Ihr Euere kirchlichen Aufbietungen schon längst gehabt habt!“
„Wir haben es ganz verkehrt angefangen, Euer Gnaden,“ erwiderte der Stegwirth, ein unansehnliches Männchen, mit einem gewissen Humor, „und kommen auch deshalb, um zu bitten, daß Sie es, Euer Gnaden, mit ein paar Federstrichen wieder repariren!“
„Was denn, was denn?“ fragte der Hofrath, der in dem Gesagten keinen Sinn fand, stutzig.
„Ich muß nämlich Leonhard’s Mädchen, die Brigitta, heirathen,“ fuhr der Stegwirth fort, „und Leonhard die meinige.“
„Macht Er Spaß oder ist Er verrückt?“ rief der Hofrath, Grüneisen, der hinter ihm stand, einen Blick größter Verwunderung zuwerfend.
„Kein Spaß!“ versetzte der Stegwirth sehr ernst. „Wie würde sich unser Einer erfrechen, vor Euer Gnaden einen Spaß zu machen! Es ist so. Ich muß die seinige und er die meinige kriegen, und so hätte es von allem Anfang an gekommen sein sollen, damit Euer Gnaden selbst die kleine Mühe erspart worden wäre, welche es kostet, um in unseren Heirathsgesuchen die Namen der beiden Mädchen umzuschreiben.“
Er zog bei den Worten die betreffenden Papiere aus dem Innern der Jacke hervor.
Leonhard, ein bildschöner Mann von sehr hoher Gestalt, der bisher mit eigenthümlicher Apathie dagestanden hatte, rührte sich in dem Augenblicke und zog gleichfalls seine Papiere hervor.
Die Mädchen blickten stumm und reglos, wie bisher, vor sich auf den Boden. Diese Haltung aller Vier verrieth offenbar das vollkommenste Einverständniß.
„Wenn ich Euch nicht so vor mir dastehen sehen würde,“ sprach der Hofrath, die Hände zusammenschlagend, „so würd’ ich glauben, daß ich falsch und ganz unrecht gehört habe! Jetzt versteh’ ich erst, was Ihr verkehrt angefangen heißt! Das ist doch – aber ich fahre schon darüber so auf, ehe ich noch weiß, was Euch dazu gebracht hat! Die Gründe! die Gründe! –“
„Sie haben es errathen, gnädigster Herr,“ versetzte darauf der Stegwirth rasch und erfreut, „und darum werden Sie uns gewiß Recht geben. Ja, die Gründe! Ganz recht, deswegen geschieht’s! Meine Gründe grenzen gerade an die des Stegbauers, und der Unteranger, der dem Leonhard gehört, und der Oberanger, wo Balbina her ist, hängen aneinander und sind zwei Hälften, die eigentlich ein einziges Stück sein sollen. Der Gründe wegen sind wir für die Kreuzheirath und ich muß die Brigitta heirathen und mein Camerad Leonhard meine frühere Braut Balbina. Dann ist unser Besitzstand schön beisammen und wir sind, wie man im gelehrten Hochdeutsch sagt, ganz und gar arrondirt!“
„Ist Er zu Ende?“ schrie der Hofrath, welchem vor Aufregung die Zähne gegeneinander anstießen und die Hände zitterten.
„Wo hat Er die Unverschämtheit her, einen solchen gemeinen Tauschhandel hier in der fürstlichen Amtsstube vor meinen Augen aufzudecken und mir in’s Gesicht zu sagen, daß ich Euch Recht geben werde? Ihr zeigt einen Stumpfsinn und eine Habgier, daß so Etwas nicht unter den Wilden vorkommen könnte! Aber das scheint Ihr weder zu fühlen, noch zu wissen! Wenn man Euch sieht und hört, glaubt man Klötze, nicht Menschen, vor sich zu haben!“
„Aber ich begreife nicht –“ fing der Stegwirth an, indem er mit stupider Verwunderung seine Genossen anblickte, als ihm der Hofrath das Wort heftig abschnitt.
„Genug!“ rief er. „Ich werde heute vor Aerger keinen Bissen mehr hinabbringen! Und das hätt’ ich mir erspart, wenn ich mir nicht von Grüneisen so viel hätte zureden lassen! Was hat Er mir vorhin vorgeschwätzt?“ wandte er sich an den Gerichtsdiener, der seither mit offenem Munde, vor Ueberraschung starr, dagestanden hatte. „Was soll ich künftighin von Seiner Ansicht und [419] Fürsprache halten, wenn Er versichert, daß sich diese Leute so rasend lieb haben –“
„Ich hab’ es halt so gemeint,“ fuhr Grüneisen in desperater Selbstvertheidigung heraus; „Was, um des Himmel willen, soll der Mensch meinen, da ich doch selbst mit eigenen Augen gesehen habe, daß der Stegwirth alle Hebel angesetzt hat, um die Balbina zu kriegen, die lange Zeit gar nicht darangehen wollte? Was soll der Mensch meinen, wenn er sieht, daß sich Leonhard seit einem Jahre die Füße abläuft, um beim Stegbauer zu hocken; wenn er der Brigitta auf allen Jahrmärkten die theuersten Sachen kauft und zehnmal des Tages am Zaun mit ihr steht? Ja, wenn man das nicht für Liebe halten kann, so müßte man auch einen Hund für keinen Hund halten, wenn man ihn blos sieht und nicht auch bellen hört! Ich hab’ es halt gemeint und das hat auch die ganze Ortschaft gemeint!“
„Habt Ihr denn gar keine Religion?“ wandte sich der Hofrath sehr eindringlich an die Brautpaare. „Habt Ihr in der Kirche nicht oft genug gehört, daß die Ehe ein Bund der Herzen, ein heiliges Sacrament, nicht ein elender Güterschacher ist? Zu Eurer Ehre will ich glauben, daß Ihr in Euch gehen und Euch noch besinnen werdet! Auch der Herr Pfarrer wird –“
„Wir sind schon entschlossen,“ sprang der Stegwirth mit plötzlichem Trotz in’s Wort, „und sind nicht hierher gekommen, um das hohe Gericht zum Narren zu halten. Wir wissen, was wir wollen, und bleiben dabei!“
„Auch kann uns Nichts daran hindern,“ fügte Leonhard, der sich bisher so still verhalten, zur Unterstützung des Stegwirths energisch hinzu. „Uebrigens ist es viel besser, man thut einen solchen Schritt vor der Hochzeit zurück, als man bereut nachher.“
„Du triffst den Nagel – sehr wahr!“ bekräftigte der Stegwirth diese seltsame Logik.
„Ich kann und will Euch nicht mit Gewalt zurückhalten,“ versetzte der Hofrath darauf, „aber Ihr würdet verdienen, daß sich jeder Priester scheue, Euch einzusegnen! Und Du, Balbina!“ er richtete an die Genannte, die hinten wie eine Bildsäule stand, in freundlich zusprechendem Tone das Wort, „Du bist ein so schönes Mädchen! Deine Gesichtszüge sind so sanft und weich, daß man annehmen sollte, daß Du Herz und Gemüth in Dir hast. Deine großen Augen blicken so freundlich und, ich möchte beinahe sagen, so lieb, daß man Gefühl und weibliche Sitte bei Dir vermuthen dürfte. So oft Dich meine Frau in der Kirche sieht, erzählt sie mir mit wahrem Vergnügen, wie Du ihr gefällst und welchen besonderen Anstand Du immer zeigst! Du bist so häuslich, man sieht Dich nicht, wie Andere, bei allen Lustbarkeiten herumtoben, Du lebst nur für die Arbeit und Deine Mutter. Könntest Du das Ansehen, das Du bei allen besseren Leuten mit Recht genießest, so mit Füßen treten und, ohne von der äußersten Noth gedrängt zu sein, eine Heirath eingehen, welche keinen Zweck bat, als die Güter zweier Nachbarn zusammenzulegen? O pfui, das kann ich nicht – das kann ich nicht von Dir glauben!“
Balbina blieb wie ein Stein, ihre Augen hatten weder während der eindringlichen, sympathievollen Anrede des Hofraths, noch nachher den Boden verlassen, auf welchen sie die ganze Zeit über starr und fix geheftet waren.
In Brigitta dagegen, welche wahrscheinlich von den ihrer Mitbraut gespendeten Lobsprüchen gekränkt und verletzt war, erwachte plötzlich Leben, und sie sagte zum Hofrath in sehr lebhaftem und schnippischem Tone:
„Sie ist schon entschlossen, und wir denken da Eine wie die Andere! Ich heirathe den Stegwirth oder will Klosterfrau werden!“
„Dann bin ich mit Euch fertig!“ sprach der Hofrath mürrisch und unwirsch. „Reicht neue Gesuche ein, und wenn das Unglück über Euch kommt, das sich schon vorhersehen läßt, so hab’ ich Euch in letzter Stunde gewarnt und Ihr werdet kein Mitleid verdienen. Geht!“
Die Brautpaare machten auf das Geheiß Kehrtum und waren im Nu draußen.
„Hat man so Etwas erlebt!“ rief der Hofrath, als er mit Grüneisen allein war.
„Wie die Thiere,“ brummte Grüneisen, „wie die Thiere!“
„Was sag’ ich immer über die Bauern?“ fuhr der Hofrath fort. „Meine Frau glaubt, daß ich zu hart und zu lieblos urtheile! Es fehlt an tüchtigen Schulen, und die Kirche allein macht Nichts aus ihnen, Schulunterricht muß mithelfen –“
„Und ein derber Stock,“ fiel der ehemalige Corporal ganz wild in’s Wort. „Euer Gnaden sind zu nachsichtig, zu gnädig, zu fein. In der Armee hab’ ich es gesehen, aus welchen Lumpen der Stock die vortrefflichsten Menschen gemacht hat! Wenn ich der Herr Hofrath wäre, ich würde unter die Bauern dareinfahren, wie unter die Türken! Dann ging’s!“
„Nun, Gott bessre es!“ murmelte der Hofrath mit einem Seufzer. „Ich muß den Vorfall meiner Frau gleich erzählen.“
Er bewegte sich mit großer Eile nach seinen Gemächern.
Der höhere Theil einer mächtigen Halde, welche, mit schönen Hochwiesen und Buchengehölzen bedeckt, ungefähr fünftausend Fuß hoch hinaufsteigt, wo die schroffen Wände des Gebirgskammes die Vegetation nicht mehr aufkommen lassen, heißt der Oberanger, der untere Theil der Unteranger. Ein Fußpfad und ein steiniger Hohlweg, dem trockenen Bette eines Wildbachs ähnlich, beide sehr steil, führen zu Leonhard’s Hofe, eine starke halbe Gehstunde über der Thalsohle gelegen, und von dort, mehr als doppelt so hoch, zu Balbina hinauf. Das Haus der Letzteren ist der höchste Bauernhof im ganzen Kessel der wildromantischen Burgsau, und von dem Markte gleichen Namens dritthalb Stunden weit entfernt.
Zu Mittag, mehrere Tage nach der geschilderten Gerichtssession, als die Sonne der Hundstage mit wahrhaft grausamen Strahlen herabglühte, kam Leonhard von einem Ausgange zurück. Von Weitem schleuderte er schon den Hut von der schweißbedeckten Stirn auf den hölzernen Tisch, der unter einer großen Buche stand, und warf sich selbst auf die Bank daneben, wie wenn ihn die Kräfte in solcher Hitze nicht bis in’s Innere deö Hauses zu tragen vermöchten.
„Hansel, Hansel!“ rief er mit seiner Löwenstimme seinem Stallknecht.
Hansel kam, ein mittelgroßer, dürrer, aber nerviger Mann im besten Alter, von jenem traurigen Phlegma des Ausdrucks und Wesens, welches die Gewohnheit, die niedrigsten Arbeiten zu verrichten, häufig erzeugt.
„Warst Du im Oberanger-Hof?“ fragte ihn der Herr.
„Gleich in aller Frühe,“ versetzte Hansel, „kaum, daß Du mir es angeschafft hast.“
„Wo sind die Papiere?“ fragte Leonhard hastig.
„Die hab’ ich in die Backstube hingelegt,“ war die Antwort.
„Bring’ sie her!“
Als sie Hansel gebracht hatte, griff Leonhard rasch darnach und sah sie durch.
„Dummer Kerl,“ rief er, einen der Bogen in den Händen auseinanderfaltend, „bei dem Gesuche fehlt die Unterschrift! Weßwegen hab’ ich Dich zur Balbina geschickt?“
„Ein dummer Kerl bin ich,“ gab Hansel mit der ruhigsten Ueberzeugung zur Antwort, „aber ich weiß nicht, ob sie unterschrieben hätte, wenn Du einen viel Gescheidteren, als mich, hingeschickt hättest!“
„Schweig, Strohkopf,“ herrschte ihn Leonhard an. „Sie hat auf die Schrift gewartet und gewußt, daß sie sie unterschreiben muß. Du mußt sie aber mit Deinem Zungengedresch ganz irre gemacht haben!“
„Hat sie es gewußt und nicht gethan,“ versetzte Hansel überaus gelassen, „so wird sie am besten wissen, warum, und ich kann da Nichts verdorben haben.“
„Wie hast Du ihr also meinen Auftrag ausgerichtet?“ fragte Leonhard.
„Gar nicht,“ lautete die seltsame Antwort, „kein Sterbenswörtlein habe ich gesagt und kann sie also nicht irre gemacht haben.“
„Da hat man es! Was hab’ ich gesagt?“ rief Leonhard mit einer vor Zorn mißtönenden Stimme, indem er sich wild erhob und auf den Knecht mit geballten Fäusten losstürzte. „Deine Ohren sollt’ ich Dir abreißen, Dummkopf!“
Hansel blieb unbewegt stehen, wie ein Meilenzeiger, wiewohl er nicht wissen konnte, daß die Drohung ohne alle Folgen bleiben werde.
„Was hätt’ ich sagen sollen?“ sagte der Knecht mit seiner vorigen Ruhe. „Was hättest Du gesagt? Sie ist oben am Fenster gestanden und hat mich in den Hof hineintreten sehen. ‚Du bringst gewiß die Papiere,‘ hat sie mir gleich heruntergerufen. Das hat sie sich freilich leicht denken können, denn sie hat gesehen, [420] daß ich sie in der Hand trage. ‚Geh wieder,‘ hat sie in einem Athem gesagt, ‚ich unterschreibe nichts, sag’s zu Hause, ich unterschreibe nichts!‘ Dann ist sie vom Fenster gleich fortgelaufen.“
Leonhard’s Augen zuckten, seine Züge veränderten sich, wie wenn er von einem Schreckensgedanken gefaßt worden wäre, und er stierte stumm vor sich hin.
„Gelt,“ rief Hansel mit einer gewissen Selbstzufriedenheit, „jetzt kannst Du nichts mehr sagen! Ich habe meine Sache doch ganz gut gemacht.“
Er begab sich wieder in den Stall zurück.
„Hätte sich Balbina anders besonnen?“ murmelte Leonhard, „so wollt’ ich nun an dieser Buche gleich die Stirn einrennen! Nein, nein, sie ist vor Gericht darauf bestanden, ich habe sie erst gestern gesprochen, nein, nein – dahinter wird nichts stecken, als eine kleine, lumpige Ursache!“
Er lehnte sich an einen Baumstamm, und wiewohl er noch in Gedanken versenkt blieb, klärten sich seine Züge wieder auf und nahmen ihren gewöhnlichen Ausdruck heiterer Sorglosigkeit und liebenswürdigen Leichtsinns an.
Er war ein ungewöhnlich schöner Mann von sehr hoher, aber gefälliger Gestalt, ein Bild der Kraft. Ein paar lebenslustige, feurige, dunkle Augen blitzten aus dem jugendfrischen, ebenmäßigen Gesichte einnehmend hervor. Der Teint war männlich gebräunt, die Nase fein und edel gebogen, die Stirn, wie nach dem Vorbild der Antike geformt, mit glänzend schwarzen, gelockten Haaren geschmückt; der Mund schön geschnitten, voll der herrlichsten Zähne, von einem sich kräuselnden Schnurrbärtchen überschattet. Wie er dastand in der Joppe, dem leicht gebundenen Halstuch, den nägelbesetzten Bergschuhen, den Wollstrümpfen und Kniehosen, unter welchen die Kniee frei vorschauten, war er das wahrhafte Künstlermodell eines schönen Gebirgsmannes.
Der stehende Ausdruck seines Gesichtes, sorglose Jugendlust, wurde aber von Zeit zu Zeit von seinem wahren Gegensatze durchbrochen, nicht allein, wenn Leonhard in einen Affect gerieth. Die freundlichen Augen wurden stier, die bacchusgleiche Stirn runzelte sich, die Nasenflügel öffneten sich, wie bei einem scheuen Pferde, der Mund zog sich wie zum Schnappen und Beißen in die Breite. Es war das Portrait eines schönen Banditen, der einen Anschlag brütete oder gar ausführen wollte. Es verrieth sich eine wilde Thatkraft, welche zwar noch niemals zum Ausbruch gekommen war, obschon es in Leonhard’s Leben nicht an Proben der Leidenschaft fehlte. Dennoch ließ sich dem Manne nichts nachsagen, als daß er aus übergroßer Lebenslust zu leichtsinnig, sehr verschwenderisch und, von Getränk erhitzt, händelsüchtig war.
