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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 27.   1864.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Der Bettler vom Capitol.
Eine Erzählung von Franz W. Ziegler,
Verfasser des „Nondum“.


„Ein abscheuliches schmutziges Nest, dies Rom,“ sagte zu mir ein deutscher Kaufmann, mit dem ich mich durch die Bevölkerung arbeitete, die, einer feierlichen Ausfahrt des Papstes wegen, die Straßen füllte. „Und diese Menge von Bettlern,“ fuhr mein Begleiter fort, „ich verstehe es nicht, daß Sie aus Ihrem früheren Amte her nicht eine Wuth auf dies Gesindel haben und nicht eine stete Lust empfinden, es in eine Zwangsarbeitsanstalt zu stecken.“

„Anders lesen Knaben den Terenz, anders Hugo Grotius,“ dachte ich und schwamm, während mein wackerer Landsmann von mir getrennt wurde, gelassen in den Wogen der buntesten Menge weiter, bis ich jenseits der Tiber eine Höhe erreichte, von der ich die ewige Stadt zu meinen Füßen übersehen und mich ungestört den Gedanken überlassen konnte, die ein Rückblick auf Jahrtausende an dieser Stätte in ungeheurer Fülle hervorruft. Wer nicht Rom von Jugend auf im Herzen getragen, seine Riesengeschichte nicht auf sich wirken lassen, wer nicht mit seiner ganzen Bildung in dieser Stadt wurzelt, von deren Hügeln ein gewählter Herrscher zum zweiten Male seinen Blick über mehr als zweihundert Millionen Menschen gebietend schweifen läßt, der kann nicht anders empfinden, als mein guter Kaufmann.

Der enge Gesichtskreis, den ihm eine auf das Nächste, auf das, was zum Erwerbe erreichbar ist, gerichtete Bildung, den ihm der moderne Polizeistaat mit allen seinen Bedürfnissen und Anstalten gelassen, hat ihm den Blick, den Sinn für das Allgemeine abgestumpft; er begreift darum auch nicht, wie eine Regierung das Nächste und Nothwendigste übersehen kann, weil er eben von den ungeheuren Interessen keine Ahnung hat, die weit über diese engen Mauern hinausliegen und ihre Ketten um den Erdball schlagen.

Was soll er dazu sagen, wenn die geistlichen Richter gegen einen Vermiether, der zwei Jahre lang keine Miethe bekommen, auf einjährige Nachsicht erkennen? Muß er nicht „Gewalt“ rufen, wenn einem Cafétier die Concession entzogen werden soll, weil er in seinem Local einen Zettel angeschlagen, wonach er erklärt in demselben keine Bettler dulden zu wollen, und weil er damit gegen die christliche Liebe gesündigt? Wie kann ein Regiment, das die christliche Tugend zum Ausgangspunkt nimmt, deren öffentliche Verleugnung dulden! Für die Millionen Scudi, die noch heute zu allen möglichen Fonds nach Rom fließen, Fonds, an denen sogar die hinzurichtenden Delinquenten Theil nehmen, welche ihre letzten Stunden in einer Stiftung und unter einer Brüderschaft zubringen, die sie als Familie auf dem letzten Gange begleitet, für diese Millionen, welche wesentlich ein Tribut sind, den die Gemüthswelt steuert, lassen sich nicht polizeiliche Anstalten in unserem Sinne gründen. Mit deren Errichtung würden auch jene Fonds versiechen. In dem „non possumus“ ist eine Wahrheit; dies reizende Stück Unordnung trägt seine Rechtfertigung in sich selbst, und dies Rom ist der einzige Fleck Erde, auf dem sich Ruhe finden läßt vor den Nöthigungen der Gegenwart, der einzige Ort, an dem sich alle Mühseligen und Beladenen zusammenfinden und, Rang, Ehrgeiz, Kampf und Streit hinter sich lassend, im unmittelbaren Anschauen der Vergänglichkeit aller Herrlichkeiten dieser Welt die Gebrechlichkeit unseres Daseins fühlend, sich als Mensch zu Menschen finden können.

„Das ist ein frecher Geselle,“ würde man in jeder nordischen Residenz ausrufen, wenn ein Bettler sich in einem Café pfennigweise einige Groschen zusammen bettelte und dann, mit bescheidener Würde eine Tasse fordernd, unmittelbar neben dem Mildthätigen seinen Trank schlürfte.

In Rom geschieht das alle Tage. In der alten Race seiner Bevölkerung sind körperlich sogar die Abstufungen mehr ausgeglichen; es giebt keinen wesentlichen Unterschied außer dem zufälligen des Vermögens, der hier nicht drückend ist, wo der Nachfolger Christi weilt, welcher den Reichen das Himmelreich so weit rückte, ja fast unmöglich machte. Man lernt hier Rückert’s Worte verstehen:

„Ich bettelte bei dem, der bettelt heut’,
Und unser Beider mag sich Gott erbarmen.“

Diese Andeutungen werden genügen, sind aber, wie ich glaube, nothwendig, um dem Leser etwas von der Stimmung zu geben, die an einer einfachen Geschichte Interesse und sogar Glauben an sie finden läßt, so unbedeutend auch in ihrer heutigen Stellung die Person ist, an der sich das Stück Leben abwickelte, und so dunkel und räthselhaft selbst diese Geschichte für uns Nordländer bleiben muß, die immer Gesetz und Recht, Polizei und Staatsanwaltschaft bei der Hand haben und sich darum von der Kritik und der Anzweiflung solcher Erlebnisse nicht lossagen können wenn auch jedes Jahr ein Kaspar Hauser erschiene und, aller geordneten Sicherheit zum Hohne, unter ihren Augen ermordet würde. –

Wer im Laufe des Jahres 1861 ein Café, das ich nicht näher bezeichnen will, in der Via Condotti in Rom besuchte, dem muß, so wenig er auch geneigt sein mag, unter der Menge von Bettlern in dieser Stadt dem einzelnen besondere Aufmerksamkeit [418] zu schenken, doch ein Bettler aufgefallen sein, der sich von allen übrigen sehr wesentlich unterschied.

Es trat in das Local ein Mann von bedeutender Gestalt, ziemlich sechs Fuß hoch, im gewöhnlichen Civilanzuge, einem braunen nicht unmodernen Ueberrock, der, fadenscheinig, aber rein gebürstet, einen schlanken Körper umschloß, dessen Ebenmaß der Glieder eine graziös-natürlich vornehme Bewegung gestattete. Auf diesem Körper saß mit dem glücklichsten Ansatz des Nackens ein edler Kopf, der unter hoher Stirn und dichtem, kurz gehaltenem und etwas grauem Haar ein feingeschnittenes Gesicht zeigte, das mit der Adlernase dem Mann etwas Gebietendes verlieh, das aber jeden Augenblick durch die großen sanften blauen Augen, welche mächtig schwarze Augenbrauen überschatteten, den Ausdruck reizender Bescheidenheit annahm.

Zu meinem Erstaunen war der Mann ein Bettler, der seine Runde abwärts von mir machte, so daß ich, bevor er zu mir gelangte, Zeit behielt, ihn zu beobachten. Wenn er abgewiesen wurde, ging er mit einem unnachahmlichen Schulterzucken weiter, in dem beinahe das Mitleiden sich ausdrückte, mit dem der Franzose von einem Knauser und gemeinen Menschen sagt: „pauvre homme!“

Als er zu mir kam, reichte ich ihm, ehe er noch Zeit gehabt sein Gesuch anzubringen, etwas hier Unerhörtes, nämlich eine Silbermünze, einen französischen Franc, weil ich mir einbildete, daß der Mann, in augenblicklicher Verlegenheit befindlich, sich nur für das eine Mal auf Betteln eingelassen habe. Kaum hatte er das Stück Geld in seine schmale durchaus reine und feine Hand genommen, als er einen schnellen Blick darüber warf, mich einen Moment mit weit geöffneten Augen ansah und dann, in den freundlichsten Ausdruck übergehend, sein: „Grazie, grazie, Signore!“ vorbrachte.

Als er am folgenden Tage wieder das Local betrat, wußte er es so zu machen, daß er mich überging. Es lag darin ein Zug von Bescheidenheit, jedenfalls von Rücksicht auf seine Tributpflichtigen. Er nahm das Geld nicht, wo er es fand, er übte eine Art Staatsraison.

Diese behielt er noch mehrere Tage bei, bis ich ihm nachging und meine Steuer auf die Straße nachtrug. Ich habe aus Niemandes Munde das Italienische so schön klingen hören, und die unverkennbare Bildung des Mannes flößte mir so viel Interesse für ihn ein, daß ich ihn nach seinen früheren Verhältnissen fragte. Mit trauriger Miene antwortete er mir, er sei ein alter heruntergekommener Kaufmann, der aus Mangel an Fonds nichts Neues beginnen könne.

Da ich meinen Beitrag auf ein bescheidenes Maß zurückgeführt hatte, so wurde ich von ihm in den folgenden Tagen wieder unter die Steuerzahler aufgenommen.

