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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[433]
Der Bettler vom Capitol.
Eine Erzählung von Franz W. Ziegler,
Verfasser des „Nondum“.
(Schluß.)

Nach einer kurzen Pause fuhr der Bettler in seiner Erzählung fort: „Ich hatte die italienische Gewohnheit behalten, nach dem Essen meinen Kaffee in einem Kaffeehause oder öffentlichen Garten zu nehmen, dort die Zeitungen zu lesen oder literarisch und politisch zu verkehren, und diese Stunden benutzte meine Frau zum Unterricht. Zum diplomatischen Corps gehörte auch ein Russe, der eben so häßlich als verliebt, eben so boshaft als feig war. Dem Franzosen war er schon lange feindlich gesinnt, und in seiner tückischen Manier gründete er seine Rechnung auf meinen sicilianischen Charakter, auf die sprüchwörtliche Eifersucht meines Volkes und, was gewissermaßen eine Religionsforderung in solchen Fällen ist, auf einen raschen Dolchstoß, der ihn ohne Gefahr, in aller Unschuld von seinem verhaßten Feinde befreien konnte.

Der Franzose, wie ich nunmehr weiß, war eine durchaus harmlose Natur, der als verlobter Bräutigam mit idealer Treue an seiner Braut hing, der aber, Jedermann gern gefällig, so unangenehm ihm auch die Forderung meiner Gattin durch die Heimlichkeit der Ausführung war, zum Unglück der schönen Frau nichts abschlagen konnte, mit französischer Liebenswürdigkeit und dem Leichtsinn seines Volkes auf die Sache einging und sich auf den guten Ausgang des Unternehmens im Voraus freute.

Der Russe hatte es vortrefflich verstanden, mich nach und nach von fernher aufmerksam zu machen. Immer entschuldigend, wußte er mich mit Nadelstichen zu reizen, und da meine Frau ein paar Mal rasch Papiere versteckt hatte, wenn ich unvermuthet in ihr Zimmer trat, war mein Gemüth den Insinuationen des Menschen so weit zugänglich, daß ich eines Tages meine Kaffeestunde unterbrach und auf Nebenwegen nach Hause eilte. Als ich mich durch die Gärten rasch näherte, bemerkte ich noch, daß eine Dienerin meiner Frau, die wir aus Italien mitgebracht, schnell und wie erschrocken von einem Fenster zurücktrat und in die inneren Zimmer eilte. Mein Verdacht ging nun zur Ueberzeugung über. In größter Hast erreiche ich das Haus, stürme die Hintertreppe hinauf und höre, als ich das leere Arbeitszimmer meiner Frau erreichte, die Vorderhausthür auf- und zugehen. Ich stürzte an’s Fenster und erkannte den Legationssecretair, der das Haus verließ und um die Ecke verschwand. Der nächste Gegenstand meiner Rache, die heiße Lust, sie sofort zu kühlen, ließen mich an gar nichts Anderes denken. In wenigen Sätzen war ich meinem Opfer nachgesprungen, aber als wäre es von der Erde verschlungen, war es verschwunden und auch nicht in seiner Behausung aufzufinden. Noch heute ist es mir unerklärlich, wie es zuging, daß ich mich indem allerdings kleinen Orte gegen Abend in freiem Felde wiederfand, daß ich erst dort an Nazarena selbst dachte und Rachegedanken in mir aufloderten.

Sie zur Rede zu stellen, das fiel mir nicht ein; ihre Schuld war für mich so klar, daß sie anzuhören mir gar nicht in den Sinn kam und ich sie unbedingt niedergestoßen haben würde, wenn mich nicht die Sucht den Franzosen zu opfern ganz und gar erfüllt hätte, so daß alle meine Sinne, zunächst von ihr abgelenkt, darauf gerichtet waren, ihn zu erreichen. Je mehr ich Nazarena geliebt, je höher stieg nun in mir die Wuth, ich sah sie im Geiste vor mir, die ich so rein und unschuldig in die Arme genommen, ha! und ich erblickte sie schon blutend zu meinen Füßen, ich raffte mich, als ich bald fluchend, bald lachend sie an meinem inneren Gesichte vorüberführte, zur That auf und sank wieder zurück, wenn das Bild vor mir auftauchte, wie sie mit ihrem freundlichen Gesicht mir die Juwelen reichte.

Durch das Spiel, durch die Sorge um meine künftige Existenz durch die anhaltenden Studien der letzten Zeit mußten meine Nerven gelitten haben; ich war wie vernichtet, brach, als ich eine kurze Strecke gegangen, wieder zusammen und war weinend auf einen Grabenrand niedergesunken, als eine Chaise leer vorüberfuhr und der Kutscher mich fragte, ob mir etwas fehle und ob ich nicht aufsitzen wolle. Wohin? Der Kutscher nannte eine naheliegende große Handelsstadt. In Gottes Namen, rief ich, saß auf und langte Abends an. Die Nacht hindurch schüttelte mich ein Fieber, und ich wäre vielleicht in eine längere Krankheit verfallen, wenn nicht am Morgen ein herbeigeeilter Arzt mir zur Ader gelassen hätte. Meine ganze Habe trug ich schon seit längerer Zeit in Wechseln bei mir und wollte eben einen derselben realisiren, als ich auf dem Posthofe einen alten Bekannten, einen Attaché vor der spanischen Gesandtschaft in Paris, traf, mit dem ich dort studirt hatte. Er sagte mir, daß er als Courier nach Wien gehe, und setzte scherzend hinzu: ‚Wenn Sie den leeren Platz neben mir benutzen wollen, sind Sie in wenig Tagen in Wien.‘ Gott weiß, wie es zuging, daß ich den Vorschlag annahm.“ Er schwieg ein Weilchen.

„Mein Lieber,“ unterbrach ich ihn, „Sie sind, wie ich glaube, bisher wahr gewesen. Sie gestehen mit Schmerz, aber Offenheit Ihr Spiel und die davon untrennbare Zerrüttung ein, ich kann mir auch denken, daß Sie in blinder Leidenschaft die junge Frau [434] für schuldig hielten, daß Ihre Energie durch die ungeheure Schwere des Unglücks, das Sie vermeintlich betroffen, so weit gebrochen war, daß Sie nichts mehr hören und sehen wollten und nun in jene schlaffe Passivität verfielen, welche Menschen, Alles hinter sich zurücklassend, wie ein Bankerottirer, in die Welt hineineilen läßt, ohne Plan und Ziel; aber bekennen Sie, daß in Ihren Worten: ,ich weiß nicht, wie es zuging, daß ich den Vorschlag annahm,‘ in sofern eine Ungenauigkeit liegt, als Sie sich nicht eingestehen wollen, daß die Baronin in Wien einen Antheil an Ihrem Entschlusse hatte, daß Sie, nachdem alle Stützen Ihres Daseins gebrochen, in ihr eine geistige Anlehnung suchten. Ich begreife, wie schwer dem Katholiken die Ohrenbeichte werden muß, aber, so sehr ich auch dagegen eingenommen bin, so erkenne ich doch heute und in diesem Augenblick, daß etwas Gutes an der Sache ist, nämlich die Nothwendigkeit, gründlich mit sich abzurechnen und volle Wahrheit zu sprechen.“

„Es ist nicht zu leugnen,“ erwiderte er nach einigem Schweigen, „daß die Baronin an meinem raschen Entschluß Antheil hatte, aber ich kann nicht zugeben, daß dies, wie Sie blos andeuten, Liebe zu ihr war; es war ein schwankendes Gefühl, in welchem ich, wie Sie richtig meinen, vorweg die Wonne fühlte, mich ihr entdecken, bei ihr Theilnahme und Trost für meine Leiden finden zu können.

War ich doch schon glücklich, auf der Reise an der Seite meines alten Bekannten zu sitzen, wie uns überhaupt das Unglück mit unwiderstehlicher Gewalt auf Alles zurückführt, was an frühere, glücklichere Tage erinnert. Ich will auch zugeben, daß die Baronin, als ich mich ihr entdeckte, es als ein Glück pries, daß ich den Legationssecretair nicht erreicht, oder gar an meiner Frau einen Doppelmord begangen hätte; daß sie es war, die es mir als eine Fügung des Himmels deutete, daß ich in halbbewußtlosen Zustand verfallen, daß mich der Kutscher und ich den Courier getroffen; daß sie es war, die mir bewies, wie es ganz natürlich gewesen, daß ich meine Gattin nicht wieder gesehen, daß diese ja auch nichts anderes werth sei, als verlassen und hülflos zu bleiben, und daß gerade darin die einzige, intensive, nachhaltige Rache liege. So redete sie mich in die Ueberzeugung hinein, daß ich ganz wohl gethan, und wie der Mensch sehr gern geneigt ist, sich selbst zu belügen, fand ich mich jetzt noch lobenswerth, daß ich so menschlich gewesen, ja, ich glaubte, daß Alles, was ich ohne Nachdenken gethan, doch im Grunde in Folge der still in mir wirksam gewesenen Vernunft geschehen sei. Eine innere Untreue war also nicht vorgegangen, jedenfalls keine äußere, die sich von selbst ausschloß, da die Baronin sich mit Plänen der Wiederverheirathung trug, die über meine Person, mit der ja doch eine Verbindung jetzt rechtlich nicht möglich war, weit hinauslagen. Aber ich will zugeben, daß die Sünde der Schwankungen in Paris wie jede Schuld, fortwirkte und zum Unglück führte.“

„Nun lassen wir das,“ fiel ich ein, „wo blieb Ihre Gattin?“

„Das Schicksal wollte, daß damals mein König auf längere Zeit in Wien zum Besuch war. Ich wurde ihm vorgestellt, gefiel und bekam die Aussicht, in einer unserer Legationen eine Stellung zu erhalten. Ich ergriff diesen Gedanken, schon weil er mir die Möglichkeit eröffnete, außerhalb Italiens zu leben, mit Begierde, und so kam es, daß unter den äußerlichen Zerstreuungen und den Studien für meine künftige Carriere mich die Nachricht, die Ungetreue sei bald nach mir verschwunden, fast theilnahmlos ließ, und dies um so mehr, als mir bald darauf gemeldet wurde, daß wenige Tage nach ihrer Abreise auch der Legationssecretair, angeblich um nach Frankreich zurückzukehren, den Ort verlassen habe. Alles, was je Leichtsinniges und Frivoles über die Frauen geschrieben und gesagt worden, nahm mein kranker Geist wie einen kühlenden Heiltrank auf. Sie sind Alle gleich, dachte ich, und es bildete sich bei mir zur Gewißheit aus, daß die Buhlerin sich mit ihrem Geliebten in der Welt ebenso umhertreibe, wie dies damals nach der in den politischen Convulsionen erfolgten Vermögenszerrüttungen vieler Familien an so mannigfachen Beispielen und in nächster Nähe zu sehen war.

Indessen konnten diese Erlebnisse und Erschütterungen auf meinen Organismus nicht ohne Einwirkung bleiben, der, so kräftig auch an sich, doch unter der Herrschaft der größten Leidenschaftlichkeit stand. Ich verfiel in eine Krankheit, ich glaube ein Nervenfieber, das mich auf Monate niederwarf und in bewußtlosem Zustande niederhielt. Als ich mich in einer der vortrefflichen Heilanstalten Wiens wiederfand, war mir das Leben zur Last, und die Theilnahme und schonende Aufmerksamkeit, die mir nach den ersten Ausgängen von meinen Bekannten zu Theil wurden, trösteten mich nicht, verstimmten mich vielmehr, ja erfüllten mich mit Mißtrauen, weil ich mir einbildete, die Baronin habe etwas von meinem Unglück verrathen, oder dasselbe sei auf anderem Wege der Gesellschaft bekannt geworden. So viel ist gewiß, daß ich mich seitdem nie wieder zu der alten, frischen Energie habe erheben können. Ich war damals, wie überhaupt die Menschen gern Alles außen suchen, was in ihnen vorgeht, sehr geneigt, die Umwandlung in mir auf das deutsche Klima, auf den Umgang mit den Deutschen zurückzuführen; denn mir konnte nicht entgehen, daß ich seitdem eine elegische Stimmung beibehielt, die den activen Muth in mir vermindert, den passiven aber vielleicht erhöht hat; und so lebte ich meine Tage still für mich hin und war in dieser Monotonie des Daseins kaum gewahr geworden, daß darüber zwei Jahre verflossen waren.

Da erhielt ich einen Brief von dem Russen, durch Vermittlung der russischen Gesandtschaft. Er war mit schwacher Hand geschrieben und meldete mir, daß sein Verfasser im Duell einen Stich durch die Lunge bekommen, daß er nur noch wenige Tage zu leben habe und daß er sich gedrungen fühle, mir zu gestehen, daß meine Frau bei dem Legationssecretair Zeichen-Unterricht genommen, um mich zu überraschen; daß er sehr wohl gewußt, wie die Unglückliche völlig unschuldig sei, daß er aber der Lust nicht habe widerstehen können, mich dem Franzosen auf den Hals zu hetzen; daß er eigentlich weder mir, noch meiner Frau habe wehe thun wollen und aufrichtig seinen Fehler bereue. Er meldete mir zugleich, daß Nazarena Alles bis auf die nothdürftigste Kleidung verkauft, daß sie seine Börse, sowie die des Legationssecretairs ausgeschlagen, sich mit der größten Hoheit und Würde benommen und, so viel er habe erfahren können, mit ganz geringen Mitteln die Reise nach Italien angetreten habe. Schließlich bat er um Verzeihung, und ich gestehe, daß dieser Schurke mir so sehr Schurke schien, daß ich Anfangs glaubte, das Ganze sei eine Erfindung des Ungeheuers, um mich auf’s Neue auf die Folter zu spannen. Ich lief auf die französische Gesandtschaft und bat dort einen der höheren Beamten unter Vorgabe literarischer Zwecke, mir darüber Auskunft zu verschaffen, wo sich jetzt der Legationssecretair aufhielte.

,Das ist leicht,‘ antwortete mir der Herr, ,Sie fragen nach Niemand Anderem, als nach meinem Schwager, der vor zwei Jahren seinen Abschied genommen, weil er mit dem jetzigen Gouvernement unzufrieden ist, sich damals sofort verheirathet hat und seitdem als Privatmann und bereits glücklicher Familienvater auf seinen Gütern in der Picardie lebt.‘

Ich bedurfte aller Anstrengung, um mich auf den Beinen zu erhalten und die Straße zu gewinnen. In meiner Behausung ergriff mich ein unendlicher Schmerz, der sich glücklicherweise in dem lindernden Balsam löste, welchen die Natur dem Menschen als Gesellin mitgab. Alle Liebe, die ich je zu meiner Frau gefühlt, drängte sich in die leidenschaftlichste Sehnsucht nach ihr zusammen, und so rüstete ich mich in der größten Hast zur Abreise nach Sicilien; denn da allein, bei ihren Brüdern, konnte die Unglückliche Schutz und Beistand gesucht haben. Wie immer, überflügelte die Hoffnung, ein Kind unserer heißen Wünsche, alle Befürchtungen. Ich hatte ja den Brief des Russen in Händen, ich konnte mich ja entschuldigen bei den Brüdern, ich mußte ja bei meinem Weibe Verzeihung finden, bei ihr, die alle meine früheren Verirrungen so liebevoll mit ihrem Herzen gedeckt hatte; sie mußte ja mich, den Reuigen, aufnehmen, denn ich war ja selbst elend geworden, ich hatte ja selbst gelitten, wenn auch durch meine Schuld, so doch im Grunde ihretwillen. So geneigt ist der gebrechliche Mensch, sich selbst zu entschuldigen, und als ich nach wenigen Tagen abreiste, erbauten sich in mir Vorsätze und Pläne, ja schon eine ganze Zukunft auf dem schmalen Grunde der mir gebliebenen Mittel, die ich sparsam schonte und ängstlich zusammenhielt. Endlich betrat ich in Messina sicilischen Boden. Es war dies zu der Zeit, als die Reaction noch ihre Opfer aus der voraufgegangenen Revolution suchte, und da ein Namensvetter von mir zu den Compromittirten gehörte, ich überdies einige Aehnlichkeit mit ihm haben sollte, reichte dies hin, mich eine Woche dort aufzuhalten, indem man mir den Paß abnahm; indessen weil bei einer Sperrung aller Häfen eine Flucht nicht möglich war, man auch wohl halb und halb an der Identität mit dem Gesuchten zweifelte, gestattete man mir freie Bewegung im Orte.

[435] Ich glaubte bald zu bemerken, daß man mich beobachte. Denn als ich Abends auf der Palazzata mich erging, trat plötzlich, und bevor ich noch ihr Gesicht sehen konnte, eine männliche Gestalt in ländlicher Tracht vor mir wie betroffen zurück, schien dann aber, indem ich von ihr unter allerhand ersichtlichen Vorwänden umkreist wurde, mich im Auge zu behalten. Im Gefühl meiner politischen Unschuld kümmerte mich das wenig, und als ich derselben Gestalt wieder in der Dämmerung auf dem Monte dei Capuccini begegnete, versuchte ich gar nicht unter den breiten, tief in die Augen gedrückten Hut zu sehen, denn ich hoffte, da mich ganz andere Dinge beschäftigten, mit den Agenten der Polizei, welche diese aus allen Schichten der Gesellschaft geworben hatte, außer Berührung zu bleiben.

Am folgenden Tage meldete sich bei mir ein Vetturin, der von meinem Wirth gehört haben wollte, daß ich nach Taormina zu reisen beabsichtige. Er sei, sagte er, von dort, fahre leer zurück und stelle mir deshalb einen sehr billigen Preis, ja er erbot sich sogar, da gegenwärtig wenig gereist werde, mich für eine geringe Summe nach Catanea und selbst nach Syracus weiter zu befördern. Es war mir dies wie ein gutes Zeichen des Schicksals; ich willigte freudig ein, und da ich noch an demselben Abend meinen Paß erhielt, fuhr ich am andern Morgen ab.

Ich hatte schon alle Himmel im Herzen, denn ich näherte mich ja meinem geliebten Weibe; ich hoffte sie zu finden, ein Kind im Arm, ich lag in Gedanken zu ihren Füßen, es wogte in mir auf und ab von Schmerz und Wehmuth, von Liebe und Lust.

Jedem, der nach langer schmerzlicher Trennung in die Heimath zurückkehrt, mag sie lieblich entgegenlächeln, zumeist dann, wenn ihm dort eine Hoffnung, eine Lösung von Schmerzen dämmert. Ich kam aus dem Siechhause, ich kam aus dem Winter, dem Eise und Schnee Deutschlands, ich betrat mit dem Frühling den Boden des Vaterlandes, das selbst dem Festland Italien gegenüber leuchtet wie ein vollendetes gefirnißtes Landschaftsgemälde im Vergleich zu einem Werke, das dieses letzten Glanzes entbehrt.