Ein paar Wucherer hätten ihm freilich ärgere Dinge nachzusagen gewußt, welche ihn in der öffentlichen Meinung todtgemacht hätten. Er galt für einen der Wohlhabendsten in der Burgsau; man wunderte sich über seine großen Ausgaben, weil man dieselben für luxuriös hielt, aber man glaubte nicht, daß sie den Grundstock seines Besitzes untergrüben. Das war indeß längst der Fall. Leonhard’s Hof war hoch überschuldet und sein gänzlicher Bankerott konnte nicht länger als noch vier bis sechs Wochen auf sich warten lassen, wenn er nicht bis dahin bedeutende Mittel zur Deckung gefunden hatte.
Dieser schlechte Vermögenszustand erklärt auch seine Liebe zu dem reichsten Mädchen des Ortes, der Stegbauerstochter Brigitta, welche auch trotz des langen Widerstrebens der Eltern zur Heirath geführt haben würde, wenn der Stegwirth nicht vor Kurzem mit dem Plane der Kreuzheirath aufgetreten wäre.
Den Stegwirth, der ein sehr industriöser, aber bis zum Geize knauseriger Mann war, leiteten dabei zwei sehr nüchterne und einträgliche Motive. Brigitta war etwas reicher, als Balbina, und ihr Hof hing mit seiner Wirthschaft gerade so zusammen, wie der Ober- und Unteranger. Ihm war es daher mit der Arrondirung vollkommenster Ernst.
Anders verhielt es sich mit Leonhard, als er auf den Vorschlag des Stegwirths so rasch und unbedingt einging. Er verzichtete auf das reichere Mädchen, welches noch einen sehr energischen Vater hatte, und entschied sich für Balbina, die den großen Vorzug besaß, nur noch eine alte, gute und schwache Mutter zu haben, welche ihn nicht gehindert hätte, nach Belieben zu schalten und zu walten und über das angeheirathete Gut zur Deckung seiner Schulden mit rücksichtsloser Freiheit zu verfügen.
Bei dieser Sachlage hatten die Ueberraschung und der Schrecken nicht gering sein können, nachdem der Knecht die auf die neue Heirath bezüglichen Papiere ohne Balbina’s Unterschrift wieder zurückgebracht hatte.
Leonhard hatte lange Zeit an dem Baumstamme gelehnt. Seine Gesichtszüge hatten ihre Aufheiterung nicht lange behalten und waren seitdem wie von bösen Ahnungen und finsteren Zweifeln überflogen. Ein schwerer Kampf ging in ihm vor und die innere Unruhe zeigte sich durch das rastlose Trampeln der Füße.
Urplötzlich griff er nach seinem Hute und den Papieren, die auf dem Tische lagen, machte einen Seitensprung zum Brunnen, wo er an der Wasserröhre einige rasche und starke Züge that, setzte über den Hofraum und sprengte, trotz der wachsenden Tageshitze, den Fußsteig zu Balbina hinan.
Eine Magd war vor dem Hause, als er oben angekommen war.
„Wo ist Balbina?“ fragte er heftig, da sich seine innere Aufregung mit der physischen verstärkt hatte.
„Beim Bleichen,“ war die Antwort, „hinten bei den drei Kreuzen.“
Leonhard bog blitzschnell um die Ecke und sah schon Balbina keinen Büchsenschuß weit auf einem grünen Rundplatze, wo drei ungeheure Kreuze – Christus und die zwei Schächer – standen und mehrere Riesenblöcke lagen, wie sie die weit umher ausgebreitete Leinwand mit der Gießkanne emsig überspritzte.
Das Mädchen wurde seine Ankunft nicht früher gewahr, als bis er dicht hinter ihm stand und es angeredet hatte.
„Warum hast Du nicht unterschrieben?“
Balbina wandte sick überrascht, ja betroffen um und setzte die Gießkanne nieder, faßte sich aber sogleich und sagte, indem sie das lose gewordene Kopftuch dabei band, fest und ruhig: „Das könntest Du Dir schon denken!“
„Denken?“ lispelte ihr Leonhard zusammenzuckend mit ausgehender Stimme nach.
„Da willst Du es nicht verstehen,“ sprach Balbina, indem sie die hohe Gestalt aufrichtete und alle Verlegenheit mit einem Male abschüttelte, „darum sag’ ich Dir, daß ich von dem ganzen Handel nichts mehr wissen will!“
Wer das alte Dictum kennt, welches wir als Motto an die Spitze dieser Charakterschilderung stellen, wird nicht ohne ein bitteres Lächeln des Windmüllers von Sans-Souci und seines Zwistes mit Friedrich dem Großen gedenken. Vor einem Jahrhundert, wo überall in Europa der Wille des Herrschers höchstes Gesetz war und speciell in Deutschland eintausend zweihundert kleine Tyrannen die Macht über Leben und Eigenthum ihrer Unterthanen ausübten, damals lebte im preußischen Volke noch jenes sprüchwörtlich gewordene kindliche Vertrauen in die Heiligkeit und Unwandelbarkeit des Rechts. Mit vielen andern mehr oder weniger kostbaren Gütern ist ihm wohl heutzutage die Kindlichkeit jenes Vertrauens entwichen und wie so mancher fromme Glaube auch der an die Gerechtigkeit merklich erschüttert worden.
Dürfen wir stolz hierauf sein? Sind wir jetzt etwa Männer deshalb, weil wir gelernt haben, unser Vertrauen vorsichtig abzuwägen?
Seitdem wir täglich erfahren und es im preußischen Abgeordnetenhaus öffentlich constatirt worden ist, daß Richter durch Richter zum Märtyrerthum ihrer politischen Gesinnung verurtheilt werden; seitdem im preußischen Justizministerium der Grundsatz gilt, daß der Jurist ein treuer Anhänger des herrschenden Systems sein müsse, und jeder Andersdenkende als ein Feind betrachtet und als solcher verfolgt wird – seitdem muß wohl der unbefangene Bürger die Befürchtung hegen, daß auch das Recht, das wie das Licht der Sonne jedem Sterblichen in gleichem Maße leuchten soll, zur Dienerin der kleinen, aber starken Partei erniedrigt werde und daß an Stelle der leidenschaftslosen Ruhe, in politischen Processen mindestens, die Leidenschaftlichkeit und der Parteihaß beim Urtheil mitreden.
[421]
Die Bestrafung von Justizbeamten wegen öffentlicher Aeußerung oder Geltendmachung ihrer politischen Ueberzeugungen ist seit der Vertagung des vorletzten Landtags stehender Artikel in den preußischen Zeitungen geworden. Während der Eine mit einem Verweise davonkommt, trifft den Andern Versetzung mit oder ohne Gehaltsverminderung, den Dritten eine Geldstrafe, den Vierten Absetzung etc. Die Mannigfaltigkeit der Strafmaße wird zwar immer überraschender, doch die Zahl der Opfer des Systems auch täglich größer, und hierin anerkennen wir einen wichtigen Fortschritt, insofern man allen unabhängigen Justizbeamten, wenn auch nicht in gleichem Maße, gerecht zu werden versucht.
Schreiender war das System in seinen Anfängen, als man noch einen Einzigen aus der großen Anzahl Gleichbetheiligter sich herausholte und ihn mit der ganzen Wucht langgenährten Hasses niederwarf. Ein solcher war der preußische Abgeordnete und ehemalige Oberlandesgerichts-Director Temme, dessen Leben wir den Lesern der „Gartenlaube“ erzählen wollen, denen er ja durch so manchen novellistischen Beitrag ein alter, lieber Bekannter ist.
Wem Vorrechte der Geburt oder erbliche Anlagen von vornherein seine besondere Stellung in der Gesellschaft angewiesen, der hat keinen Anspruch darauf, ein außerordentliches Gewicht auf seine lange Ahnenreihe von Regenten, von Musikern, Schauspielern oder Malern zu legen. Die Erscheinung solcher Successionen ist zu alltäglich. Sie erfolgen fast unabhängig von dem Willen der betreffenden Personen, die gewissermaßen einem unabweisbaren Schicksalsspruch gehorchen. Doch hat es eine höhere Bedeutung, wenn von Jahrhundert zu Jahrhundert in bürgerlichen Familien Generationen von Aerzten, Predigern, Naturforschern, Pädagogen, Richtern aufeinander folgen. In diesem Falle wird der Beruf des Vaters vom Sohne als eine geheiligte Würde bevorzugt, welche mit der Würde und Ehre der Familie in innigstem Zusammenhange steht und ihr ein so stolzes Bewußtsein verleiht, wie nur je eine Reihe königlicher Ahnen es vermöchte.
Jodocus Temme stammt aus einer alten westphälischen Familie, welche der rothen Erde schon eine große Anzahl angesehener Juristen gestellt hat. Am 22. October 1799 wurde er zu Lette in der Grafschaft Rheda geboren. Sein Vater, Amtmann des Klosters Clarholz, in Gemeinschaft mit seinem Onkel, einem gelehrten katholischen Geistlichen, ertheilte ihm einen so vortrefflichen Privatunterricht, daß Temme schon im Jahre 1813 in die Prima des Gymnasiums zu Paderborn eintreten und im Herbste 1814 die Universität besuchen konnte. Er studirte in Münster und Göttingen und wurde 1817, im Alter von achtzehn Jahren, Auscultator bei dem Oberlandesgericht zu Paderborn und um Ostern 1819 Referendar. Im Jahre 1821 wurde er zum Assessor bei dem fürstlich Bentheim’schen Land- und Stadtgericht zu Limburg [422] bestellt, folgte aber bald dem Prinzen von Bentheim-Tecklenburg bis zum Jahre 1824 als Erzieher auf die Universitäten Heidelberg, Bonn und Marburg. Um sich einen ausgedehnteren Wirkungskreis zu verschaffen, bestand Temme 1832 die dritte juridische Prüfung und wurde alsdann als Assessor an das damalige Hofgericht von Arnsberg versetzt.
Von hier aus beginnt sein Beamten-Wanderleben, das ihn, den verschiedenen Stufen der richterlichen Hierarchie folgend, in alle Provinzen des preussischen Staates führte, bis er bald nach der Märzrevolution von seinem Posten als Director des Land- und Stadtgerichts zu Tilsit als Staatsanwalt an das Criminalgericht zu Berlin berufen wurde.
In demselben ereignißvollen Jahre 1848 wurde Temme im Kreise Ragnit zum Abgeordneten in die National-Versammlung erwählt, und hiermit tritt er in seine politische Laufbahn. Es ist bekannt, wie ernsthaft er seine Ausgabe als Volksvertreter nahm, mit welcher Entschiedenheit er die Sache der Demokratie gegenüber der Junker- und Hofpartei wie dem kleinen Häuflein der ewig vertrauensvollen Altliberalen vertrat. Das Ministerium Auerswald-Hansemann hatte mit seinem Amtsantritt die Verpflichtung übernommen, Temme und einige andere mißliebige Abgeordnete, welche hohe Richterposten bekleideten, aus ihren Aemtern zu entfernen. Während Temme Staatsanwalt am Criminalgericht zu Berlin war, wurden von der Reactionspartei an seine amtliche Thätigkeit Anforderungen gestellt, welchen er unmöglich entsprechen konnte. Man brauchte gefügigere Werkzeuge, und darum wurde er im Juli trotz seines Protestes zum Director an das Oberlandesgericht zu Münster befördert. Doch kaum hatte er sein neues Amt vier Wochen lang verwaltet, als er wieder in Ragnit zum Abgeordneten gewählt wurde und in Folge dessen sofort nach Berlin zurückkehrte, wo er bekanntlich den thätigsten Antheil an den Sitzungen der Nationalversammlung nahm, bis sie am 5. December aufgelöst wurde.
„Daß wir in Preußen nicht mehr im constitutionellen Staate leben,“ hatte er auf der Tribüne gesagt, „ist wohl kein Geheimniß mehr. Man weiß es in Preußen, man weiß es in Deutschland. Wir haben einen kurzen constitutionellen Traum geträumt; das ist das Ganze. Der Traum ist vorüber, der crasseste Absolutismus ist wieder da.“
Die Reaction warf ihre Larve ab, die Epoche der Verfolgungen und der Demokratenhetze war gekommen. Mehrere preußische Justizcollegien begannen den Reigen mit der Denunciation derjenigen ihrer Mitglieder, welche in der Kammer für die Volkssache gesprochen und gestimmt hatten. Man erinnert sich der Schritte, welche damals die Oberlandesgerichte zu Ratibor und Bromberg in Betreff ihrer Präsidenten Kirchmann und Gierke gethan, des Briefes, welchen der Obertribunalspräsident Mühler an Waldeck gerichtet, um ihn zum Rücktritt zu bewegen. Auch das Oberlandesgericht zu Münster hatte sich in einer Immediateingabe an den König gewendet, mit der Bitte, „sich außer aller amtlichen Beziehung zu dem Director Temme gesetzt zu sehen“.
Diese Eingabe wurde vom Justizminister Rintelen dem auf seinen Posten nach Münster zurückgekehrten Volksvertreter „zur Entschließung“ mitgetheilt. Man wollte ihn veranlassen, freiwillig aus dem Amte zu treten. Als Antwort erklärte Temme in der Sitzung des Collegiums, er sei der Meinung, daß Männer, die Kraft und Muth in sich fühlen, dem Unrechte überall entgegenzutreten, in der gegenwärtigen Zeit doppelt und dreifach die Verpflichtung hätten, auf ihrem Posten auszuharren.
Und nun geschah das Außerordentliche, daß das Oberlandesgericht zu Münster, dasselbe, welches in einer Eingabe an den König als Ankläger gegen seinen Director aufgetreten war, sich auch die Rolle des Richters über ihn zutheilte und, gestützt auf seine Theilnahme an dem bekannten Steuerverweigerungsbeschluß der Nationalversammlung, eine Untersuchung wegen Hochverraths gegen ihn eröffnete. Temme wurde verhaftet und in eine Zelle des Zuchthauses gesperrt, die unmittelbar vorher von fünf darin detinirten gemeinen Verbrechern hatte geräumt werden müssen. Das Oberlandesgericht zu Münster hatte für seinen Director kein anderes Arrestlocal zu seiner Verfügung. Als dies Factum im Parlamente zu Frankfurt zur Sprache kam, war Herr von Vincke kühn genug es als unwahr zu erklären. Der edle Freiherr hat sich leider für zu vornehm gehalten, eine Behauptung zu widerrufen, von deren Falschheit er sich seither sicher überzeugt hat.
Ohne Angabe irgend eines gesetzlichen Grundes und dem Wortlaut des Art. 86 der Verfassung zuwider, beschloß zugleich dasselbe Gericht, einen Tag nach der Verhaftung des Angeklagten, dessen Suspension vom Amte, welche Maßregel das Justizministerium später mit Entziehung der Hälfte des Gehalts begleitete. Temme protestirte. Er berief sich auf die unbestreitbare Incompetenz des Gerichts, welches durch seine Immediateingabe an den König im Voraus seine Parteinahme gegen ihn bekundet habe und nach den Gesetzen unfähig sei, sein Richter zu sein. Er berief sich zugleich auf die Unverletzlichkeit der Abgeordneten, die jede gerichtliche Untersuchung wegen der von ihnen in dieser Eigenschaft vorgenommenen Handlungen verbiete. Der Justizministcr verweigerte die Entlassung aus dem Kerker, doch ging er auf das Perhorrescenzgesuch des Angeklagten ein und übertrug die Untersuchung dem Oberlandesgericht zu Paderborn. Dieses erklärte sich, wie vorauszusehen war, für incompetent und schickte dem Minister die Acten zurück. Der Minister sendet sie ein zweites Mal nach Paderborn und erhält sie ein zweites Mal zurück. Temme bleibt indessen im Zuchthans und kann keinen Richter erhalten! Alle Beschwerden sind nutzlos. Dabei war er unter den 220 Abgeordneten zur Nationalversammlung, die mit ihm den Steuerverweigerungs-Beschluß gefaßt, von denen sogar mehrere im Münsterschen Gerichtsbezirk wohnten, der Einzige, der so behandelt wurde. Kein Anderer außer ihm war nur zur Voruntersuchung, geschweige zur Haft gezogen worden.