So verlief vielleicht eine Woche, als ich von dem Wirthe, zu dem ich des heruntergekommenen Kaufmanns beiläufig erwähnte, erfuhr, daß der Bettler in seinem Leben nicht Kaufmann gewesen sei. „Ich wollte,“ fuhr er fort, „ich könnte den Menschen verweisen, der, ein geborener Graf, sich von Grafen und Principes nicht ernähren lassen will, sondern es vorzieht zu betteln und armen Leuten die Almosen zu entziehen, die diesen statt ihm zufließen würden.“

„Ein Graf?“ erwiderte ich. „Es mag sein, daß er sein Unglück verschuldet hat; aber jedenfalls ist er unglücklich und hat also Anspruch auf die Hülfe seiner Nebenmenschen.“

„Er hat ja Nebenmenschen, Grafen und Principes genug, an die er sich wenden kann, statt das Publicum zu belästigen,“ fiel der Wirth ein. „Diese vornehmen Herren, weil sie, wie man sagt, mit ihm verwandt sind, haben ihm vielfach angeboten, ihm mehr als hinreichenden Unterhalt zu gewähren und ihm dazu eine bestimmte Pension auszusetzen, wenn er das Betteln lassen wolle. Aber der Mensch bettelt aus Leidenschaft; er hat Alles ausgeschlagen und bettelt weiter. Ja, er ist so frech gewesen, mir einmal, als ich ihm Vorwürfe machte, zu sagen: ,Wenn ich einen Schatz fände, ich würde ihn den Armen geben und mich durch Betteln ernähren. Ich will arm sein, um das Himmelreich zu gewinnen, ich muß betteln, es ist das für mich eine religiöse Sache.‘ Dazu, Signore, durfte ich denn freilich nichts sagen; laufen doch auch Bettelmönche umher, die arbeiten könnten. Man muß das Alles ansehen. ,No possumus,‘ Signore, Sie verstehen mich schon; ma viva Garibaldi e Vittorio Emamuele!“ setzte er leise hinzu.

Von mehreren anderen Personen in Rom, theils geborenen Römern, theils Deutschen, die den größten Theil ihres Lebens in Rom zugebracht, wurde mir die Mittheilung des Wirthes bestätigt, und Alle waren betroffen über das Erstaunen, mit dem ich die Sache aufnahm. Sie kannten Alle den für mich räthselhaften Mann unter dem Namen: „Der Bettler vom Capitol“, weil er angeblich in einer der Hütten wohnte, die am Fuße desselben unmittelbar unter dem Tarpejischen Felsen errichtet sind, oder in einem der Häuser ein Unterkommen hatte, die auf dem Hügel selbst vor dem evangelischen Stifte liegen.

Die Gleichgültigkeit, mit der Alle diese wunderbare Leidenschaft für das Betteln in einem Manne aus den höchsten Ständen aufnahmen, bewies mir, daß man in Rom, dessen ganze heutige Existenz ja ein Wunder genannt werden kann, über nichts betroffen ist, und es bewies ferner, daß sich die meisten Menschen nicht die geringste Mühe geben, psychologische Probleme zu enträthseln.

Ich konnte begreifen, daß ein Mensch, träge und arbeitsscheu, die Schmach des Almosenforderns dem mühevollen Schaffen vorziehe, aber daß ein Mann, der auf Grund einer Pension seiner Sucht sich umher zu treiben und zu faulenzen erst recht genügen kann, diese Pension verwerfe, lediglich um zu betteln und, wie dieser, sich durch das schlechteste Wetter hindurchzuarbeiten, um, wie ich gesehen, von Nässe triefend einige Bajecchi zu erjagen und, oft zurückgewiesen, zuweilen sogar hart angelassen, auf diese Art die geringste, knappste Nothdurft des Lebens zu gewinnen: das Alles war ganz widersinnig, war unmöglich.

Bei aller Anstrengung meiner Phantasie war ich nicht im Stande, diese Leidenschaft, wie der Wirth und meine Bekannten es nannten, zu enträthseln. „Sollte es wirklich eine Manie zum Betteln geben?“ dachte ich, „eine Manie, die nicht einmal die religiöse Schwärmerei für sich haben kann, da ja der Mann in einen Bettelorden treten könnte?“

Mich interessirte die Sache täglich mehr, und ich nestelte mich nunmehr meinerseits an den Bettler mit einer Zähigkeit und Leidenschaft, die nur die Wissenschaft und die Liebe zu ihr verleihen können.

Endlich hatte ich den Mann soweit, daß er mir zusagte, ein Abendessen von mir anzunehmen. Er wußte, da er mich dort oft hatte heraustreten sehen, daß ich bei Spillmann, den frères provençaux Roms, zu Mittag aß, und leitete mich gleich auf den richtigen Standpunkt, indem er äußerte, „die Sache sei schwierig, da diesmal der Gast dem Wirth vorschreiben müsse, wo er essen solle, „denn,“ fügte er mit einem Blicke auf seine ganze Person hinzu, „ich würde nicht überall hin folgen können, das würde inconveniente sein.“

Ich beruhigte ihn, indem ich ihm sagte, ich würde mich ihm gern überlassen, ich sei nicht verwöhnt, er möge nur etwas bestellen, so gut es eben zu haben sei; ich würde ihm morgen Abend, wenn er im Café erschiene, auf die Straße nachfolgen und mit ihm gehen.

Wir trafen uns der Verabredung gemäß und gingen in das Häusergewühl, das hinter dem Palazzo di Venezia bis zum Capitol in unentwirrbarem Knäuel von Gassen und Gäßchen ausgebreitet liegt und in den einzelnen Häusern die engen Dimensionen wiedergiebt, mit denen sich die alten Römer hinsichts ihrer Wohnungen begnügten. Das Haus, das wir betraten, war im Eingange so schmutzig, daß ich auf dem hereingeschleppten Unrath des Estrichs mehrere Male ausglitt; endlich aber mündete der Gang oder Flur in ein ziemlich freundliches und reinliches Zimmer, in welchem ein Tisch mit zwei Couverts anständig gedeckt war. „Wir werden hier gut und billig essen,“ sagte empfehlend mein Führer, „und jedenfalls ist der Orvieto vortrefflich.“ Ich wußte, daß Römer der höheren Stände nichts lieber trinken als echten Bordeaux und ihm gegenüber den Champagner weit zurücksetzen. Da mir der römische Wein, der nur heurig getrunken wird, ohnehin schlecht bekam, hatte ich eine Weinhandlung ausgemittelt, die ausgezeichnete Medocs führte, und schickte sofort dahin, um einige Flaschen zu holen.

Es verstand sich von selbst, daß der Bettler mit Anstand aß, noch mehr aber zeigte sich die Bekanntschaft mit den feineren Produkten, wodurch wir das Leben verschönern, als er das Glas zur Lippe führte. Weder hastig, wie der Gierige nach langer Entbehrung, noch mit dem unanständigen Schlürfen sogenannter Kenner, [419] die ihre Schule bei reisenden Weinhändlern oder in Hôtels gemacht haben, sondern mit der Leichtigkeit, mit welcher der vornehme Mann das Würdige, und umgekehrt mit der Würdigkeit, mit der er das Leichte bestellt, genoß er, je nachdem das Essen und das Gespräch Gelegenheit boten, den edlen Wein ohne besondere Zurüstung, aber auch ohne stumpfe Gleichgültigkeit. Ebensowenig imponirte ihm die Cigarre, die ich ihm nach dem Essen reichte. Er wandte sich nach den ersten Zügen nur in sehr freundlichem Ton zu mir, neigte etwas den schönen Kopf wie zum dankbaren Compliment und sagte: Ah, Signore, una habanna!

Es machte mir besondere Freude, zu sehen, wie dem Manne von Minute zu Minute wohler wurde. Es war herausgekommen, daß er vom 14. bis zum 17. Jahre in Paris studirt hatte und daß er ein Französisch ohne allen Accent sprach, den ein Italiener sonst so schwer ablegt. Ich brachte das Gespräch auf sein Grafenthum, das er lächelnd kurz mit den Worten ablehnte: „una favola!“ und war durch den Anstand, den der Mann in Allem, im Sitzen und Gehen, in jeder Handbewegung, in jeder feinen Aufmerksamkeit und in seiner Mäßigkeit an den Tag legte, einigermaßen in Verlegenheit, wie ich ihm näher kommen und zu der Erklärung der Leidenschaft des Bettelns gelangen sollte. Außerdem merkte ich auch, daß er hinter meinem Betragen gegen ihn irgend eine Absicht suche, und es war gar nicht zu verkennen, daß er sofort auf die richtige Spur gelangt war, weil er das Gespräch, anknüpfend an die Eigenthümlichkeiten der Römer, auf Psychologie brachte und dann schnell fragte, ob ich Schriftsteller sei.