Als ich hinauskam in die Landschaft, dahinfuhr bald durch die haushohen Cactushecken, bald durch das Grün der Orangenwälder und der ewig durstigen Limonengärten, und dann plötzlich der weiteste Blick sich eröffnete links über das blaue Meer, rechts über Weizenfluren, die sich in den reichsten Geländen emporwinden von Thal zu Berge, strotzend von Segen, bekränzt von tausendjährigen Oelbäumen, die regellos ihre knorrigen Zweige hinausstrecken in das Veilchenblau des Himmels und in ihrem überschleierten, matten Grün alles Scharfe und Harte der Farben vermitteln: da jubelte es in mir laut, es wurde gewiß in mir, ich mußte noch einmal glücklich werden.

Man verläßt, wie Sie wissen, kurz vor Taormina den Wagen, der mühsam sich den Fahrweg emporwindet, um von der andern Seite rascher zu dem Orte emporzusteigen, über dem sein berühmtes altes Theater thront. Zwischen zwei Felskuppen eingebaut, werden von der natürlichen Böschung die marmornen Sitze gedeckt, von denen unsere griechischen Voreltern die gewaltigen Tragödien hörten, welche jeden Augenblick die dunklen Mächte, das düstre Geschick vor uns aufrollen, während das Auge des Zuschauers über Land und Meer bis in die unendliche Ferne dahinschweift und dann wieder dicht vor sich, so nahe, als könne man ihn ergreifen, den Aetna erblickt, in dessen Brust die Donner rollen und hereinzubrechen drohen, vernichtend wie der Zorn der Götter.

Ich hatte den Riesen schon einigemal vom Wege erblickt und hatte dann aufgejauchzt vor Freude, denn er war ja der Schauplatz meiner ersten Liebe; meine ganze Seele bebte, und ich eilte nach Taormina empor, weil ich wußte, daß ich von dort die Region sehen und unterscheiden konnte, in der mein Weib leben mußte.

Kaum war ich eine Viertelstunde gegangen und wollte einen schmalen Bach passiren, der in tiefem Einschnitte dahinströmt, als unerwartet, um eine Felsenecke hervortretend, zwei Männer mich faßten, den Unbewaffneten niederwarfen, ihm die Hände banden, ihn dann aufrichteten und schnell aufwärts in das Geklüft des Gebirges führten.

Alles war das Werk weniger Augenblicke, und ich fing kaum an, meine Lage zu begreifen, als ich erschreckt zusammenbebte, denn ich erkannte, an eine offnere Stelle des Weges gelangt, die Brüder meiner Frau, die Aetna-Bauern. Auf meine Fragen gaben sie keine Antwort; ich bat, mir nur zu sagen, ob Nazarena bei ihnen sei, aber sie blieben stumm. Um meinen raschen Tod konnte es ihnen nicht zu thun sein, denn die zum Morde geeignetsten Schlünde lagen schon hinter uns. Immer vorwärts trieben sie mich durch die bald eingebrochene Nacht über Geröll durch trockene Wasserbecken hinauf, über Felsen und durch Waldungen hinweg, durch Felder und Weingärten, bis wir gegen Morgen bei einer Hütte anlangten, die ich als Wohnung des ältesten Bruders erkannte.

Ich wurde hineingeführt, entfesselt, erhielt Brod und Wein und wurde auf ein Lager verwiesen, das die Brüder bewachten.

Gegen Mittag trat der älteste Bruder, der Geistliche, ein und fragte mich, ob ich zu beichten gedächte. Ich hielt nun meinen Tod für beschlossen und zwar einen langsamen, qualvollen Tod, weil man sonst wohl gleich ein Ende mit mir gemacht haben würde. Ich lehnte daher die Beichte ab und würde den Mördern kalten Trotz entgegengesetzt haben, wenn mich nicht die unendliche Sehnsucht, Nazarena und unser Kind zu sehen, auf das Heftigste ergriffen hätte. Instinctmäßig fühlte ich, daß bei diesen Leuten jede Bitte vergeblich sei; ich war auch dazu nicht geneigt, vielmehr erfüllte mich der Ueberfall an der Schwelle meiner Hoffnungen, das Tückische in meiner Behandlung mit Wuth, und ich konnte mich nicht enthalten, die härtesten Verwünschungen gegen die Brüder auszustoßen. ,Ihr seid Mörder, das weiß ich, verruchte Mörder, die nicht einmal Herz haben für ihre leibliche Schwester, die ihr nicht das Glück gönnen, zu wissen, daß ihr Gatte unschuldig war. Leset,‘ rief ich, indem ich dem Geistlichen den Brief des Russen gab, ,leset, durch welche Schurkerei ich getäuscht wurde, und dann, wenn Nazarena erfahren, wie ich dazu kam, sie für schuldig zu halten, dann schlachtet mich stückweise, so langsam Ihr wollt.‘

Der Geistliche, nachdem er gelesen, faltete die Hände zum Gebet und sagte dann jubelnd zu seinen Brüdern: ,Seht Ihr, unsere Schwester, wie sie es auf die Hostie uns geschworen, war unschuldig. Ich halte das Bekenntniß des Verleumders in der Hand, es betheuert diese Unschuld ihr eigener Gatte, er liegt bereuend zu unseren Füßen: sie, die Reine, ist aufgenommen von der heiligen Jungfrau und genießt dort den Lohn für ihr treues Märtyrerthum.‘ ,Sie ist todt?‘ rief ich aus und brach dann ohnmächtig zusammen.

Als ich wieder erwachte, richtete mich der Geistliche auf. ‚Meine Mission,‘ sagte er, ,ist die der Versöhnung und des Friedens, ich nehme keinen Theil an der Rache der Brüder, ich habe gefleht und gebeten, ich habe ihnen zugerufen: die Rache ist Gottes, in der Hand der Menschen ist sie ein zweischneidiges Schwert; aber sie haben geschworen, geschworen auf den Leib Christi, es ist keine Lösung möglich.‘ ,Ich will auch nicht leben,‘ sagte ich, ,ich will es nicht, laß sie bald ein Ende machen, bald, recht bald, mich fesselt nichts mehr an diese Erde.‘ ‚Nichts?‘ sagte er und winkte den Brüdern, die uns einen Augenblick verließen und dann eintraten, zwischen sich einen zweijährigen, goldgelockten Knaben, einen Engel an Schönheit und Unschuld unter diesen dunkeln Gestalten.

Im Augenblick begriff ich, daß dies mein Sohn sei, und schloß das Kind in die Arme, das weinend sich schließlich meinen Liebkosungen überließ. Die Brüder gingen an ihr Geschäft und ließen den Geistlichen und den Knaben bei mir, den ich nach und nach gewann. Ich hatte jetzt für nichts mehr Sinn und Ohr, ich lebte nur in dem Knaben, ich schenkte ihm, was ich Blitzendes an mir hatte, und man ließ mich nun volle vierzehn Tage mit dem Kinde leben und thun, was ich wollte, ohne mich sehr genau zu beachten, da man gemerkt hatte, daß mich das Kind mehr fesselte, als tausend Banden.

In dieser Zeit brachte mir der Geistliche die Geschichte Nazarena’s bei, und ich glaube, daß ich mir das Gehirn an der Wand zerschmettert haben würde, wenn mich nicht mein Kind an das Leben gefesselt hätte.

Die Unglückliche war mit der gewöhnlichen Post bis an die Alpen gefahren. Da schon waren ihre Mittel so gering geworden, daß sie den rauhen Paß zu Fuß überschritten und sich eine Erkältung zugezogen hatte, die, da sie solche nicht abwarten konnte, den Todeskeim in ihren jugendlichen Körper legte. Aber sie war soweit gelangt, daß die Gewässer abwärts liefen, dem lieben Heimathlande entgegen. Als freue sich das Kind des Vaterlandes, hatte sie zum ersten Male in dieser Verlassenheit, in diesem Elende, sein Leben empfunden; da hatte sie allem an dunkler Felswand [436] gesprochen mit Gott und der heiligen Jungfrau und hatte gebetet, ihr Leben anzunehmen für das ihres Kindes. Mit dem heiligen Muthe, den nur das Gefühl der Mutter dem Weibe geben kann, hatte sie sich aufgerafft, hatte zum ersten Male an die Thüren geklopft und hatte gebettelt um dürftige Nahrung für das Kind, das sie unter dem Herzen trug. Oft abgewiesen, oft als leichtsinnige Dirne gescholten, hatte sie geduldet, ganz allein, nur Gott im Himmel zum Beistand und ihre Thränen als Tröstung. So war sie von Ort zu Ort bald auf zerrissenem Schuhzeug, endlich auf nackten Füßen nach Florenz gekommen. Dort hatte sie auf Linderung gehofft, denn sie hatte dem Bruder, dem Geistlichen, geschrieben, ihm geklagt, daß der Gatte sie aus unbegründeter Eifersucht verlassen, und hatte um einiges wenige Geld poste restante gebeten. Allein sie fand nichts vor, denn der Brief war in den damaligen Revolutionswirren nicht angelangt. Zur äußern Noth hatte sich noch der Kummer gesellt, auch von den Brüdern verstoßen zu sein, die sie vielleicht auch für schuldig hielten, und so war sie, den Tod im Herzen und im Körper, weitergeschlichen, hatte oft Nachts sich wie ein wildes Thier in einer Felsspalte hungernd und frierend bergen müssen, aber die Mutterpflicht hatte sie so lange aufrecht erhalten, bis sie eines Abends, ausgehungert, bleich, verstört, eine Bettlerin, bei ihren Brüdern angeklopft hatte.

Diese waren anfangs geneigt, ihr keinen Glauben zu schenken; als sie jedoch auf die geweihte Hostie ihre Unschuld betheuert, hatten sie dieselbe mit aller Liebe und Sorgfalt umgeben, deren sie fähig waren, hatten ihre eigenen kleinen Ersparnisse geopfert, um ihr Gutes zu thun, und als das Kind sich ihrem Schooße entwunden, hatten sie eine Amme für dasselbe bereit. Mit Allem, was die Unglückliche stärken konnte, hatten sie gesucht ihr zu helfen, indeß die liebevollste Pflege so wenig wie heißes Gebet hatten die Krankheit heben können, welche, nach den Geboten der Natur, nur die Frucht bis dahin aufgehalten hatte. Nazarena verschied bald; an demselben Orte, an dem ihre Wiege gestanden, hauchte sie ihr junges Leben aus. Sie, die als reines Kind in die Hände des geliebtesten Mannes gegeben war, sie, die noch vor wenigen Jahren, in Fülle der Gesundheit schwimmend, um diese Hütte spielte, war dahingesunken durch die Schuld des Mannes, an dessen Schutz sie gewiesen war durch das Gesetz und die Ordnung Gottes, hingeopfert durch die Schuld ihres Gatten.

Der Geistliche weinte mit mir, und wenn er auch mein Betragen nicht durch die Eifersucht, der ich unterlegen, rechtfertigen konnte, so suchte er doch in seinem liebevollen Gemüthe Alles auf, was meine Schuld zu mindern vermochte. Dagegen hatte ich von den Brüdern noch kein Wort vernommen; sie beobachteten in meiner Gegenwart ein düsteres Schweigen, waren aber sichtlich erfreut, daß Vater und Kind täglich mehr zusammenwuchsen, daß es mir eine Lust war, alle kleinen Sorgen für letzteres zu übernehmen, und daß ich diese Sorge nur ungern für Augenblicke an eine alte Verwandte und Dienerin des Hauses abtrat. Mir that jede Mühe, die mir das Kind machte, wohl, es war mir, als könne ich durch die Pflege desselben einen Theil der Schuld gegen die Mutter abbüßen.

Als ich eines Tages gegen den Geistlichen diese Gedanken äußerte und hinzufügte, daß mir noch eine kleine Erbschaft zufallen müsse, daß ich dann Mittel genug hätte, dem Knaben eine gute Erziehung zu geben, und daß ich mein ganzes Leben einzig und allein dieser Aufgabe opfern würde, antwortete er mit einem leisen Seufzer nur: ,Sie haben geschworen!‘

Nicht die Furcht vor dem Tode selbst, obwohl mir die Liebe zum Kinde auch wieder Liebe zum Leben eingeflößt hatte, aber die ungewisse Verschiebung des Mordes, das Ueberlegte, Geheimnißvolle der Ausführung flößten mir Schrecken ein, und ich bat den Geistlichen, dahin zu wirken, daß bald mit mir ein Ende gemacht würde.

‚Ein Ende?‘ sagte er, ,es giebt schlimmere Strafen, als den Tod,‘ und entfernte sich, indem er traurig sprach: ,ich kann es nicht wenden und ändern, sie haben geschworen!‘

Von diesem Augenblicke an gerieth ich in die äußerste Unruhe. Was können diese Schrecklichen wollen, was kann in ihren Augen schlimmer sein, als der Tod? Je mehr ich darüber nachdachte, je mehr verwirrten sich meine Gedanken, und, ich brachte qualvolle Nächte zu.

Da, eines Tages, obwohl kein Festtag oder Sonntag war, bemerkte ich, daß die Brüder nicht zur Arbeit gingen, sondern festliche Kleider angethan hatten. Gegen Abend traten sie bei mir ein und hatten den Knaben, dem ebenfalls ein festliches Kleidchen angezogen war, zwischen sich. Der Geistliche war in vollem Ornat und auf dem Tische waren statt der Lampe Kerzen angezündet.

Der Geistliche war sichtlich bewegt und stand schweigend hinter den Kerzen.

Der jüngste der Brüder erhob zum ersten Male seine Stimme und sprach: ‚Liebst Du das Kind?‘ Mich durchzuckte der Gedanke, die Unmenschen wollten es ermorden, und mit übernatürlichen Kräften stürzte ich mich auf die Brüder, um ihnen mein Kind zu entreißen.

‚Teufel aus der Hölle!‘ rief ich ihnen zu, ,mein Kind, meinen Sohn, den Sohn Eurer Schwester, wollt Ihr opfern, opfern vor meinen Augen? Mit meinen Zähnen werde ich ihn vertheidigen, wenn Ihr mir die Hände abgehackt habt.‘ Sie überwältigten mich, und ich beruhigte mich, als der Geistliche herzutrat und sagte: ‚Mein Amt sollte Dich belehren, daß ich bei einer Blutthat nicht gegenwärtig sein kann. Höre den Bruder, das Leben Deines Kindes wird in Deine Hände gelegt werden, Du allein kannst es sichern.‘ ‚Nun, so gebt mir mein Kind und laßt mich ziehen,‘ rief ich, ‚ich liebe es mit allen Kräften meiner Seele; ich werde es erziehen, mein Leben soll eine fortgesetzte Reue sein, ich will nichts weiter, als mein Kind, das Kind meiner unglücklichen Nazarena.‘ ‚Nenne sie nicht Dein,‘ fiel der jüngere Bruder ein, ‚denn Du hast sie verstoßen, dem Elende preisgegeben, hinausgetrieben in die Weite wie einen Hund, der verenden konnte auf freiem Felde oder im Schnee der Gebirge, ein Fraß für die Vögel. Sie, die Tochter ehrlicher, obwohl unbegüterter Landleute, die Freude, der Stolz ihrer Familie, hat an die Thüren geklopft und um Speise und Trank gefleht als Bettlerin, während sie das Kind als Pfand der Liebe zu Dir unter dem Herzen trug, während sie das Kind, von Gott und Natur Deiner Pflege empfohlen, von Dir aber verstoßen, mit ihrem Herzblut nährte, das sie aus den dürftigen Brosamen, die sie erbettelte, nicht ersetzen konnte.‘

Ich stöhnte unter den Qualen der furchtbaren Erinnerung, welche der Bruder in mir wachrief.

,Du hast,‘ fuhr er fort, ‚tausendmal den Tod verdient, doch Du bist Sicilianer, hast Muth und fürchtest ihn nicht; eben weil Du aber tausendmal den Tod verdient hast, sollst Du ihn täglich kosten, ganz, wie unsere Schwester ihn stückweise und tropfenweise hat erleiden müssen.‘ Ich sah ihn mit hohlen Augen an, denn ich verstand ihn nicht.

,Du hast,‘ fuhr er fort, ‚dies Kind zum letzten Male berührt und es das Deine genannt; Du hast es verstoßen, noch bevor es das Licht der Welt erblickte, wir haben es gerettet, in unsere Arme hat es sterbend die Mutter gelegt, es ist das unsrige. Wir werden es erziehen und werden dafür arbeiten, sollte uns auch das Blut unter den Nägeln hervorspringen, aber wir werden es sofort ermorden, wenn Du eine Sylbe von den Bedingungen abweichst, die wir Dir stellen.

Von heute ab darfst Du Dich nur durch Betteln ernähren, Du darfst Dich keiner Arbeit unterziehen, Du darfst keine Unterstützung annehmen, die Dir für mehr als einige Tage das Betteln entbehrlich macht, Du darfst in keinen Bettelorden eintreten, wodurch Du des Schamgefühls überhoben würdest. Du sollst betteln, betteln wie unsere Schwester gethan, aus Noth, aus Hunger, Du sollst den Schmerz erfahren, von der Thür gejagt und gescholten zu werden. Du sollst betteln, so lange Dein Leben auf natürlichem Wege vorhält, Du darfst demselben nicht ein Ende machen. Brichst Du eine dieser Bedingungen, giebst Du Dich je Deinem Sohne zu erkennen, wenn er Dir unter die Augen kommt – dann soll eine Viper nicht leben, die das adlige Blut seines Vaters in sich trägt, das Blut, in dem nicht Treu und Glauben gewesen vor und nach seiner Schandthat. Wir lassen Dich nicht schwören. Menschen Deiner Art sind mit keinem Eide zu fesseln, sie sind nur durch Furcht und Interesse zu leiten. Das wenige Geld, das Du mitgebracht, haben wir im Besitz und werden es für den Knaben verwalten; für ihn und die Welt bist Du todt. Du hast Dich nach Rom zu betteln, dort haben wir Gelegenheit, Dich zu beobachten.‘

Die furchtbare Energie dieser Natursöhne hatte mich niedergedrückt; ich fühlte weniger das Elend, das mir bevorstand, als den Schmerz, mich von meinem Kinde zu trennen, und warf mich flehend vor den Männern nieder, nur um das Eine bittend, daß

[437]

Betzinger Bauern am Sonntagmorgen nach der Kirche.
Originalzeichnung von Theodor Pixis in München.

[438] mir die Aussicht gelassen würde, noch einmal im Leben meinen Sohn zu umarmen, wenn ich drei Jahre lang die Bedingungen gehalten, die man mir auferlegt hatte. Ich erinnerte daran, daß ich, als ich die Schwester verlassen, sie ja für schuldig gehalten, daß ich, wie sie, Sicilianer sei und wir in solcher Lage Alle zu übereilten Schritten fähig wären.