Am 8. Januar 1849 wurde indessen Temme vom Kreise Neuß zum Abgeordneten nach Frankfurt gewählt, trotzdem aber erst am 28. Januar aus dem Gefängniß entlassen. Die Untersuchung wurde nun dem Kammergericht zu Berlin übertragen. Eine Entscheidung auf Niederschlagung des Processes und Aufhebung der Amtssuspension erfolgte jedoch erst, als Temme von Neuem im Kerker saß, angeklagt wegen Theilnahme am Stuttgarter Rumpf-Parlament. Nachdem letzteres durch Waffengewalt aufgelöst worden, war Temme zu seiner Familie nach Berlin zurückgekehrt. Auf seine Anfrage beim Minister Simons wurde ihm von diesem das Temme bereits unterwegs bekannt gewordene Gerücht seiner bevorstehenden zweiten Verhaftung bestätigt und er aufgefordert, sogleich nach Münster zurückzukehren. Temme wollte nicht, wie man es wahrscheinlich gehofft, seinem Processe aus dem Wege gehen. Ungeachtet der traurigsten Verhältnisse, in denen er sich von den Seinigen trennen mußte, begab er sich nach Münster und wurde wiederum im Zuchthaus untergebracht.
Es versteht sich von selbst, daß er wie beim ersten Processe und aus denselben Gründen gegen das Oberlandesgericht zu Münster Recusation einlegte und sich zugleich wiederum auf seine Unverletzlichkeit als Abgeordneter stützte. Seine Einwendungen blieben diesmal vollständig unbeachtet. Nachdem er schon ein halbes Jahr im Gefängniß gewesen und die Untersuchung noch gerade so stand wie am ersten Tage seiner Verhaftung, gab er endlich den dringenden Bitten seiner Frau und aller seiner Freunde nach und beschwerte sich beim Justizminister Simons über die Verzögerung seiner Sache. Eine Antwort wurde ihm nicht zu Theil. Dagegen wurde er vierzehn Tage darauf, nach Verlauf von beinahe fünf Monaten seit dem letzten Verhöre, wieder einmal vernommen. Man behielt ihn nun noch volle drei Monate im Gefängniß, ehe man seinen Proceß zur Entscheidung brachte.
Mußte er sich in seiner einsamen Zelle nicht von aller Welt verlassen wähnen? Doch er war es nicht ganz. Das Volk, das ihn schon einmal aus dem Zuchthause befreit hatte, sollte jetzt wenigstens zur Beschleunigung seiner Befreiung mitwirken. In der That war Temme schon kurze Zeit nach seiner Verhaftung im Kreise Koesfeld zum Abgeordneten in die erste Kammer gewählt worden. Allein dadurch wurde diesmal seine Freilassung nicht bewirkt. Nachdem Waldeck, Jacobi, Grün und mehrere andere politische Angeklagte von den Geschworenen freigesprochen waren, drängte die gesammte Reaction auf Errichtung eines Staatsgerichtshofs für politische Verbrecher hin. Der Gedanke lag nahe, daß Temme zu einem der ersten Opfer dieses Gerichtes ausersehen sei. Die ganze Provinz Westphalen gerieth in eine Bewegung, die sich nicht blos den demokratischen, sondern in gleicher Weise den conservativen Kreisen mittheilte. Von allen Seiten vereinigte man sich zu Adressen für eine Beschleunigung der Untersuchung. In Folge dieser Kundgebungen fand man sich endlich bewogen, den Termin zur öffentlichen Verhandlung vor den Geschwornen [423] auf den 6. April 1850 anzusetzen. Temme wurde freigesprochen und endlich seiner Haft entlassen.
Leider war er damit noch nicht am Ziel der gegen ihn verhängten Verfolgungen angelangt. Das vermeintliche Verbrechen der Betheiligung am Stuttgarter Parlament mußte nun, in Verbindung mit des Verfolgten Beschwerdeschriften an den Justizminister gegen das Münstersche Gericht, zu einer Disciplinaruntersuchung gegen ihn dienen. Man machte ihm zugleich den Vorwurf, seine Amtspflichten verletzt zu haben, weil er während seiner Suspension sich zur Ertheilung von Rechtsgutachten angeboten. Man zog einen bei Waldeck gefundenen Brief herbei, der schon im früheren Processe figurirt hatte; kurz, man wollte nun einmal den mißliebigen Staatsdiener aus dem Amte entfernen, und man fand die Mittel dazu.
Die auf den Fall bezüglichen Gesetze reichten freilich nicht hin, doch es existirte eine Verordnung vom 10. Juli 1849. Wie das Obertribunal selbst erklärte, waren sämmtliche Handlungen des Angeklagten vor der Publication dieser Verordnung vorgefallen; dennoch verurtheilte ihn dasselbe Gericht auf Grund jener Verordnung zur Dienstentlassung und dem vollen Verlust seiner Pension und lieferte damit ein Beispiel der Rückanwendung eines späteren Strafgesetzes auf einen frühern Fall, das in den Annalen der gesammten europäischen Rechtspflege bis dahin unerhört war und auch seitdem einzig und allein geblieben ist. Ja, dasselbe Obertribunal zu Berlin erkannte wenige Monate später in einem gleichliegenden Falle gegen den Oberlandesgerichts-Assessor Martiny, daß, da die sämmtlichen diesem Angeschuldigten zur Last gelegten Handlungen vor der Publication des Disciplinargesetzes vorgefallen seien, dieses nicht zur Anwendung kommen könne und Martiny außer Verfolgung zu setzen sei. Die Entscheidung wurde freilich auf Veranlassung des damaligen Justizministers lange geheim gehalten, und Martiny selbst erfuhr erst nach einigen Jahren jenen rechtlichen Grund des Fallenlassenn der Anklage wider ihn von Seite der Staatsanwaltschaft. Das verdammende Urtheil gegen Temme ließ man bestehen. Von diesem Urtheil des höchsten Gerichtshofs zu Berlin datirt jene Epoche der preußischen Rechtspflege, die überall ebenso sehr mit Erstaunen wie mit Schmerz erfüllt.
Dreiunddreißig Jahre hatte Teinme seine Kräfte dem Dienste des Staates gewidmet. Er war vor allen Justizbeamten Preußens dadurch ausgezeichnet worden, daß man ihn beinahe regelmäßig von zwei zu zwei Jahren in schwierige Aemter beförderte, die jedesmal, wie der Justizminister Mühler selbst bemerkte, besondere Rechtskenntniß, Energie, Fleiß und Eifer erforderten. Zu einer Zeit und in einer Lage, wo er auf Pension Anspruch machen konnte, wurde er wegen seiner Liebe zum Volke, wegen seiner unbeugsamen Gesinnung der gesetzlichen Ansprüche auf einen Ruhegehalt beraubt.
Er übernahm die Redaction der Oderzeitung. Man wußte ihm jedoch durch polizeiliche Haussuchungen etc. seinen Aufenthalt in Breslau so sehr zu verleiden, daß er mit Freuden eine Professur an der Universität in Zürich annahm, welche ihm die republikanischen Schweizerbehörden bereitwilligst anboten. Im Jahr 1863 bekanntlich von Neuem in das preußische Abgeordnetenhaus gewählt, legte er ein Jahr später sein Mandat freiwillig nieder.
Schon frühe hatte Temme sich literarischer Thätigkeit gewidmet. Seine juridischen Schriften sind sehr zahlreich und haben ihm den Ruf eines bedeutenden Rechtsgelehrten erworben. Allgemein bekannter ist Temme durch seine Romane und Criminalgeschichten, die ihn in die Zahl unserer gelesensten und geschätztesten Erzähler einreihen. Vor mehr als dreißig Jahren erschienen seine ersten Novellen und sein erster größerer Roman „die Kinder der Sünde“ unter dem angenommenen Namen H. Stahl. Mit seinem wirklichen Namen trat Temme erst 1831 in die Oeffentlichkeit als Verfasser der westphälischen Sagen und Geschichten. An dieselben schießt sich eine Sammlung Volkssagen Ostpreußens, Litthauens und Westpreußens, welche er gemeinschaftlich mit T. von Tettau[WS 1] 1837 herausgab. Ihr folgten 1839 die Volkssagen der Altmark und endlich 1840 die Volkssagen von Pommern und Rügen. So wußte dieser echt deutsche unermüdliche Arbeiter auch auf seinen Beamtenwanderungen durch alle Provinzen des preußischen Staates überall duftige Sträuße unvergänglicher Volkspoesie zu sammeln. Bedeutender wird seine schriftstellerische Thätigkeit mit seiner Uebersiedlung in die Schweiz, namentlich seit er durch die „Gartenlaube“ dem größten deutschen Leserkreise bekannt und lieb geworden ist. Von hier aus eroberte er sich trotz aller Ungunst äußerer Verhältnisse und der Camaraderie in den literarischen Kreisen seiner Heimath einen festen Platz unter den deutschen Erzählern.
„Tous les genres sont bons, hors le genre ennuyeux“ (alle Arten sind gut, nur nicht das langweilige), ist ein bekannter Ausspruch Voltaire’s. Wenn man von Temme sagen kann, daß er niemals langweilig ist, so ist dies ein um so größeres Lob, als leider nur wenige deutsche Novellisten es verdienen. Temme besitzt eine reiche, wir dürfen sagen unerschöpfliche Phantasie. Von der allgemeinen Krankheit unserer deutschen Romanschriftsteller, Mangel an Erfindungsgabe, hatte er nie Etwas zu befürchten. Sein wechselvolles Leben, sein langjähriges Amt als Criminalrichter, brachten ihn in tägliche Berührung mit allen Kreisen der Gesellschaft. Er hatte wohl das Laster in seinen entsetzlichsten Erscheinungen beobachten müssen, aber das „Steinige! Steinige!“ der Pharisäer war ihm stets verhaßt geblieben. Sein Gemüth hatte ihn vielmehr immer dazu geführt, die ersten Irrwege des Verbrechers aufzusuchen, die leitenden Fäden seines Geschickes zu verfolgen, den finstern Schleier wegzuheben, der uns wehrte. in der schrecklichen Gestalt des Missethäters die ursprüngliche gottähnliche Menschengestalt zu erkennen. Sein tiefes Mitleid begleitet den Gefallenen bis zum Moment der Sühne.
Wir sind lange genug mit den romantisch-verschwommenen Gebilden einer geträumten Welt genährt worden und wissen es der gegenwärtigen Literatur Dank, daß sie es wiederum versucht, uns die wirkliche Welt in idealem Bilde vorzuführen. Eine heftige realistische Reaction macht sich unter den heutigen Schriftstellern geltend. Es ist dies eine gesunde Erscheinung, die wohl da und dort das rechte Maß verliert, aber hoffentlich zu einer Erneuerung der großen Tage deutscher Dichtkunst führen wird.
Die Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre bildete ein Volk von Träumern, das den Augenblick verpaßte, den die Geschichte ihm einmal geboten. Diejenige der Gegenwart soll Männer bilden und deshalb muß sie realistisch sein, das Leben unserer Generation mit seinem allseitigen Ringen und Streben, seinen Genüssen und seinem Jammer in allen Gesellschaftsschichten ergreifend und nachwirkend schildern. Mit manchem andern deutschen Schriftsteller hat Temme diese Aufgabe begriffen und redlich verfolgt. Schnell fortschreitende und dabei spannende Handlung ist freilich die charakteristischste Seite seiner Erzählungen, doch diese Handlung ist nicht nur eine äußerliche, willkürlich ersonnene; sie entwickelt sich durchgängig aus lebendigen, vor unsern Augen wirkenden Charakteren, bei denen der Dichter es an dem unentbehrlichen Salz der Contraste nicht fehlen läßt. Seine Scenerie ist außerordentlich mannigfaltig, wie die Welt, welche er schildert. Er bewegt sich nicht etwa vorzugsweise in den abstoßenden Schlupfwinkeln des Verbrechens, in Gefängnißräumen und Gerichtssälen; auch im schimmernden Paradesaal des Geburts- und Börsenadels wie im nüchternen Wohnzimmer des Handwerksmanns, im duftigen Boudoir einer Weltdame wie in der ärmlichen Dachstube einer Nähterin ist er zu Hause, und wenn er schonungslos der Heuchelei ihre Larve abreißt, der prangenden Niederträchtigkeit ihre bunten Lappen zerfetzt, stets führt er uns doch mit Vorliebe in den Kreis bürgerlicher Thätigkeit, wo unberührt vom Getriebe wilder Leidenschaften ein genügsames Glück sich aufbaut durch regen Fleiß und fromme Menschenliebe.
Temme hat sich einen ihm eigenthümlichen Styl geschaffen, er ist ein Feind langer Perioden. Die kurzen, knappen Sätze (manchmal etwas gar zu knapp) verleihen seiner Darstellung eine Lebendigkeit, welche in den Novellen und kleineren Erzählungen, die ihrer Natur nach jedes unnütze Beiwerk ausschließen, die Wirkung außerordentlich erhöht, seinen größeren Romanen dagegen Eintrag thut. Hier gelüstete uns manchmal, uns an einem stillen, schattigen Plätzchen auszuruhen und traulich ein Wörtchen mit dem Dichter zu plaudern. Doch der reißt uns unaufhaltsam fort mit dem Strome seiner Erzählung und läßt uns nicht eher los, als bis wir am Ende sind.
Möge es Temme vergönnt sein, noch recht viele Bilder menschlicher Wirrsale und Kämpfe dichterisch darzustellen. Das Volk wird seine Erzählungen stets dankbar aufnehmen, denn es fühlt dabei, daß hier Einer spricht, der mit ihm gelitten und gestritten hat.
[424]
Mein Affe.
- Meine Herren!
Wenn ich es heute versuche, Ihre Aufmerksamkeit für kurze Zeit auf meinen kleinen Freund, meinen Affen, zu lenken, so geschieht dies nicht ohne einiges Bedenken, weil die Behandlung meines Themas keine streng wissenschaftliche ist, wie dies in diesen Kreisen zu der Regel gehört, sondern Ihnen nur das Bild eines individuellen Thierlebens vorführen kann, welches ich durch eine achtmonatliche Beobachtung kennen gelernt habe. Beschäftigt sich doch auch die Zoologie nicht allein mit der anatomen Zerlegung und systematischen Einreihung der Thiere, sondern auch mit dem Studium ihrer animalischen und geistigen Eigenthümlichkeiten, mit ihrem Charakter, ihren Gewohnheiten, ihren Sitten, kurz mit Allem, was uns die Thiere lieben, schätzen, fürchten und bewundern macht, und so mag es denn auch gerechtfertigt sein, wenn ich Ihnen von einem Thiere erzähle, das, obwohl von Ihnen Allen gekannt, doch vielleicht von Keinem von Ihnen so lange und so genau beobachtet wurde, wie von mir. Wie alle Leute, die viel mit Thieren umgegangen sind, an ihnen Das und Jenes entdecken, was ihnen die Thiere lieb und schätzenswerth macht, so ist es auch mir gegangen, und vielleicht verdient meine Liebe zu meinem Affen den Vorwurf, daß sie eine – Affenliebe ist.
Mein Affe, zu der großen Gruppe der Meerkatzen (Cercopithecus) gehörend, ursprünglich Bewohner des sonnedurchglühten afrikanischen Festlandes, stammt zunächst aus einer wandernden Menagerie, aus welcher ich ihn im vorigen Herbste acquirirte. Er ist männlichen Geschlechtes, und man bezeichnet die Art, welche er repräsentirt, als die graugrüne Meerkatze. Sein Alter kann ich nicht genau bestimmen: er ist jedenfalls noch ein junges Thier, da er gegenwärtig im Zahnwechsel begriffen ist. In der Menagerie soll er sechszehn Monate gewesen sein, ich selbst besitze ihn seit acht Monaten. Nehmen wir an, daß er als halbjähriges Thier in Gefangenschaft gerathen sei, so wäre er jetzt dreißig Monate alt.
Ist diese Altersbestimmung richtig, so ist sie insofern von Interesse, als der Zahnwechsel verhältnißmäßig spät erscheint, aber doch um beinahe vier Jahre früher, als gewöhnlich beim Menschen.
Dieser relativ späte Zahnwechsel läßt auf ein ziemlich langes Leben schließen. Wie groß die durchschnittliche Lebensdauer der Affen sein mag, darüber ist meines Wissens nichts bekannt. Sie sterben ja in der Gefangenschaft meist bald, da unser Klima und vielleicht die Art unserer Fütterung ihnen wenig zusagt. Bis jetzt befindet sich mein Affe, kleine vorübergehende Störungen der Verdauung abgerechnet, im Vollgenusse seiner Gesundheit, und die geraubte Freiheit suche ich ihm dadurch zu ersetzen, daß ich ihm, während er den größten Theil des Tages in einem geräumigen Käfig zubringt, zuweilen erlaube, auf dem Corridore oder im Zimmer auf Tischen und Schränken seine flüchtigen Excursionen zu machen.