Als ich dies verneinte, ließ sich erkennen, daß ihm freier zu Muthe wurde. Ein ferneres Mißtrauen, das erst zu heben war und dessen Grund ich in der Politik erkannte, die damals in Rom zu großer Vorsicht aufforderte, war bald beseitigt. Es blieb nicht bei diesem ersten Rendezvous, bei dem ich nichts erreichte, es interessirte mich aber auf’s Neue für den Alten ein schöner Zug. Er hatte mich von seiner Kundschaft gestrichen, er bettelte mich weder an, noch nahm er auf der Straße etwas von mir. Es war klar, er würdigte mich seiner Freundschaft, und indem ich dem Leser die Mühe erspare, alle die diplomatischen Kunststücke auch nur zu lesen, die ich anwenden mußte, um zum Ziele zu kommen, lasse ich nunmehr den Alten genau in seiner Weise erzählen, vermöge deren er in seiner Lebhaftigkeit und unter dem Drucke der aufregenden Erinnerungen nicht dazu gelangen konnte, hintereinander fort zu referiren, vielmehr durch Fragen einleitete, auch dazu Veranlassung gab, durch Fragen der Sache mehr auf den Grund zu kommen, und so den Zuhörer in das Interesse für sein Schicksal hineinzog.

„Kennen Sie Sicilien?“ begann er.

„Ja wohl,“ erwiderte ich, „ich habe es vor ungefähr drei Wochen verlassen.“

„O, Sie kennen sie, diese herrliche Insel?“ rief er, „diesen Juwel in der blauen Fassung des Meeres. Keine Küste empfängt den von Neapel nach Messina steuernden Fremden so imposant, wie die sicilische. Eine Reihe grünbekränzter Berge hält Wacht gegen die andrängenden Fluthen des Nordens, und hinter ihnen, wie der Feldherr hoch hinausragend, überherrscht sie alle der gewaltige Aetna, das weiße, aber glühende Haupt in den Wolken kühlend, Brust und Leib in grünen Sammt gekleidet, während von den Schultern der mächtige weiße Seidenmantel nach Süden hinabrollt, jene Weizenebene, die bis Catanea und Syracus und bis an die Höhen des Hybla ihre schimmernden Falten in Höhen und Thälern zurechtlegt und zuletzt in dem schönsten Besatz einer leuchtend grünen Waldkante abschließt.“

Er sah mich mit strahlendem Gesicht an und schwieg ein Weilchen. „Jeder,“ unterbrach ich ihn, „liebt sein Vaterland und weiß seine Schönheiten zu preisen. Aber Sie haben Recht, es ist dort ein seliges Stück dieser Schöpfung ausgebreitet, und ich habe dicht unter dem Aetna in Taormina, in Catanea und Syracus empfunden, weshalb die Alten hierher den Mythus der Ceres verlegten, und weshalb,“ fügte ich hinzu, „wie im Busen des Landes die ewigen Donner tosen, sein reicher Segen es vor Eroberern aus allen Welttheilen nicht zur Ruhe kommen ließ.“

„Sie erleichtern mir meine Mittheilungen,“ fuhr er fort, „da Sie die Gegenden kennen, in denen meine Geschichte zumeist abspielt. Und noch eine Frage: Haben Sie die Aetna-Mädchen gesehen, die Töchter der eisenfesten Bauern, die das höchste Culturland bebauen?“

„Gewiß,“ erwiderte ich, „und wenn etwa ein Mädchen dieses Schlages in Ihrer Geschichte eine Rolle spielt, so sind Sie schon von vornherein für manche Verirrung entschuldigt, in die Sie verfallen sein könnten. Ich will,“ setzte ich hinzu, „zugeben, daß der schöne, stolze Kopf dieser Frauen sich auch anderer Orten, z. B. hier in Rom, wiederfinden läßt, nicht aber der Körper. Mir ist nichts so sehr aufgefallen, als daß eine solche Gestalt auf den ersten Blick nicht größer und gewaltiger aussieht, als die anderer Frauen, daß aber, je länger man sie betrachtet, die Ausgiebigkeit der Formen in immer süßeren und mächtigeren Linien hervortritt. Es ist vielleicht das Ebenmaß, das keinen Körpertheil zu auffallend hervortreten läßt, ein Umstand, der unter unseren deutschen Frauen viel Ueppigkeit, aber selten Schönheit gestattet, jenes Ebenmaß, vermöge dessen wir uns erst in die Größe und Mächtigkeit der Peterskirche hineinsehen müssen, das jene Erscheinung erklärt. Mir ist, wenn ich eine dieser Frauen sah, immer die Venus von Milo eingefallen, zu der eine Aetna-Frau Modell gewesen sein muß.“

„Herrlich, herrlich!“ rief der Alte, nahm sein Glas und dankte mit glühenden Augen, als ich mit ihm anstieß auf Sicilien und seine Bewohner.

„In einem Orte,“ fuhr er fort, „der ungefähr im Dreieck mit Catanea und Syracus liegt, in jener Weizenebene, bin ich geboren und stamme aus einer gräflichen Familie, die ihren Stammbaum von den Normannen ableitet. Mein Vater, der völlig in den Ideen aufgewachsen war, die 1789 in Frankreich in die Wirklichkeit traten, lächelte stets sowohl über den Conte, als über die Normannenabstammung, während die Mutter, völlig Sicilianerin in ihrer Bildung oder vielmehr Nichtbildung der damaligen Zeit, um so mehr Gewicht darauf legte. Ich verlor sie bald, und als ich mit meinem vollendeten 17. Jahre aus Paris zurückkehrte, hatte ich den Vater in seinen Anschauungen fast überholt, so daß ich, als er bald darauf starb, unter den Männern meines Standes ziemlich vereinsamt dastand und mit ihnen sehr wenig innere Anknüpfungspunkte hatte. Denn sie waren damals noch stark Blutsaristokraten und hatten auch Aufforderung dazu, weil ihnen dadurch die reichen Pfründen des Landes, wie die des Klosters in Catanea, zu Gebote standen, das noch heute nur sicilische Edelleute aufnimmt, welche von bürgerlichen Klosterbrüdern bedient werden. Ich widmete mich in dieser Lage mit Vorliebe der Pflege meiner Besitzungen und sammelte dadurch und durch Studien der politischen Oekonomie Kenntnisse, die mir vielleicht von großem Nutzen gewesen sein würden, wenn mein Geschick es nicht anders gewollt hätte.

Ich lernte nämlich, kurz nach erlangter Großjährigkeit, auf einem Ausfluge zu den Höhen des Aetna ein Mädchen kennen, die ihren um Vieles älteren Bruder, einen Geistlichen, zu einem Kranken geleitete. Es war in einem jener lieblichen, bewaldeten Einschnitte, in denen für Sicilien ein köstlicher Schatz, eine Quelle entspringt, die bei uns, wie Sie wissen, nach Pennen vertheilt wird und dem Besitzer des Grund und Bodens gehört, der davon seinen Gewinn zieht.

Das Mädchen, damals vierzehn Jahre alt, war zur Quelle hinabgestiegen und brachte dem Bruder, zu dem ich mich eben gesellte, die gefüllte Schale, die dieser mit sicilianischer Höflichkeit mir anbot. Das Kind erinnerte an die kredenzende Hebe. Leicht wie eine Gazelle, stieg sie wieder hinab und kam herauf, sichtbar erfreut, sich nützlich und dienstbar erweisen zu können. Zu meinem Erstaunen sprach sie nicht das sicilianische Patois, sondern ein gutes, wenn auch noch etwas accentuirtes Italienisch, und zeigte auch im Aeußeren etwas Zarteres und Feineres, als Mädchen ihres Standes, obgleich ihr Anzug, wenn auch äußerst rein und von besserem Stoff, doch im Ganzen über die kleidsame Tracht der jungen Bauermädchen nicht hinausging. Ich erfuhr bald von dem geistlichen Herrn, während das Kind ab und zu ging, daß es eine vater- und mutterlose Waise sei, daß zwei andere Brüder als Bauern ihr geringes Erbe mit verwalteten und daß er es erzogen und unterrichtet habe.

‚Ich denke‘ sagte er, ,das bischen Wissen soll dem Mädchen nicht schaden, denn,‘ setzte er lächelnd hinzu, ,es geht nicht so weit, daß es sich als Frau eines Landmannes in ihrem Stande unglücklich fühlen würde.‘

Ich begleitete meine neue Bekanntschaft auf ihrem Wege. Bei uns Südländern ist Blick, Begierde und Besitz ein Moment. Nicht mit Unrecht stellen deshalb unsere Voreltern, die Griechen, [420] die Liebe als einen furor insanis, eine Wuth, eine Krankheit dar, wie eine Art Strafe der Venus, die, wie die Phädra klagt, ‚das innerste Mark ergreifend‘, ihre Verwüstungen anrichtet. Italiener in meinem ganzen Sein und Empfinden, hatte ich keine Ruhe, bis ich nach wenigen Monaten schon mit Nazarena, so hieß meine Geliebte, den kirchlichen Segen als Gatte erhielt.