Zu meinem Erstaunen gerieth ungeachtet aller Demuth, die ich in diese Worte gelegt, der Bruder in Heftigkeit. ,Du irrst Dich in uns und in der Zeit; wir und dies Volk sind in den letzten fünf Jahren, von denen Du den größten Theil auswärts zubrachtest, andere geworden. Wir haben Euch kennen gelernt. Du sprichst von sicilianischer Eifersucht? Aber Eure Marcheses und Contes haben ihre Weiber in das Bett des Fürsten legen können und sich die allerhöchste Besudelung zur Ehre gerechnet. Euere Priester haben arme, gefallene Dirnen mit Bußen verfolgt, unsere Regierung hat die stärksten Strafen gegen Verletzung der Sittengesetze auferlegen können, Ihr habt vor den Unglücklichen ausgespieen; aber bei Euren Töchtern war dies zu entschuldigender Fehltritt, und wenn eine Prinzessin der Welt zum Scandal lebte, sicherte sie der Hof und ihr Rang, weil, wir haben es gehört, ein Regent gesagt hat: das wilde Blut der Fürsten könne nicht anders, und müsse entschuldigt werden. – Schurke!‘ rief er immer leidenschaftlicher geworden aus, ,Du hast in unserer Schwester das Bauermädchen, nicht die geborene Gräfin gesehen. Ware sie Letzteres gewesen, so hätte sie eine Dirne sein können, und Du hättest sie nicht hinausgejagt.‘

Der Geistliche trat hinzu, und ich hörte nur noch die Worte: ,Wir haben eine lange Abrechnung mit dieser Brut, der Tag der Abrechnung wird kommen.‘ Ich sah, es war keine Rettung; der politische Haß war zur Privatrache hinzugetreten und hatte ihr die tiefe, fressende Schärfe gegeben und zugleich das Mittel, sich vor sich zu rechtfertigen durch den Hinweis auf das Allgemeine, dem man opfere.

‚Machen wir ein Ende,‘ sagte rauh und kurz der ältere Bruder, und nun traten Beide an das Crucifix und die linke Hand auf das Haupt meines Sohnes, die rechte auf den Leib Christi gelegt, schwuren sie feierlich dies Kind zu ermorden, wenn sein Vater eine der gestellten Bedingungen bräche.

Dann rissen sie mich, während das Kind schrie und weinte, vom Lager empor, auf das ich niedergesunken war. Der ältere Bruder nahm ein Messer, schnitt ein Stück Brod ab und steckte es mir in die Tasche; darauf ergriffen mich Beide, führten mich hinaus bis an die Grenze ihres Besitzthums und stießen mich über dieselbe hinweg in die dunkle Nacht.“

Der Erzähler schwieg; er kam mir vor, als wäre er plötzlich älter geworden, einzelne, dicke Tropfen fielen vom Auge, und er war sichtlich erschlafft.

Mich hatte die Lösung des psychologischen Räthsels nicht so unter seine Herrschaft genommen, daß ich nicht den Gedanken in mir hätte sollen aufkommen lassen, es müsse ein Mittel geben, sich dem Banne zu entziehen.

„Aber konnten Sie,“ rief ich, „sich denn nicht an die Behörden wenden?“

Er sah mich erstaunt an. „Ich verstehe Sie,“ sagte er dann ruhig, „denn ich bin in Deutschland gewesen; aber es scheint, daß Sie Sicilien und sein Volk nicht genug studirt haben. Ich habe hier schon die Erfahrung gemacht, daß ich auf räthselhafte Weise beobachtet werde. Es giebt kein Loskommen von einem sicilianischen Schwur, und selbst Ihre Behörden würden dagegen vergeblich kämpfen. Wer sein eigenes Leben verachtet, ist Herr des Lebens aller Menschen, also auch dessen meines Sohnes.“

„Er lebt? Kann Ihr Name so sehr Geheimniß sein, können Ihre Blutsverwandten nicht von Ihnen Nachricht haben, kann nicht dem Sohne von Ihrem Elend Mittheilung gemacht werden, daß er den Bann bräche und zu Ihnen dränge?“

Der Alte schüttelte den Kopf. „Mein Sohn weiß nichts von seiner Abstammung und seinem Namen. Der geistliche Onkel hat ihn früh aus Sicilien gebracht, ihm ist der Weg zu Nachforschungen verschlossen, und ich glaube wirksam verschlossen, weil er sich, wie es scheint, für den illegitimen Sohn des Geistlichen hält.“

„Wissen Sie, wo er lebt?“

„Daß ich es weiß,“ sagte der alte Mann schluchzend, „ist das Herbste, was mir auferlegt ist. Ja, ich weiß es, und man hat es mich, wie ich glaube, absichtlich wissen lassen,“ rief er weinend. „Ich darf ihm nicht nahen, nicht ein einzig Mal nahen. O! Sie können mir es nicht nachdenken, nicht nachfühlen, was ich leide, wie meine ganze Seele zu ihm drängt und ich die heißen Thränen hinunterschlucken muß, wenn er vorbeizieht, der schönste Officier der päpstlichen Armee, wenn er dicht an mir vorüberschreitet an der Spitze seiner Compagnie.“

Der Unglückliche war so angegriffen, daß er sich kaum erholen konnte. Es war späte Nacht. Ich gab ihm den Arm bis an den Fuß des Capitols, doch wir sprachen kein Wort.

Am anderen Tage trat er wie gewöhnlich in das Café, aber kaum hatte er begonnen seine Runde zu machen, als er mit einer Bewegung, die deutlich errathen ließ, daß ihm unwohl sei, abbrach und mit einem bedeutsamen Blick auf mich schnell hinausging.

Ich folgte ihm. „Was ist Ihnen?“ fragte ich.

„Es ist vorüber,“ sagte er, „aber ich habe Sie um eins zu bitten.“

„Von Herzen gern erfülle ich es; was ist es?“

„Aendern Sie,“ sagte er, „ich bitte darum, Ihr Café; ich weiß nicht wie es zugeht, doch ich kann in Ihrer Gegenwart nicht mehr betteln. Aus diesem Café aber ziehe ich den größten Theil des Wenigen, dessen ich bedarf, um nicht zu verhungern, denn ich darf ja auch nicht einmal mich durch Hunger tödten.“

Ich versprach es ihm und sah ihn seitdem fast gar nicht. Am Tage vor meiner Abreise lauerte ich ihm in der Via Condotti auf, theilte ihm mit, daß ich Rom verlassen würde, und fragte ihn, ob ich irgend etwas für ihn thun könne.

„Nichts, als für mich beten, daß ich auf natürlichem Wege bald sterbe,“ sagte er, drückte meine Hand und mit einem wehmüthigen „addio, addio!“ verschwand er in der nächsten Seitengasse.




Land und Leute.
Nr. 14. Sonntagmorgen in Betzingen.
Mit Abbildung.
Von Tübingen über das „Burgholz“ nach Betzingen. Die weltberühmte Betzinger Frauentracht. – Mieder, Goller und Kübeleshaube. – Der Leidtrunk. – Glocken, Eierlesen und Hahnentanz. Lichtstube oder „Karz“. – Die „vertrauten Häuser“. – Alte und neue Geschichte von Betzingen.

Welch ein Wohlgefühl, nach so hartem Winter und so bitterem Frühling endlich einmal wieder einen blauen Morgen zu erleben und unter der späten Maisonne dahinzuschreiten! Noch ein paar Schritte, und der Kamm der Höhen ist erstiegen, die längs des Neckars streichend die Vorstufe des schwäbischen Gebirges bilden, gleichwie dieses die letzte Terrassenstufe vor den Schweizeralpen ist. Das auch Manchem draußen in der Welt aus der fröhlichen Studentenzeit gar wohlbekannte „Burgholz“ liegt hinter uns, durch welches die Straße von Tübingen herausführt, und die Schwabenalp breitet sich vor uns aus. Aber sie ist verschleiert durch die Bäume, welche die Straße zu beiden Seiten säumen, und wir wenden uns links ab über das Feld nach einem freigelegenen Punkte, der uns die ungehinderte Aussicht auf einen weiten Abschnitt des Gebirges eröffnet. Auf der äußersten Linken im Osten schließt der Hohenstaufen mit seinem öden Gipfel, auf der äußersten Rechten im Westen der Hohenzollern mit seinen luftigen Spitzen das Gemälde ab. Gerade gegenüber drängen sich die Berge wie erstarrte Wellen von mannigfaltiger Gestalt: der Roßberg wölbt seine hohe Kuppe, vor dem sagengeschmückten Urschelberge hat sich wie ein einzelner Vorposten die schlanke Achalm gelagert, die ihren Unterstock gleich einem Reifrocke ausbreitet, der Neufen schaut hinter einem niedrigeren Bergrücken herüber, und gegen den Staufen hin tritt die Teck mit bedeutendem Vorsprung in die Landschaft hinein. Es sind keine Riesen, dergleichen andere Gebirgswelten aufzuweisen [439] haben, aber Berge sind sie bei alledem, welche die Kraft des Ersteigers zwar nicht erschöpfen, aber doch vollauf in Anspruch nehmen. Dazu liegen sie heute mit ihren Wölbungen, Wäldern und Felsen im reichsten Glanze da. Auch die Kirchthürme und Häuser der Dorfschaften in der vorliegenden Ebene glänzen und blitzen unter dem schönen Frühlingshimmel, während in ihrem Hintergrunde Reutlingen, die alte Stadt, am Fuße der Achalm hin geschmiegt, wie fast immer, ihr ernstes, strenges Aussehen bewahrt. Und jetzt klingen aus der ganzen Gegend nach und nach die Glocken zusammen, welche zur Kirche läuten, und Aug’ und Ohr schlürfen aus der Umgebung eine Seligkeit, die in der Natur zu leben scheint und dem Menschenkinde unwiderstehlich in’s Innere dringt. Es ist die längst entbehrte Frühlingsseligkeit.

Das Abweichen von der Straße nöthigte uns zu einem beträchtlichen Umwege, so daß, als wir die Straße wiedergewonnen und das nächste Dorf vor Reutlingen erreicht hatten, schon die Glocke ertönte, die das Ende des Gottesdienstes verkündigte. Die Gemeinde kam aus der Kirche und wenn je die Worte Faust’s, daß die Sonne im ersten Frühling, da es noch an Blumen im Revier fehle, geputzte Menschen dafür nehme, eine Wahrheit waren, so ist dies der Fall mit der Farbenpracht der Frauen und Mädchen des Dorfes Betzingen, wo wir uns befinden. Die Erscheinung ist werth, auch im Bilde dargestellt zu werden, und dem Künstler, welchem wir unsere Illustration verdanken, ist das in trefflichster Weise gelungen. Die stattlichen Frauengestalten, ihre Tracht, die eigenthümliche schwarze Lederkappe der Männer, der „Löwe“ des Dorfes – das Alles tritt uns, obschon in leiser künstlerischer Idealisirung, wie es leibt und lebt vor Augen.

Die Betzinger Bauerntracht ist in neuerer Zeit weithin, selbst in England, bekannt geworden, indeß zunächst und fast ausschließlich die weibliche. Es glich einer Oase in der Wüste, diese Tracht neben den abschreckend philisterhaften Kleidungsformen, die vor dreißig, vierzig Jahren in den Städten üblich waren, erscheinen zu sehen, und auch jetzt noch, wo wir uns kleidsamer tragen, bietet sie zu der im Ganzen farblosen, eintönigen Kleidungsweise in Stadt und Land einen ungemein reizenden Gegensatz. Sie weist uns in jene Zeit zurück, die unter Wust und Gräueln aller Art doch eine unverwüstliche Fröhlichkeit besaß und das äußere Leben des Menschen mit heiterer bunter Farbenpracht zu schmücken liebte. Keinem Zweifel nämlich unterliegt es, daß sie aus dem Mittelalter stammt; denn nach der Reformation hätte eine solche Tracht nicht mehr aufkommen können, und es ist vielmehr nur das zähe Beharren ländlicher Erbfolge, wodurch sie diese ernste, alles Farbige nach und nach verwischende Katastrophe überstanden hat.

Der eigentliche Typus der Tracht ist im Steinlachthale heimisch, das sich bei Tübingen öffnet, um die alte nach Schaffhausen führende Schweizerstraße aufzunehmen. Dieses Thal, das noch immer seines Geschichtschreibers harrt, soll nach einer ziemlich hartnäckigen Ueberlieferung von einer Colonie Schweden im dreißigjährigen Kriege bevölkert worden sein; allein die Sage ist längst widerlegt und die Bevölkerung nebst ihrer Tracht als eingeboren nachgewiesen, eingeboren nämlich in dem Sinne, daß sie nicht jünger sein kann, als die letzte geschichtliche Volkseinwanderung, die alemannische.

Ihre Tracht nun, oder vielmehr eine ähnliche, findet sich auch in einigen der umliegenden Orte wieder, sei es, daß dieselben zu irgend einer Zeit von den Farben des Steinlachthales so zu sagen angezündet wurden, sei es, daß die Tracht einst einem größeren Striche unserer Landschaft angehört hat und erst später, unter der strengen Disciplin des Protestantismus oder vielleicht nach den vernichtenden Schlägen des großen Religionskrieges, der jetzt vorherrschenden dunklen weichen mußte. Eine dieser Ortschaften ist eben das Dorf Betzingen, das ein paar Stunden östlich vom Steinlachthale bei Reutlingen liegt. Die Betzinger Tracht weicht jedoch, gleichwie eine vollreife Kunstperiode ihre Vorläuferin überbietet und zugleich unter sie herabsinkt, als die buntere und reichere von der der Steinlacherinnen ab, welcher der Freund des einfach Schönen vielleicht den Vorzug geben wird.

Das Hauptstück, das über die Trägerin den meisten Reiz und Schimmer verbreitet, ist das Mieder in seiner mannigfaltigen Farbenmischung von Roth, Blau, Grün etc., deren Vertheilung hier dem individuellen Geschmacke überlassen bleibt. Man wird übrigens in der Wahl der Farben nicht leicht eine Geschmacklosigkeit entdecken, und die Silber- oder Goldborten, die sich gelegentlich zu der übrigen Zier gesellen, können kein Luxusverbot herausfordern, da sie aus sehr bescheidenem Stoffe sind. Das Mieder, auf welchem der Brustlatz oder Vorstecker vermittelst des sogenannten Preisnestels eingeschnürt ist, reicht nicht hoch genug herauf, um die ganze Brust zu bedecken, daher über dem obern Theile derselben das Göller getragen wird, ein breites, gürtelartiges Brusttuch, das den Hals umschließt und über den Saum des Mieders fällt. Zur Vervollständigung des Putzes gehört das Halsnuster von Granaten und der Anhenker, der, ein Schaustück, oft eine von Generationen her vererbte Gold- oder Silbermünze, vom Hals am Schnürchen oder Bändchen auf die Brust herabhängt. Was aber am meisten dazu beiträgt, der Tracht das eigenthümlich schmucke Aussehen zu verleihen, womit sie das Auge des Beschauers besticht, das sind die schneeweißen Hemdärmel, die sich von dem Farbenglanze der Brustbekleidung abheben. Da es jedoch nicht gut ist, allezeit zu glänzen, so hat man ein dunkles Ueberwämmschen, das Büble genannt, unter welchem die Herrlichkeit sich bergen kann.

An das Mieder schließt sich ein um die Hüften dichtgefältelter, nach unten glatt abfallender dunkelblauer Rock, der früher nicht über das Knie reichte, jetzt aber beträchtlich länger geworden ist. Die Mädchen sind an der weißen Schürze kenntlich, welche den Eindruck der weißen Aermel noch erhöht. Die Frauen tragen dunkle einfarbige Schürzen. Das Mädchen jedoch, das den Anspruch auf diesen Namen erweislich verloren hat, ist auch der weißen Schürze verlustig, und dieses alte Herkommen übt noch heute seinen strengen Zwang: kein Gesetz verbietet der Unglücklichen die Tracht, Niemand hat das Recht, sie ihr zu wehren, aber sie weiß, welchen Zungenstichen sie sich durch die weiße Schürze aussetzen würde, und zieht es darum vor, derselben freiwillig zu entsagen und die Gesellschaft der Mädchen zu meiden. Noch ist der weiblichen Kopfbedeckung zu gedenken, die, in Wirklichkeit etwas steifer als auf der Zeichnung, einigermaßen der aus antiken Bildwerken bekannten Mauerkrone der großen Mutter Kybele gleicht. „Kübeleshaube“ ist ihr Name, durch welchen sich deshalb gleichwohl kein Mythenforscher irre führen lassen darf; denn der Ausdruck will nichts weiter, als die noch größere Ähnlichkeit mit einem umgestürzten kleinen Kübel besagen.

Die Männertracht besteht – wie auch an andern Orten, wo sie aber allmählich schwindet – in einem langen weißen Rock von Zwillich, einer camisolartigen rothen Weste mit Zinnknöpfen, die wie silbern glänzen, kurzen Lederhosen und Schnallenschuhen, oder langen Zwillichhosen mit Stiefeln. Kopfbedeckung ist die schon erwähnte schwarze Ledermütze, an deren Stelle bei feierlichen Gelegenheiten, wie beim Kirchgehen und dergleichen, der schwarze Dreispitz tritt. Von Alters her wurde an hohen Kirchentagen, z. B. beim Abendmahl, auch in der Trauer und bei Leichenbegleitungen, ein schwarzer Mantel getragen, der aber nachgerade überall in Abgang kommt.

An Sitten und Bräuchen, die sich vom sonstigen ländlichen Herkommen unterscheiden, ist Betzingen nicht eben reich. Eine eigenthümliche Rolle spielt die Schürze, die wir bereits kennen, bei den Hochzeitladungen. Bei diesen trägt die Hochzeiterin eine weiße, oben mit Spitzen besetzte Schürze und über derselben eine andere von schwarzer Glanzleinwand, über deren oberen Saum die Spitzen herausgelegt werden; eine dritte, wieder eine weiße, hält sie herabhängend in der Hand. Der Buchstabe dieser Symbolik sieht etwas verwickelt aus, so daß man den Scharfsinn daran erschöpfen könnte; die Bedeutung ist jedenfalls, daß das Gebot bevorsteht, das Abzeichen des jungfräulichen Standes abzulegen und mit einem andern zu vertauschen. Der Hochzeiter und sein Gesell, der Hochzeitlader, tragen bei diesem Anlasse Säbel, wie es auch anderwärts im Brauche ist; der Letztere hat das Brusttuch mit Bändern geschmückt. Die Hochzeit selbst verläuft in gewöhnlicher Weise, und es entspricht der allgemeinen alemannischen Sitte, daß beim Kirchgang vor und nach der Trauung tüchtig musicirt und geschossen wird. In früheren Zeiten war es üblich, den Brauttanz in der Scheune zu halten.

Bei Taufen trug die ledige Gevatterin ehemals die Schapel, die hohe Krone mit Flittergold und Silberschnüren, die anderwärts die Ehrenauszeichnung der Braut ist; ihre Zöpfe waren mit seidenen Bändern eingeflochten, und ein langes schönes Band hing den Nacken hinab. Zuletzt aber war die Schapel so außer Gebrauch gekommen, daß man sie aus einem benachbarten Dorfe, das länger am alten Herkommen hielt, entlehnen mußte.

Leichenfeierlichkeiten schließen mit dem Leidtrunke, der fast überall [440] noch im Schwange geht. Die Trauerkleidung ist, auch bei den Mädchen, schwarz mit schwarzer Schürze. Wenn eines die nächsten Verwandten, wie Vater oder Mutter, verloren hat, so geht es ein Jahr lang nicht mehr zu seinen ledigen Gespielen. Auch um eine gestorbene Gespielin wird mehrere Wochen lang in der gleichen Tracht getrauert, zu welcher noch gehört, daß die Haare unter die Haube zurückgestrichen werden. Daß man auch die kleinsten Kinder mit Gesang begräbt, stammt nicht aus alten Zeilen, sondern ist ein allerneuester Brauch, der das wachsende Selbstgefühl des Bauern bezeichnet. Man muß ja die Ceremonie doch bezahlen, darum will man keine „todte Leiche“, d. h. keine, bei der es nicht ein wenig lebendig hergeht.