Mein Affe ist ein Vielfresser und zugleich ein Gutschmecker. Es ist erstaunlich, welche Quantitäten von Speisen das kleine Thier zu sich nimmt und wie wählerisch es dabei zu Werke geht. Als Getränk liebt er am meisten Milch, die er mit großem Behagen unter gurgelnden Tönen einschlürft, Kaffee und Thee verschmäht er, mit einigen Schlucken Wein und Bier befriedigt er mehr seine Neugierde als seinen Durst. Vegetabilische Kost sagt ihm am meisten zu, Früchte aller Art, feine, junge Gemüse, wie gelbe Rüben, Salat, Rettige, ferner Brod und Conditorwaaren, aber auch animalische Kost, wie Eier und Fleisch, sucht er per fas et nefas zu erlangen, während ihm alles Fette zuwider zu sein scheint. In der Freiheit genießen diese Affen wahrscheinlich auch sehr verschiedene Dinge und mögen wohl auch hie und da die Eier aus Vogelnestern ausnehmen und kleinen Vögeln oder Mäusen und dergleichen den Garaus machen. Ihre Schnelligkeit befähigt sie dazu, die Art ihres Gebisses weist darauf hin, daß sie mit fleischfressenden Raubthieren etwas Gemeinschaftliches haben.
Nicht weniger, als der Geschmackssinn, sind die übrigen Sinne entwickelt. Das Auge scheint vortrefflich zu sein, auf große Entfernungen sowohl wie auf kleine Distanzen, man erkennt an seinen Aeußerungen leicht, daß er z. B. vom Fenster aus Gegenstände auf der Straße oder in der Luft nicht blos verfolgt, sondern sie wohl unterscheidet. Diese Art der Neugierde, mit welcher er die Bewegung auf der Straße beobachtet, hat etwas ganz Eigenthümliches, weil sie beweist, daß ein solches Thier nicht blos mit dem Nächstliegenden sich beschäftigt, sondern auch Entfernteres in den Kreis seiner Betrachtungen zieht. Nur sehr intelligente Hunde pflegen Gleiches zu thun, aber auch dann nur, wenn sie besonders aufgelegt oder aufgeregt sind. Ueber die Feinheit seines Gehörs ist mein Urtheil weniger bestimmt: es zu prüfen, ist weniger Gelegenheit vorhanden. Musik scheint ihn heiter zu stimmen; einen besondern Eindruck davon auf ihn habe ich nicht wahrgenommen. Der Geruchssinn wird von ihm hauptsächlich dann in Anwendung gebracht, wenn er über Genießbarkeit gewisser Speisen in Ungewißheit ist. Eigen ist, daß er dann in der Regel seine Nase nicht dem Gegenstände nähert, den er beriechen will, wie z. B. ein Hund, sondern mit seinen Händen einen solchen Gegenstand seiner Nase nahezubringen sucht, wie wir Menschen gewöhnlich dies zu thun pflegen.
Erstaunlich ist die Thätigkeit und Kraft seiner Muskeln. Wenn er sich z. B. mit Gewalt aus einer ihm unlieben Liebkosung von Seite einer fremden Person, oder wenn er Strafe fürchtet, loszumachen sucht, so muß man schon einen nicht unbedeutenden Grad von Kraft entgegensetzen, um das kleine Thier zu halten, und man begreift, wie kolossal stark große Affen, wie z. B. der Gorilla, sein müssen, wenn schon dieses Aeffchen mitunter schwer zu bändigen ist. Mit der Stärke ist die größte Behendigkeit verbunden. Springen und Klettern sind seine Hauptpassionen. Man sieht, wie es dem Thiere Freude macht, seine Gelenkigkeit zu produciren, indem er die verwegensten Salti mortali ausführt. Sprünge von neun Fuß Weite fast ohne Anlauf gehören nicht zu den größten, man glaubt, er habe Flügel, wenn er sich von einem Gegenstande zum andern schwingt. Sein langer Schwanz dient ihm gewissermaßen als Steuerruder, er vermag mit Hülfe desselben, wie es mir schien, während des Sprunges noch seine Richtung zu verändern. Unglaublich ist dabei seine Sicherheit; er verfehlt fast nie sein Ziel und wenn er auf einem mit Gläsern, Tellern und Gegenständen aller Art gefüllten Tische sich herumtummelt, so wirft er selten Etwas um und weiß die kleinsten Plätzchen zu benutzen, um seine Füße zu stellen. Kein Wunder, wenn das Thier bei der großen Uebung seiner Muskeln und bei der gewöhnlich bis zu einhundert und dreißig und einhundert und vierzig in der Minute steigenden Contraction seines Herzens einen beträchtlichen Stoffumsatz erfährt und eine verhältnißmäßig reiche Quantität guter Nahrung zu sich nehmen muß, die bei ihm auch kaum eine leise Spur von Fettbildung erzeugt. Eigenthümlich ist die Art seiner Ruhe und seines Schlafes. Bei Tag fand ich ihn nur ruhen, aber nie schlafen. Wenn er im Sitzen auf einer Stange in seinem Käfig schläft, so beugt er den Kopf an die Brust, faltet die Arme übereinander und legt seine Hinterfüße in der Höhe des Kopfes oder noch höher an das Gitter des Käfigs. Dabei sucht er in seinem Schwanz, den er um die Stange, auf welcher er sitzt, oder um einen tiefer liegenden Gegenstand spiralförmig windet, einen weiteren Stützpunkt zu gewinnen, der ihn im Gleichgewicht hält. Dem Schlafen im Käfig zieht er aber entschieden das Schlafen in meinem Bett vor, wo er unter der Bettdecke und nahe an mich angeschmiegt die größte Behaglichkeit findet. Sehr oft kann ich ihm indeß dieses Vergnügen nicht gewähren, denn sein Schlaf ist kein ganz solider und ruhiger. Er verändert oft seinen Platz, vielleicht weil sein Gehirn lebhafte Träume durchkreuzen, und er ist im Stande, mitten in der Nacht oder ganz früh am Morgen mich zum Spielen und Scherzen herauszufordern, wozu ich nicht immer um diese Zeit Lust habe.
Soviel von den körperlichen Eigenschaften und Functionen meines Affen; was nun seine mehr geistigen Lebensäußerungen betrifft, so steht in erster Linie seine außerordentliche Munterkeit, sein guter Humor, seine Schalkhaftigkeit, sein Witz, seine Neckerei. Dies ist der hervorragendste Zug seines Charakters. Er ist ein kleiner Kobold, stets zu allen Tollheiten und dummen Streichen aufgelegt. Wenn er mit meinen Kindern spielt, so geschieht es nicht in der anschmiegenden gemüthlichen Weise eines Hundes oder selbst einer Katze, sondern stets neckend, schelmisch, mitunter auf [425] eine etwas plumpe und zu handgreifliche Art, wobei er ihnen auf die Köpfe springt und sie an den Haaren zerrend sogar zu Boden wirft. Er liebt meine Kinder und unterscheidet sie sehr wohl von einander, Gegen das schwächste derselben ist er auch am frechsten und läßt sich von den Kindern überhaupt nichts gefallen. Unbedingten Gehorsam kennt er nicht; er folgt meinem Rufe nur, wenn es ihm gefällt; blos Androhung von Strafe oder diese selbst in Form von körperlicher Züchtigung kann ihn z. B. bewegen in seinen Käfig zurückzukehren, wenn er im Zimmer frei herumspringt. Gegen alle andern Leute mit Ausnahme von mir, den er als seinen Herrn erkennt, ist er rachsüchtig und im höchsten Grade jähzornig. Selbst wenn ich ihn strafe, werde nicht ich der Gegenstand seines Zornes, sondern er überträgt ihn auf andere zunächst stehende Personen, mögen dieselben an der von ihm erlittenen Strafe schuld gewesen sein oder nicht.
Mein Affe liebt sehr die Geselligkeit und stößt klägliche Töne aus, wenn er sich allein und verlassen sieht. In neuerer Zeit habe ich ihm zur Beschäftigung und Unterhaltung ein Kaninchen in den Käfig gegeben, mit dem er sehr schnell, so bald er sich von seiner Superiorität und des Kaninchens duldender Gutmüthigkeit überzeugt hatte, Freundschaft schloß.
Er ist neugierig und diebisch. Alles will er sehen und untersuchen, er öffnet Schränke und Zimmerthüren, letztere indem er auf die Thürklappe springt, bis die Thüre aufgeht. Er stiehlt, um zu stehlen, und wenn er auch ganz gesättigt ist, so raubt er doch von Tisch und Teller, was er nicht nehmen soll, bewahrt es eine Zeit lang in seinen Backentaschen auf und entzieht sich der Verfolgung durch die schleunigste Flucht. So wenig vortrefflich nun im Ganzen auch seine Eigenschaften sind, so geben doch gerade der Widerspruch und der Streit, in welchem man sich mit dem kleinen Thiere befindet, stets neuen Stoff zur Unterhaltung. Seine Sprachäußerungen sind nicht sehr mannigfaltiger Natur, indeß kann man doch ungefähr ein halbes Dutzend articulirter verschiedener Laute unterscheiden. Für gewöhnlich ist er stumm und nur bei besonderer innerer Bewegung und Erregung vernimmt man seine Stimme, die bald gurgelnd, bald bellend, kreischend und pfeifend ist und mitunter etwas Weinerliches hat, z. B. wenn er am Abend, nachdem er auf dem Canapee an meiner Seite eingeschlafen, aus seiner Ruhe aufgeschreckt in den Käfig zurückgebracht wird. Jedenfalls ist sein Stimm- und Sprachregister sehr viel reichhaltiger als das anderer hochstehender Thiere. Auf welch hoher intellektueller Entwicklungsstufe er steht, geht auch aus der Art und Weise hervor, wie er das Bild, das sich ihm in einem Spiegel bietet, zu betrachten pflegt. Während gewöhnlich selbst die intelligentesten Hunde gar keine Notiz von dem Spiegelbild nehmen, so geräth mein Affe vor ihm in große Aufregung, macht die komischsten Bewegungen und scheint in Zweifel zu sein, was er von dem sich ihm darbietenden trügerischen Bilde halten soll. Er langt und sieht, wie es auch kleine Kinder zu thun pflegen, hinter den Spiegel, offenbar um Aufschluß zu erhalten, ob er getäuscht ist, oder ob sich in Wirklichkeit Etwas hinter dem Spiegel befindet. Von Nachahmungssucht, wie sie die menschenähnlichsten Affen z. B. der Orang-Outang in so merkwürdiger Weise besitzen, habe ich nie etwas an meinem Affen beobachtet; ob er fähig ist gewisse Kunststücke zu lernen, weiß ich nicht, ich habe es nicht versucht und glaube, daß man nur durch Strenge und Strafen dazu kommen könnte, was seinen Charakter wahrscheinlich verderben und seine Zutraulichkeit und Zahmheit vernichten würde.
Die Schilderung meines Lieblings ist keine vollständige, aber sie mag Ihnen, meine Herren, doch die wesentlichsten Züge eines mannigfaltig gestalteten Thierlebens geben. Ich bin nicht der einzige in meiner Affenpassion; selbst von berühmten Männern wird erzählt, daß ihnen die Gesellschaft eines Affen unentbehrlich geworden und sein Tod sie auf’s Tiefste betrübt hat. So hat auch mich schmerzlich der Tod meines ersten Affen berührt (der gleichen Art angehörend wie mein jetziger), der im vorigen Jahre, nachdem ich ihn einige Monate besessen hatte, als Opfer seiner Naschhaftigkeit gefallen ist. Er fraß ein Stückchen arsenikhaltige Farbe und ging unter den Erscheinungen einer acuten Arsenikvergiftung zu Grunde. Seine Liebe konnte ich mir nie erringen; er war meiner Frau und meinen Kindern sehr attachirt, aber vor mir hatte er eine nicht zu überwältigende Furcht und einen unüberwindlichen Haß, vielleicht weil ich ihn einmal, gleich im Anfange, nachdem ich ihn in Marseille gekauft hatte, tüchtig züchtigte, oder weil er in mir meines großen Bartes wegen einen ihm feindlichen stärkeren Affen zu erblicken glaubte, der ihm nichts Gutes erweisen könne. Sein Gehirn ist der Wissenschaft nutzbar gemacht worden, indem es Herr Professor C. Vogt untersuchte und, wie er mir schrieb, manche interessante Aufschlüsse sich dadurch verschaffte, die er wohl gelegentlich mitzutheilen nicht versäumen wird.
In der Mitte des August dieses Jahres feiert die deutsche Burschenschaft das fünfzigjährige Jubiläum ihrer Stiftung. Wer kennt nicht die Bedeutung dieser einfachen Studentenverbindung in der Geschichte Deutschlands seit den Befreiungskriegen? Waren es nicht wirklich diese aus dem Kampf gegen das Frankenkaiserreich zu den Hochschulen zurückgekehrten jungen Männer, die nach jenem Kriege allein noch den weit gefährlicheren Kampf gewagt mit der unpatriotischen Selbstsucht der Dynastien, mit der Schreckensmacht der heiligen Allianz, mit dem volksfeindlichen Freiheitshaß des Adels und der obersten Beamtenkreise, den Kampf gegen die Gleichgültigkeit der großen Masse, gegen die Angst des wohlhäbigen Philisterthums? Ja, die kleinen einzelnen Studentenhäuflein der Burschenschaft auf den Hochschulen waren es, die für die Zukunft der Nation das heilige Feuer der Vaterlandsliebe hüteten, wie sie des Reichs verbotene Farben wahrten! Dreimal unterdrückt und verfolgt und in Menge den Kerkern überliefert, erhoben sie sich dreimal wieder vom Untergang, bis endlich Deutschland, zu einer großen nationalen Ermannung erstarkt, aus der Hand der Burschenschaft die Fahne nahm, die seitdem als deutsches Banner selbst auf dem Bundespalast und allen Fürstenschlössern geweht und welche die Nation nimmermehr sich wieder entreißen läßt.
Dieses Jubiläum lenkt von selbst unsere Blicke nach Jena, wo die Burschenschaft gegründet wurde. wo sie ihren festesten Sitz hatte und wo auch das fünfzigjährige Stiftungsfest gefeiert wird. Nehmen wir die schöne Gelegenheit wahr, uns an dem Burschenbild zu erquicken, in welch’ origineller Weise die dritte Erhebung der verbotenen Verbindung zum öffentlichen Leben geschehen ist.
Die Hochschule von Jena hat, das weiß jeder denkende Deutsche, allezeit dem freien Geist gedient, und darum hat sie auch allezeit das Schicksal des freien Geistes getheilt. So oft die schwache Brust des Bundestags an Beklemmung litt, wenn ein frischer Zug des deutschen Lebens sie berührt hatte, so oft schob sie die Ursache dieses Unwohlseins auf die Universitäten, und so oft dies geschah, mußte Jena die Folgen der üblen Laune spüren, die nach solcher Erkältung einzutreten pflegte. Am schlimmsten äußerte sich dieselbe nach den dreißiger Julistürmen, und es ist offenbar ein Zeugniß mehr für die schwächliche Constitution besagter hoher Stelle, daß dieselbe in jener Westluft, welche die ganze deutsche Nation bis zur Glühhitze hinauf brachte, ganz allein den Schnupfen bekam.
Es ist auch den „Philistern“ nicht unbekannt, daß man gegen solche freien Luftzüge das gewöhnliche Hausmittel der Verschließung der Fenster und der Verstopfung jeder zerbrochenen Scheibe anwandte, unbesorgt darum, ob mit der Luft den Bewohnern des alten Hauses „Deutschland“ auch das Licht entzogen werde. Kein Wunder, daß die Atmosphäre dumpf und drückend wurde und daß sich in ihr nur Diejenigen wohl befanden, deren Hauptsorge die Erhaltung schwacher Constitutionen war. Diesmal ging die Vorsicht noch weiter, man verschloß auch die Thüren nach der Schweiz, nach Frankreich, nach Belgien hin, sogar im Innern des alten Hauses sperrte man gewisse Riegel vor, so von Preußen und Baiern nach Jena hin, weil man das Saalthal noch immer für ein unverbesserliches Wetterloch ansah.
Aber Polizeigucklöcher waren durch alle diese verriegelten Thüren geschnitten, und mißtrauische Augen beobachteten jeden Professor [426] auf dem Katheder und jeden Studenten auf der Straße, sie schielten in jede Kneipe und späheten nach jedem Zipfelchen eines Verbindungsbandes, vor Allem lüstern äugelten sie in dem alten Ehrensitz der Burschenschaft, im „Burgkeller“ umher, denn hier ging noch das Schwarzrothgold um, aber nur nächtlicher Weile und in der Manier der Geister, die sich nicht ertappen lassen.
Das arme Schwarzrothgold! Kein krankes Kind ist je sorglicher gepflegt worden, als die Farbe der Burschenschaft und des deutschen Reichs in jener Zeit. Das Licht der Sonne sah es nie. Bei jedem wackelnden Drohfinger aus Preußen oder von Frankfurt her verbargen es die burschenschaftlichen Eigenthümer in dem sichersten Winkel des Pultes oder des Hauses, viele trugen es auf bloßem Leibe und erfreuten sich eines beseligenden Gefühls, wenn sie es von Zeit zu Zeit, im Colleg, auf dem Markt, in der Kneipe, mit den Fingern betasten konnten. Das ist keine Uebertreibung, daran werden sich Hunderte jetzt erst wieder erinnern, die das heute, wo die Farbe ihres geheimen Bundes zur allgemeinen deutschen geworden, längst vergessen hatten.