Die Brüder, freie, aber arme Bauern, die nur einem Kloster einen mäßigen Zins entrichteten, waren mit der Partie nicht einverstanden, schmollten deshalb mit ihrem älteren Bruder, dem Geistlichen, und stellten sich erst zufrieden, als sie sich überzeugt hatten, daß ich nicht, wie der gesammte sicilische Adel, meine Aecker verpachtet hatte, sondern einen guten Theil derselben selbst bewirthschaftete, also gewissermaßen zu ihrem Stande gehörte.

Noch heute bebt jeder Nerv in mir, wenn ich an jene seligen ersten Monate meiner Ehe zurückdenke. Ich unterrichtete meine Nazarena. Frauen lernen zumeist mit dem Herzen. Sie haben Alles durch die Liebe, und ich war erstaunt, wie meine Gattin dasjenige, was ich ihr aus unsern Dichtern vorlas, schon in sich trug und ein Verständniß dafür gar nicht erst zu erschließen war. Das Kind wuchs in meinen Händen geistig und körperlich zu einer freien, edlen, hohen Gestalt empor; wie vom Kusse des Frühlings die Erde befruchtet schwillt und sprießt, so drängte sich in ihr geistige Blüthe auf Blüthe, körperlicher Reiz auf Reiz üppig hervor zu blendender und doch erwärmender Gluth und Pracht. Der Böse versucht uns gebrechliche Menschen in vielen Gestalten und auf mannigfachen Wegen, aber in keiner Weise leichter und gefährlicher, als durch die Eitelkeit. Es ließ mir keine Ruhe, ich mußte meinen Reichthum der Welt zeigen. Ich gab meine Güter in Pacht und verließ mit Nazarena die Insel, durchreiste mit ihr alle Residenzen Italiens, sog mit Entzücken die Huldigungen ein, die man ihr darbrachte, schwelgte in dem Neide derer, die sie bewunderten, setzte schließlich Paris in Aufruhr und verließ es erst, als ich zum ersten Male vernahm, daß ich nicht aus meiner Persönlichkeit heraus, sondern als Mann der schönen Frau bezeichnet wurde. Es war eine deutsche Baronin, die mich darüber in’s Klare brachte, eine Wienerin, die durch ihren Gatten der kaiserlichen Gesandtschaft angehörte. Sie war in Allem ein Seitenstück zu Nazarena, wenn man den Norden neben dem Süden darstellen will. Groß, schlank, blendend weiß, blond sah sie aus veilchenblauen Augen bald schmachtend, bald feurig, bald himmlisch unschuldig, bald so klug, daß ihr Blick bis in die Tiefen des Herzens ging. Es war die klügste Person, die mir in meinem Leben begegnet ist, und, fußend auf mein entzündliches Herz und die Vorliebe, die wir Südländer, schon des Gegensatzes wegen, für die Blondinen und das Schmachtende ihres ganzen Wesens haben, hinter dem sich freilich die heißeste Gluth verbirgt, schien sie es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, die grandiose Sicilianerin vor den Augen aller Welt in ihrem heiligsten Besitzthum auszustechen und den Streit, der sich über die Vorzüge der beiden schönen Frauen in der Gesellschaft entsponnen hatte, praktisch zu lösen.

Glücklicher Weise, kann ich sagen, starb ihr Mann, und sie verließ Paris, um nach Wien zurückzukehren, als sie ihres Sieges schon halb sicher war. Die harmlose Nazarena hatte in ihrer Munterkeit und Reinheit keine Ahnungen von den inneren Schwankungen ihres Gatten, ja sie, der es gar nicht einfiel, geistig mit der hochgebildeten Baronin zu rivalisiren, freute sich unserer Unterhaltungen und ermunterte noch dazu, stolz auf ihren Mann und die Gewandtheit, die er entwickelte.

Mit der Abreise der Baronin trat meine Gattin immer mehr in den Vordergrund, und damit auch immer deutlicher der Umstand hervor, auf den jene mich aufmerksam gemacht hatte; ich war der Mann der schönen Gräfin so lange, bis ich eines Tages mit ihr nach einem der berühmtesten deutschen Bäder aufbrach und, wieder zu mir gekommen, ernstlich beschloß, ganz meiner Gattin zu leben.

Da faßte mich ein anderer Dämon: das Spiel.“

Das Gesicht des Mannes veränderte sich, ein Zug der Selbstverachtung flog darüber hin. „Lassen Sie mich kurz sein,“ fuhr er fort. „O Gott! wenn in dies kranke, gequälte Gehirn,“ rief er aus, „die Erinnerung daran zurückkehrt, wie ich Tausende auf Tausende verlor, wie ich spät Nachts, die bittersten Vorwürfe im Herzen, zur Frau zurückkehrte, wie sie dann wie ein Kind mich empfing, immer freudig, immer freundlich, wie sie sogar, als gälte es, mir eine herzliche Freude machen, alle Juwelen, die ich ihr geschenkt, hergab, um sie zu verkaufen und – o Gott! – zu verspielen.“

Der alte Herr litt sichtbar. Ich faßte seine Hand und sagte ihm einige beruhigende, aus seiner damaligen Jugend und Unerfahrenheit hergenommene entschuldigende Worte. Aber er zog seine Hand aus der meinigen, als wäre er der Berührung nicht werth, und rief schmerzlich: „Wenn ich jetzt auf meinem harten Lager zuweilen in heißem Gebet auf einen Augenblick Vergebung zu finden hoffe, dann tritt mir dies freundliche, liebevolle Gesicht mit den Juwelen entgegen, und ich bin vernichtet!“

„Ich hatte,“ fuhr er nach einer Pause fort, „meine Besitzungen verkaufen lassen müssen und noch so viel gerettet, daß ich einige Jahre bescheiden leben und vielleicht im Staatsdienst Anstellung und Unterhalt finden konnte. In höchster Verzweiflung entdeckte ich dies Alles meiner Frau. Da brach sie in lauten Jubel aus: ,Wir gehen also wieder nach Sicilien, in mein Vaterland, es wird sich doch eine Hütte für uns erwerben lassen; ich arbeite für Dich,‘ rief sie freudestrahlend, und indem sie mich halb verschämt mit dem schönsten Geständniß überraschte und mir in die Arme fiel, ,ich arbeite für ein Drittes! “

„Gott sei Dank!“ rief ich aus beklommener Brust, „Sie sind gerettet!“

„Auch ich glaubte es damals,“ fuhr er fort. „Mir lebte ein weitläufiger, aber wohlwollender Verwandter in einer der kleinen deutschen Residenzen als Gesandter. Er war der Mann, mich zu den diplomatischen Studien, von denen ich eine Zukunft erwartete, anzuleiten. Ich zog zu ihm und begann nach seinem Rathe in stiller Eingezogenheit die Lücken meines Wissens auszufüllen. Unglücklicher Weise wurde er schon nach wenigen Monaten zurückberufen, und nun nahm sich meiner vorzugsweise ein sehr unterrichteter Mann, ein französischer Gesandtsschaftssecretair, an, dem aus natürlicher Dankbarkeit auch meine Frau mit mehr Vertrauen als anderen Männern begegnete. Leider hatte das herrliche Kind eine große Freude an Überraschungen, und da in dem jungen Mann ein vortrefflicher Zeichner von uns erkannt war und sie bemerkt hatte, daß ich an seinen Zeichnungen großes Gefallen fand, war es ihr, wie ich dies gleich sagen will, obgleich ich erst nach Jahren darüber in’s Klare gelangte, in den Sinn gekommen, sich von ihm heimlich unterrichten zu lassen und mich dann mit ihren Werken, sobald sie nur einige Vollendung erlangt hätten, zu überraschen.

(Schluß folgt.)




Ein Besuch beim Altmeister Goethe in Weimar.
Von Ernst Förster.

Im Sommer 1824 war ich mit meinem Freunde Carl Hermann in Bonn beschäftigt, die Aula der Universität nach den Cartons von Cornelius in Fresco auszumalen. Es war die Zeit der Demagogenriecherei, welche die preußischen Gefängnisse bevölkerte. So wurde denn auch ich eines schönen Vormittags vom Malgerüste weg auf die Polizeidirection citirt und von da hinter Schloß und Riegel gebracht, weil ich, zu meiner nicht geringen Ueberraschung, Mitglied eines geheimen, hochverräterischen Bundes sein sollte. Einer der in Köpenik sitzenden Gefangenen, hieß es, habe mich denuncirt. Zum Glück konnte ich meine völlige Unschuld an dem mir angesonnenen Vergehen den Universitätsautoritäten alsbald darthun, so daß es dem berühmten Niebuhr in Verbindung mit dem Universitätscurator, Geh. Rath Rehfues, gelang, meine Befreiung beim königlichen Landrathe auszuwirken.

Meine Gefangenschaft war also eine sehr kurze, sollte mir aber auch anderweit zu Gute kommen. Als ich, schon am andern Morgen, wieder vor meiner nassen Kalkwand saß, empfing ich viele Besuche von Freunden und Fremden, unter andern auch von dem Professor d’Alton, dem geistvollen Kunsthistoriker. Ihm verdankte ich, als ich Bonn im Herbste 1825 verließ, um Cornelius nach

[421]

Ein Besuch bei Goethe.
Originalzeichnung von Eugen Neureuther.