Ein Weihnachtsbrauch, der übrigens auch anderer Orten seines Gleichen finden möchte, ist das „Glocken“, das am Tage vor Weihnachten betrieben wird. Die Knaben unter vierzehn Jahren bemächtigen sich da der Viehschellen, so daß keine Kuh im Stalle bleibt, die ihren Schmuck noch hätte, binden die Schellen an lange Stäbe und lärmen damit von Haus zu Haus von früh vier Uhr bis zum Abend, wofür sie Brod, Aepfel, Nüsse und dergleichen erhalten.

Das Eierlesen ist nicht blos in Betzingen, sondern in weiterer Umgegend heimisch, so namentlich in mehreren Cantonen der Schweiz, hat jedoch auch dort wie überall abgenommen, so daß Jahre vergehen können, bis der fröhliche Tag der Lustbarkeit wiederkehrt. Es ist ein Wettkampf zweier junger Bursche, deren einer einen Vorrath von Eiern unter erschwerenden Umständen auflesen muß, während der andere eine bestimmte Wegstrecke zurücklegt. In Betzingen handelt es sich für Letzteren darum, aus dem eine halbe Stunde entfernten Reutlingen in einem vorgeschriebenen Bäckerhause einen „Kümmicher“ – ein mit Kümmel gewürztes, sehr schmackhaftes Brodgebäck, das einst von Straßburg dorthin verpflanzt worden ist – zu holen. Bis er zurückkommt, muß sein Gegner den Festplatz – früher die „Auwiese“ unter dem bei Betzingen gelegenen Reutlinger Galgenberge – von den in ziemlichen Zwischenräumen gelegten Eiern geräumt haben. Nur einzeln, eines um das andere, darf er sie auflesen und nach dem Korbe tragen, und wenn ihm auch gestattet ist, je nach einer gewissen Anzahl, die er gesammelt hat, eines aus dem Kreise zu schleudern, so kostet ihn doch das Hin- und Wiederlaufen nach jedem einzelnen Ei auf dem beträchtlichen Platze eine gute Zeit, so daß er sich sputen muß, wenn er Sieger bleiben will. Zum Behufe des Festes sind die Eier vorher von den Buben (Jünglingen) in Hemdärmeln von Haus zu Haus eingesammelt worden, wobei es sich von selbst versteht, daß die Häuser, welche Töchter haben, sich den Heischenden freigebiger erzeigen.

Zum Eierlesen kommt der Hahnentanz, der aber, abweichend von andern Belustigungen dieses Namens, ein äußerst harmloses Vergnügen ist. Ein lebendiger Hahn, im herkömmlich länglichen geflochtenen Korbe auf der Feststätte ausgestellt, bildet den Mittelpunkt, um welchen die Paare tanzen, indessen eine von einem Tänzer dem andern gereichte Fahne die Runde macht. Außerhalb des Kreises steht Einer, der, den Rücken kehrend, nach einiger Zeit in einem beliebigen Augenblicke ein Gewehr abschießt, und wer, wenn der Schuß fällt, gerade die Fahne in der Hand hat, ist der Sieger, welcher den Hahn erhält.

Mit dem Karz (Lichtstube) wird es wie überall gehalten. Die Mädchen kommen den Winter über Abends mit Spindel oder Rädchen in einem vertrauten (von der Ortsobrigkeit concessionirten) Hause zusammen, an welches sie zu Anfang und am Schlusse für Oel oder Lichter den sogenannten Ein- und Ausstand bezahlen, und bleiben spinnend und plaudernd bis um die elfte Stunde bei einander sitzen. Bekanntlich sind sie nicht auf ihre eigene Unterhaltung beschränkt, vielmehr finden sich im Laufe des Abends die „Buben“ truppweise ein, so daß oft ein Trupp, besonders der jüngeren, vom andern weggetrieben wird, und setzen sich zu den Spinnerinnen, wobei immer derjenige, welcher einer der Schönen zur Rechten sitzt, vorübergehend mit ihr ein Paar bildet und ihr Fürsitzer heißt. Doch dies ist blos flüchtige Kurzweil, die nicht mehr bedeutet als im städtischen Leben eine Ballvertraulichkeit. Erst zuletzt kommen die Rechten, die „Schätze“, um ihre unbestrittenen Plätze einzunehmen; um elf Uhr nimmt dann Jeder die Seine am Arme und führt sie heim. Im Uebrigen hat die Geschichte der Liebe, ob mit Namen wie Kiltgang, Kommnacht u. dgl. ausgedrückt, oder, wie hier, ohne Namen, den gleichen Verlauf wie auf dem Lande allerwärts. „Vorher ist Er zu Ihr über die Leiter gekommen, jetzt kommt er über die Treppe“, das ist der ganze Unterschied, den man an Ort und Stelle zwischen der ledigen und der legitimirten Verbindung macht. Die Leiter darf öffentliches Geheimniß sein und thut der weißen Schürze keinen Eintrag, denn diese wird nur durch einen handgreiflichen, lauten Sündenfall verwirkt. So ist und war es auf dem Lande seit Jahrhunderten. Aber nicht blos außerhalb, auch innerhalb der Mauern, welche die Gesittung bedeuten, wird die Sittlichkeit mit gar gebrechlichen Maßstäben gemessen, und die fressendsten Schäden können meist nicht einmal zur Sprache kommen, weil der „Anstand“ höher ist, denn alles öffentliche Wohl. Die Moral, theologische, philosophische, politische, thürmt friedlich ihre Gesetzbücher über einander – und das Leben geht mittlerweile seinen gewohnten widerspruchsvollen Gang.

Gleich den Mädchen haben auch die Buben und die Männer ihre besondern Clubhäuser, wo sie gegen Erlegung des genannten Aus- und Einstandes ihre Abende verbringen. Der Bauer ist in dieser Gegend sehr sparsam und geht höchstens am Sonntag in’s Wirthshaus, daher er die Woche über für sein Geselligkeitsbedürfniß einen trockenen und wohlfeilen Zusammenkunftsort haben muß. Man nennt ein solches Haus ein Ebbedhin-Haus, das ist verdolmetschet ein Irgendwohin-Haus, durch welches nämlich dem Clubmitgliede die Möglichkeit dargeboten wird, außer seinen vier Pfählen auch sonst noch irgendwohin zu kommen. Da sitzen die Männer, oft mehr als ein Dutzend, in enger kleiner Stube beisammen, lesen die politische Zeitung des Bezirks, discurriren von Schleswig-Holstein oder auch von Geschäftsangelegenheiten und gehen endlich zum Karteln über, wobei sich nach und nach ein kleiner Geldvorrath sammelt, von welchem zuletzt, selten öfter als einmal im Jahre, ein spärlicher Trunk gehalten wird. Was die Buben in ihrem Club verhandeln, davon ist uns keine Kunde geworden, doch haben wir uns mit eigenen Augen an gewissen steifgedrehten Seitenlöckchen überzeugen können, daß die Cultur, die alle Welt beleckt, auch auf die junge Mannschaft unserer Dörfer sich erstreckt.

Zu öffentlichen Zusammenkünften der ledigen Jugend beider Geschlechter bietet außer dem Karz im Winter und dem Tanzboden jeder Sonntag Gelegenheit. Sonntag Nachmittags gehen Buben und Mädchen spazieren, jeder Theil für sich ausziehend, die Mädchen meist Arm in Arm mit Gesang. Die Spaziergänge werden theils in die nächste Umgebung der nahen Stadt, theils in’s Freie nach wohlgelegenen Plätzen gerichtet, nach einer Brücke mit zum Sitzen bequemem Geländer, nach einem Rasen am Walde u. dgl., wo dann die Gesellschaft bunte Reihe macht. Abends ziehen die Geschlechter getrennt wieder heim. So ist es in der ganzen Umgegend der Brauch.

Wenn nun eines dieser Paare das bürgerliche Ziel der Liebe erreicht hat, so ist es gemeiniglich noch weit vom Besitze einer eigenen Haushaltung entfernt. Vielmehr behalten die Eltern die jungen Eheleute bei sich im Hause und treten ihnen höchstens, um sie nicht ganz ohne Eigenthum zu lassen, ein kleines Stück von ihrem Grundbesitze ab. Es kann auf diese Weise viele Jahre dauern, daß die junge Generation unter der Herrschaft der alten bleibt, die nicht geneigt ist, das Schicksal des Königs Lear an sich zu erfahren.

Daß die Frauen früh verblühen, liegt in der Natur der Umstände, und so schmuck die Mädchen zum Theil aussehen, so sollen doch ausgezeichnete Schönheiten unter ihnen selten sein.

Die Betzinger sind übrigens, beide Geschlechter, ein kräftiger, stattlicher Menschenschlag. Sie lassen nicht mit sich spaßen, und aus dem Wenigen, was wir geschichtlich von ihnen wissen, kann man schließen, daß sie von jeher bereit waren, die Zähne zu weisen. Zwar die mittelalterliche Geschichte des Dorfes ist höchst lückenhaft und unklar; aber eine Urkunde des Kaisers Maximilian I. aus Worms vom 17. September 1495 läßt dasselbe für einen Augenblick in ein ziemlich volles Licht der Geschichte treten. Das Document zeigt den „letzten Ritter“ in einer kleinen diplomatischen Verwicklung, worin er ganz als der Gleiche wie in seinen großen Praktiken zu erkennen ist. Er „bekennt“ in dem „Briefe“, er habe seinem Cammer-Rathe und des Reichs liebem getreuen Casparn von Megkaw das Dorf Betzingen mit allen Rechten, Nutzen und Zugehörungen etc. – auf sein Fürbringen, daß die Inwohner dieses Dorfs weder den Kaiser noch dessen Vorfahren am Reiche als ihre rechte Herrschaft erkannt, sondern sich als freie Leute, die Niemand unterworfen wären, angezeigt, auch willkürlich [441] sich an fremde Herrschaft geschlagen etc. „und sonst mängerley ungebürlich Handlung geübt“ etc. – zu rechtem Erblehen gnädiglich verliehen. Bei näherer rechtlicher Nachforschung aber habe der von Megkaw selbst erkundet, daß eigentlich „unser und des Reichs lieber getreuer Bürgermeister und Rath der Stadt Reutlingen dasselb Dorf mit seiner Zugehörung lang Jahr und Zeit her ohn mänglichs Irrung ingehabt“ etc. etc., daher er von seiner Lehenschaft auf solche Erkundigung, auch fleißig „Fürbett“ des Erzbischofs Bertholden zu Mainz, des Cammer-Richters Eytel Friedrichen Grafen zu Zollern und der Hauptleute des Schwäbischen Bundes frei lediglich abgestanden sei etc. Somit wird schließlich das Dorf Betzingen für jetzt und alle Zeiten der Reichsstadt Reutlingen zugesprochen, in deren Besitz es auch verblieb, nachdem ihre durch den Schwäbischen Bund vorübergehend erlangte Bedeutung längst erloschen war. Die Betzinger scheinen sich jedoch nicht ganz freiwillig in die definitive Ordnung der Dinge gefügt zu haben; denn schon am 8. August 1497 findet es der Kaiser für nöthig, der Stadt Reutlingen das Strafrecht über alle und jegliche Frevel und Unzucht (Unfug) in Betzingen „Hinfür in Ewigkeit“ zu bestätigen. Der Geist der Unabhängigkeit regte sich wieder im Jahr 1652, in welchem das Dorf seinen Pfarrherrn, der Ursache zur Unzufriedenheit gegeben hatte, eigenmächtig zu verstoßen Miene machte. Im Jahr 1796 endlich – „in jenen unglücklichen Tagen, als das Heer der Franken durch eine übel verwahrte Lücke in unser Vaterland einbrach,“ wie Goethe, sagt – hatten die Betzinger den anerkennenswerthen, aber tollen Einfall, sich diesem Strome entgegen zu stellen. Nicht abgehalten durch den Schrecken und den Anblick der Menge von Flüchtlingen, die vor den Franzosen her eilten, empfingen sie eine von Tübingen auf Reutlingen ziehende Heersäule mit der Sturmglocke und warfen sich mit Flinten, Heu- und Mistgabeln auf die Vorhut, die sofort erschrocken zurückwich. Die Franzosen nahmen den Angriff sehr ernsthaft, pflanzten ihre Artillerie auf den Hügel, der hart neben der von Tübingen führenden Straße das Dorf beherrscht, schossen hinein, beschädigten Kirche und Pfarrhaus, tödteten einen Mann und verwundeten mehrere. Nun aber erhob sich das ganze Dorf und floh in die regierende Stadt, so daß Männer, Weiber und Kinder das Feld bedeckten. Dies besänftigte die Franzosen; sie griffen einzelne Nachzügler auf und ließen die Flüchtigen auffordern, getrost heimzukehren, denn es werde ihnen nichts geschehen. Und dabei verblieb es auch.

Sieben Jahre später war der Kleinstaat Reutlingen mit Einwilligung von Kaiser und Reich, welche bald genug nachfolgen sollten, aus der Reihe der Souverainetäten gestrichen, und die vormaligen Unterthanen der Reutlinger – Betzingen nebst vier andern Dörfern – standen als würtembergische Mitbürger neben ihnen. Im socialen Leben aber dauerte das alte herrschaftliche, obwohl sehr patriarchalische Verhältniß fort. Die Stadt fuhr fort, ihre Knechte und Mägde aus ihrer einstigen Landschaft zu holen, wobei Betzingen immer bevorzugt blieb, und da ihr Hauptvermögen von je in Gütern und Weinbergen bestand, so gewährte sie auch den Verheirateten Gelegenheit zum Feldtaglohn im Sommer und Herbst. Erst die neuere Zeit hat mit industriellem Aufschwung und Erhöhung des Bodenwerthes auch dem Betzinger reichere Erwerbsquellen geöffnet, deren wahrer Segen aber – Bildung aus Wohlstand – hier, wie fast überall auf dem Lande, wohl erst künftigen Geschlechtern zu Theil werden wird.




Der Polarkreis.[1]
Seebild aus dem Norden.
Von Max Maria v. Weber.


Schönes Wetter ist überall ein herrlich Ding, aber auf dem Meere ist es ein Lächeln von Gott, das die Creatur mit seliger Heiterkeit füllt. Und nun gar in hohen Breiten, wo auch durch die Sommerluft der Welt ein so tief melancholischer Abendton zittert und das Auge der niedrig am blaßblauen Himmel hinwandelnden Sonne wie müde sich immer nur halb erschließt! Wir spürten den Zauber des Sonnenlachens am Bord des „Prinz Gustav“ nach zehn Tagen Wellenkampfes und aus tiefgrauem Himmel herabströmenden Regens. Wir spürten ihn Alle, Jeder nach seiner Weise. Und das war verschieden genug, denn ein bunteres Völkchen kann das Meer nicht zusammenspülen, als wir auf dem achtzig Schritt langen und vierzehn Schritt breiten tüchtigen norwegischen Plankenwerke waren, das seine Eigenthümer, die Normänner, Finnen und Lappen von Nord-Trondjems-Amt und Helgelands Fogderie bis Finmarks Amt hinauf, mit eben genanntem fürstlichen Namen getauft hatten.

Die Einwohner der Felsen- und Wasserwelt weit jenseits der ultima Thule haben sich den kleinen wackern Dampfer, ein stark gezimmertes, gutes Seeboot, das lustig und wie ein Kork, aber langsam schwamm, im gut norwegischen Geduldstakt die Ruder drehend, vor fünfundzwanzig Jahren gekauft. Sie ließen die auf Tod und Leben den Klippen und der Brandung beim Plündern des Vogelnestes und beim Aufwinden des unendlichen Heringsnetzes abgerungenen Speciesthaler nach England wandern, um selbst ein Schiff zu haben, das sie, kraft ihrer eigenen That, mit der Welt in Verbindung brächte. Sie sind stolz auf das alte Schiff! Es gehört ihnen, den armen Fischern. Sie sagen: „Es war ungefähr drei Jahre, nachdem der ,Prinz Gustav’ seine Fahrten begann!“ Die Zeit wurde wichtig und palpabel für sie, seitdem ein Etwas, das an Zeit gebunden war, an ihrer Küste verkehrte. Sie lieben das unzeitgemäß gewordene Fahrzeug, es ist ihr Sohn! Ueber dreihundert Mal hat es sich durch ihre Scheeren und Klippen, von Trondjem nach Hammerfest hinaufgewunden, hat an langen Sommertagen ohne Nacht das Rauschen seiner Ruder mit dem Murmeln der Brandung und dem Donner der Katarakte gemischt, an den himmelhohen Felswänden ihrer Fjorden wiederhallen lassen, in grauenhafter Winternacht ohne Tag bei Nordlichtschein und Brandungleuchten seinen Weg durch das Klippenchaos getappt. Ueber zwanzig Mal hat man nach ihm als einem Verlornen ausgeschaut, aber er ist wiedergekommen, er ist zur See wacker wie sie selbst, er ist ein lebender Theil ihrer gigantischen Welt – sie haben ihn lieb, den kleinen niederbordigen, unsaubern, breitbrustigen, qualmenden Gesellen!

Bei allem Respecte vor diesem berechtigten Empfinden der Nordländer war uns die Unzulänglichkeit der Einrichtung und des Raumes des Schiffes bei zehn Tagen böser See und Regen oft verteufelt unbequem geworden. Auf dem mit Segeltuch kaum mannshoch überspannten Vorderdecke drängte sich, von selbst an den ödesten Haltepunkten schaarenweis zurudernden, hochschnabligen, schwanken Booten zu- und abgeführt, eine verdrossene, rauchende, tabakkauende, dunkle Masse, von Regen und Sturzseen triefend und frierend, um den von Seesalz weiß incrustirten Schornstein. Mühsam unterschied das Auge unter den Fallen und Fellen und Decken aller Art, ausgestreckt auf Kisten und Koffern in Form riesiger Schachteln, die breitschultrige, gewaltige Gestalt des Nordlandbauern neben den Gnomenfiguren der Pärchen von Seelappen, die, in buntbenähte Seehundsfelle, Mann und Weib gleich, gekleidet, Beide aus kurzen Pfeifen rauchend, eng zusammengedrängt stehend, [442] Beide mit gleich breiten Mäulern den Fremden angreinend, im Zweifel ließen, welches der Mann, welches das Weib sei. Dazwischen triefende, unsaubere Frauen, schreiende Kinder und rußige Maschinisten und fettige Köche und Ballen frischer Häute und getrocknete Fische und gedörrtes Fleisch, und über alledem, beim Uebersteuern jedes Fjordes, die Seekrankheit – es kam eine böse Atmosphäre unter dem Verdeckzelte hervor.