Da, in dieser magern Zeit für das Burschenherz, machte der Humor sich auf und führte innerhalb der Burschenschaft einen kleinen Kreis von Gleichbegabten zusammen, die in Wort und Bild und lebendiger Rede die Zustände des Welt- wie des Studentenlebens geißelten. Das war die „Unsinnia“. Ihre Sitzungen fanden bald bedeutenden Zulauf innerhalb der Burschenschaft, und selbst die Presse nahm sich freudig ihrer an, ohne daß von der Unsinnia selbst Etwas dem Druck übergeben worden wäre. Dagegen ist nicht zu leugnen, daß durch diese öffentliche Anerkennung die bisherige Gedrücktheit wich und daß sie endlich sogar einem blühenden Uebermuth Platz machte, der den von politischer Aengstlichkeit, von Bundestags- und Preußenscheu aufgestellten Pferch übersprang und mit gleichen Beinen mitten in die grüne Weide akademischer Freiheit hineinhüpfte. Diese schöne Geschichte möge nun Einer von der Unsinnia uns erzählen.
Wir saßen eines Morgens auf der Stube (denn Studiosus sitzt auf, nicht, wie der Philister, in der Stube) des langen Schwarzen, eines Braunschweiger Landeskindes, und lauschten so eben einer Rede, die er an die Wanzen seines Bettes hielt. „Liebe Mitgeschöpfe,“ sprach er, den rechten Zipfel seines Schlafrockes mit ciceronianischer Anmuth über die linke Schulter werfend, „still dahin lebende, treueste Hausgenossen! Im Angesicht dieser zukünftigen Männer deutscher Nation muß ich, wie weh es mir auch thut, Eure nächtlichen Schandthaten aufdecken und ein Wort an Euer Gewissen richten. Wer hat die Milch der frommen Denkart Euch vergiftet? Ich ahne es, denn zu grimmig habt Ihr mich gebissen, als daß dies nicht auf höhere Einflüsterung geschehen sein sollte. Ihr selbst seid nicht so schlecht, wie Ihr ausseht. Aber sitzen nicht in Wien die Minister unserer Landesväter um Metternich herum und verschwören sich auf’s Neue gegen die akademische Freiheit?
Akademische Freiheit! – Biedere Nichtwanzen dieses Raumes, an Euch wende ich mich in meiner akademischen Zerbissenheit: kann unsere Freiheit noch weiter herunter kommen, als auf den Hund, auf dem sie ist? Ist nicht jede öffentliche Aeußerung unserer jugendlichen Kraft auf das Maß jungfräulicher Zimperlichkeit niedergedrückt? Was ist uns von der Herrlichkeit unserer großen burschenschaftlichen Verbindungs-Vorfahren, der „Germanen“ geblieben, die, beinahe sechszig Mann stark, als sogenannte Demagogen alle Throne des deutschen Bundes hinter ihren 700,000 Bajonneten so erschütterten, daß um jeden derselben ein Schutzwall von kaiserlichen, königlichen, großherzoglichen, kurfürstlichen, herzoglichen, hochfürstlichen, landgräflichen und freistädtischen Immediat- und Centraldemagogenverschwörungsuntersuchungscommissionsactenstößen aufgethürmt werden mußte? Und gäbe es eine würdigere akademische Aufgabe für Euch, Ihr irre geleiteten Wanzen meiner friedlichen Kneipe, als diese Acten gründlich zu studiren, um Euch von dem Unrecht zu überzeugen, das Ihr mir allnächtlich anthut? Ja, durchwühlt das ungeheure Werk dieser Untersuchungsrichter, denn wahrlich, wenn das nicht gut für Euch ist, für wen soll’s besser sein!“
So schloß diese schöne Wanzenrede, und der Zipfel des Schlafrocks entsank der bedeutungsvoll zuckenden Achsel. Wir waren gerührt.
Die große Gemüthsbewegung führte zu der stolzen Frage: „Sollen wir, wie die „Corps“, alltäglichem Ulk uns hingeben? Dürfen wir wieder in die Öffentlichkeit treten mit einem schlechten Witz, den nicht eine politische Färbung veredelte?“
„Nimmermehr!“ so schüttelten sämmtliche Lockenhäupter, die braunen Mitteldeutschlands und die blonden des Nordens.
Aber der weise Schwarze sprach: „Beginnen wir mit Bescheidenheit! Ziehen wir uns von den Grenzen der Bundestagsgeschäftsthätigkeit auf das Land Weimar oder auf Jena zurück! Hat nicht irgend eine neue große That unser engstes Staatsleben bewegt?“
„Ja! Herr von Ziegesar (damals Universitäts-Curator), unser oberster Gesetzeswächter, hat einen höheren Orden erhalten.“
„Heureka!“ rief Jettchen, Weimars noch ungeahnter Volksvertreter, „lasset uns die Verherrlichung dieser neuesten Ordensverleihung öffentlich feiern!“
„Aber wie?“ fragte Schtah, der berühmte Nationalökonom der Zukunft. „Vorsicht ist für jedes politische Verbrechen gut, seitdem man um solcher willen auf die Blüthe der Nation tritt und sie in den Casematten verkümmen läßt!“
„Suchen wir für solches Auftreten eine wissenschaftliche Grundlage, so wird die rechte Form sich von selbst geben,“ rieth die philologische Cravatte.
„Alsdann abermals Heureka!“ rief Lips, der Geiger: „da die ochsenäugige Juno eine mythologische Person war, die Mythologie aber ein gar schönes Stück Wissenschaft ist, so sollen wir heute mit Ochsen spazieren fahren.“
Wer konnte dem Reiz des Gedankens einer Spazierfahrt mit Ochsen widerstehen? Die neue „wissenschaftliche Form“ des ersten neuen Auftretens war gefunden; aber sofort fühlte man, daß ihr Rahmen zu groß sei, als daß die Feier einer „Ordensverleihung“ ihn ausfüllen könnte, und so erhob sich die „Unsinnia“ einmüthig zu ihrem kühnsten Entschluß, dieser ersten Festfahrt durch die Gründung eines ihrer allein würdigen Bierstaats,[1] eines „Papstthums in Ziegenhain“ eine weltgeschichtliche Bedeutung zu verleihen.
Die Unsinnia gestaltete sich augenblicklich zu einem Conclave, aus welchem der Schwarze als Papst hervorging und sich feierlich den Namen „Niger I.“ beilegte. So war denn der große Beschluß gefaßt, und die Theilnehmer eilten von dannen, um die Vorbereitung zur Ausführung sogleich für den Nachmittag zu treffen.
Was rennt das Volk durch die Gassen von Saal-Athen? Was toben die Heiden und Philister? Die Fensterflügel aller Häuser fahren auf und flattern fröhlich zur Straße heraus in ihren Angeln, – Kopf an Kopf in wunderbarer Unterschiedlichkeit schießt Haus um Haus weiter, wie der Pulverknaul eines Rottenfeuers, als Straßenwandschmuck hervor. Bald steckt des Auges Thätigkeit auch die des Mundes und der Hände an. „Bravo!“ – „Halloh!“ – „Hoch!“ braust es zwischen den hohen Häusern der engen Gassen auf. Es ist bei allem Volk eine große Freude.
Da kommt der Zug. Voran zwei Reiter, in dem damals in den Straßen Jena’s nicht auffälligen Studentenwichs, mächtige [427] Kanonen, die Schlafröcke untadelhaft zerrissen, die Tabakspfeifen von echt burschikoser Länge; die Reiter waren der in schönster Jugendherrlichkeit blühende Coburger „Louis“ und die schmucke „kleine Cravatte“, zwei Prachtjungen. Und nun sind beide schon todt.
Hinter den Reitern stolzirte ein Ziegenhainer Bäuerlein, die lange Peitsche in der Hand und das Angesicht voll einer Glückseligkeit, wie sie noch kein Mensch erlebt hat, denn neben ihm schritt sein Ochsenpaar im höchsten Festschmuck: die vergoldeten Hörner seiner Ochsen waren es, die dem Bauer so in’s Herz lachten. Und auch die Thiere fühlten sich bedeutend geschmeichelt, sie wandelten daher wie über ihren Stand erhoben, kurz, wie frisch geadelt. Ich hätte nie geglaubt, daß ein geputzter Ochse so stolz sein kann.
In der ersten viersitzigen Chaise saß Niger I. allein und im rothen Talar, den er als zukünftiger guter Hausvater höchst billig dadurch herstellte, daß er seinen rothgefütterten Mantel umgekehrt umlegte. Sein Alltags-Hakenstock war, zugleich mit den Ochsenhörnern, vergoldet worden und dadurch zum einflußreichen Krummstab umgewandelt. Neben ihm saß sein Hund, den er als Oberhirte nicht entbehren konnte. Der liebe heilige Vater arbeitete an einer Verschmelzung von Priesterwürde und Leutseligkeit in seinem erhabenen Antlitz; die Freude des Volks über seinen Anblick that seinem gerührten Herzen wohl, und er würde die Menge „Gläubiger“, die ohne Zweifel hier vertreten war, auch mit milder Hand gesegnet haben, wenn die Hast, mit der einige Pudel (Pedelle) den Zug umschwänzelten, ihn nicht bewogen hätte, dies zu unterlassen. Aber sein theures Haupt neigte er oft vor den Grüßen der Begeisterung.
Auf dem Tritt hinter dem Sitze des Papstes standen zwei Kammerherren, schwarz vom Hut bis zum Stiefel, mit Fräcken von verschiedenem Styl und ungewissem Eigenthum. Auf der linken Brust trug Jeder einen Stern von Goldpapier, zur Feier der größtmöglich weimarischen Bedeutung des Tags, und hinten am Frack, zwischen den beiden Schößen, seinen hier angenäheten Hausschlüssel. Wer weiß, was ein alter Jenenser Hausschlüssel besagen will, der weiß auch, daß dieses Zeichen sichtbar und gewichtig war.
Hierauf folgte, nach angemessenem Zwischenraum, der zweite Wagen. Die Ochsen desselben trugen ihre versilberten Hörner mit einem Anstand, den man des großen Augenblicks würdig nennen konnte; das Bäuerlein hatte den Kutschersitz der stattlichen Chaise eingenommen und lenkte von hier mit der langen Peitsche und dem Bedürfniß entsprechenden „Hot hüjoh!“ sein vornehmes Gespann.
Im zweiten Wagen saß, ebenfalls in einen Mantel gehüllt, blaß und angegriffen, Jettchen. Das unwissende Ketzervolk dieser lutherischen Studentenstadt hielt das glattgesichtige, lockenköpfige und schmachtende Bild, wegen seiner besonderen Zartheit und Anmuth, für des Papstes Gemahlin. Um nicht durch Widerspruch die Gemüther zu reizen, ließ man die Volksstimme vor der Hand gelten; hatte doch Niger I. selbst im Conclave, man vermuthet, um die Stimme der Mehrzahl der Cardinäle für sich zu „keilen“, bereits die Aufhebung des Cölibats in nahe Aussicht gestellt.
Jettchens Kammerherren zeichneten sich durch blaue Fräcke mit silbernen Sternen auf der Brust aus; die Kammerherrenschlüssel entsprachen hinsichtlich des Kalibers denen ihrer goldigen Collegen.
Es war am Vormittage Wochenmarkt in Jena gewesen. Gar mancher Landmann hielt noch mit seinem Geschirr in der Stadt, und alle sahen von den Seiten der Gassen und den Winkeln der Plätze her, wohin sie zurückgedrängt waren, fast neidisch auf die vom Glück dieses Tages so bevorzugten Genossen. Nur Einer war klüger, als Alle; er schloß sich mit seinem Leiterwagen dem Festzug an, und kaum bemerkte dies der Bruder Studio des Burgkellers, so hatte auch dieser Wagen seine akademische Ladung und theilte die Ehren des Tages. Diese kühne That ermuthigte ein Bäuerlein um das andere, es schloß sich wieder ein Wagen und noch einer an, alle mit Studenten belastet, und endlich fuhr die Lust auch in die Philister, und es wuchs die Anerkennung des großen Gedankens mit der wachsenden Länge des Zuges. Daß die Ochsen an diesen Leiterwagen nicht gold- und silbergeschmückt, sondern mit ihrem werkeltägigen Schmutz angethan waren, gehörte sich so, weil sie ja doch nur „das Volk“ trugen.
So ging die bunte Wagenreihe in feierlich gemessenem Ochsenschritt und mit vieler topographischer Kenntniß durch alle Straßen und Gassen der Musenstadt und kam auch auf den Marktplatz. Siehe, da widerfuhr ihr die höchste Genugthuung: auf dem Prangersteine am Rathhauseck ragten über vieles Volk hoch empor die Häupter mehrerer der geliebtesten Professoren Jena’s; da standen die ewig jungen Studentenfreunde Scheidler und Göttling, da stand der alte Fries und der alte Kiefer, der alte Schott sogar, also manches ehrwürdige Mitglied des akademischen Senats, und sie Alle blickten so freudig auf die seltsame Procession, daß man in ihren Augen den Ausspruch lesen konnte: Gott Lob, daß die Jugend noch immer so jung ist! –
So ziehe denn hin, du frommer Zug! Ihr glücklichen Festochsen, lebet wohl! Als simple Alltags-Geschöpfe sehen wir uns wieder. – Wir geleiten Euch bis zum Saalthore hinaus, wo die Leiterwagen „des Volks“ größtentheils umkehren, ja, wir gehen bis auf die Saalbrücke mit, weil es von da gar schön aussieht, wie die Reiter und Festwagen, wenn sie hinterm Geleitshaus hervor auf das hohe Ufer der Saale gelangen, sich so stattlich im Strom spiegeln, wie die Hörner der Ochsen in der Sonne funkeln und die Kammerherren ihre kurzen großköpfigen Pfeifen anstecken und wie endlich Papst Niger I. von seinem Sitze sich erhebt und, mit jeder Hand einen Flügel seines rothen Talars fassend, die Arme ausbreitet, also daß er wie der Samiel der Wolfsschlucht dasteht, und mit nun pudelfreiem Gemüthe die Stadt und das Thal segnet, und die Weinberge, die’s so nöthig haben, und alle Söhne der Musen und die Töchter der Philister und dahinter, soweit es austrägt, die ganze übrige Welt.
Wir verrathen für diesmal Nichts von Allem, was im Vatican zu Ziegenhain vorging, auch nicht, wie Papst und Cardinäle am andern Morgen heimzogen; wir sehen nur, wie sie daheim für ihren gestrigen öffentlichen Frevel die Citation vor das Universitätsgericht empfangen, und finden sie, Jeden mit seinem Papierlein in der Hand, kurz nachher auf der Stube des Schwarzen wieder beisammen. – Etwas Untersuchung mußte ja doch sein! Die neue akademische Freiheit kostete jedem Genossen der Ochsenfahrt 19 Groschen 8 Pfennige weimar. Courant; dazu erhielt Jeder einen entsprechenden Verweis und nur ich außerdem noch eine herzoglich Sachsen-Coburgische Consistorialnase. Kein späterer öffentlicher Auszug der Burschenschaft wurde wieder bestraft.
Fünfundzwanzig Jahre hat seitdem Jenas alter Marktbrunnen Tag und Nacht fortgerauscht, und er rauscht noch wie damals. Aber wohin seid Ihr zerstreut, Ihr Ochsenfahrtgenossen? Wie sucht man Dich zusammen, selige Unsinnia? Wer lebt noch, und wo und wie? Machen wir erst die Kreuze in’s Stammbuch: für den fröhlichen Papst, Bente in Brannschweig, der zuerst starb; für Ludwig Braun in Coburg; für Philipp Gerber aus Sonneberg, einst in Sachsen-Meiningen, Kroatien und England als Theolog, Mediciner und Geiger heimisch und nun in Nordamerika begraben; für Paul Ingwersen, der, von den Dänen aus seinem Schleswig Holstein vertrieben, Publicist in Wien und Kaffeewirth in Constantinopel war und 1862 starb; für Adolf Trützschler, den sie zum Märtyrer begnadigt haben. – Und die Lebendigen, wo sind sie? Es sind eitel Schriftsteller geworden: Strackerjan in Oldenburg, Jäde in Weimar, Friedrich Hofmann aus Coburg, jetzt in Leipzig, Heinrich Schmidt in Hermannstadt, Siebenbürgens Nationalgraf beim Reichstag in Wien. Lorenz Stein, der Nationalökonom, Ludwig Häusser in Heidelberg, der Historiker; letztere Drei sind dazu unter die Professoren, nur Wydenbrugk ist unter die Diplomaten gegangen, was ihm Gott verzeihe, wenn’s möglich ist. Und die Andern? Backhaus, Rosenhagen etc., wo seid Ihr?