München zu folgen, und meinen Weg über Weimar wählte, was mir unschätzbar war – einen Empfehlungsbrief an Goethe. Das Gefühl, das mich einst nach der Schweiz und nach den Tyroler Alpen gezogen, durchdrang und durchzitterte mich mit ungleich heftigern Schlägen des Herzens, als ich das Papier in meiner Hand hatte, das mir den Weg öffnete zu der höchsten Geisteshöhe unserer Nation und Zeit. Denn ich gestehe, daß vor meinen Augen ein Mann, der mit solcher Uebermacht auf alle Kreise des Lebens und alle bedeutsamen Bestrebungen eingewirkt, mit einem mythologischen Zauber umgeben und mir stets unnahbar erschienen war. Obschon ich, meiner Gewohnheit gemäß, zu Fuß den Rhein hinauf durch Hessen und Thüringen wanderte und nicht mit Windeseile den Weg zurücklegte, war es mir doch, als hätt’ ich Flügel an den Fersen.

Am 5. November kam ich in Weimar an, meldete mich am 6. früh schriftlich und mit Übersendung des d’Alton’schen Briefes bei Goethe und erhielt die Einladung, um 12 Uhr bei ihm zu sein. Ich nahm eine von mir gefertigte Zeichnung nach dem Frescogemälde der Theologie, das ich mit Hermann und einem andern Schüler von Cornelius ausgeführt, zu mir und ging über die geweihete Schwelle.

Mit einer namenlosen Empfindung, gemischt aus höchster Freude und hochgesteigerter Angst, die selbst durch das „Salve“ des Eingangs nur wenig gemindert wurde, trat ich in das große [422] Empfangzimmer. Wußte ich doch, daß der erhabene Dichter des Faust zugleich der kühle Beurtheiler des Cornelius’schen Faust war, der diesen mit dem von Netzsch, ja fast mit dem von Delacroix auf eine Stufe gestellt, und der an den Nibelungen meines großen Meisters nur „den alterthümlich tapfern Sinn und die unglaubliche technische Fertigkeit“ zu rühmen gewußt. Und doch war er der große, von tausend und abertausend Zungen gepriesene und von mir mit tiefster Ehrfurcht bewunderte Dichterfürst!

Ich hatte erwartet, ihn auf einem Stuhle, wie den König auf einem Throne, sitzend zu finden, und war darauf gefaßt, in bescheidener Entfernung an der Thür stehen bleiben zu müssen. Wie war ich überrascht und plötzlich aller Sorgen ledig, als er mit offenen Armen mir entgegenkam, mich mit beiden Händen erfaßte und auf das Herzlichste willkommen hieß! Nach den Vorfragen über d’Alton’s Befinden ging er sogleich auf die Kunstunternehmung in Bonn über und war hocherfreut, daß ich meine Antwort mit einer Zeichnung begleiten konnte.

Es war ein eigenthümlicher Zug im Charakter Goethe’s, daß er die vornehme Zurückhaltung, die er in Gesellschaft und Fremden von Auszeichnung gegenüber beobachtete, vor jüngern Leuten gänzlich fallen lassen, sich so zu sagen mit ihnen auf eine Linie stellen, ja sogar von ihnen Belehrung erbitten konnte. Auf mich machte dies Verhalten den wohlthuendsten Eindruck, alle Befangenheit war verschwunden, meine Zunge war gelöst.

Ich setzte ihm nun den von Cornelius angeregten, von der preußischen Regierung genehmigten Plan, die Universiläts-Aula in Bonn mit historischen Darstellungen der vier Facultäten – Theologie, Philosophie, Jurisprudenz und Medicin – in Fresco auszuschmücken, auseinander, berichtete, wie mit der Theologie der Anfang gemacht worden, die Cornelius dem Maler Carl Hermann aus Dresden übertragen, wobei er mich und noch einen seiner Schüler jenem als Gehülfen beigegeben, in der Art, daß uns in der Ausführung einzelner Gruppen eine Art Selbstständigkeit gewahrt blieb; ein Umstand, den Goethe mit einem fragenden „So?“ anhörte. Darauf gab ich, zuweilen von Goethe durch ein „Hm!“ oder „So, so!“ unterbrochen, die Erklärung der Zeichnung, wie die allegorische Figur auf dem Postament in der Mitte die Theologie vorstelle mit den Genien des Forschens und Glaubens; wie neben ihr, gleich Säulen, die Evangelisten ständen, an die sich, in zwei Reihen sitzend, die Kirchenväter anschlossen, die ich, wie alle dargestellten Personen, namentlich bezeichnen mußte. Dann zeigte ich auf die hervorragenden Erscheinungen in der älteren Kirchengeschichte, auf Sectirer, auf Ordensstifter, die Repräsentanten der Hierarchie (Gregor VII. und Innocenz III.), auf die scholastischen Theologen und den frommen Thomas a Kempis; dann auf der andern Seite auf die Verbreiter des Christenthums, auf die Vertreter der Kirchenreformation von Petrus Waldus, Huß und Wiklef bis auf Luther und seine Zeit- und Kampfgenossen, und die Theologen des 17. Jahrhunderts. Endlich machte ich auf die beiden Gruppen im Vordergrunde aufmerksam, in welchen die Richtung der Gegenwart auf eine Ausgleichung katholischer Gläubigkeit und protestantischen Forschersinns ausgesprochen sein sollte, wozu der alte Herr die allerfreundlichste, aber auch allerungläubigste Miene machte.

„Ein rühmliches Unternehmen,“ sagte nun Goethe, „und mit Eifer und ernstem Studium angefaßt. Man wird sich um die Kirchengeschichte bekümmern müssen, um Sie zu verstehen. Ich habe aber noch mehr Bedenken,“ und damit wandte er sich, um im Saal auf und abgehend weiter zu sprechen. „Die Allegorie ist in der bildenden Kunst nicht zu entbehren, so wenig wie in der Dichtkunst. Es fragt sich aber doch, ob sie hier an der rechten Stelle, oder wenigstens, ob sie in der rechten Form aufgeführt ist. Ist sie farbig, d. h. mit dem Schein des wirklichen Lebens dargestellt?“ Und als ich dies bejahte, fuhr er fort: „Das würde mich stören. Eine Marmorgruppe an diesem Platze würde den Gedanken aussprechen, ohne in Conflict zu gerathen mit der Gesellschaft wirklicher Personen, die sie umgeben. – Auch bei der Gegenwart habe ich einige Scrupel. Das Werdende entzieht sich der unbefangenen Wahrnehmung; nur das Gewordene fällt in die verläßlichere Anschauung. Die Gruppe der ausgesöhnten Confessionen gleicht mehr einem frommen Wunsche, als einer Thatsache.“

Wohl über eine Stunde war im Sehen, Sprechen und Hören vergangen, als Goethe das Zeichen der eingetretenen Eßzeit und damit der Besuch sein Ende erhielt. Freundlich reichte er mir zum Abschied die Hand und fügte hinzu: „Morgen erlebe ich mein fünfzigjähriges Dienstjubiläum. Ich weiß nicht, was die Freunde vorhaben, und will es denn in aller Bescheidenheit erwarten. Ich werde mich freuen, Sie unter ihnen zu sehen.“

Wie ich den Gasthof erreicht, wußte ich nicht. Ich war auf einmal in meinem Zimmer und wiederholte mir das Erlebte von Minute zu Minute, um sicher zu sein, es sei kein Traum. Also Goethe gesehen, gesprochen und von ihm sogar zum Wiederbesuch aufgefordert! Für das Glück war mir das Zimmer zu eng: ich stürmte hinaus in und durch den Park, vielleicht der beseligtste Mensch damals in Weimar.

Ich hätte gern meine Freude Andern mitgetheilt, hätte ich nur gewußt, wem. Da fiel mir ein, sie in eine Form zu fassen, in der ich sie auf den Jubiläumstisch legen könnte. Wir hatten – eine heitere Gesellschaft in Bonn - im August d. J. Goethe’s Geburtstag auf dem Drachenfels gefeiert, und davon ließ ich den Vater Rhein dem Altmeister Bericht erstatten und nahm das Gedicht zu mir, als ich am Morgen des 7. November in’s Haus des Jubelseniors ging.

Hier fand ich eine auserlesene Gesellschaft: Frauen und Jungfrauen Weimars im Festkleid, ausgezeichnete Männer aus Weimar und Jena, und in der Tiefe des Saales einen Tisch mit kostbaren Geschenken, vornehmlich weiblichen Arbeiten. Hier sah ich auch Eckermann wieder, der mich während des Sommers in Bonn besucht und mir nun mit großer Freundlichkeit seine Dienste für Weimar anbot. Als Goethe – wenn ich mich recht erinnere, begleitet von seinem Sohn, seiner Schwiegertochter und seinen beiden Enkeln – eingetreten, empfing ihn ein vierstimmiger Festgesang, in welchem Frau Eberwein als Ilm die Chorführerin war. Und danach begrüßte er uns Alle einzeln mit Wort und Händedruck und besah mit kindlicher Freude die Bescheerung.