Wir waren aber auch in der Hinterdeckkajüte nicht auf Rosen gebettet. Der Salon, fünfzehn Fuß im Quadrat, niedrig, um kaum mit dem Hute darin zu stehen, kleine, trübe, mit Salz incrustirte Fenster, bei Hochsee mit Klappen geschlossen; der Schlafraum, zwölf Fuß im Geviert, mit sechszehn Kojen! Die meine hing lustig genug über den schrägen Fenstern des Sterns, ich sah, aus ihr den Kopf streckend, direct hinab in die kochende See. Wir waren vierzehn Passagiere langer Tour in den beiden Schubladen von Cabinen; oft kamen aber auch ab und an noch eben so viel Nordlandgestalten „in theer- und firnißduftenden Waterproof-Anzügen“ und gethranten Stiefeln, auf Nacht und Tag dazu. Da lagen dann Dielen und Sophas voll von Matratzen. Die Wäsche wurde Morgens bunt über Eck in eine Höhlung unter den Planken der Schlafcabine geworfen; Abends schlief der saubere englische Gentleman auf dem Tuch, in dem sich bis zum Morgen ein übelriechender Nordlandbauer gewälzt. Zwei Waschbecken hatten wir im Ganzen in der Cabine. Abends wurde geloost, in welcher Folge wir uns waschen durften. Puh! die Luft war auch hier furchtbar, wenn das Schiff kämpfte und die See an die dichtverrammelten Luken donnerte.

Das lag hinter uns! Die schräge Sonne lachte uns warm und behaglich an, die nur um Mitternacht ein Stündchen unter den Horizont tauchte. Unsere Flinten blitzten lustig unter die Schaaren tausendgestaltiger Seevögel, welche das Nahen des Schiffes aus dem bunten, weißumbrandeten Geklipp jagte, und ihr Knall kam leise wie Nixengelächter von den Wogen zurück. Die Mücken tanzten im Sonnenstrahl wie daheim, und die adlergroße, rothgeschnäbelte Weißmöve (Larus glaucus) und die schwarzgemantelte Heringsmöve (Larus fuscus) schossen hoch über der grau emporsteigenden Rauchsäule des Schiffes wie gewaltige blitzende Sterne durcheinander. Es war schönes Wetter. Heiterer Communismus machte die Reiseschätze der Gesellschaft gemein genießbar. Auf dem großen Tische unterm Zelt häufte sich ein bunter Berg deutscher, englischer, italienischer Literatur. Fernröhre, Distanzmesser glänzten da neben trefflichen Jagdgewehren und Angelgeräth; auf gewaltige, über die Planken des Decks gebreitete Karten streckte sich der junge Arthur Sykes lang auf dem Bauche, während seine Reisegefährten, Sir Victor B., ein junger reicher Edelmann, über den Natur und Glück alle ihre Gaben an Schönheit, Kraft und Reichthum ausgeschüttet, und Mr. Robert D., ein Jüngling wie eine Pantherkatze, turnend zum Entsetzen der Schiffsgesellschaft, mit einer Hand an einem Tau über der schäumenden See draußen hängend oder hoch im Spierenwerke sitzend, träumen. Auf „in Trondjem gekaufte“ , prächtige Polarbärenfelle ausgestreckt lag der liebenswürdige Amsterdamer Patrizier Herr ten Frate, den kostbaren Meerschaum schmauchend, immer behaglich heiter, nankinggekleidet in der Sonne; ich hatte mir eine Matratze auf den Radkasten geschleppt und ließ das Riesenpanorama der Nordwelt an mir vorüberwandern, oft vom Hofmeister der jungen Engländer, Mr. K, der alle Sprachen spricht und, auch unterm 65. Breitengrade in ledernen Gamaschen und Jägerhut auf dem Deck auf und abschreitend, dänische Vocabeln lernt, in barbarischem Deutsch auf Schönheiten aufmerksam gemacht.

Aber der Mittelpunkt des Lebens an unserm kleinen Bord ist eine zierliche Jolle, die hinten am Stern des Schiffes über der See hängt. Das kleine Boot ist ausgepolstert mit allem Weichen, was im Schiffe zu finden war. In ihm haust die einzige Dame, die wir am Schiffe haben. Es ist Miß Lytton’s Nest. Das junge, zierliche, muthige Mädchen, dessen wettergebräuntes, edles Gesichtchen so drollig gegen die weiße Hand absticht, auf die es den Kopf legt, indem es in einer dickleibigen Geschichte Norwegens liest, ist die Tochter des hohen englischen Geistlichen, der soeben das glänzend kahle Haupt entblößt, um sein Abendgebet zu sprechen. Er hat mit in den Norden gemußt, der arme, kleine magere Mann, weil die kühne Tochter das Eismeer sehen will!

Miß Lytton’s Nest, nicht auf grünen Zweigen, sondern von schwankem Schiff über brausenden Wellen gewiegt! Dahin wird jede Neuigkeit, wie jeder gefangene Fisch, jeder geschossene Vogel getragen! Um Miß Lytton’s Nest, in dem sie in Shawls und Mänteln weich begraben liegt, sitzt die Gesellschaft der Herren achtungsvoll plaudernd bei ihrem Toddy in heller Mitternacht. Wenn der schöne Vogel seine schwarzen Augen auf ihn richtet, turnt Sir Victor B. doppelt halsbrechend, singt Mr. D. doppelt falsch, erzählt unser prächtiger kleiner, breitschultriger Capitain mit doppelt jovialem Blinzeln seiner Falkenaugen unter dem schwarzlackirten Hute seine unglaublichsten Schnurren und Nordlandmären. „Das ewig Weibliche zieht uns hinan!“ Auch auf dem kleinen norwegischen Postdampfer auf dem rollenden Eismeer!

Es ist eine tiefernste, riesige Felsenkluft, der Ranenfjord, aus dem wir hinausdampfen. Das echte Klippenschloß von Aegir’s tückischem Weibe, der Meerkönigin Ran, mit ihren falschen, sinnberückenden Töchtern! Zehn Meilen tief im Zickzack scharf wie mit dem Beile in den Steinblock von Skandinavien gehauen, streckt er sich in’s Land. An seiner über 30,000 Fuß breiten Mündung halten rechts sieben himmelhohe, unersteigbare dunkle Felsspitzen wie sieben versteinerte Riesennonnen in schwarzen Mänteln und mit weißen Hauben, links, auf der Insel Donnaes-Oe, der dreizackig gekrönte Donnaesfjeld von rothem Granit, ein Fürst mit breit hinfließendem Purpur, die Wacht.

Dann fallen, eine halbe Tagereise lang, rechts und links fast ohne Kluft, ohne Seitenthal, fast ohne Spalt, dreitausend Fuß hohe schwarze Felswände in das dunkle luftklare Krystall der Fluth des Fjord. Wie mit weißen Marmoradern überspinnt sie netzförmig der auf langhingezogenen Vorsprüngen und in schmalen Rillen hingelagerte Schnee. Zwischen den schwarzen Felszacken quillt, blauer als der Himmel, das Eis der obenliegenden flachen Gletscher in weichen fast breiigen Formen hervor. Und von ihnen herab, zehnkirchthurmhoch, hängen die Schleier der Katarakte in’s Meer, stoßweis herabrollend, oder rasend, oder zerstiebend, oder nur in tausend Wasserfädchen über die unermeßlichen Wände herabrieselnd und doch die Chaosöde mit allen Lauten, vom leisen Plätschern bis zum sonoren Donner, unablässig füllend. Es ist ein erhabenes Bild ernster arktischer Felsennatur. Dennoch haben sich auf den Halden, die im Laufe der Jahrtausende von den ehernen Wänden herabgebröckelt sind, Hütten hier und da angesiedelt; selbst eine oder zwei Kirchlein, nach norwegischer Sitte einsam und von jeder Menschenwohnung entfernt, blinken weiß auf dem gigantischen dunkeln Hintergrunde.

Nur am Ende des Fjord, wo die brausende Ravenelf ein fruchtbares Delta von Moorland herabgeschwemmt, gegen Ost und Nord umhegt, liegt, wie eine Oase in Fels, Meer und Eis, mit Bäumen und Feld und Wiesengrün, die weithinleuchtende Kirche Mo.

Aber wenn die Kahlheit der überseeischen Welt uns drückte, da warteten wir auf die Augenblicke, wo die Ruderräder des Schiffs auf seinen zahllosen Haltpunkten die Spiegelfläche der Fjorden nicht trübten und es, regungslos mitten auf dem mächtigen Krystall ruhend, die herankommenden Boote erwartete. Dann hing aus Miß Lytton’s Nest der Kopf des schönen Vogels mit all unseren gebräunten Gesichtern über Bord. Was die schräge Sonne an Pflanzenpracht dem überseeischen Nordland versagt, das läßt die in den laulichen Gewässern des Golfstroms an diese Küsten übergeführte milde Sonnengluth des Busens von Mexico, als ein Spiegelbild des Pflanzenwuchses in den Tropen, auf dem Meeresgrunde sprießen. Das Wasser ist so klar wie Luft an diesen Felsenküsten; das Schiff schwimmt wie ein Aërostat im Aether, und die Sonne wirft seinen Schatten viele hundert Fuß tief auf den Meeresgrund. Und von diesem steigt es tausendgestaltig mit Wurzeln, Fäden, Stämmen und Ranken empor und breitet in der nie gestörten Ruhe dieses Krystalls Palmenkronen und Akaziengezweig und Lianenranken und dazwischen geheimnißvolle Netzwerke und unendlich lange knötchenreiche Fäden und langherabhängende grüne harte Schleier und faltige curiose Häute und tausendfingeriges Gezweig und Moosgefaser aus, ein Urwald, zehnmal höher als der höchste Palmenschaft. Und zwischen durch huschen breite blinkende Schollen und pfeilschnelle Delphine und schlängliche Seeaale und treiben athmend halbdurchsichtige purpurne und himmelblaue Quallen langsam dahin, und auf den Riesenblättern krabbeln Krabben und hängen Muscheln und langarmige Faserthiere – alles schweigend – Du hängst über der ungeahnten Märchenwelt, die Dich magisch umspinnt, thurmhoch über den Kronen des Urwaldes – da schlägt zehn Schritte vom Schiffe ein gewaltiger Seeadler nach einem Lachse in die Fluth – die Unterwelt verschwindet in den glänzend gekräuselten Wellen und [443] wir schauen dem Fürsten der Bucht nach, der, mit den langen Schwingen klatschend auf die Fluth schlagend, tausend Perlen aus dem Gefieder stiebend, sich mit dem zappelnden Fische zu dem Weibchen erhebt, das krächzend auf ruhig gebreiteten Flügeln im blaßblauen Himmel schwebt und, von der Nachtsonne roth angeglüht, mit ihm im dunkeln Geklüft verschwindet.

Wir dampfen aus dem Ranenfjord hinaus zwischen den großen, zackige schneebekrönte Felsspitzen in die Wolken hebenden Scheereninseln Tommenoe, Kobberoe und Alstenoe und den eigentlichen Scheeren hindurch. Die Scheerenwelt ist ein heitres Wunder in Südnorwegen, das Chaos im Nordland. Dort reihen sich Perlenschnuren, kühngezeichnete Inseln, von der Größe eines kleinen Fürstenthums an bis zum wenig Schritte im Umkreise haltenden Fels, am stolzen Gebirgsufer hin. Und jede der größeren Inseln gleicht einem herrlichen Park mit sammetigem Rasen und hohem unbeschreiblich grünem Forst und von den edelerhabenen Bergspitzen weiß herabschäumenden Bächen, freundlichen Häusern und malerisch gekleideten Insulanern, deren Tracht, besonders in der Gegend von Resendel am Hardangerfjord, durch Reiz der Farbe und der Form die Gegend lieblich heiter staffirt. Die kleineren Inseln und Klippen aber, bis weit hinaus in den Ocean, so weit das Auge reicht, decken, wenn sie die Fluth nicht überspült, mit zauberischem Farbenschmelz goldner Ginster und rothes Haidekraut und purpurne Steinnelken und dichte Polster von Veilchen, so daß die aus dem tiefblauen Meer aufschäumende Brandung ihren Gischt wie weiße Federn zwischen Blumensträußen aufsprüht.

Aber im Nordland sind die Scheereninseln dem Ufer zunächst kahle riesige Felsenbollwerke mit Schnee und kleinen Gletschern in den Rillen, und immer niederer und niederer, aber auch immer trostloser, zerspaltener, abgewaschener, durch immer breitere Wasserarme getrennt, baut sich von ihnen aus ein Netzwerk einsamer nur von Robben und Seegevögel bewohnter Klippen in das rollende Eismeer hinaus. Die letzten dieser unheimlichen Felsen heben sich, flach und blank gespült, nur wie riesige Fischrücken oder blanke Kuppeln aus den durcheinander kochenden Brandungen, ja jenseits der sichtbaren Riffe kündet oft mitten aus dem Meere haushoch aufsprühender Brandungsgischt, daß das Felsenchaos noch weit, weit hinaus tückisch unter dem Wasserspiegel hin seine schroffen Gebirge schiebe.

Durch den Traenfjord steuert das Schiff hinaus nach der hohen See. „Jetzt werden Sie das Eismeer in seiner ruhigen Majestät sehen!“ sagt der Capitain und deutet nach dem Ocean hinaus, dessen ruhige Spiegelfläche im Orangegelb der im Norden tiefniedergehenden Sonne zu glühen beginnt und doch von den kahlen Klippenreihen gewaltigen Brandungsdonner hereinsendet. Wie ein traumhaft neckisches Spiel der Phantasie verschwinden vor unsern Augen ganze Reihen Riffe, die vor einer Minute zehn und zwanzig Fuß aus dem Meere ragten, um in gleicher Weise nach gleicher Zeit wieder aufzutauchen. „Das große Eismeer athmet Ruhe,“ sagt Capitain Knapp unser Erstaunen sehend. „Was vielleicht hundert Meilen entfernt Sturmeswoge war, kommt hier als glatte, meilenlange, kolossale, aber sanfte Schwellung an. Da! da! jetzt werden Sie sie fühlen!“ Das Schiff bog aus den Felsen hinaus – zwischen denen ein Wasserberg von einer gigantischen Größe, wie ich nie eine Meereswoge sah, hereinrollte. Das Herz stand uns still, unwillkürlich griff jede Hand nach Bollwerk oder Tau – aber sanft, fast ohne das Schiff schwanken zu machen, hob es der Wasserkoloß empor. Es stieg und stieg – neigte sich dann leicht nach vorn und glitt wie von einem Gletscher in die Tiefe – und die Scheeren hinter uns hüllten sich in Brandungsgischt und Donner – unsere Nußschale aber trug, sanft gehoben und gesenkt, wie auf der Brust eines schlafenden Weltriesen, das gewaltige Eismeer mit seinen unermeßlichen Wellenrücken nach Norden.

Die Sonne lag tief, es war fast Mitternacht, wie ein blutrother Ball am Horizonte. In mattgoldenem Nebel verschmolz dieser mit dem Meere, das sich durch Wellenthal und Wellenkamm mit unermeßlichen dunkelblauen und goldenen Linien schattirte, über die, gerade auf uns zu, ein purpurner Strahl von der Sonnenscheibe über die Wogenkronen hinzitterte. Gegen das blasse Gold und den tiefen Purpur des großen Bildes hoben sich dunkel und drastisch, Geschütz-Qualmwolken gleich, die thurmhoch von unterseeischen Klippen aufsprühenden Schaumgarben der Brandung oder hier und da, wie zarte Dampfbüschel, leicht verwehend, die Blasestrahlen der Wallfische empor, die oft an uns vorüber den Häringszügen entgegenwanderten, häufig ganz in der Nähe des Schiffs ihre gigantischen Körper wie grünglänzende bemooste Klippen aus der Fluth reckten und in diesen Breiten oft zu zehn und zwölf zugleich ihre Dampfwolken über die unermeßliche Meeresfläche emporsprühten.

Geblendet schauten wir auf die ernste, große Scenerie der „Stirne der Erde“; da trat Capitain Knapp an uns heran: „Ich zeigte Ihnen auf Lekoe den 1000 Fuß langen Steinspieß des Riesenreiters, den er durch den Fels Torgattan hindurch nach der Asajungfrau, die ihn verschmähte, warf. Dort sitzt er selbst, seine Schuld zu sühnen, als Wächter des Polarkreises, den wir eben passiren.“ Wir wandten uns um, und weit draußen im Meere hielt, von der purpurnen Brandung umgürtet, einsam in der Fluth des Eismeeres, 2000 Fuß hoch, die Felsengestalt eines riesigen Reiters! Der Mantel, mit Schnee bedeckt, fällt vom Haupte in gigantischen Falten über die Croupe des Pferdes, das den Kopf in stolzer Ruhe angezogen hält. Der Reiter aber richtet das Haupt, das ein Doppelantlitz trägt, hoch empor. Ernst blickt er mit dem einen hinaus auf das feindliche Meer, mit dem andern freundlich nach der Küste des geliebten Nordlands.

Das erschütternd gespenstische, riesengroße Bild ragte wie aus glühendem Eisen gegossen, und dahinter malte die Mitternachtsonne auf einem fernhinziehenden Regenschauer ein Stück Regenbogen, von dem nur der Purpurstreif sichtbar war. In tiefem Violett schimmerten im Ost die meilenlangen Schneebränen (Gletscher) von Meloe Fjerding und die Zackenkronen des Oxfind.

„Grad über das Haupt des Gespenstes geht der Polarkreis,“ sagte Knapp. „Sehen Sie, die Sonne steigt wieder, es ist Mitternacht vorüber.“

Schweigend hingen unsere jungen Engländer in dem leise wankenden Spierenwerk des Schiffes, lag der schöne Vogel in seinem Nest, schweigend blickten wir in das schnell seine tiefen Purpurtöne wieder mit goldenen Lichtern durchwebende Mitternachtsonnenbild hinaus.




Ein patentirtes Gespenst
Skizze aus der Londoner Welt.

Was soll aus unseren Ammenmärchen werden, aus den lieblichen Feengeschichten und dem „schwarzen Mann“, mit dem man deutsche Kinder, bald nachdem die Säuglingschaft ein überwundener Standpunkt geworden ist, in Schlummer zu schrecken sucht? Was soll aus alle dem werden, wenn die Kunst, „das Gruseln zu lernen“, so über alle Maßen erschwert wird, wie in unseren Tagen der Fall? Während alte Matronen und selbst denkende Leute mitunter noch an die Möglichkeit glauben, daß Kirchhöfe die Gespenster des verstorbenen Publicums herausgeben, sind zwölfjährige Bübchen so verwegen, – wenigstens in London – dies Alles für Sinnestäuschung und optische Spiegelungen zu erklären. Professor Pepper, der Gespensterfabrikant, hat ihnen das ja haarklein vordemonstrirt.

Der Gespensterfabrikant? Wer ist das kühne Individuum, das sich einer so unerhörten, so ungeheuerlichen Kunst befleißigt? so fragt, befremdet und verdutzt, sicher der eine und der andere unserer Leser.

Augenblicklich einer der Löwen des Tages in der Riesenhauptstadt des großbritannischen Reiches, antworten wir, wie es daselbst zu anderer Zeit die Sonntag oder Fürst Pückler-Muskau, der Kölner Männergesangverein oder Garibaldi, der Rossezähmer Rarey oder die Prinzessin von Wales, „die Rose von Dänemark“, gewesen sind.