Werden all’ die noch lebenden deutschen Burschenschafter sich beisammen sehen an den Tagen des 14., 15. und 16. August, denen ganz Jena mit echter Burschenlust entgegenjauchzt? O, kommt, kommt Alle, ihr Treuen und Lieben, Fernen und Naiven! Wahrlich, zu beklagen ist Jeder, den das Herz dazu drängt und den die Verhältnisse fesseln! Aber noch weit mehr ist der zu beklagen, dem es nicht an Mitteln, sondern dem das Herz dazu fehlt! Möchte ein solches Unglück von den Tausenden der alten und jungen Burschenschafter auf allen deutschen Hochschulen, die alle zum Feste geladen sind, nur wenige betroffen haben! Und meldet Euch dem Festcomité in Jena zu rechter Frist (bis 15. Juli), denn die philisterhaft Säumigen sollen, wie der Fest-Ausschuß droht, verdonnert werden zu der gerechten Strafe, auf den Heuhaufen der Wöllnitzer Wiesen campiren und beim Festmahle eine ganze Flasche Jenenser 64er Schattenseite allein leeren zu müssen, wofür uns Alle gütig der Himmel bewahre!
[428]
Den deutschen Schützen![2]
Wer ist ein echter, deutscher Schütz’? Die graue Joppe macht’s nicht aus,
Nicht auf dem Hut der Federbusch, nicht vor der Brust der Blumenstrauß,
Auch nicht die Büchse nur allein, nicht nur die Hand, die sicher zielt!
Der ist kein echter, deutscher Schütz’, der nur bei’m Fest den Schützen spielt!
Für ihn den deutschen Händedruck, mit ihm dem Trunk auf Du und Du!
Den Rücken jedem zugewandt, der ob dem Spiel den Ernst vergißt!
Dem Schützen nur die Bruderhand, der auch ein rechter Schützer ist!
O Schütze, sei ein Schützer du für Alles, was da groß und gut!
O, sei ein starker Schützer du des Vaterlands an jedem Tag,
Und sei des Rechtes Stütze du bis zu des Herzens letztem Schlag!
Um Silberbecher gilt das Spiel auf festlich buntem Tummelplatz,
Doch gilt es einst ein höh’res Ziel, ein Schießen um viel bess’ren Schatz!
Der Freiheit Kelch, du deutscher Mann, ist dann der hohe Ehrenpreis!
Der Freiheit Kelch! Wann wird credenzt dem deutschen Volke der Pocal?
O Herr der Welten, wann erglänzt des rechten Morgens Sonnenstrahl?
Wann geht der Kelch von Mund zu Mund, draus neues, frisches Leben sproßt?
O thöricht Fragen! Nimmermehr, so lang ihr duldet fromm und still,
So lang man leis „Ich bitte“ spricht und nicht zu sagen wagt „Ich will!“
So lang verstohlen nah und fern nur feige Jammerthränen thau’n!
Des neuen Tages Morgenstern wird nur ein Volk in Waffen schau’n!
Was heute still die Sehnsucht träumt, der Geist der Zukunft mach’ es wahr!
Heut perlt der Wein im Becher hell, heut’ schießt ihr noch am Scheibenstand,
Doch einst – Dies Glas, stoß an, Gesell’! der Freiheit und dem Vaterland!
Mit diesen Vorberathungen, während die Leute an dem mitten auf dem Platze entzündeten mächtigen Feuer ihre mitgebrachten Provisionen zubereiteten und Jenkins’ große blecherne Kaffeekanne brodelte und zischte, rückte die Zeit des Aufbruchs heran. Billins sammelte die ihm zugetheilten Männer, schüttelte Jenkins und Ashley noch einmal die Hand und rüstete sich zum Marsch.
„Und denkt daran, Billins,“ rief ihm der Alte nach, „daß wir die Burschen lebendig haben wollen, spart Euer Blei soviel als möglich, denn eine Kugel ist zu gut für sie!“
,Habt keine Angst, Jenkins,“ sagte der junge Mann finster, nur im äußersten Fall schießen wir, mir liegt selber daran, daß ich die Schufte hängen sehe. Und nun kommt, Cameraden, wir haben noch einen ziemlichen Ritt und wollen machen, daß wir den Platz erreichen.“
Und fort trabten die sieben dunkeln Gestalten durch den Wald, während Ashley jetzt seine Schaar sammelte, um zuerst auf Netley’s Haus zu marschiren und von da den Bruch vorzunehmen. Auch diese waren beritten, um den noch ziemlich weiten Weg rasch zurücklegen zu können und dann lieber bis zur Morgendämmerung im Hinterhalt zu bleiben.
Jenkins behielt, da Ashley ebenfalls sechs von den Männern mitgenommen, noch sechs für sich, und mit Sip, der in Ermangelung anderer Waffen nur ein Beil und ein Messer bekam, waren sie jetzt acht Mann, aber sie ließen ihre Pferde bei Jenkins’ Haus, da sie kaum mehr als anderthalb englische Meilen zu gehen hatten, bis sie die Slew erreichten, und dort mit den Thieren doch nicht gut weiter konnten. Jenkins hätte auch wohl noch eine gute Stunde Zeit gehabt; allein es ließ ihm keine Ruhe. Was jeden Andern vielleicht ermattet und niedergeworfen, seine körperlichen Schmerzen, trieb ihn nur um soviel rückhaltloser zur Rache an, und er konnte den Moment nicht erwarten, wo er auf die Verbrecher einstürmen und Vergeltung, furchtbar blutige Vergeltung an ihnen üben durfte.
Nicht weniger eifrig waren seine Bundesgenossen in der Ausführung der ihnen ertheilten Weisung, und noch lange vor Tag erreichte Billins „Joe’s Ferry“, wie der Platz genannt wurde. In Sicht der Häuser schon zügelte der kleine Trupp seine Pferde ein. Am Wasser konnten sie mit den Thieren doch nichts anfangen und es war besser, sie hier frei zu lassen, daß sie die Zeit zur Weide benutzten. Rasch und leise wurde der Befehl gegeben, denn der wahre Jäger macht nie gern viel Lärm im Walde. Die Sättel und Decken mit dem Zaumzeug legten die Männer dann zusammen unter einen Baum und schritten zu Fuß den Häusern zu, um Joe zu wecken und Rücksprache mit ihm wegen der Canoes zu nehmen
Im Haus schlief noch Alles. Lichter waren wenigstens nirgends zu sehen, auch der Schein keines Feuers, aber am Fluß selber, der etwa fünfzig Schritt weiter entfernt lag, hörten sie Stimmen. Billins horchte hoch auf, denn es schien fast, als ob sich dort ein paar Leute miteinander zankten.
Einen Moment horchte er und flüsterte dann leise:
„Da sind Leute an den Booten, beim Himmel, was ist das?“
Der Fluß war ziemlich hoch, da in dieser Jahreszeit das Schneewasser aus den Felsengebirgen noch herunterkam, die Uferbank aber doch noch zu steil, als daß sie von hier aus die Stelle, wo die Canoes lagen, hätten erkennen können. Die Stimmen kamen jedoch jedenfalls vom Wasser herauf, und die kleine Schaar der Moderatoren glitt jetzt, ohne weiter ein Wort miteinander zu wechseln, rasch und geräuschlos der Landungsstelle zu, an der sie, auf ein Zeichen von Billins, einen Augenblick hielten.
„Gemmen,“ sagte die Stimme des alten Negers Nero, die Billins gut genug kannte, „Massa hat Schlüssel zu Canoe, muß erst Massa wecken, wenn Sie Canoe haben wollen, und ist jetzt noch dunkle Nacht, Massa wird schimpfen.“
„Aber ich habe Dir ja gesagt, Wollkopf,“ rief der eine der Männer, „daß wir nur unser eigenes Canoe haben wollen, das am anderen Ufer liegt, in einer halben Stunde sind wir mit dem zurück.“
„Ach, mach’ keine Umstände, Bob,“ sagte der Andere, „dreh die verfluchte Kette ab. Die Zeit vergeht und wir können uns mit dem Nigger nicht die halbe Nacht herumstreiten.“
„Das sind Regulatoren und wollen die Canoes stehlen,“ flüsterte einer der Schaar Billins zu.
„Zwei von Euch rechts, zwei links die Bank hinunter,“ drängte Billins, „daß wir sie in die Mitte bekommen, rasch, sowie sie Wind kriegen, sind sie fort und geben Alarm.“
Wie die Schatten glitten die Jäger rechts und links ab, und von allen drei Seiten zugleich sprangen sie jetzt hinab, daß sie die drei Personen unten am Ufer in die Mitte bekamen.
„Halt! was geht hier vor?“
„Law de Mussy,“ rief der alte Neger erschreckt, „gar nichts, Gemmen wollen meine Canoes nehmen.“
„Wer seid Ihr und was wollt Ihr mit den Fahrzeugen?“ rief Billins, indem er, die Büchse im Anschlag, an die Canoes hinuntersprang.
„Gehören sie Euch?“ frug der eine der Burschen finster.
„Ich will Dir etwas sagen, Camerad,“ entgegnete Billins, „komm einmal hier an’s Land, denn wir möchten Deine nähere Bekanntschaft machen. Die erste Bewegung zur Flucht und ich lasse den Mond durch Deinen Schädel scheinen.“
„Was wollt Ihr von uns? Wir sind friedliche Ansiedler,“ rief der Andere, „und wohnen gegenüber am Strom.“
„Gut, wenn das wahr ist, habt Ihr auch nichts zu fürchten,“ entgegnete ihm Billins, „aber da draußen können wir Euch nicht so gut erkennen, also kommt an’s Land. Bei Gott, ich verstehe keinen Spaß und mein Finger liegt am Drücker.“
Seine Gefährten hatten indeß die Boote umzingelt, Flucht der Fremden war nicht mehr möglich, wenn sie sich nicht durch Schwimmen und Tauchen retten konnten, wozu sie aber keine Lust zu haben schienen. Es blieb ihnen deshalb nichts Anderes übrig, als dem Befehl Folge zu leisten, denn nicht einmal mit Feuergewehr versehen, hätten sie sich gar nicht widersetzen können. Mürrisch und mit leisen, zwischen den Zähnen durchgemurmelten Flüchen verließen sie die dicht nebeneinander hängenden Canoes, von denen schon Jeder eines betreten hatte, und sagten:
„Nun, Sir, was giebt’s, daß Sie friedliche Leute in solcher Art überfallen?“
„Das sollt Ihr gleich hören, meine Burschen,“ sagte Billins, der noch immer mit der Büchse zum Schuß fertig am Ufer stand und jetzt nur ein paar Schritt zurücktrat, um ihnen Raum zu machen. „Ihr seid vor der Hand unsere Gefangenen, sträubt Euch nicht, denn Keiner von uns ist aufgelegt, viel Umstände zu machen.“
„Euere Gefangenen? Weshalb?“
„Steven und Brawny, Ihr habt ja wohl die Seile,“ fuhr Billins fort, ohne sie einer Antwort zu würdigen, „bindet ihnen einmal die Hände auf den Rücken. Bei dem geringsten Widerstand habt Ihr eine Kugel durch den Schädel – halt, rührt Euch nicht!“
„O Massa Billins,“ rief jetzt der Neger, der den jungen Mann erkannte, „sehr gut, daß Sie gekommen sind. Böse Kerle wollten armen Nero die Canoes wegnehmen.“
„Sie werden sie dalassen müssen, Nero,“ sagte Billins ruhig, „nun, wird’s bald? Glaubt um Gotteswillen nicht, daß wir Scherz mit Euch treiben; ich zähle drei, und wenn Ihr bis dahin nicht gutwillig die Arme ausstreckt, gebe ich Feuer – eins – zwei –“
„Ihr werdet uns Rechenschaft geben müssen, Sir, daß Ihr friedliche Männer so behandelt,“ sagte der Eine, während er aber doch die Arme ausstreckte, denn zu furchtbar nah’ und drohend war das tödtliche Rohr auf ihn geheftet, und Widerstand gegen die sieben Bewaffneten, mit keiner Aussicht zur Flucht, wäre hoffnungslos gewesen.
„Darauf könnt Ihr Euch verlassen,“ lächelte Billins ingrimmig in sich hinein, „so ist’s recht, bindet sie nur fest und gut. Wenn Ihr zu der Gesellschaft gehört, der wir jetzt auf den Fersen [430] sitzen, sollt Ihr auf die Rechenschaft nicht lange zu warten brauchen. Sie wird vielleicht früher kommen, als Euch lieb ist.“
„Zu der Gesellschaft?“ sagte der Zweite erschreckt, „wir wissen von keiner Gesellschaft.“
„Gut, das findet sich Alles, ich habe aber keine Lust, hier noch länger mit Euch zu verhandeln. Führt sie hinauf zum Haus, Leute. Thut mir leid, daß wir den alten Joe so früh im Schlafe stören müssen, läßt sich aber ein Mal nicht ändern.“
Joe schlief indeß nicht mehr, sondern hatte die lauten Worte, schon wach in seinem Bett liegend, gehört und kam jetzt heraus, um zu sehen was es gäbe. Billins, der ihn bei Seite nahm, theilte ihm mit kurzen Worten das Vorgefallene und ihre jetzige Absicht mit, und der Alte ließ sich denn auch nicht lange bitten, von der Partie zu sein, ja, wollte nicht einmal davon hören, selber am Hause zu bleiben und auf die beiden Gefangenen acht zu geben, und erst, als ihm der junge Backwoodsman die Gefahr vorstellte, der sie Alle ausgesetzt sein könnten, wenn die beiden Gefangenen entsprängen und vorzeitig Alarm gäben, verstand er sich dazu. Aber seine vier Neger mußten mit, alle miteinander, sie konnten die Canoes rudern und Nero sollte als Pilot dienen.
Die Canoes waren eigentlich sogenannte Piroguen, wohl gearbeitet wie ein Canoe und aus einem einzigen Baumstamme ausgeschlagen, aber aus großen Cypressen, deren Holz sich ganz vortrefflich dazu eignet, und groß genug, jede von ihnen zehn Personen mit Leichtigkeit zu tragen. Die Neger wußten außerdem vortrefflich mit ihnen umzugehen und Billins fühlte sich jetzt überzeugt, daß sie mit diesen Fahrzeugen ihren Auftrag genügend ausführen konnten. Wenn die Männer im Wald drin ebenso ihre Schuldigkeit thaten, so waren die Verbrecher verloren. Allerdings versuchte er jetzt, von den Gefangenen Etwas über die Stärke des Trupps zu erfahren, fand aber das bald vergebene Mühe, denn die Burschen leugneten Beide standhaft das Geringste von einer im Schilf versteckten Schaar zu wissen und blieben bei ihrer Behauptung, daß sie friedliche Ansiedler von der anderen Seite des Stromes wären. Es war nichts weiter aus ihnen herauszubringen, verdächtig machte sie aber, daß sie sich in der Angabe der Gegend, wo ihre Hütten stehen sollten, verwirrten, und Joe, der fast jeden Fußbreit Raum am anderen Ufer kannte, hatte sie bald so fest gefahren, daß sie endlich erklärten, sie wären erst seit drei Tagen in der Nachbarschaft und wüßten noch nicht recht Bescheid im Walde. Das Canoe eines vorbeikommenden Flachbootes habe sie übergesetzt, weil sie sich hier einmal umsehen wollten.
Das Alles war viel zu unwahrscheinlich, als daß es den schon gefaßten Verdacht nicht noch hätte verstärken sollen. Joe versprach deshalb auch, gute Wacht über sie zu halten, bis die Boote zurückkehren würden; daß ihm keiner entwische, dafür stand er ein, und als die Nachbarn erst noch einen Becher Kaffee getrunken, den ihnen die alte Dame schnell bereitete, wie sie sich auch dagegen sträubten, sie zu belästigen, machten sie sich zum Einschiffen fertig. Die Whippoorwills sangen schon ihren monotonen Ruf im Walde, ein sicheres Zeichen, daß der Morgen nicht mehr fern, und über die Wipfel der Bäume im Osten trat die Venus und sandte ihr blitzendes Licht herüber.
Nach Nero’s, des alten Negers, Aussage mochten sie etwa eine gute Viertelstunde brauchen, um mit der ziemlich raschen Strömung des Red River niedertreibend jenen Platz zu erreichen, auf dem unfern von einander zwei dieser Slews oder Bayous ausmündeten. Die obere war die, an welcher Netley sein Haus hatte, die untere die nämliche, an der Jenkins die Spuren entdeckt, und zwischen den beiden sollte Nero’s Beschreibung nach die Stelle liegen, auf der eine alte Shanty oder Hütte stand und wo sich also auch jetzt wahrscheinlich diese sogenannte Regulatorenbande festgesetzt hatte. Dicht über der oberen Bayou lief aber eine kleine Landzunge aus, unter deren Schutz sie liegen bleiben und, selber unbeachtet, Alles überwachen konnten, was an jener Stelle im Wasser vorging. Dorthin ruderten sie auch, um mit vollem Tagesanbruch gleich am Orte zu sein und keine Zeit zu versäumen.