Wo war nur der große, unnahbare Mensch hingekommen, als der er nach so vielen Berichten vor meiner Seele gestanden? Selbst den Zug göttlicher Ironie in Rauch’s Büste suchte ich vergebens im lebendigen Original. Ist es schon hocherfreuend und unter Umständen innig rührend, wenn Menschen, die durch Geburt und Rang weit über uns stehen, sich mit der Aeußerung ihrer Empfindungen und Gedanken, mit Neigungen und Gewohnheiten uns gleichstellen, so steigert sich die Freude zur andächtigen Bewunderung, wenn ein Mann, der durch sein Verdienst, durch seinen selbsterworbenen Werth ein Fürst geworden im Reiche der Geister, dem Alle huldigen, sich giebt wie der Aermsten einer, seines Reichthums wie seiner Vorzüge unbewußt. So war Goethe an diesem Festmorgen, so menschlich liebenswürdig, daß man weder an den Minister, noch an den gefeierten Dichter erinnert wurde.

Dem Festessen im Stadthaus, bei welchem ich zwischen Frau von Ahlefeldt und Eckermann meinen Platz hatte und wo kein Mangel an Gedichten und Toasten war, folgte eine Aufführung der Iphigenie im Theater, wie ich sie allerdings selbst in Berlin nicht gesehen, so vollkommen in Wahrheit und Lebendigkeit des Ausdrucks wie im richtigen Maß poetischer Haltung; die herrlichste Festgabe für den Dichter.

Eckermann hielt Wort. Er machte mich mit mehreren Künstlerinnen und Künstlern Weimars bekannt und führte mich zuletzt in die großherzogliche Kunstsammlung. Ich sollte aber alle Glanzseiten Weimars kennen lernen. D’Alton hatte mir einen Brief an den Großherzog Carl August mitgegeben, auf dessen Übersendung sogleich eine Einladung erfolgte. Das war nun eigentlich, so zu sagen, eine alte Bekanntschaft, wenn auch nur von einer Seite, von meiner nämlich. Ich hatte den fürstlichen Herrn während meiner Studienzeit in Jena oft genug am Fenster seines Freundes, des Hofapothekers, gesehen und mit meinen Genossen ihm Körner’sche Lieder gesungen; ich war auch mit der gesammten Burschenschaft zur Taufe seines Enkels, des jetzt regierenden Großherzogs, sein Gast gewesen – unbekannter Weise! – und hatte ihn, wenn auch nur in bescheidener Ferne, in Bonn gesehen, als er die Aula besuchte. Nun interessirte er sich sehr für unsere Malereien, und ich mußte ihm mit Hülfe meiner Zeichnung ausführlichen Aufschluß geben. Was ich vorher in Bezug auf Goethe gesagt, fand in vollstem Maße Anwendung auf den Großherzog, bei dem der Fürst so hinter dem Menschen verborgen war, daß man ihn nur im eignen Gedächtniß aufsuchen mußte. Sehr große Lust bezeigte er, auch in Weimar ein Werk [423] der Frescomalerei ausführen zu lasten, was ich denn wohl mit einer etwas verfrühten Freude aufnahm.

Für den 9. November war ich von Goethe zu Mittag geladen. „Ich hoffe,“ sagte er mir beim Eintritt, „Sie heute mit den Männern bekannt zu machen, die bei uns die Kunst repräsentiren.“ Und in der That war bald eine zahlreiche und höchst interessante Gesellschaft versammelt. Goethe stellte mich dem Oberbaurath Coudray vor, der den Gedanken des Großherzogs in Betreff der Fresken begierig auffaßte und, von Goethe lebhaft secundirt, alsbald die neue Begräbnißhalle als den Ort bezeichnete, wo der Malerei eine bedeutsame Thätigkeit angewiesen werden könne.

Man setzte sich nach angewiesenen Plätzen zu Tisch. Der meinige war zwischen Oberbaurath Coudray und Hofrath Heinrich Meyer bekannt bei den Künstlern unter dem Namen „Kunschtmeyer“, den ihm seine alemannisch-schweizerische Aussprache zugezogen. Weiter links saß Goethe’s Schwiegertochter Ottilie, mir gegenüber ihre reizende Schwester, eine junge Dame voll Geist und Lebendigkeit im Gespräch, zwischen Goethe Vater und Sohn. Kein Wort und keine Miene des Mannes konnten mir entgehen, der heute mir bald wie der olympische Zeus, bald wie der Musengott erschien, der alle Herzen fesselte und alle Gedanken entfesselte. Er lenkte zuerst das Gespräch auf den Maler Asmus Carstens, und als ich das Entzücken nicht zurückhielt, das mir dessen Zeichnungen eingeflößt, die ich in der großherzoglichen Kunstsammlung gesehen, sagte er: „Es geht Alles seinen geordneten Gang, und so war es gewiß von guter Vorbedeutung, daß dieser Genius, mit dem man so gern die neue Epoche deutscher Kunst beginnt, sich vor Allem an die Dichter und Denker des klassischen Alterthums gehalten hat.“

„Das hat ihn auch,“ fiel der Hofrath ein, „vor der unglückseligen Nachahmung der altdeutschen Manier bewahrt, die seine Nachfolger sich zur angelegentlichen Pflicht gemacht haben.“

„Und doch,“ bemerkte ich, „ward er angefeindet wie seine Nachfolger; ja, er blieb fast unbekannt im Vaterlande, und erst Cornelius wußte das Herz des Volkes zu treffen, indem er ihm den ,Faust’ vor Augen stellte.“

Goethe nahm die Bemerkung sichtbar wohlgefällig auf, doch fügte er hinzu, Cornelius habe recht gethan, die in seinem Faust gebrauchten, der altdeutschen Kunst entlehnten Formen freier zu verlassen, um sich bei seinen jetzigen mythologischen Aufgaben bewegen zu können. – Da Cornelius sich selbst einmal gegen mich dahin geäußert, daß der Styl durch den Gegenstand der Darstellung bedingt sei und daß er Faust und Nibelungen auch jetzt in keiner andern Ausdruckweise wiedergeben würde, als früher, so theilte ich diese Aeußerung mit. Aber Eckermann fiel mir in’s Wort: „Diese Ansicht scheint auf einer Verwechslung der dichtenden und bildenden Kunst zu beruhen. Bei der unmittelbaren Einwirkung der letztern auf die Sinne machen sich doch sicher andere Gesetze geltend, als wenn nur Phantasie und Vorstellungsvermögen beschäftigt werden.“

„Es ist ein Unterschied,“ bemerkte Goethe, „doch muß ich hier Cornelius beistimmen; denn auch ich hatte Iphigenie und Tasso nicht im Styl von Faust und Götz schreiben können – so wenig, wie umgekehrt.“

Das Gespräch wurde auf eine – vielleicht nur mich – überraschende Weise unterbrochen. An dem einen Ende der Tafel wurde es unruhig, man räusperte sich, gab ein leichtes Zeichen am Glas, und ein vielstimmiger Gesang ward angestimmt. Es gehörte die schöne Sitte, das Mahl mit Gesängen zu würzen, wie mir Eckermann vertraute, zu Goethe’s besonderen Tafelfreuden bei festlichen Gelegenheiten, und so folgte auch heute nach jedem Gange ein Gesang. Unter andern war das Lied angestimmt worden: „Mich ergreift – ich weiß nicht wie – himmlisches Behagen etc.“ Nach Beendigung desselben hub Goethe an: „Man schreibt sonst den Gerüchen die besondere Kraft zu, Erinnerungen zu wecken. Musik und Gesang wirken ebenso nachdrücklich in der gleichen Richtung. So steht jetzt lebhaft der Abend vor mir, für welchen ich das Lied, das man eben sang, gedichtet habe. Es war vor der Abreise unseres Erbprinzen nach Paris, als ein Freundekreis um ihn versammelt war. Schiller hatte für denselben Abend sein bekanntes Lied an den Erbprinzen geschrieben, das wir nach der Rheinweinlied-Melodie sangen; und nun steht der Abend, Schiller, der Kreis der Freunde, der Abschied – Alles, bis auf den kleinsten Zug vor meiner Seele.“

Fast hätte diese Erinnerung eine Adagiostimmung in die Gesellschaft gebracht, und dies zu verhüten, wie mir schien, richtete Frau Ottilie von Goethe die Frage an mich: „Sie haben dem Vater recht interessante, auch für uns interessante Mittheilungen über Ihre und Ihrer Freunde Kunstthätigkeit gemacht; nun erlauben Sie mir eine Frage, die uns Frauen doch noch näher an’s Herz geht: wie leben Sie mit Ihrem Meister, ich meine, wie ist das allgemein menschliche Verhältniß zu ihm?“