Ursprünglich war der gegenwärtige Londoner Wundermann seines Zeichens ein hoffnungsvoller Jünger der ehrsamen Apothekerzunft, der sich, höheren Dranges voll, später auf das Studium der Optik verlegte und namentlich dem Geheimnisse der Spiegelungen nachspürte, welche nach den Gesetzen dieser Wissenschaft hervorgebracht werden können. Ein echter Sohn Albions erkannte [444] er, mit dem seiner Race eigenthümlichen praktischen Instincte, alsbald, daß er mit derlei magischen Spielereien und Effecten auf ein glückliches Feld gerathen sei, ein Feld, welches sich trefflich zu Capitale ausbeuten ließ, und so kam er, im weitern Verfolg seiner Experimente, auf das Geistercitiren im natürlichen Wege als auf ein unvergleichliches und noch jungfräuliches Mittel, um Schillinge und Pfunde zu machen.

Der erste Schauplatz seiner geistischen Wirksamkeit sollte indeß nicht das heimathliche London werden, sondern Paris. Erst nachdem er hier auf der Place du Châtelet die ganze, halbe und Viertelswelt in Hautschauern und Entzücken versetzt hatte, dampfte er über den Canal zurück und schlug im Vaterlande seine Zauberbude auf, um hier mit seiner inzwischen wesentlich verbesserten und vermehrten Erfindung – eigentlich einer geschickten Combination früherer Erfindungen – vor ein noch größeres und zahlungsfähigeres Publikum zu treten.

In London, wo kein materiellen Erfolg verheißendes Bestreben auftauchen kann, ohne daß sofort Nebenbuhler nach dem gleichen Ziele wettlaufen, erstanden unserm Geisterbeschwörcr in anderen weisen Männern rasch Gegner und allerhand Concurrenzgespenster; doch Pepper ließ sich durch solche Mitspeculanten auf die würdige Bewohnerschaft des Schattenreichs nicht aus der Fassung bringen.

Schnell hatte er gefunden, was für’s Erste alle Concurrenz ausschloß: er suchte um ein – Patent, allen Ernstes um ein Patent für seine Geister nach, und wirklich, der britische Justizminister, der hochehrenwerthe Lordkanzler von England, sprach in feierlicher Sitzung des Kanzleigerichtshofs Pepper’s Geistern das große Patentsiegel zu!

„Ein patentirtes Gespenst!“ Der Gedanke ist sublim in seiner Art, und schon die Idee allein war mächtig genug, ihren genialen Urheber zu einem Phänomen der Londoner Welt zu machen.

Freilich wird im Laufe der Zeit das Publicum das Freihandelsprincip wohl auch auf diesen neuen Artikel aus den Schauerregionen angewandt wissen wollen; vorläufig aber ist, wozu selbst unser guter gläubiger Justinus Kerner es nimmermehr gebracht, Professor J. H. Pepper der privilegirte und monopolisirte Herrscher im Reiche der Geister und hat das wohlverbriefte Recht, allabendlich in den Kunsthallen des polytechnischen Instituts zu London seine unheimlichen Unterthanen vor die Augen der bänglich staunenden Zuschauermenge zu zaubern.

Wer in den letzten zwanzig Jahren einmal in London gewesen ist, kennt das „Polytechnic“, wie es der Engländer mit seiner praktischen zeit- und mühesparenden Sprachkürze schlechtweg zu nennen pflegt, jene vielumfassenden Sammlungen und Anstalten, die sich, unweit von dem Fremden-Rendez-vous, dem Verey’schen französischen Kaffeehause, und den beiden Stumpfthürmen der fashionablen Hannoverkirche, da, wo in ihrem nordwestlichen Ende die schöne Regentstreet stiller und vornehmer zu werden beginnt, in einem rauchgrauen stattlichen Gebäude ihr Domicil gewählt haben. Sie gehören zu jenen Merkwürdigkeiten, welche in den Reisehandbüchern à la Bädeker als besonders sehenswerth besternt, wohl gar doppelt besternt zu sein pflegen.

Das Polytechnische Institut verdankt seine Existenz einer Actiengesellschaft, die unter königlichem Privilegium vom Jahre 1838 sich etablirte „zum Zweck der Beförderung der Künste und praktischen Wissenschaften, namentlich solcher, welche Landwirthschaft, Bergwerks-Maschinen und Manufakturen etc. beeinflussen.“ Der damalige Katalog beschrieb die Ausstellungen in 34 Räumen und enthielt 1687 Nummern, von dem Modelle der Armstrongkanone bis zu einer präparirten Familie brasilianischer Schmetterlinge herab. Verluste, namentlich durch einen vielzerstörenden Treppeneinsturz vergrößert, brachten die Societät in solche Verlegenheit, daß sie sich auflösen und, wie so häufig bei neuen Unternehmungen, der zweiten Generation die Ernte der Früchte überlassen mußte, zu der die erste den Samen unter Sorgen gestreut hatte. Unter dem Patronate des Prinzen von Wales und Einzelner vom höchsten Adel als „trustees“ (Aufsichts-Betraute) und unter der Leitung von sieben Directoren, unter denen wiederum Professor Pepper als „Ehrendirector“ figurirt, hat sich eine neue Actiengesellschaft mit 20,000 Pfd. St. Capital gebildet. Ohne Zweifel florirt das Institut. Die Einnahmen im vergangenen Jahre erreichten die Summe von 13,000 Pfd. St., und die Ausstellungen erzielten allein von den „Laufkunden“, wie ich, im Gegensatze zu den festen Abonnenten, die „einen Schilling“ zahlenden Besucher nennen möchte, oft einen wöchentlichen Erlös von über tausend Thalern.

Es würde den Zweck dieses Artikels überschreiten, auch nur die Glanzpunkte des Katalogs zu erörtern; es genüge uns, aus demselben das Programm eines einzigen Abends, das des Sonnabends, zu schneiden, um eine Idee von der Mannigfaltigkeit des zu Schauenden zu bieten.

Sonnabend. Abend 7 Uhr. Eröffnung der kosmoramischen Räume. Die Gemälde-Galerie. – Die Glas-Bläserei und -Spinnerei. – Foliographische Maschinen, die Abdrücke von Farrenkräutern etc. liefern. – Modell einer Patent-Ziegel-Maschine, welche 75,000 Ziegel per Tag liefern kann. – Zusammenfügung zerbrochenen Porzellans und Glases. – Alle Maschinen in Arbeit und Bewegung.

71/4 Uhr. Bauchrednerkünste und Scherze. – Eine redende Hand.

73/4 Uhr. Neue Geister-Vorstellung (J. H. Pepper und H. Dirks gemeinschaftliche Erfinder), mit Einschluß interessanter optischer Illusionen.

83/4 Uhr. Die Taucherglocke (in lebendigem Wasser. Eine Münze wird von dem Taucher heraufgeholt). Allgemeine Ausstellung in allen Räumen und musikalische Promenade.

9 Uhr. Neue optische Vorstellung. Ein Traum im „Polytechnikum“ dargestellt in wandernden Gemälden, den Reichthum der Sehenswürdigkeiten an den Augen eines Träumenden vorüberführend. – Wir wählen die Geisterbühne zum Besuche. Die Bänke sind gefüllt, Kopf bei Kopf, von Alt und Jung, von Großen und von Kleinen. Eben noch strahlte Gaslicht auf allen den neugierigen Gesichtern, da fällt nächtliche Dämmerung über den Raum, nur von jenen scharfen Lichtstrahlen durchkreuzt, die von dem in kleine helle Quadrate ausgeschnittenen Hintergrund über die Hunderte von Köpfen hinweg auf die Bühne fallen, welche das Innere einer mittelalterlichen Kirche, Altäre und steinerne Sarkophage zeigt, während ein junger Ritter um Mitternacht, die eben ihre vollzähligen zwölf Schläge brummt, seine Fahnen- und Waffenwacht mit gezücktem Schwerte zu halten hat, um sich der ersten Sporen würdig zu zeigen. Alle möglichen Geister der Verstorbenen stellen seinen Muth auf die Probe; sie erscheinen im Mönchsgewande, in goldverzierten Kleidern, oder als verführerisch schöne Edelfräulein.

Aber unser Held bleibt standhaft. Abwehrend streckt er die Hand nach den grausigen Erscheinungen aus, und – es überläuft uns kalt – wir sehen, wie die Finger durch die wesenlosen Gestalten hindurchgreifen, sehen, daß wir also echte körperlose Gespenster vor uns haben. Mit sehr unenglischem Stolze widersteht er sogar einer reellen rothen Börse, in der reelle Goldstücke klingen, von der Schattenhand melodisch ihm vorgeschüttelt. Dann schließt sich das kleine Guckkastenloch im Hintergründe, und Ritter und Geister sind wie Duft und Luft in das Nichts zurückgeschwunden.

Im Zwischenakte läßt sich das geehrte Publicum durch eine norwegische Eislandschaft nebst regenbogenfarbiger Aurora borealis in angenehmer Weise anfrösteln und steigt dann an Prof. Pepper’s Hand im Geiste auf den Grund des Meeres, wo es am tiefsten ist, unter Gefühlen, die das alte scherzhafte Studentenlied beschreibt, in seinem durstigen Refrain: „Wie wird es uns so ,kuhle’ da!“ Wir gerathen in die Wohnungen der Meerwölfe, der Molche und Salamander, der Haifische, dieser „Meereshyänen mit den grimmigen Zähnen“. Gold-Störe, muthmaßlich an gespenstischem Caviar reich, und Silber-Gründlinge schwänzeln vorüber, von einer Corpulenz, welche sie für Zimmer-Aquarien untauglich macht. Das sind alles Gespenster und „wie naß das Alles aussieht“ – würde ein Berliner sagen. Wir riechen den Seetang und das Grundschilf und sehen den Tag durch das Wasser flimmern. Nur ein Schiffskiel wirft seinen Schatten in die Tiefe, und an einem Tau senkt sich eine Taucherglocke hinab mitten unter eine Sammlung von Thee- und Goldstaubkisten, die einem längst verschollenen Wrack angehört haben. Jetzt steigt der Taucher heraus, den Schlauch am Munde mit Gewandtheit regierend, während er aus seinen eingehäusten Kopfbrillen auf die Wunder der dämmerigen Tiefe schaut. Die Fische reizen ihn nicht, auch nicht die „Töchter des Nereus“, die im „leisen Wandel ihrer Glieder“ ihn als gefährliche Wasser-Circen umgeben, er denkt an’s Geschäft und beginnt die Appropriation mit Hand und Fuß, ein Kistchen nach dem anderen in die Glocke schleppend. Vergeblich erscheinen Neptun nebst Gattin – er trägt keine Jacke von gelbem Flanell, wie [445] Heinrich Heine uns in seinen Nordseeliedern weiß machen will, doch einen blitzblanken Dreizack. Eine solche „Theerjacke“ von der Tauchergilde aber lacht dem Bruder Jupiter’s in die Zähne.

Schon will sich der Matrose zur Rückkehr in die Oberwelt anschicken, einige gefräßige Grundfische mit Fußtritten abwehrend, als aus einem Schilfdickicht ein Bruder Seemann auftaucht, einer von denen, die da in der stillen See zu Grunde gegangen. Der alte Matrosenhumor scheint auch in dem Gespenste noch fortzuleben. Nicht nur schüttelt er dem Cameraden aus dem Reiche der menschlichen Rede die Hände und ertheilt ihm praktische Winke, wie derselbe sich der Schätze bemächtigen könne, sondern giebt ihm auch einen Kunstgenuß zum Besten, wie er nur je an Deck eines Linienschiffes das lustige alte England ergötzt hat. Er tanzt ihm den Horn-pipe vor, jenen Matrosentanz, der am besten mit den Hacken gestampft wird, wenn im Kopfe die Kobolde des Bacchus ihr Wesen treiben, und da kein Orchester zur Hand, spielt ein kleiner Meerteufel mit dem Geschick eines oberweltlichen „geschätzten“ Virtuosen eine Geistervioline in „stummen Tönen“ mit einem Geisterfiedelbogen. Dann – husch! – ist Alles verschwunden, schnell wie ein Gedanke! Wir sind wieder auf dem Trocknen, und ging es vorher in die Tiefe, so stehen wir jetzt auf der Spitze des Brockens, unter uns die Harzthäler, vor uns die öden Felsen, „wo Deutschlands isländischer Moosthee wächst“ und wohin Mephistopheles zur Walpurgisnacht die Hexlein aus allen Richtungen der Windrose zusammenpfeift auf Bock und Besenstiel. Hier ist es, wo das „Brockengespenst“ uns seine Visite macht und zwar in zwei Gestalten, die im Costüm wandernden Quäkern auf’s Haar ähnlich sehen.

Eine Londoner Gespenster-Vorstellung.
Originalzeichnung unseres Londoner Specialartisten.

Nachdem der Gastgeber aus dem Geisterreich, Prof. Pepper, der bis dahin in Fleisch und Blut und schwarzem Frack vor uns gestanden, als Erklärer und Reisegefährte durch alle vier Elemente, sich schließlich selbst zu einem sieben Zoll hohen Phantom verflüchtigt und nach dem Takte der Musik, nur zu einer Ahnung des eigenen Selbst zusammenschrumpfend, dem Publicum mit seinen Zwergenhändchen die freundlichsten Complimente zugewinkt, fällt der Schleier von den Lampen, und Alle sehen sich wieder im Lichte der Oberwelt. Auch der Policeman ist wieder da, der als höflicher Gentleman beim Plätzeanweisen fungirt und dessen blanker Hut allein in dem Dunkel während der Vorstellung einige verirrte Lichtfäden aufgefangen und wie ein kleines St. Elmsfeuer geschimmert hatte.

„Wie geht das zu?“ – „Sagen Sie mir, um Gottes willen, wie das zugeht!“ – „Spiegelung soll’s sein, sagen sie – das versteh ich nicht. Es war etwas und war doch auch wieder nichts.“ – „Das Gespenst ging ja ganz wesenlos durch alle Gegenstände hindurch, oder vielmehr alle Gegenstände gingen durch dasselbe hindurch.“ – „Wie kommt das?“ – „Was bedeutet das?“ und „Wie geschieht das?“

Die Leser werden ähnliche Fragen, ähnliche Vermuthungen und Einwürfe schon aufgestellt haben, wie wir auf dem Nachhausewege. Wir wollen deshalb die höchst einfachen Erscheinungen der Gesetze, welche bei dem Pepper’schen Gespenst zu so überaus täuschender Wirkung angewandt werden, in aller Kürze nebeneinander stellen und die Erklärung des optischen Apparates daraus ableiten.

Erstens: Wenn man sich in einem gewöhnlichen Spiegel besieht, so erblickt man sein Bild nicht in der Fläche des Glases, sondern es scheint unser Gesicht hinter dem Spiegel zurück zu stehen; und zwar genau so weit, als sich dasselbe in der That vor der Spiegelfläche befindet. Das ist bei allen Spiegelbildern der Fall. Können wir z. B. in einer Entfernung von acht Zoll eine Schrift deutlich lesen, so werden wir, wenn wir dieselbe neben unsere Augen halten, um sie scharf im Spiegel zu erkennen, uns demselben bis auf vier Zoll nähern müssen.

Zweitens brauchen wir, um Spiegelungserscheinungen zu beobachten, durchaus keine Metallplatten oder mit Hülfe von Amalgam undurchsichtig gemachte Glasscheiben, sondern wir können von unsern Spiegeln das Belege abkratzen und werden trotzdem, [446] wenn auch schwächer, die Bilder der vor ihnen liegenden Gegenstände reflectirt erhalten. Von dem Lichte, welches auf eine blank-polirte Glasscheibe fällt, geht nur ein Theil durch dieselbe hindurch, der andere Theil wird zurückgeworfen und bringt eben die Spiegelung hervor. Dies läßt sich an jeder Fensterscheibe beobachten, und um so deutlicher, wenn sich hinter derselben eine dunkle Wand befindet und wir in etwas schiefer Richtung darauf sehen. Wir erblicken darin, was draußen vorgeht, zu gleicher Zeit aber sehen wir auch die Gegenstände des innern Zimmers durch das Durchsichtige Glas hindurch, die Außenwelt im Spiegelbild, den innern Raum in Wirklichkeit.

Und der ganze Pepper’sche Zauber liegt in weiter nichts, als in einer solchen geschickt angebrachten durchsichtigen Glasscheibe.

Die Bühne nämlich, auf welcher die Geistererscheinung hervorgerufen werden soll, hat eine besondere Einrichtung. Sie besteht nicht aus einem fortlaufenden Podium, sondern ist an einer Stelle durch eine fallthürähnliche Oeffnung unterbrochen, welche in einen untern Raum hinabführt. Dem Publicum aber ist diese Oeffnung durch ein geschicktes Arrangement, durch Vorsetzstücke, eine Bodenerhöhung, niedriges Gebüsch oder dergleichen verdeckt; in unserer Abbildung deutet sie der im Vordergründe befindliche dunkle Raum an. Hinter dieser Oeffnung und hart vom Rande derselben aus erhebt sich eine große, feinpolirte und durchsichtige Spiegelplatte, deren Ränder, Rahmen oder Zusammenstoßungsfugen, wenn sie nicht aus einem Stück ist, ebenfalls auf irgend eine Weise durch Guirlanden oder Aehnliches verborgen werden. Die Glasplatte ist mit ihrem oberen Rande etwas nach vorn geneigt, so daß sich gerade der untere verdeckte Raum in ihr spiegelt und man aus dem Zuschauerraume in ihr das erblickt, was in der unteren Oeffnung vorgeht. Außerdem aber verdeckt sie wegen ihrer Durchsichtigkeit nichts von dem, was sich hinter ihr befindet, ja das Publicum merkt nicht einmal etwas von ihr, wenn das Arrangement einigermaßen geschickt ist, da das Licht auf der Bühne und im Zuschauerraume, so lange wie die Scheibe aufgestellt ist, sehr gedämpft wird.

In dem unteren verborgenen Rauine nun wird der Geist gespielt. Ein Schauspieler mit Fleisch und Bein und im nöthigen Gespenstercostüm hantirt dort genau so, wie es oben erscheinen soll. Ihn und seine Bewegungen sehen die Zuschauer in der Spiegelscheibe; da sie aber von dieser wegen ihrer Durchsichtigkeit selbst keine Ahnung haben, so verfallen sie auch nicht darauf, die Erscheinung einer so einfachen Ursache zuzuschreiben.

Damit nun das Bild recht deutlich hervortrete, wird der Geisterspieler besonders grell beleuchtet; damit es ferner allein und nicht mit dem ganzen unteren Apparat gesehen werde, so ist die Wand, an welche sich der Schauspieler unten anlehnt – denn er muß dieselbe schiefe Lage einnehmen wie die Spiegelplatte –, der Boden, auf welchem er geht, kurz Alles, was sich außer ihm in dem untern Raume befindet, mit einem schwarzen, nicht glänzenden Stoff, Sammet oder dergleichen, ausgeschlagen und überdeckt. Von diesem dunkeln Hintergrunde hebt sich seine hellbeleuchtete Gestalt klar ab, und dadurch erscheint sie auch im Spiegel frei.