Ashley hatte indessen ebenfalls sein Ziel erreicht und Netley’s Hütte vorsichtig und geräuschlos umzingeln lassen; aber der Vogel war nicht allein ausgeflogen, sondern sie fanden auch in der Hütte, in der sie rasch ein Feuer anzündeten, keine Spur, daß dieselbe in den letzten Tagen überhaupt bewohnt gewesen. Die Ueberreste von angebrannten Holzstücken im Kamin waren jedenfalls mehrere Tage alt, und sonst schien der frühere Besitzer auch nicht das Geringste von seinem Eigenthum zurückgelassen zu haben.
Ashley hatte das übrigens kaum anders erwartet, denn daß sich der Mann bei einem Ueberfalle, wie der bei Jenkins, betheiligen und dann noch in einem nahebei gelegenen Hause geblieben sein solle, war zu unwahrscheinlich. Jedenfalls hatten sie die Vorsicht brauchen müssen, sich darüber vorher Gewißheit zu verschaffen, und jetzt konnten sie hier im Hause in aller Bequemlichkeit die Morgendämmerung abwarten, da gerade von hier aus auch der Pfad in den Schilfbruch einmündete.
Nicht so geduldig erwartete der alte Jenkins mit seinem Trupp diesen Augenblick, ihm brannte der Boden unter den Füßen. Noch war es finstere Nacht, als er mit den Seinen die Slew erreichte, und da hier das Schilf schon begann, mußten sie sich Schritt vor Schritt den mühsamen Weg hineinbahnen, der dadurch gefährlich wurde, daß sie ihre Augen kaum genug vor den überall vorstehenden Rohrstümpfen hüten konnten. Aber er ließ deshalb nicht nach, und mit dem Wasser zur Rechten, das ein Verirren in der Dunkelheit unmöglich machte, rückten sie, wenn auch langsam, doch stet vor, bis sie die Stelle erreichten, wo die Slew jene Biegung machte.
Hier half nun kein weiteres Beeilen ihres Marsches, denn erreichten sie in der Dunkelheit noch ihr Ziel, so konnten sie eher den gut angelegten Plan verderben, als fördern. Wohl oder übel, sie mußten hier liegen bleiben und durften dabei auch nicht einmal ein Feuer anzünden, weil sie gar nicht wissen konnten, wie nah vielleicht die Shanty lag, und der Morgenwind, der sich jetzt erhob, strich scharf nach jener Richtung zu und schüttelte das Schilf, daß es wogte und rauschte. Kein lautes Wort wurde darum noch gesprochen, die Männer verkehrten flüsternd miteinander und kauerten sich endlich, Jeder in seine Decke gewickelt, die sie bis dahin zusammengerollt auf dem Rücken getragen, hinter irgend einen Busch oder Baum, um den Morgen zu erwarten.
Länger war ihnen freilich noch keine Stunde ihres Lebens vorgekommen, als die, welche sie hier, dicht vor der Entscheidung, thatenlos und ruhig verträumen mußten. Und wie kalt dabei der Wind durch den Wald zog! Dem alten zerschlagenen Mann zitterte es mit Fieberfrost durch die Glieder und wirre, blutige Bilder tauchten auf in seinem Hirn und flimmerten und blitzten ihm vor den geschlossenen Augen. Aber das Bewußtsein, bald, sehr bald Vergeltung an denen üben zu können, die ihn und sein Weib mißhandelt und sein Eigenthum geraubt, ließ kein Gefühl der Schwäche in ihm aufkommen. Ingrimmig biß er die Zähne aufeinander und fühlte an seinem Puls die Secunden, die ihn noch von seiner Rache trennten.
Da horchte er empor. Der Whippoorwill lockte im Busch, rasch richtete er sich auf. Schilf und Holz verbargen wohl die Aussicht, standen aber nicht so dicht, um den mattgrauen Schimmer zu verdecken, der sich schon im Osten zeigte, und wie hoch war der Morgenstern gestiegen, ohne daß er ihn bis jetzt bemerkte. Der Tag graute, die Dämmerung in diesen Breiten ist kurz, und bald durften sie hoffen den Pfad erkennen zu können, der sie dem Feind entgegenführen sollte.
Leise und vorsichtig weckte er seine Leute, die nur den Schlaf von den Wimpern schüttelten und dann eben so lautlos wieder ihre Decken zusammenschnürten, um im Marsch nicht von ihnen behindert zu werden.
Der graue Streifen im Osten wurde heller und breiter, schon goß sich ein mattes Dämmerlicht über den Wald und die Leute öffneten die Pfannen ihrer Büchsen, das durch die Nachtluft vielleicht feucht gewordene Pulver durch frisches zu ersetzen, denn ihrer Waffen mußten sie sicher sein.
Jetzt graute der Tag, der alte Jenkins hatte im Dunklen den richtigen Platz getroffen, kaum zehn Schritt vor ihnen lief der braune Pfad durch den Bruch, den er gestern Morgen hier zuerst gefunden, und nun war auch keine Zeit mehr zu verlieren, denn möglicher Weise mußten sie ja noch diesem eine lange Strecke folgen.
Jenkins hob den Arm – kein Laut sollte mehr gesprochen werden, und die Büchse, den Lauf nach vorn, in der Hand, um sie augenblicklich zum Gebrauch bereit zu haben, drängte er sich durch das Schilf, das ihn noch von dem Pfad schied, und schritt [431] rasch auf diesem hin, während die Seinen ihm in indianischer Reihe[3] – Einer hinter dem Andern – folgten.
Eine Viertelstunde und vielleicht nicht so lange mochten sie so marschirt sein, als Jenkins plötzlich überrascht stehen blieb, denn vor seinen Füßen theilte sich der Pfad, und während eine Abzweigung mehr rechts dem Strom zulief und auf dieser waren die Pferde transportirt worden, lenkte der andere mehr links ab, oder zog sich vielmehr gerade in den Bruch hinein.
Welchem sollten sie folgen? denn er durfte nicht daran denken seine überdies schon schwache Schaar zu theilen. Sie wären verloren gewesen, wenn sie auf den ihnen jedenfalls weit überlegenen Feind trafen. Schon wollte er sich zurück zu den ihm Folgenden wenden, um einen kurzen Kriegsrath zu halten, als ein trockenes Schilf knickte – jetzt noch eins – als ob Jemand durch das Rohr schlüpfe. Hatten sie ein Stück Wild aus seinem Lager aufgescheucht, oder war es einer der Feinde, der ihnen hier in den Weg lief? Der alte Mann hob unwillkürlich die Büchse und lag im Anschlag, lebend hätte Jener den Platz nicht wieder verlassen. Ha – dort erkannte er eine dunkle Gestalt, die durch das Dickicht schlüpfte – gerade auf sie zu – warnend hob er die linke Hand, sie Alle hatten das Geräusch ebenfalls gehört, aber Keiner rührte sich. Wie aus Stein gehauen standen die dunklen Gestalten und näher und näher kam der Flüchtige.
Das erste Debut der Sontag. Bei seinem duftenden Morgenkaffee und einem wohlschmeckenden Pfeifchen saß der Oberregisseur des Prager Theaters, Holbein, aber beide sonst so beliebten Genüsse wollten dem armen Manne heute nicht munden, und auf seiner Stirn ruhten dunkle Wolken. Die Stellung eines Oberregisseurs ist auch wahrlich keine so anmuthige, um immer rosiger Laune zu sein. „Eine Sängerin! ein Königreich für eine Sängerin!“ rief der arme gequälte Mann, der versprochen, eine solche an Stelle der erkrankten Primadonna zu schaffen, und nicht wußte, wie er sein Wort halten sollte. Der hochberühmte Tenorist Gerstäcker – der Vater des bekannten und beliebten Touristen und Schriftstellers und langjährigen treuen Mitarbeiters der „Gartenlaube“ – war zu einem Gastspiele eingetroffen, dessen Ausführung durch die plötzliche Erkrankung der ersten Sängerin fast zu scheitern drohte, mindestens sehr gehemmt wurde. Der Ruf, welcher dem Künstler vorausging, war ein so vortheilhafter, daß trotz der glühenden Hilfe des Hochsommers und bei der Zusammenstellung eines jener wenig erquicklichen Quodlibets aus verschiedenen Opern, das Theater bei Gerstäcker’s Auftreten ganz gefüllt war. Und als man erst die reizende Stimme gehört und das feine Spiel bewundert hatte, verlangte das Publicum die Aufführung einer ganzen Oper. Hierzu nun sollte von dem Oberregisseur Rath geschafft werden, was Wunder, daß ihm sein Mokka nicht schmeckte und seine Stirn umwölkt war?
Auf ein Klopfen an die Thür trat sein Freund, der Kapellmeister und vortreffliche Operndirigent Triebensee, ein, und das Erste, was diesem entgegentönte, war der fast verzweiflungsvolle Ruf: „Gut, daß Ihr kommt, helft mir, steht mir bei, Ein Königreich für eine Sängerin und sei es nur für eine Rolle!“
„Gebt erst das Königreich, dann schaffe ich die Sängerin!“ entgegnete der Angeredete freundlich lächelnd. „Und für welche Partie?“
„Der Gerstäcker hat sich bereit erklärt, den Johann von Paris zu singen. Es soll eine seiner vorzüglichsten Leistungen sein; die Aufführung muß ermöglicht werden, es ist auch ziemlich Alles vorhanden, es fehlt nur die Prinzessin von Navarra.“
„Nur Donna Clara, die Prinzessin von Navarra, ist nicht vorhanden? ich möchte sagen, somit fehlte so ziemlich Alles,“ scherzte Triebensee, als er aber des Andern jammervolle Miene sah, fuhr er zwar immer noch heiter, doch tröstend fort: „Kopf oben, Holbein! Ich besorge die fehlende Kleinigkeit, ich schaffe eine durchlauchtigste Prinzessin, ich habe eine unter meinen Schülerinnen.“
„Wer, wer ist diese Perle?“
„Das Jetterl, der Sontag ihr hübsches Töchterlein. Es ist ein Blitzmädel, voll Klugheit und Talent, voll Verständniß und Begeisterung für die Kunst. Sie studirt just bei mir die Partie der Prinzessin von Navarra, In fünf Tagen – zu lange? Mann, Ihr seid anspruchsvoll! nun denn, in drei Tagen könnt Ihr die Oper geben, wenn Gerstäcker nämlich mit der Kleinen singen will; denn jung ist sie, sehr jung noch.“
„Und Ihr meint, es wird mit ihr gehen, sie wird uns keine Schande machen?“
„Die? Schande machen? Gewiß nicht.“
„Dann ist es entschieden. Euer Wort genügt. Gott sei gelobt, daß die Sorge vom Herzen ist!“ und der beglückte Regisseur sprang freudig empor, während der Kapellmeister schnell Abschied nahm und zu seiner Schülerin eilte.
Schon auf dem Hausflure drang ihm Henriettens silberheller, glockenreiner Gesang entgegen und der alte Lehrer fühlte sich angenehm berührt, seine Lieblingsschülerin schon in der Morgenfrühe und da sie keine Ahnung von seinem Kommen hatte, so fleißig studirend zu finden. Leise öffnete er die Thür des Zimmers und ungesehen von dem reizenden Mädchen, das am Clavier saß, stand er eifrig lauschend, vergnügt schmunzelnd, wenn sie eine Passage immer von Neuem sang, bis sie ganz tadellos gelang; aber als sie plötzlich eine sehr schwierige Coloratur mit einer fast an Kühnheit grenzenden Fertigkeit und Sicherheit vollendet, klopfte er zustimmend in die Hände und rief fröhlich:
„Bist ein Prachtmädel, Jetterl, und von heute an in drei Tagen trittst Du auf als Prinzessin im Johann von Paris!“
Das junge Mädchen, das schnell aufgesprungen und vor Freude über das Lob und den Beifall erglühend dem Lehrer entgegengeeilt war, fuhr bei der gewichtigen, überraschenden Kunde schreckensbleich zurück, keines Wortes mächtig, aber ihr ausdrucksvolles Gesicht und vornehmlich ihre schönen, blauen Augen redeten eine beredte Sprache.
„Mein liebes Kind, faß doch Muth,“ sagte Triebensee tröstend herantretend, als das Mädchen noch immer bleich und bebend dastand, „glaubst Du, ich hätt’ gesagt, Du könntest die Prinzessin singen wenn’s nicht ginge? Und willst Du Deinem alten Freunde und Lehrer nicht Ehre machen, soll er nicht stolz auf Dich sein?“
Ein freudiges Beben durchzitterte jetzt die reizende Gestalt des jungen Mädchens. Auf den so plötzlich erblaßten Wangen blühten die Rosen wieder empor, die Rosen der ersten frischesten Jugendzeit, welche noch dicht an die Kindheit grenzt, die Augen strahlten von Muth und Begeisterung, ja. das ganze Antlitz leuchtete wie von der Weihe der Kunst verklärt, und mit fester Stimme sagte Henriette:
„Ihr habt es gesagt, Meister, daß ich’s könne; Euer Wort soll nicht zu Schanden werden! In drei Tagen bin ich bereit als Prinzessin von Navarra aufzutreten.“
„So geb' Gott seinen Segen!“ –
„Wissen Sie schon, morgen singt der Gerstäcker den Johann von Paris?“ rief ein Vorübergehender dem andern zu, „ich eile die Billets zu holen, es soll ein stürmisches Drängen an der Casse sein.“
„Aber die erste Sängerin ist ja krank, wer giebt denn die Prinzessin?“
„Die kleine Sontag – die Tochter der Schauspielerin.“
„Die? Es ist ja aber noch nicht lange her, daß sie die Kinderrollen machte – war immer ein liebes herziges Ding! – doch muß sie noch gar sehr jung sein.“
Solche und ähnliche Bemerkungen hörte man am Tage vor der Aufführung, sie flogen auch hin und wider, als der Raum des Theaters schon die dicht gedrängte Menge aufgenommen, die trotz der glühenden Hitze begierig auf den Kunstgenuß wartete, den berühmten Gast als Johann von Paris zu sehen. Endlich erschien der Ersehnte und sang und spielte, daß es eine Lust war und das Publicum in begeisterter Weise seinen Dank, seine Anerkennung kund gab. Hier und dort wurde zwischen Bekannten wohl einmal die Bemerkung ausgetauscht: „Die arme kleine Henriette – das arme Mädel, es kann kein glückliches erstes Debut werden neben solch einem Künstler!“ Jetzt wurde die Ankunft der Prinzessin verkündet. Aller Augen richteten sich nach der Thür, in deren Rahmen plötzlich eine der holdseligsten Erscheinungen sich zeigte, welche wohl je über die Bühne geschwebt. In dem kurzen Zeitraume von vielleicht zwei Jahren, in denen man Henriette Sontag nicht mehr auf den Bretern gesehen, war aus der lieblichen Knospe eine zaubervolle Blüthe geworden, eine Fülle von Anmuth und Liebreiz mit jungfräulicher Hoheit vereint umfloß sie, daß unwillkürlich alle Herzen diesem Engelsbilde entgegenflogen. Und als Johann, hingerissen von der Erscheinung der edlen Donna, singt:
„Welcher Reiz in frischer Blüthe,
Welche Sanftmuth im Blick,
Jeder Zug bezeichnet Güte,
Strahlet Frohsinn zurück –“
da richteten sich die Augen der versammelten Menge auf sie, die als die Verkörperung dieser Worte dastand, und ein leises Beifallsmurmeln machte sich mehr und mehr bemerklich.
Schüchtern und echt weiblich, doch weder linkisch noch ängstlich, trat die Prinzessin vor und ihrem rosigen Munde entperlten die ersten Töne, von einem Wohlklange, einer süßen Innigkeit, welche die Macht besaßen, Todesstille in dem erst so aufgeregten Hause zu verbreiten. In Henriettens großen blauen Augen, die ein Spiegel ihrer reinen Seele waren, flammte ein helleres Leuchten auf, als das erste, ganz leise Bravo ertönte, es hatte für sie mehr Werth, als ein lauter Beifallssturm, denn es kam von ihrem Lehrer, dem alten Kapellmeister, der entzückt sowohl über die Reinheit der Intonation, als über den edlen Anstand seiner Schülerin, seine Freude nicht mehr zu unterdrücken vermochte; er hatte wahrlich nicht geahnt, daß dieser leise Beifallsruf das Signal sein würde zu einem Ausbruch stürmischer Anerkennung, wie er einem so jungen Talente wohl kaum jemals zu Theil geworden sein mag. Diese ungewöhnliche Kundgebung des Beifalls schien das junge Mädchen nicht nur zu überraschen, sondern zu verwirren, einen Moment bebte ihre Stimme, doch bald hatte sie die innere Bewegung bekämpft und nun, ermuthigt durch die Anerkennung, erklangen die Töne noch voller, klarer und frischer, bis ein wunderbar schöner Triller von einer [432] Rundung und ungewöhnlicher Dauer – so daß dem Kapellmeister fast der Athem stockte – die herrliche Arie: „Wie begeisternd wirkt das Reisen“ beendete. Von diesem Moment an war der Sieg entschieden, mit dieser einen Arie hatte sich die junge Kunstnovize in die Reihe der Künstlerinnen emporgeschwungen und der gefeierte Gast mußte die Triumphe des Abends mit der kleinen Anfängerin theilen.