„Wie das der Söhne zum Vater,“ antwortete ich. „Viele von uns fühlen sich geradezu als Familienglieder. Viele Abendstunden bringen wir in seinem Hause zu; die Kinder hängen an uns, als wären wir ihre Onkel; wir am Munde des Meisters, der mit wunderbarer Klarheit und Schärfe spricht, von Rom erzählt, von seinen Erlebnissen und seiner Bildungsgeschichte, von alten und neuen Meistern, von allem, was das Herz bewegt und den Geist erhebt. Wir hängen Alle an ihm mit der innigsten Verehrung. Da er zu seinem Namenstag (Ende Junius) immer in München war, so haben wir den Tag des H. Sylvester am Jahresschluß gewählt, um ihm ein Zeichen unseres Dankes zu geben. Da sind wir denn jedesmal mit Fackeln, Musik und Gesang vor sein Haus gezogen und haben unser Herz ausgeschüttet, und ganz Düsseldorf hat daran Theil genommen, als wären wir eine Familie. Und jetzt,“ fuhr ich fort, „ist doch dieses Band zerrissen: Cornelius ist fortgezogen; wir Alle ziehen ihm nach, weil wir uns ein Leben ohne ihn nicht denken können, und Düsseldorf wird sich an Andere anschließen, wie es sich an uns angeschlossen hat.“

„Noch eins,“ nahm Frau Ottilie wieder das Wort, „Sie erwähnen die Frau von Cornelius nicht. Sie ist eine Römerin; hält sie sich vielleicht zurück?“

„Durchaus nicht,“ erwiderte ich, „sie ist freundlich und gütig gegen uns Alle, namentlich gegen die näheren Hausfreunde. Sie ist eine glühende Römerin, hat aber doch Deutschland so lieb gewonnen, daß sie jetzt schon ganz leidlich deutsch spricht. Wir verehren sie als die Frau unseres Meisters, und als sie im letztvergangenen Mai von einem langwierigen und sehr gefährlichen Krankenlager erstanden, haben wir ihre Genesung mit einem Waldfest gefeiert, bei welchem es ungewiß bleiben muß, ob poetische Jugendlust, ob freudige Theilnahme oder der Frühling das Haupttriebrad war. Hatten doch Mehrere von uns zur heitern Verherrlichung dieses ländlichen Festes schnell das Reiten gelernt!“

Das brachte denn selbst meinen gestrengen Nachbar, den Hofrath Meyer, in eine heitere Stimmung. Bisher hatte er die feindliche Stellung, die er der neuen deutschen Kunst gegenüber eingenommen, wenn auch nicht aufgedeckt, doch behauptet. Ich weiß nicht, mochte ihm der Gedanke gekommen sein, daß doch nicht Alle, die der neuen Fahne folgen, zu den verhaßten „Nazarenern“ gehören dürften; mochten die letztern Mitteilungen ihn milder gestimmt haben – kurz, als jetzt Champagner eingeschenkt wurde, Goethe das Glas erhob und gegen mich gewendet sagte: „Lassen Sie uns auf das Wohl Ihres Meisters und einen segensreichen Erfolg seines Wirkens anstoßen!“ und nun Eckermann und mehrere der Nahesitzenden dem gegebenen Beispiele folgten, und da Goethe hinzufügte: „Grüßen Sie Ihren Meister herzlich von mir und sagen Sie ihm, daß mich Alles gefreut habe, was ich durch Sie von ihm und seiner Schule erfahren,“ wandte sich auch Meyer mit seinem Glase zu mir, stieß an und fügte – wie mir schien, in einem andern als dem bisher gebrauchten trockenen und harten Tone – hinzu: „Sagen Sie’s Ihrem Meister, daß ich mit Ihnen hier auf sein Wohl ein Glas Champagner geleert, ’s ist ernstlich gemeint!“ (was ich denn natürlich nicht nur versprochen, sondern auch gehalten habe.) Und so hatte es den Anschein, als ob es der Rede und Widerrede gelungen sei, Vorurtheile zu zerstreuen, wo sie am festesten Fuß gefaßt. Nach dem Dessert setzte sich Hummel an’s Instrument und gab dem kleinen Feste mit einer heitern und reichen Phantasie einen glänzenden Schluß.

Goethe hatte mir von seinem Teller eine kleine Paste mit einer Minerva gereicht, „zum Gedächtniß der Gottheit, in deren Tempel wir uns begegnet“; nach Tische aber sagte er: „Ich habe Ihnen ein etwas zerbrechlich Andenken geboten; es dürfte besser lassen, wenn ich es mit einem dauerhafteren begleitete.“ Und damit legte er eine Medaille mit seinem Bildniß (von Bory) in meine Hände.

Schon über Tische hatte es mich vielfach beschäftigt, wie ich mich wohl für so viel auszeichnende Güte dankbar beweisen konnte, [424] und so war ich auf den Gedanken gekommen, die Enkel Goethe’s zu zeichnen. Ich wandte mich deshalb an Frau Ottilie v. Goethe und fand für meinen Antrag die freundlichste Aufnahme; schon am nächsten Morgen konnte ich die Arbeit beginnen.

Der Aufenthalt in Weimar wurde je länger, je schöner. Durch Goethe hatte ich zahlreiche Bekanntschaften gemacht, deren Reihe sich wie von selbst vergrößerte, und ich genoß die gerühmte und mir aus früheren Zeiten wohlbekannte thüringische Gastfreundschaft von Neuem im vollsten Maße. Sollte ich sagen, wo ich am öftersten eingekehrt, so müßte ich vornehmlich Fräulein Seidler und Fräulein Julie v. Eglofstein nennen, Beide nicht nur heimisch in allen Kunstgebieten mit Herz und Sinn, sondern selber ausübende Künstlerinnen und Beide von Goethe hochgeschätzt. Große Gastfreundschaft erwiesen mir die Familien Coudray, Günther, Froriep, Röhr, Stark und viele andere.

Am 13. November war ich wieder zu Goethe an den Mittagtisch geladen. Diesmal war außer mir kein Fremder zugegen, als Oberbaurath Coudray und Eckermann.

Er hatte mich bitten lassen, die Zeichnung der „Theologie“ wieder mitzubringen, und noch einmal mußte ich vor der kleinen Versammlung über das Ganze wie über jeden kleinsten Theil ausführlich Rechenschaft geben. Die Scene steht noch vor mir in heiterer Erinnerung. Coudray mochte mehr das Ganze überschauen, während Eckermann zwischen jedem Strich den Stein der Weisen zu suchen schien. Frau Ottilie, die mit den Knaben herzugetreten war, wußte auf die liebenswürdigste Weise durch Fragen meine Beredsamkeit zu reizen, und Goethe, in besonders behaglicher und höchst gemüthlicher Stimmung, gab dem Gespräche mit Wort und Blick die Richtung und theilte, wie der Geber alles Guten, aus sonnenumglänztem Wolkensitz, mit würdevoller Freundlichkeit, Belehrung und Lob aus.

Coudray bekümmerte sich viel um das Technische der Frescomalerei, die ja damals erst wieder durch Cornelius in Deutschland in Uebung gebracht worden. Eckermann äußerte sich sehr erfreut darüber, daß von einem so kleinen Blatt, wie meine Zeichnung, so viel zu lernen sei, und frug, ob uns wohl überall Bildnisse zu Gebote gestanden hätten, was denn freilich, namentlich in Betreff der Evangelisten und Kirchenväter, verneint werden mußte. Bei historischen Gemälden, meinte er, komme doch sehr viel auf die historische Wahrheit an, weshalb er denn auch eine große Scheu vor Anachronismen und dergleichen Fehlern habe. An die Zusammenstellung von Heiligen aus verschiedenen Jahrhunderten habe man sich allerdings gewöhnt durch die Altargemälde; aber die Reformatoren in Einem Raum zu versammeln mit den Aposteln und Kirchenvätern, komme ihm doch gewagt vor; mehr aber noch, daß man durch die Arcaden des Saales in’s Freie und zugleich auf Rom, auf das Siebengebirg bei Bonn und auf Wittenberg sehe. Aber Goethe fiel ihm in’s Wort und sagte: „Die Herren in Düsseldorf scheinen sich an den Ausspruch Schiller’s zu halten: ,Die Kunst ist eine Fabel.‘ Und sie haben nicht ganz Unrecht! Es würde uns wenig von der Kunst übrig bleiben, wenn wir ausschließen wollten, was sich nicht fassen und begreifen läßt, wie das tägliche Leben.“

Frau Ottilie lenkte jetzt durch eine neue Betrachtung unter dem Beifall des alten Herrn das Gespräch auf eine andere Seite. „Sonst bei Gemälden,“ sagte sie, „bin ich gewöhnt, die dargestellten Personen in Beziehung auf einander zu sehen, unmittelbar oder wenigstens mittelbar. Hier sind so viele Männer in Einem Raum versammelt; hier und da sehe ich zwei, drei, vier zu einer Gruppe vereinigt, aber jede steht für sich, sie lesen und sprechen, ohne sich um den Nachbar zu bekümmern – und doch stört es mich nicht; ich finde es ganz natürlich. Das Bild kommt mir vor wie eine Bibliothek, in der Evangelisten und Kirchenväter, Protestanten und Katholiken mit ihrem ganzen geistigen Gehalt, gut eingebunden, friedlich neben einander stehen und ohne sich gegenseitig in ihren Gedanken zu unterbrechen.“