Um die Täuschung zu erhöhen, ist die Lichtquelle (Drummondsches Kalklicht, oder einige große Astrallampen, welche durch vorgestellte bunte Gläser farbiges Licht geben können) so eingerichtet, daß sie beliebig verstärkt oder abgeschwächt werden kann. Die Erscheinung tritt dadurch entweder plötzlich auf oder gewinnt allmählich erst Umrisse und Farbe, ebenso kann sie durch nach und nach schwächer werdende Beleuchtung langsam sich auflösen oder plötzlich durch Verfinsterung zum Verschwinden gebracht werden.

Eine rasche Erhellung der oberen Bühne und des Zuschauerraumes führt uns dann plötzlich auf den Boden der Wirklichkeit zurück, und ehe sich das verblüffte Auge wieder sammeln kann, ist ein Scenenwechsel vorgegangen, die Spiegelscheibe, das Geisterreich, in einer besonderen Führung versenkt oder aufgezogen worden. Wir sehen die Schauspieler über den wieder verdeckten unteren Raum schreiten, kurz nichts erinnert uns mehr an die Art und Weise, auf welche die Erscheinung hervorgerufen wurde.

Ist der dazu nöthige Apparat gut eingerichtet, die Spiegelscheibe groß und die Beleuchtung im ganzen Theater derart regulirt, daß jene sich nicht durch unbeabsichtigte Reflexe verrathen kann, so ist kein anderes Mittel so geeignet, selbst den mit den Vorgängen Vertrauten in eine vollständige Täuschung hineinzuzaubern. Dieselbe ist um so effectvoller, als der beschworne Geist durch nichts in seinen Bewegungen gehindert wird. Weder Felsen noch Möbel verdrängen ihn; er geht durch die Zweige der Gesträuche, und die Blätter bewegen sich nicht.

Der Natur der Spiegelbilder nach sehen alle Zuschauer die Erscheinung an derselben Stelle des Hintergrundes, welche soweit hinter der Spiegelscheibe liegt, als sich der Geistspieler vor ihr befindet. Der Schauspieler auf der obern Bühne, in unserer Abbildung der Taucher, bemerkt von dem Gespenste nichts, denn da er sich auch hinter der Glasscheibe befindet, kann er von dem Spiegelbilde nichts erblicken. Es ist daher, weil er ja sein Spiel nach den Bewegungen der Erscheinung einzurichten hat, für ihn ganz unerläßlich, daß er über den Ort, wo für den Zuschauer das Spiegelbild auftritt, vollständig im Klaren ist. Er will vor dem sich nähernden Geiste fliehen und, stellt einen Tisch zwischen sich und die Erscheinung; umsonst, das wunderbare Wesen wird durch kein irdisches Möbel aufgehalten. Er stößt mit seinem Degen in die durchsichtige Luft, aber die Zuschauer sehen die Klinge durch die körperlose Gestalt des Gespenstes hindurchfahren.




Blätter und Blüthen.

Menschenfresserei. Es wird heutigen Tages von romantischen Seelen oft Klage darüber geführt, daß mit der fortschreitenden Cultur alle echte Romantik aus der Welt verschwinde, und daß man gar nicht mehr so recht anständige Abenteuer zu erleben vermöge. Nun, so ganz begründet ist diese Klage leider noch nicht. Wer Schauerliches erleben, wer gefahrvolle Abenteuer bestehen will, der gehe nur einige Schritte weit in das Innere Afrikas oder Australiens, etwa zum König von Dahomey oder nach Wadai, und selbst in dem civilisirten Amerika oder Asien wird er noch manch Stück wilder Natur oder Unnatur finden. Freilich Seeräuber dürfte man kaum noch mit Sicherheit anderswo als in den japanischen oder indischen Meeren suchen, man müßte denn ein dänisches Blokadeschiff dafür ansehen wollen; Cooper’s Rothhäute sind gar nicht mehr wieder zu erkennen, Cook’s Otaheitier sind ganz liebenswürdige Leute geworden, und die Neuseeländer, die wir uns aus den Bilderbüchern unserer Kindheit kaum noch anders, als mit Thierfellen behängt, mit wildem langem Haar und erschrecklichen Keulen vorstellen können, führen Kriege nach ganz civilisirter Weise mit Feuerwaffen, mit Tirailleurzügen, mit Schanzen und Festungen. Selbst die Menschenfresser sind nicht mehr die, welche Campe’s Robinson uns in so haarsträubender Weise schilderte. Aber es giebt doch noch Menschenfresser, und denjenigen, welche Lust haben sollten, mit dieser eigenthümlichen menschlichen Leckerhaftigkeit nähere Bekanntschaft zu machen, soll wenigstens im Folgenden Gelegenheit geboten werden.

Der bekannte Botaniker und Reisende, Berthold Seemann, befand sich vor einigen Jahren auf einer Inselwelt des Großen Oceans, die unter dem Namen der Fidji-Inseln in Betreff der Menschenfresserei immer einen hervorragenden Ruf behauptet hat und deren Bewohner wenigstens damals noch nicht ganz dieser Gewohnheit entsagt hatten. Er hat dort die großen Oefen gesehen, in denen die Leiber menschlicher Schlachtopfer gebraten und die Töpfe, in denen sie gekocht wurden. Erst vier Monate vorher war es dem englischen Consul Pritchard gelungen, den mächtigsten Häuptling der Insel, Witi Lewu, zu bereden, daß er selbst den Kannibalismus aufgebe und ihn auch in seinem Lande verbiete. Einer seiner Halbbrüder, der erst kurz vorher als Gouverneur der Stadt Namosi gestorben war, hatte eine ganz besondere Leidenschaft für Menschenfleisch. Vergebens hatte ihm sein Lieblingsweib und ein seit längeren Jahren in der Stadt ansässiger Engländer die Nothwendigkeit vorgestellt, diesem abscheulichen Gelüste zu entsagen, wenn er sich nicht körperlich ruiniren wolle. Denn man behauptet allgemein, und es scheint nicht ganz unbegründet, daß das Menschenfleisch sehr schwer zu verdauen sei und daß selbst die stärksten und gesündesten Männer nach einem Cannibalenmahl zwei bis drei Tage leidend seien. Wie viele Menschen in Namosi verzehrt worden sind, vermag Seemann nicht anzugeben; aber man kann sich wenigstens eine ungefähre Vorstellung davon machen, da für jeden in die Stadt gebrachten Leichnam neben einem der Burc’s oder öffentlichen Fremdenhäuser ein Stein hingelegt wird und Seemann allein an dem großen Burc 400 solcher Steine zählte, obwohl nach der Aussage der Eingebornen eine große Zahl derselben vor einiger Zeit durch eine Ueberschwemmung des Flusses fortgerissen worden war. Die Oefen, die auf dem öffentlichen Platze stehen, sind ganz ausschließlich nur zum Braten menschlicher Leiber bestimmt; ebenso werden die Töpfe, in denen Menschenfleisch gekocht wird, in der Küche niemals zu anderen Zwecken verwendet. Merkwürdiger Weise aßen die Eingebornen das Menschenfleisch mit Gabeln, die aus dem harten Holze einer Kasuarine gemacht sind, während sie doch jede andere Speise mit den Fingern zu sich nehmen. Diese Gabeln werden hochgeschätzt und wandern als Erbstück von Generation zu Generation. Es kostete dem Reisenden viel Ueberredungskunst, um ein paar von diesen Gabeln für seine ethnologische Sammlung zu erwerben. Bei der Zubereitung [447] pflegt man das Fleisch etwas zu salzen und verzehrt es gewöhnlich in Verbindung mit drei Gemüsen, die von einem Solanum (S. anthropophagorum, das von Seemann bereits in die europäischen Gärten eingeführt ist), einer Nesselart und einer Wolfsmilchart hergenommen werden.

Wenn gleich der Cannibalismus auf den Fidji-Inseln noch ziemlich verbreitet ist, so meint Seemann doch, man würde irren, wenn man annehmen wollte, daß alle Fidji-Insulaner, die nicht zum Christenthum bekehrt sind, noch Cannibalen wären. „Es giebt unter ihnen,“ sagt er, „eine Anzahl, die man in Ermangelung einer besseren Bezeichnung die ‚liberale Partei‘ nennen könnte, die nie Menschenfleisch ißt, auch den Bures sich nicht nähert, wenn Leichname dort hingebracht sind, und welche diese Sitte ebenso verabscheut, wie wir Europäer, und ihr die abscheulichen Hautkrankheiten zuschreibt, von denen die Kinder so oft heimgesucht sind. Aber ihre Gegner behaupten, daß es, um den Feinden und den niederen Volksclassen Schrecken einzuflößen, für einen großen Häuptling durchaus nothwendig sei, Menschenfleisch zu essen. Das Gefühl des Volkes hinsichtlich dieses Punktes scheint dem Schrecken ziemlich ähnlich zu sein, den unsere Ammenmärchen durch die Episode einflößen, in welcher die Riesen nach Hause kommen und die versteckten Kinder zu riechen anfangen. Die aufgeklärte Partei protestirt auch gegen das Tödten von Weibern und geht von der Ueberzeugung aus, daß es ebenso feig ist, ein Weib, wie ein Kind zu tödten. Aber die Advocaten der Unmenschlichkeit haben auch hier noch immer das Uebergewicht. Sie machen geltend, daß es die beste Rache an den Männern sei, wenn man ihre Weiber todtschlage, da sie sich darüber grämen müßten, und daß, da zu allen Streitigkeiten ganz unzweifelhaft stets ein Weib die Veranlassung gebe, es vollkommen in der Gerechtigkeit begründet wäre, daß die Weiber, die das Blutvergießen verschuldet haben, nicht ungestraft davon kommen.“

Eine wie scheußliche Verirrung die Menschenfresserei auch sein mag, so dürfen wir doch die Menschen, die dieser Sitte seit Jahrhunderten und mit äußerster Hartnäckigkeit ergeben gewesen sind, nicht in jeder Beziehung uns als Unmenschen und Scheusale vorstellen. Auf die Fidji-Insulaner wenigstens paßt das nicht. „Sind sie auch Cannibalen,“ sagt Seemann, der lange unter ihnen verweilt und mit ihnen verkehrt hat, „so haben sie doch viele gute Eigenschaften; wären sie auch nur halb so schlecht, wie man sie schildert, so würden sie längst zu den ausgerotteten Stämmen gehören. Das Publicum hat viel darüber gehört, daß die im Kampfe erschlagenen Feinde gefressen werden, aber sehr wenig von der allgemeinen Freude über die Geburt eines Kindes und über die gegenseitige Liebe der Familienmitglieder; es hat viel gehört über die Sitte des Vatermordes und über die Erdrosselung der Weiber bei dem Tode ihrer Männer, aber nicht über das angeborene Gefühl der Anhänglichkeit, welches in diesen Handlungen einen allerdings befremdlichen Ausdruck sucht.“ –

Wie auf den Fidji-Jnseln, hat wohl auch auf den meisten oceanischen Inseln in früherer Zeit die Menschenfresserei geherrscht. Auf den Marquesas-Inseln wurden noch zu Krusenstern’s Zeit nicht blos die erschlagenen Feinde verzehrt, sondern in Hungersnoth sogar die eigenen Weiber, Kinder und greisen Eltern erwürgt, gebacken und gegessen. Im Innern Borneo’s scheint diese Unsitte noch nicht ganz erloschen zu sein, und die berühmte Reisende, Frau Ida Pfeiffer, die sich unter diese Cannibalen wagte, meint es nur ihrer Magerkeit zuschreiben zu müssen, daß sie nicht den Appetit ihrer liebenswürdigen Wirthe erregte. Aus Neuseeland kann die Menschenfresserei wohl gegenwärtig als vollständig erloschen betrachtet werden. Die Berichterstatter der „Novara-Expedition“ erzählen, daß jede Anspielung auf diese ehemalige Sitte dem heutigen Neuseeländer peinlich sei, weil sie ihn an den früheren niederen Standpunkt seiner Race erinnere. So oft die Reisenden gegen die Eingeborenen eine Erwähnung der Art machten, wandten sie sich mit dem Gefühl der Beschämung ab. Ja es scheint sogar, als ob sie, die Abkömmlinge von Menschenfressern, die von ihnen verabscheute Sitte jetzt den Europäern zutrauten. Die Novara-Expedition bemühte sich nämlich vergeblich einige der Maoris, wie die Eingeborenen Neuseelands heißen, zur Mitreise zu bewegen. Man erfuhr endlich, daß ihr Hauptbedenken darin bestand, daß sie alles Ernstes glaubten, die Weißen wollten einige ihrer Genossen nur statt frischer Provision mitnehmen, in der Absicht, wenn Mangel an Nahrungsmitteln eintreten sollte, sich durch Maorifleisch zu entschädigen und sie aufzuessen. Umsonst wies man auf einige Kaffern hin, die sich schon 15 Monate lang als Matrosen an Bord befanden und die freundlichste Behandlung erfuhren. „Wer weiß,“ warf einer der Besorgtesten unter den Maoris ein, „vielleicht hat man auch die Kaffern blos ausgespart, weil der Nothmoment noch nicht gekommen war!“ –

Weniger scheint der Cannibalismus in Australien erloschen zu sein, und hier sogar unter den nördlichen Stämmen die Sitte zu herrschen, die eigenen Familienmitglieder nach ihrem Tode zu verzehren. Der Novara-Expedition wurde bei ihrem Aufenthalte in Australien ein Fall erzählt, wo in der Nähe von Moreton-Bai ein Knabe starb, dessen Kopf und Haut vom Körper getrennt und an einem Stock über dem Feuer getrocknet wurden. Herz, Leber und Eingeweide wurden unter die anwesenden Krieger vertheilt, welche Stücke davon an den knöchernen Spitzen ihrer Speere mit forttrugen, während die gerösteten Oberschenkel, angeblich die größten Leckerbissen, von den Eltern selbst verzehrt wurden. Haut, Schädel und Knochen dagegen packten die Eingeborenen sorgfältig zusammen und nahmen sie in ihren Säcken aus Grasgeflecht auf die Reise mit. Uebrigens existirt gerade in Australien noch ein anderer eigenthümlicher Cannibalismus, der weniger in das kulinarische, als in das medicinische Gebiet gehört und auf einer abergläubischen Meinung von gewissen Heilkräften des Menschenfleischgenusses beruht, eine Meinung, die auch anderwärts vorkommt und selbst in Europa einmal dagewesen sein soll. So soll in Australien nicht selten eine Mutter ihr eigenes Kind in dem Wahne aufessen, daß jene Kraft, welche ihre Leibesfrucht ihr entzogen, auf solche Weise wieder in den Körper zurückkehre. So sollen ferner die Eingebornen, wenn ihnen ein Krieger eines feindlichen Stammes in die Hände fällt, ihrem Opfer mit fanatischer Wildheit das Fett der Nieren aus dem Leibe reißen und sich damit beschmieren, in dem Glauben, daß es dem Körper Kraft, dem Herzen Muth verleihe. Endlich ist auch Australien eines der seltenen Länder, in denen ein Theil des menschlichen Skelets zum Geräthe dient. Im südlichen Australien nämlich benutzen die Urbewohner ausgehöhlte Menschenschädel als Trinkgefäße, wie es die Geschichte ähnlich von den alten Longobarden berichtet. Jedes Weib soll dort eine solche Kalebasse besitzen, die es gewöhnlich selbst fabricirt.

Wir müssen nun den Leser noch in ein anderes Land hinübergeleiten, das in neuester Zeit das Dorado aller derer geworden ist, die das Gruseln lernen wollen, und in dem seit Menschengedenken auch die Menschenfresserei sich einer besondern Gunst und Gnade erfreut hat, nach Afrika. Schon Claudius Ptolemäus berichtete vor 1700 Jahren von einem schwarzen Cannibalenvolke, das an den Küsten des barbarischen Meerbusens im Osten der Nilquellen wohnen sollte. Auch die Portugiesen, welche auf ihren Entdeckungsfahrten nach Ostindien sich für längere Zeit an der afrikanischen Ostküste festsetzten, erzählen von Negerstämmen, welche „die Hände und Köpfe ihrer erschlagenen Feinde im Triumph vor ihren Häuptling brachten und das Fleisch ihrer blutigen Trophäen dann kochten oder brieten und verzehrten, während die Schädel ihnen zu Trinkgefäßen dienten.“ Die Sage von den afrikanischen Menschenfressern hat seitdem nie geschwiegen, und ihre Existenz in den verschiedensten Theilen Afrika’s konnte kaum in Zweifel gezogen werden. Leider aber wollte es lange keinem Reisenden gelingen, bis zu ihnen vorzudringen und ihre persönliche Bekanntschaft zu machen. Erst ganz neuerdings haben wir durch Männer wie Vogel, du Chaillu, v. Heuglin, welche diese vielleicht mehr interessanten als liebenswürdigen Völker besucht haben, zuverlässige Nachrichten über deren Existenz, wie über die Sitten und Gewohnheiten derselben erhalten.