Hinter den Coulissen empfingen Henriette am Schlusse des ersten Actes die beglückte Mutter und der tiefbewegte Lehrer.
„Ich wußt’ ja, daß mein wackeres Mädel mich nicht würde zu Schanden werden lassen, daß Dein Lehrer aber so stolz auf Dich sein könnte, hätt’ ich kaum gedacht. Der Daus! war das ein Triller, der wollt’ ja gar kein Ende nebmen, ich hätt’ mich schier bangen können, wenn ich vor unbändiger Freud’ dazu gekommen wär. Solch ein Backfischle noch und kann so singen, daß man die Mütz’ vor ihm ziehen muß. Hör’, Jetterl, Du wirst viel Ruhm und Ehre ernten, und wenn sie Dir einst die Lorbeerkränze auf die Stirn drücken und ich vielleicht längst in meinem Grabe ruh’, dann denk’ zuweilen noch an Deinen alten Lehrer!“
Das tiefgerührte Mädchen konnte nur stumm die Hand des Hochverehrten an ihre Lippen führen. Beide mußten auch wieder auf die Bühne. Im zweiten Acte machte das so beliebte Troubadourlied Furore; Johann von Paris war genöthigt, seine Strophe noch einmal zu singen, aber bei der Prinzessin genügte das nicht. Da capo und wieder da capo, zum dritten Male also mußte Henriette die ihrige wiederholen; das Publicum wurde von einem immer wärmeren Enthusiasmus ergriffen, und doch war es kein gemachter Beifall, keine erkünstelte Begeisterung, sondern das reine Ausströmen innerster Befriedigung, dem sich in Hinsicht auf Henriette Sontag noch ein freudiges Staunen beigesellte, daß ein so junges Mädchen schon so Herrliches zu leisten vermochte. Unter dem größten Jubel und dankbarer Anerkennung für einen selten hohen Kunstgenuß, denn nie erinnerte man sich Gerstäcker vorzüglicher gesehen zu haben, fiel der Vorhang, und den Gast ehrend, wie sich’s gebührte, erklang zuerst nur sein Name. Der Vorhang rollte auf, zögernd erschien der Gerufene, ihm selbst schien Etwas zu fehlen; nach kurzer Verbeugung zog er sich zurück, um nun auf den noch dringenderen Ruf nach ihm und der Sontag wieder zu erscheinen. Wie im Triumph führte der Gast das junge, jetzt sehr schüchterne Mädchen heraus und ein endloser Jubel begrüßte Beide, der erst auf ein Zeichen Gerstäcker’s, daß er sprechen wolle, sich legte.
Ganz dicht bis zum Rande der Bühne tretend, sagte Gerstäcker auf seine Begleiterin deutend: „Obwohl es sich heute auf die beste Weise selbst empfohlen, so möchte ich dieses junge Mädchen auch für die Folge Ihrem Wohlwollen empfehlen, meine hochgeehrte Versammlung. Mit prophetischem Auge in die Zukunft blickend, sage ich Ihnen, diese Kunstnovize wird einst als die erste Sängerin Deutschlands gefeiert werden und Ruhmeskränze werden sich um den Namen Henriette Sontag winden.“
So endete das erste und eigentlich ganz unvorbereitete Debut der jugendlichen Sängerin. Daß jene Weissagung sich erfüllt, weiß Jeder, der nur etwas in der Kunstgeschichte bekannt ist. Wohl keine Sängerin hat größere und verdientere Triumphe gefeiert, wohl keiner Frau Name hat heller geleuchtet unter dem dreifachen Strahlenkranze: die erste Sängerin, die treueste, vorzüglichste Gattin, die beste Mutter zu sein.
Jetzt ruht sie aus von dem reichen, wechselvollen Leben in kühler Gruft, in jenem stillen Kloster, aber der Name Henriette Sontag lebt in Unsterblichkeit fort.
Johnson und die Kinder. Wie das gesunde, klare Urtheil, den praktischen, staalsmännischen Blick, so scheint der gegenwärtige Präsident der Vereinigten Staaten von Nordamerika, Andrew Johnson, auch den originellen Humor, die natürliche Beredsamkeit, welche in heiterer Wendung das ernste Ziel, den Nagel auf den Kopf trifft, und das kindliche Gemüth von seinem unvergeßlichen Vorgänger überkommen zu haben. Dies ebenso wie die ungemeine Popularität, deren er sich bereits erfreut, sprach sich sehr bezeichnend in einer allerliebsten Feierlichkeit aus, die vor einigen Wochen in Washington stattfand. Ein Verein sogenannter Sonntagsschulen der Stadt Washington und Umgegend beging am 25. Mai das Gedenkfest seines fünfundzwanzigjährigen Bestehens. Etwa fünftausend Schüler und Schülerinnen und siebenhundert Lehrer und sonstige Schulbeamten bildeten den Festzug. Vor der eigentlichen Feier wallte diese stattliche Menge hinaus nach dem Weißen Hause, der officiellen Residenz des jedesmaligen Präsidenten, brachte Johnson ein endloses Hurrah und defilirte dann in wohlgeordneten Reihen an ihm vorbei, während ihm Tausende von Kinderhänden Blumenstrauß auf Blumenstrauß in den Hut warfen, bis dieser die duftende Last nicht mehr fassen konnte und ein mächtiger Korb die weitere Blumenfülle bergen mußte. Der Anblick der frischen fröhlichen Kindergesichter, ihre Lust, die unerschöpflichen Vivats, die aus den kleinen Kehlen hervorjubelten – sn muß entzückend gewesen sein. Der hübscheste Moment aber war gewiß, als der Präsident vor dem äußeren Gitter seines Amtssitzes Posto faßte, die kleinsten Mädchcn neben sich auf herbeigeschaffte Tische und Stühle stellte, sämmtliche Kinder um ihn herum einen Kreis schließen ließ und dann, helle Freude in den Augen, eine Rede an die jugendliche Versammlung begann, welche bewies, daß der Ruhm des alten Stump-Orators kein unbegründeter gewesen ist.
Diese Rede, die uns ein Freund in Amerika zum Theil in ihrem Wortlaute wiedergiebt, ist so charakteristisch, daß wir uns nicht versagen mögen, den Lesern der „Gartenlaube“ mindestens einige der merkwürdigsten Stellen daraus mitzutheilen, ihnen überlassend, naheliegende, und nicht eben erfreuliche, Parallelen selbst zu ziehen.
„Wenn ich recht verstehe,“ hob Johnson an, „so seid Ihr hier versammelt, einmal um zu zeigen, wie viele Kinder die Schule besuchen, und sodann und hauptsächlich, um dem höchsten Beamten der Nation Euere Achtung zu erweisen. Und diese Achtung, Ihr bringt sie heute einem Manne dar, der sehr wohl die Lage armer oder unscheinbarer Kinder zu würdigen weiß. Zeit meines Lebens ist es mir zuwider gewesen, wenn ich Menschen über ihr Verdienst und Gebühr schätzen und ehren sah, und ich will hier in meinen Worten an Euch, meine jungen Freunde und Freundinnen, die Ihr mir die Ehre Eueres Besuchs erweist, ausdrücklich hervorheben, daß ich ein Feind bin jedweder Vergötterung oder Kanonisation irdischer Dinge und sterblicher Personen, daß ich dem wahren Verdienste aber jederzeit die gerechte und geziemende Achtung und Würdigung gezollt zu sehen wünsche. Meine kleinen Töchter und kleinen Söhne ich darf Euch ja wohl so nennen? – lernt also zeitig unterscheiden zwischen Werth und Unwerth, Ihr sowohl, welche das Schicksal in besserer Lebenslage aufwachsen läßt, wie Ihr, die Ihr in minder günstigen Verhältnissen lebt.
Ihr, denen größere Vortheile geboten sind, werdet nicht eitel und geckenhaft, weil Euere Eltern Euch ein klein wenig besser kleiden oder etwas besser erziehen können; wisset vielmehr und fühlet, daß Euere Eltern und Euere Lehrer allein Euch nicht zu erziehen vermögen. Ob Euere Angehörigen arm oder ob sie reich sind, ob Ihr begabt seid oder nicht – Ihr müßt Euch selbst erziehen! Eltern, Lehrer und sonstige Vorzüge, deren Ihr Euch erfreut, sind nichts als die in Eure Hand gegebenen Mittel, mit denen Ihr selbst Euch die Bahn durch das Leben gestalten und ebnen müßt. Allein nimmermehr bildet Euch ein, daß Ihr irgend etwas Besseres seid, als Euere weniger günstig situirten oder minder befähigten Cameraden. Anstatt daß Ihr sie erniedrigt und ihre Lage noch drückender macht, muß es Euer Stolz sein, sie zu dem Niveau emporzuziehen, auf welchem Ihr selbst steht. – – – Meine Ueberzeugung ist es immer gewesen, daß die große Masse unseres amerikanischen Volkes emporgehoben werden kann. Und wenn dies Ziel erreicht ist, alsdann werden wir die größte und erhabenste Ration dieser Erde sein. – – –
Meine kleinen Töchter und Söhne, merkt wohl auf das, was ich Euch in Wahrheit und Aufrichtigkeit sage: wäre ich im Stande, Euch Etwas zu lehren, was Euch Alle alsbald auf einen höheren geistigen und sittlichen Standpunkt heben könnte, ich würde stolzer sein, als wenn ich vierzig Male zum Präsidenten erwählt worden wäre! Schaut Euch um, hier steht das Haus des Präsidenten und dort drüben das Capitol einer mächtigen Nation, und Ihr blickt auf Die, welche die Gesetze geben und handhaben, als auf überlegene und erhabene Personen. Denkt aber einmal einen Augenblick nach. Ihr seid der Nachwuchs, die Ernte hinter uns. Alle diese Gebäude und die ganze Regierung, eines Tages werden sie unter Euere Controle fallen und Euer Eigenthum werden, und Ihr werdet die Principien der Staatskunst, der Religion und Menschlichkeit zur Ausführung zu bringen und zu überwachen haben. Ihr Knaben, wie Ihr da um mich steht, jeder Sohn seiner Mutter, Jeder von Euch ist geborener Candidat für den Präsidentenstuhl. Warum wollt Ihr mithin nicht sofort anfangen, Euch für diesen Präsidentenstuhl zu erziehen? Und Ihr, meine kleinen Töchter, Ihr könnt zwar keine Präsidenten werden, aber Jede von Euch ist geborene Candidatin für die Würde einer Präsidentenfrau. Dessen müßt Ihr Euch bewußt werden und darum müßt Ihr Alle sonder Verzug Euch auf so hohe Stellungen vorbereiten. – – – – – Alles, was der Mensch unternimmt, muß die Billigung Dessen gewinnen, welcher die Geschicke und Ereignisse der Welt behütet. Das ist mein Glaube, wenn ich einen habe. – – – Die Zeit ist gekommen, wo die erste Frage sein muß, nicht was der Mensch glaubt, sondern ob er ein guter Mann oder ein gutes Weib ist. Wenn der Mensch gut ist – dann kommt wenig darauf an, welcher Kirche oder welcher Religionsgenossenschaft er angehört. – – – Noch einmal, meine Kinder,“ lautete der Schluß der Rede, „erzieht Euch selbst! Seid fleißig und beharrlich; füllt Euere Geister mit Allem, was gut ist; stapelt Alles, was der Aufbewahrung werth, auf in Eueren Köpfen und Euere Erkenntniß wird wachsen und groß werden!“
Der Präsident wollte nun in die innern Räume seiner Wohnung zurückkehren, allein die Menge versperrte ihm den Weg. Sämmtliche Damen und Herren, die sich um die Procession geschaart hatten, wollten ihm die Hand schütteln und der gutmüthige Johnson wehrte ihnen nicht, so daß sich bald ein förmliches Lever improvisirte.
Schiller in Kriegsängsten. Der Besitzer des Hauses am Markt in Jena, in welchem Schiller von 1790 bis 1794, ehe er sein eigenes Haus bezog, wohnte, Herr Seilermeister Netz, hat folgende charakteristische Anekdote in der Erinnerung. Bekanntlich entfaltete zu der genannten Zeit die französische Revolution ihre ganzen Schrecken und überschritt in ihren Ausläufern zum Oeftern die deutschen Grenzen. Schiller, der gerade mit Abfassung der Geschichte des dreißigjährigen Krieges sich beschäftigte, hatte keine geringe Furcht vor der Verbreitung dieser Revolution über Deutschland. „Ich zittre,“ schrieb er, der Bürger der französischen Republik, an Freund Körner, „vor diesem Kriege, der mehr und mehr an Ausbreitung gewinnt.“
Mit Bezug darauf machte er eines Tages einen jungen Studenten der Theologie, der mit in seinem Hause wohnte und durch sein gefälliges, bescheidenes Wesen seine Freundschaft erworben hatte, zum Mitwisser eines sehr wichtigen Geheimnisses. „Wenn der Krieg zu ihnen käme, für diesen Fall sei er vorbereitet.“ Er führt den Student in das hinterste Zimmer, hebt daselbst ein paar von ihm zu diesem Zwecke locker gemachte Dielen in die Höhe und zeigt dem Erstaunten ein tiefes Loch. „Hierinnen verberge ich meine Werthsachen, wenn der Krieg zu uns kommen sollte. Da werden sie diese Sansculotten nicht finden.“ Dann fügte er die Dielen langsam wieder ein. So konnte also der Dichter der „Ideale“ auch praktisch sein. Die Sansculotten kamen indeß nicht, aber die Erfindung Schillers sollte sich doch noch bewähren. Schiller ruhte schon anderthalb Jahr im Schooß der Erde, als die Soldaten des gewaltigen Corsen Jena sechs Tage lang plünderten. Erst in neuerer Zeit ist der Versteck in den Dielen entfernt worden.
- ↑ „Im deutschen Studentenleben spiegelte sich seit den Zeiten der Befreiungskriege das deutsche Volk in seinen besten und schlimmsten Eigenschatten theils verklärt, theils carikirt wieder, denn wie das Ideale nirgends glühender angebetet wurde, so fand auch die materialistische Richtung nirgends energischere Vertreter, als in der Studentenwelt. Zwischen dem ernsten, ja schwärmerischen Streben und der rohen Genußjagd trat nun vermittelnd und in der That auch versöhnend der deutsche Humor auf in den sogenannten Bierstaaten, und diese wurden mit großer Vorliebe namentlich in Jena gepflegt. Jede Verbindung besaß (und besitzt noch heute) ihre Herzogthümer, Grafschaften, Comthureien, Abteien in den berühmten Kneipdörfern Lichtenhain, Ziegenhain, Wöllnitz, Ammerbach. Zwetzen etc., und daß diese endlich bis zu Kaiser- und Papstthum hinaufgipfelten, war ganz natürlich. Mit köstlicher Gewissenhaftigkeit ordnete sich hier der Hof-, Civil- und Militärstaat um das erkorene Oberhaupt, kein Amt, weder geistliches noch weltliches, war vergessen, ja, für besondere Feierlichkeiten der „Hoftage“ stand sogar das entsprechende Costüm den hervorragendsten Charakterpersonen zu Gebote, und öffentliche Aufzüge, Festlichkeiten, Processionen und dergleichen fanden in jedem Bierstaate von Zeit zu Zeit statt. – Wenn ich nun eine Schilderung dieses fröhlichen Treibens in Jena versuche und dazu gerade den ersten Anlaß zur Gründung des Papstthums in Ziegenhain (das wohl noch jetzt besteht) wähle, so muß freilich der Leser selbst so viel gesunden Humors zu diesem Artikel mitbringen, daß er nicht in dieses glückliche Spiel jugendlicher Harmlosigkeit eine verletzende Absicht gegen den Kirchenstaat und das Papstthum hineinlebe, denn darinnen liegt sie nicht.“ So schreibt uns der Herr Verfasser. Trotzdem lassen unsere Erfahrungen in den letzten Jahren uns befürchten, daß die bigotten Erzfeinde der Gartenlaube dennoch neues Verdächtigungscapital selbst aus dieser Studentenfahrt gegen uns machen, weshalb wir es nicht für unnöthig halten, auch in dieser Sache an den verständigeren Sinn unserer deutschen Leser in jeder Kirchengemeinschaft zu appelliren. D. Redaction.
- ↑ Der Gartenlaube erster Gruß an die zum zweiten deutschen Bundesschießen nach Bremen ziehenden deutschen Schützen. D. Red.
- ↑ Die nordamerikanischen Indianer gehen auf dem Marsch, und besonders auf einem Kriegszug, stets einer unmittelbar hinter dem anderen, damit ein Feind, der ihre Fährten kreuzt, oder Verfolger nie wissen können, wie stark ihre Schaar gewesen.