Ganz so schrecklich, wie die Fama sie machte, haben sich diese Menschen denn doch nicht erwiesen. Als Vogel auf seiner Reise zum Benue nach Jacoba, der Hauptstadt von Bautschi, kam, wurde er vor Cannibalenstämmen gewarnt, die an den Ufern des Benue hausen sollten, und die man allgemein als Njem-njem bezeichnete, unter denen aber die Tangala die schlimmsten sein sollten. „Diese Stämme,“ schreibt Vogel (5. Dec. 1855), „habe ich besucht und bin recht wohl aufgenommen worden. Die Tangala, der Schrecken der umliegenden Gegend, sind wirklich wilde Burschen, die Menschenfleisch allem Anderen vorziehen. Entweder war ich ihnen aber zu mager, oder meine Flinte flößte ihnen einen heilsamen Schrecken ein; kurz, sie hielten sich in ehrfurchtsvoller Entfernung, und nur einige der Kühnsten kamen nahe genug, um die Perlen u. s. w., die ich ihnen entgegenhielt, in Empfang zu nehmen. Daß sie aber die Kranken ihres Stammes essen,“ schreibt er weiter, „ist unwahr; ich habe zufällig zwei Leute in ihren Dörfern sterben sehen und gefunden, daß sie mit äußerster Sorgfalt gepflegt wurden. Dagegen essen sie alle im Kriege erlegten Feinde; die Brust gehört dem Sultan, der Kopf, als der schlechteste Theil, wird den Weibern übergeben. Die zarteren Theile werden an der Sonne getrocknet und dem gewöhnlichen Mehlbrei als Pulver beigemischt.“

Unter den vielen Uebertreibungen, welche sich die Afrikaner in Betreff ihrer menschenfressenden Nachbarn erlauben, ist eine der gewöhnlichsten die auch von Vogel berührte, daß sie Kranke und halbverweste Leichen äßen. Auch du Chaillu hat sich von den Küstenstämmen am Gabun dies Märchen aufbinden lassen und erzählt sogar in dieser Hinsicht Manches, was er mit seiner etwas lebhaften Phantasie erlebt zu haben glaubt. So sei, während er sich bei dem Könige der menschenfressenden Fans aufhielt, eines Tagen der todte Körper eines Mannes aus einem benachbarten Orte gebracht worden, der angekauft war und nun zertheilt und verschmaust ward, obgleich er noch die Spuren der Krankheit, an welcher er gestorben, an sich trug. Es wurde ihm ferner von den Fans selbst erzählt, daß sie beständig die Todten von einem benachbarten Stamme kauften und ihnen dagegen die ihrigen überließen, ja, daß in ihrem eigenen Stamme die Familien gegenseitig ihre Todten verkauften und sie selbst die Körper der gestorbenen Sclaven von Nachbarstämmen um eine Kleinigkeit an Elfenbein einzutauschen suchten. Das Aeußerste glaubt du Chaillu selbst nicht mehr, daß nämlich ein Trupp Fans nach der Seeküste gekommen sei und von dem Kirchhofe der Mission einen frischbegrabenen Leichnam gestohlen und verzehrt habe. Im Uebrigen unterliegt es keinem Zweifel und wird auch durch andere Gewährsmänner bestätigt, daß die Fans arge Menschenfresser sind. Ueberall in ihrem Dorfe sah du Chaillu Knochen und blutige Ueberreste von Menschen liegen, und „war ich noch ungläubig,“ erzählt er, „so beseitigte ein Weib, dem ich begegnete, jeden Zweifel; sie trug, wie bei uns eine Köchin eine Kalbskeule, ein Stück von einem menschlichen Schenkel.“

Auch Ladislaus Magyar erzählt von Cannibalenstämmen Westafrika’s, die er auf seiner Reise von Benguela nach seiner neuen Heimath, dem Königreich Bihe, angetroffen. Bei den Hambo oder Munano, sagt er, werde das Menschenfleisch öffentlich feilgeboten, aber nur für die Einheimischen, da man Fremden gegenüber überhaupt diese Unsitte verleugne. Sie pflegen Kranke, Greise, Kinder und Sclaven zu schlachten, wie Magyar selbst wiederholt mit angesehen. Vom Mann wird der Kopf, vom Weibe der Oberschenkel weggeworfen, warum, weiß der Erzähler nicht anzugeben. Von den Kiakka in derselben Gegend berichtet er, daß sie bei festlichen Gelegenheiten Kriegsgefangene schlachten und ihr Fleisch mit Hundefleisch und Rindfleisch vermischt verzehren. Auch sollen sie von ihren Nachbarn Kinder stehlen, um sie zu essen.

Wären es nicht Augenzeugen, die über solche Gräuel berichten, so würden wir kaum dem Leser zumuthen, etwas davon zu glauben. Denn was Neger darüber erzählen, ist selten sehr glaubhaft. Es ist ganz gewöhnlich in Afrika, daß man benachbarte Stämme, mit denen man in Feindschaft lebt, von denen man durch Sitte, Abstammung, vielleicht auch Religion geschieden ist, deren Ueberlegenheit man überdies vielleicht oft empfunden hat, als Cannibalen, als Njem-njem bezeichnet. Es ist das oft nichts, als ein nationaler Schimpf, durch den man seinem Hasse oder seiner Furcht einen Ausdruck giebt. An der Westküste Afrika’s gilt der Europäer sehr gewöhnlich als Menschenfresser, und zwar einfach, weil man sich seinen Menschenhandel nicht recht hat ohne Menschenfresserei erklären können. Der englische Reisende Reade erzählt eine amüsante Geschichte, die mit diesem Verdacht [448] in Verbindung steht. Als er sich längere Zeit am Kongo aufhielt, hatte er, um nicht gegen die Sitte des Landes anzustoßen, einige Frauen genommen – Sclavinnen wäre unanständig gewesen. Eines Abends sitzt er mit einer dieser Frauen, einer jungen, liebenswürdigen Schwarzen, vor der Thür seiner Hütte und der Anblick der wundervollen Natur erfüllt ihn mit solchem Entzücken, daß er in einem Augenblick der Erregung sich zu seiner Schwarzen niederbeugt und einen Kuß auf ihre Lippen drückt. Mit einem fürchterlichen Schrei springt das arme Weib auf und flüchtet jammernd und hülferufend unter die Bewohner des Dorfes. Nur mit Mühe gelingt es dem nacheilenden Engländer, sie zu beschwichtigen, und er erfährt nun, daß die arme Schwarze den Kuß – der in Afrika völlig unbekannt ist – für das erste Symptom des ausbrechenden Cannibalismus ihres weißen Gatten gehalten hat!

Wir wollen den Leser nicht mit weiteren Cannibalenbräuchen unterhalten. Selbst wenn er von dem, was er gehört hat, Manches streicht, wird noch genug übrig bleiben, ihn mit einigem unheimlichen Grauen zu erfüllen, wie es jeder Reisende empfunden hat, der unter diesen Völkern verweilte. Seinem gebildeten Geschmacke wird schwerlich zusagen, was von jener jungen Dschagga-Königin am Kongo erzählt wird, die, ein wahres Muster weiblicher Launenhaftigkeit, an dem einen Tage einen Liebhaber umarmte, am andern Tage ihn aufaß. Um so ausfallender contrastirt mit diesem Grauen die übereinstimmende Beobachtung aller Reisenden, daß diese menschenfressenden Stationen keineswegs zu den rohesten und auf tiefster Culturstufe stehenden Völkern gehören, daß sie im Gegentheil sittlich wie geistig ihren Nachbarn meist weit überlegen sind. Aehnliche Erfahrungen sind ja schon an den Caraiben Westindiens, an den alten Mexicanern und den Kanaken der Sandwichgruppe gemacht worden. Von den Fidji-Insulanern und den Maoris Neuseelands ist schon oben bemerkt worden, daß sie zu den edelsten und intelligentesten Stämmen der braunen Race gehören. Aber auch Heuglin, der seine Reise bekanntlich in Gesellschaft von drei Damen, Madame Tinne, deren Schwester und Tochter, machte, berichtet in ähnlich günstiger Weise über die gefürchteten Njem-njem des westlichen Bahr-el-Ghasal-Gebiets. „Alle ihre Produkte,“ sagt er, „zeigen auf den ersten Blick, daß das Volk auf einer weit höhern Stufe steht, als seine Nachbarn im Osten und Norden, und die Form ihrer Wurfmesser, Säbelmesser, Schilde etc. erinnert stark an die Producte der Länder um den Tsadsee.“ Selbst du Chaillu, der so schaudererregende Schilderungen von den Sitten der Fans in der Gabun-Gegend gegeben hat, vermag ihnen nicht eine bedeutende geistige und physische Ueberlegenbeit abzusprechen. „Bei allen den abschreckenden Gebräuchen der Fans,“ sagt er, „haben sie doch bei mir den Eindruck als den vielversprechendsten Volkes in ganz Westafrika hinterlassen. Sie kamen mir mit unwandelbarer Gastfreundschaft und Güte entgegen, und es schienen mir in ihnen Keime zu liegen, welche dieses rohe Volk für Civilisation empfänglicher machen, als irgend einen andern mir in Afrika bekannten Volksstamm. Kräftig, stolz, kriegerisch, ebenso muthig als edel, sind sie gefährliche Feinde, und ich bin der Meinung, daß die große Familie, von welcher sie nur ein kleiner Zweig sind und welche die große Bergkette (?) bewohnt, die sich meinen Forschungen nach quer über den ganzen Kontinent hinzieht, es gewesen ist, welche die Fortschritte der muhammedanischen Eroberer in diesem Theile Afrika’s aufgehalten hat.“’ Ganz besonders überraschend war bei den Fans wie bei den Njem-njems ihre Geschicklichkeit in der Bearbeitung des Eisens, das sie aus den eignen Erzen des Landes durch ein zwar noch sehr einfaches und langwieriges Verfahren, aber in so vortrefflicher Weise gewinnen, daß sie es dem europäischen Eisen vorziehen.

Dies Zusammentreffen einer gewissen Cultur und einer ziemlich hohen physischen und geistigen Begabung mit einer von allen gebildeten Völkern mit Recht auf das Tiefste verabscheuten Unsitte ist eines der merkwürdigsten Räthsel auf dem Gebiete der Menschenforschung. Es klingt befremdend, daß man in der Menschenfresserei nicht mehr den Beweis völlig verthierter Rohheit und absoluter Unfähigkeit zu höherer Civilisation erblicken soll. Unsern empfindsamen Lesern wird aber damit zugleich der Trost geboten, daß in dieser Bildungsfähigkeit der Menschenfresser ihr unnatürliches Laster sich selbst eine Grenze steckt und daß es bei den Fans und bei den Njem-njems ebenso schwinden wird, wie bei den Maoris auf Neuseeland, wenn die europäische Civilisation es verstanden haben wird, sich dieser Völker wahrhaft zu bemächtigen.
O. Ule. 




Die Einweihung von Notre-Dame in Paris. Vor Kurzem fand in Paris eine merkwürdige kirchliche Feierlichkeit statt: die Einweihung von Notre-Dame. Diese schöne, hochberühmte Kirche, die ihr Alter 15 Jahrhunderte zurückführt, war bis auf unsere Tage noch nicht eingeweiht worden und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie während dieser 15 Jahrhunderte niemals ihren baulichen Abschluß gefunden hatte. Wie die Vollendung des Louvre, jenes alten, prachtvollen Palastes der französischen Herrscher, so blieb auch die Vollendung der Kirche von Notre-Dame der Regierung Napoleon’s III. vorbehalten.

Die endliche Einweihungsfeierlichkeit war höchst imposant. Der Erzbischof von Paris, umgeben von einer großen Anzahl anderer französischer und ausländischer Bischöfe, Prälaten und Priester, vollzog die Weihe, und die ungeheuern Räume der herrlichen Kirche waren dicht gefüllt mit einer zahllosen Menge von Menschen, die, theils gläubig theils neugierig, theils fromm theils schaulustig, von nah und fern herbeigeströmt war. Die katholische Kirche spart, wie man weiß, bei dergleichen Anlässen weder Weihrauchwolken noch Kerzenschimmer, um den Glanz ihrer Festlichkeiten zu erhöhen und dadurch auf das Gemüth und die Phantasie ihrer Angehörigen desto mächtiger einzuwirken; indessen sind sich diese effektvollen Ausdrücke des römischen Cultus alle ziemlich ähnlich, und es läßt sich wenig Neues darüber sagen. Demnach liegt es auch nicht in meiner Absicht eine Beschreibung der in Rede stehenden Feierlichkeit zu geben. Aber die Kirche von Notre Dame selbst hat eine großartige, errinnerungsschwere Geschichte, die mit der Geschichte von Frankreich eng verwoben ist. Welch eine Reihe von mächtigen, welterschütternden Ereignissen haben die altersgrauen Mauern dieses ehrwürdigen Gebäudes in dem langen Zeitraume so vieler Jahrhunderte an sich vorüberziehen sehen! Wie manche Siegesfeier haben die Glocken von Notre-Dame mit ihrem ehernen Klänge verkündet, wie manchen mächtigen Herrschers Kniee haben sich an den Stufen dieses uralten Altares zum Dank- oder Bitt-Opfer gebeugt!

Eine kurze Zusammenstellung der wichtigsten Ereignisse, deren Schauplatz die Kirche von Notre-Dame war, dürfte daher wohl von einigem Interesse für den Leser sein. Zur Vervollständigung dieses geschichtlichen Ueberblickes gehe ich zurück bis auf das sechste Jahrhundert, wo die Kirche als ein geheiligter Zufluchtsort betrachtet wurde; Fridegunde flüchtete sich hierher und fand Schutz. Im Jahre 829 fleht man in Notre Dame zu Gott um die Niederwerfung der Normannen. 1230 wallfahrtet Raimund VII., Graf von Toulouse, barfüßig hierher, um den über ihn verhängten Kirchenbann wieder aufheben zu lassen. 1239 bringt König Ludwig IX. die Dornenkrone des Heilandes nach Notre-Dame, die ihm von Balduin geschenkt worden ist. 1393 findet hier die Krönung von Isabelle von Baiern statt. 1431 wird König Heinrich VI. von England daselbst als König von Frankreich gekrönt. 1437 : König Carl VII., nachdem er mit Hülfe der Jungfrau von Orleans die Engländer besiegt hat, läßt hier einen feierlichen Dank-Gottesdienst abhalten. 1560: Maria Stuart, die nachmals enthauptete unglückliche Schottenkönigin, wird hier gekrönt als Gemahlin Franz’ II. von Frankreich. 1572 findet hier die Vermählung Heinrich’s IV. mit Margarethe von Valois statt und zwar in der Woche, die der Bartholomäusnacht vorherging. 1622 wird die Kirche von Notre-Dame durch den Papst Gregor XV. zur Metropolitan-Kirche erhoben. 1779 werden hundert junge Mädchen hier verheirathet, die der König Ludwig XVI. ausstattet. 1781 findet ein Te-Deum statt, für die Geburt des unglücklichen Dauphin Ludwig XVII. 1793 wird die Kirche zum Tempel der Vernunft erklärt. 1795 wird sie, mittlerweile zu einer Wein-Niederlage benutzt, dem Cultus zurückgegeben. 1802 findet ein Te-Deum statt für die Unterzeichnung des Concordates; die drei Consuln wohnen dieser Feierlichkeit bei. 1804: Krönung Napoleon’s I. und Josephine’s durch den Papst Pius VII. 1811: Te-Deum für die Geburt des Königs von Rom. 1816: Verheirathung des Herzogs von Berri mit einer Prinzessin von Sicilien. 1821: Taufe des Herzogs von Bordeaux.

1841: Taufe des Grafen von Paris. 1842: Trauergottesdienst für den Herzog von Orleans. 1848: Trauergottesdienst für den Erzbischof Affre, der auf den Barrikaden getödtet worden ist. 1853: Vermählung des Kaisers Napoleon III. mit der Kaiserin Eugenie.

Seitdem hat die Kirche von Notre-Dame die Taufe des kaiserlichen Prinzen und die Dank-Gottesdienste für die in der Krim und Italien erfochtenen Siege gesehen.

Man wird bekennen müssen, daß wenige Gebäude eine so großartige Geschichte haben, wie die Kirche von Notre-Dame; sie ist eines der interessantesten Bau-Denkmale der Welt, wie sie unstreitig eines der schönsten ist.




Ein paar Worte zur Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland. Als der Kaiser Alexander den hochherzigen Entschluß zur Aufhebung der Leibeigenschaft vor drei Jahren zur Ausführung brachte, da jubelte mit Ausnahme einer kleinen Partei des reich begüterten, seelenbesitzenden Adels ganz Rußland und die übrige Welt mit ihm. Auch erkannte jeder Einsichtsvolle die Nothwendigkeit einer für die Durchführung des Emancipations-Ukases anberaumten Frist an. Aber während die Einen eine Frist von zwei Jahren, wie sie der Ukas anordnet, für gar zu kurz hielten, waren andere erfahrene und im Dienste für ihr Vaterland ergraute Männer der Meinung, daß der hohe Zweck überhaupt nicht so bald, wenigstens nicht eher erreicht werden könne, als bis für die Bildung des Volkes mehr als bisher geschehen sei, und daß diese Befürchtung sehr wohl begründet ist, haben die Mißverständnisse und Unruhen, welche sich in einigen Gouvernements bei Verkündigung des Emancipations-Ukases unter den Leibeigenen zeigten, sehr bald hinlänglich bewiesen. In der That sieht es denn auch mit der Volksbildung im großen nordischen Reiche noch traurig genug aus. In den Ostseeprovinzen (Liv-, Esth- und Kurland) zwar ist mit echt deutschem Sinne für den ersten Unterricht durch gute Kreis-, Armen-, Waisenschulen und ähnliche Anstalten genügend gesorgt, und Jedermann läßt es sich angelegen sein, daß die lettische und esthnische Bevölkerung so gut wie die deutsche ihre Kinder zu einem möglichst regelmäßigen Schulbesuche anhält; aber im übrigen europäischen Rußland reichen weder in den Städten, noch auf dem Lande die Anstalten hin, um der ärmeren Volksclasse die zur Würdigung der ihr gebotenen Freiheit nöthige Bildung zu sichern. Wo ist in den größeren Städten eine ausreichende Anzahl solcher Schulen, in denen die Kinder der ärmeren Bevölkerung unentgeltlich Lesen, Schreiben und Rechnen lernen könnten? und wo ist man, namentlich auf dem Lande, bemüht, die Kinder der arbeitenden Classe an den Wohlthaten eines Elementarunterrichts theilnehmen zu lassen? Nirgendwo. Jeder mit russischen Verhältnissen Vertraute weiß freilich, wie schwer es besonders in großen Gutsdistrikten ist, bei der Ueberlastung mit ländlichen Arbeiten für eine tüchtige Elementarbildung der Kinder Sorge zu tragen, aber wir sind überzeugt, daß sich durch eifriges Zusammenwirken der Gutsherren und ihrer früheren Leibeigenen, wenn die Ersteren nur den Anstoß dazu geben, die Schwierigkeiten doch beseitigen lassen und der Segen, der solch einem Vorhaben nicht fehlen kann, sehr bald folgen wird. Die Zahl derjenigen, welche weder lesen noch schreiben können, ist in Rußland noch erstaunlich groß, doch erst dann, wenn sich diese Zahl durch Volksschulen allmählich gemindert haben wird, werden die vielen Millionen, denen der Emancipations-Ukas die Freiheit geschenkt hat, wirklich frei sein. Nur Bildung macht frei, das gilt für keinen Staat mehr, als gerade für Rußland.
B. 

  1. Als Probe aus dem Mitte August im Verlage der „Gartenlaube“ erscheinenden „Volkskalender von Berthold Auerbach für 1865“, der auch diesmal von dem geistvollen Griffel Paul Thumann’s mit vielen trefflichen Illustrationen geschmückt wird und, außer der hier veröffentlichten Skizze, den nachstehenden reichen Inhalt hat: Zunächst ein vollständigen Kalendarium, mit Monatsbildern von W. v. Kaulbach, sodann: Der gefangene Gevatter. Eine humoristische Erzählung von Berth. Auerbach. Mit Illustrationen von Paul Thumann. – Der hundertjährige Krieg gegen die Todesstrafe. Von F. v. Holtzendorff, Professor an der Universität Berlin. – Die Rheingrenze. Eine patriotische Erzählung von Moritz Hartmann. Mit Illustrationen von Paul Thumann. – Im Dampfwagen. Humoristische Erzählung von Friedr. Gerstäcker. Die Verlobung auf dem Rigi, oder wie man durch Strumpfstopfen einen Mann bekommt. Von Berth. Auerbach. Mit Illustrationen von Paul Thumann. - Naturleben im Winter. Von Berthold Sigismund. – Die schleswig holsteinische Frage und der Nord-Ostsee-Canal. Von Wilh. Wackernagel, Mitredacteur der Nationalzeitung in Berlin. – Der Silbergraue. Eine Erzählung von Franz W. Ziegler, Verfasser des „Nondum“. – Wie sollen wir unser städtisches Wohnhaus bauen? Von Alfred Woltmann.