„Nun,“ meinte Goethe, „das läßt sich hören! Und wenn es sich denn einmal um Gedanken handelt in dem Bilde, so habe ich auch noch eine Frage an unsern jungen Freund. Sie haben mir,“ wandte er sich an mich, „Auskunft gegeben über die beiden Genien zu Seiten der allegorischen Mittelfigur. Ich sehe, daß sie Tafeln in ihren Händen haben. Bei den Evangelisten, den Kirchenvätern, bei Luther ist über den Inhalt der Bücher, die sie halten, kein Zweifel; aber was bedeuten die Tafeln ohne Inschrift in den Händen der geflügelten Knaben?“

„Es sind, wenn ich mich von meinem Besuch in Bonn her recht erinnere,“ nahm Eckermann das Wort, „Sprüche darauf geschrieben; doch weiß ich nicht mehr welche.“

„An den Tafeln,“ sagte ich, „hängt ein Stück lustiger Künstlergeschichte. Die Genien sollen die beiden Elemente der Theologie, Glauben und Forschen, repräsentiren. Um das deutlicher zu bezeichnen, hatte ihnen Hermann Tafeln in die Hand gegeben und Bibelsprüche darauf geschrieben. Auf der einen stand: ‚Selig die nicht sehen und doch glauben;’ auf der andern: ,Prüfet alles und das Beste behaltet.’ Ich weiß nicht, ob von katholischer oder von protestantischer Seite deshalb eine Mittheilung an’s Ministerium nach Berlin gemacht worden war; kurz Hermann bekam, ich glaube durch das Universitäts-Curatorium, den Auftrag, die Sprüche zu löschen. Er weigerte sich, weil, wie Ew. Excellenz eben auch bemerkten, es unverständlich, ja lächerlich herauskäme, wenn die Jungen leere Tafeln hielten. Man ließ es geschehen, bis vor Kurzem der Besuch des Königs von Preußen in Bonn angekündigt wurde. Daß er in die Aula zu gehen gebeten werden müßte, unterlag bei den Häuptern der Hochschule keinem Zweifel. Aber die bedenklichen Sprüche durfte er nicht finden. Der Auftrag sie zu löschen wurde wiederholt. Vergebens! ‚Ich kann meine eignen Gedanken nicht vernichten oder verstümmeln,‘ sagte Hermann. Täglich wurde nachgesehen: die Sprüche standen wie in Erz gegossen. Endlich am Tage der erwarteten Ankunft des Königs kam ganz früh schon Prof. d’Alton, und da er die Sprüche noch vorfand, stellte er ein Entweder Oder, das mich zu einem raschen Entschlusse brachte. ‚Wir können den König nicht zu Ihnen führen,’ sagte unser besorgter Freund, ‚wenn er nicht sieht, daß sein durch das Ministerium ausgesprochener Wille von Ihnen respectirt wird.‘ Hermann blieb unbeweglich. Der Moment war peinlich. Die Herren alle meinten es so gut mit uns, und andererseits war am Besuch des Königs so viel gelegen; auch wußte ich recht gut, daß Cornelius die Festigkeit in diesem Falle nicht gut heißen würde; ich sah Hermann fragend an. ‚Ich kann es nicht thun,’ sagte er. Das gab mir den Pinsel in die Hand, und die Sprüche waren verschwunden. Eine Stunde danach trat, begleitet von dem Curator und den Professoren der Universität, Friedrich Wilhelm III. ein und widmete der Betrachtung unsers Bildes etwa fünf bis sechs Minuten. Die gefährlichen Täfelchen schien er gar nicht zu bemerken, sonst hätte er wohl auch, wie Ew. Excellenz, gefragt: Warum steht nichts darauf? “

Die Geschichte schien Goethe zu belustigen. „Und doch,“ sagte er, „sind wir so oft genöthigt, das Gute fahren zu lassen, um das Bessere zu retten.“

Inzwischen hatte ich meine Mappe mit verschiedenen Bildnissen aufgeschlagen, und Goethe betrachtete sie mit psychologischem und ästhetischem Interesse. Unter diesen sah er plötzlich die Bildnisse seiner Enkel. Es war eine Ueberraschung (wir hatten ja hinter seinem Rücken operirt) und zwar eine gelungene; denn er hatte eine herzliche Freude daran, die sich steigerte, als ich ihn bat, die Zeichnung gütig von mir anzunehmen.[1]

Ich hatte bisher Goethe zuerst mir allein gegenüber gesehen, dann in festlicher, fast feierlicher Versammlung, dann wiederum als freundlichen Wirth unter zahlreichen Freunden und Verehrern; heut sollte ich ihn im trauten Familienkreise kennen lernen. Ueberall und immer derselbe, war mir’s doch, als ob jedesmal der Nachdruck auf einem andern Zug seines Charakters läge. Heute war es die Heiterkeit und gute Laune selbst und ließ sich ganz gehen. Mehr als bei dem festlichen Mahl zog er seinen Sohn in’s Gespräch; gegen die Schwiegertochter war er voll zarter Aufmerksamkeit und mit ihrer Schwester sprach er am liebsten im Tone des leichten, reizenden Humors; äußerst liebreich war er gegen die Enkel. Mich veranlaßte er vom Leben und Charakter der Bevölkerung des Niederrheins, ganz besonders aber von den Carnevalslustbarkeiten in Köln und Düsseldorf zu erzählen; dann lenkte er auf Baiern über, von dem er – „nach den Mitteilungen seiner [425] Freunde“ – im Gegensatz gegen die lebhaften Rheinlande wenig für die Kunst erwartete. „Inzwischen,“ sagte er, „viel kann ein Fürst mit energischem Wollen erreichen.“ Endlich kam er auf sein Lieblingsthema, die Farben, deren Anwendung, Zusammenstellung, Stärke, Mischung, Behandlung und selbst auf die verschiedenen Farbstoffe.

Nach Tische führte er mich noch zu verschiedenen seiner Sammlungen, namentlich den schönen antiken und mittelalterlichen Münzen. Plötzlich sagte er: „Ich will Sie doch noch was zeigen,“ (wirklich, so hat er’s gesagt!) und damit zog er aus einem Fach einige Blätter Radirungen nach Zeichnungen von Carstens. Ich weiß nicht, hatte er mir damit eine Freude machen oder blos wissen wollen, was ich dazu sagen würde, – sie blieben nicht lange Gegenstand der Unterhaltung, da ich sie zu wenig in Uebereinstimmung mit den Originalen fand.

Ich wollte nun Abschied nehmen; da aber Goethe hörte, daß ich den folgenden Tag noch in Weimar bleiben und erst am 15. abreisen würde, forderte er mich auf das Freundlichste auf, ihn noch einmal zu besuchen. Das that ich denn am 14. und ward von ihm mit der gleichen Herzlichkeit, wie bisher, empfangen. Es schien bei ihm Bedürfniß, dem Besuchenden entweder eine Freude zu machen, oder einen wo möglich sichtbaren Stoff der Unterhaltung zu bieten, und so hatte er denn eine Anzahl sehr kunstreicher Papier-Ausschneidereien von der Hand des Fräulein Adele Schopenhauer bereitgelegt und ging sie einzeln, unter Beachtung jeder Kleinigkeit daran, mit mir durch.

Unvergeßlich ist mir der Abschied, bei dem ich noch einmal die ganze Größe des Glücks empfand, in die unmittelbare Nähe dieses Genius gekommen zu sein. Als wäre er der Beschenkte, Bereicherte, sprach er zu mir; er forderte mich auf, ihm von Zeit zu Zeit zu schreiben, und indem er wie bei dem ersten Willkommen, aber noch viel herzlicher, meine Hand mit beiden Händen faßte, gab er mir nebst vielen freundlichen Grüßen seinen väterlichen Reisesegen.

Am 15. November war ich in Jena, am 17. schickte ich ihm das Bildniß seines Freundes Knebel, das ich für ihn gezeichnet. Mir war, als wäre ich vom Gipfel des Montblanc und der weitesten Umschau wieder herabgestiegen in engumgrenzte Thalgründe. Die Erinnerung aber an die Tage in der Höhe hat mein ganzes Leben durchleuchtet.




Auf der Glarner Landsgemeinde.
Ein Bild aus dem Schweizer Staatsleben.

Unsere Zeit ist mannigfachen Freiheitsdranges voll; mit steigendem Erfolge ringt sie nach Lösung der beengenden Fesseln des Mittelalters und nach Geltendmachung der nach Natur und Vernunft dem Menschen angestammten Rechte. Allein wie ein Zaubermärchen kommt es uns vor, wenn wir aus alter Vorzeit hören, wie die freien germanischen Volksstämme in offener Volksversammlung zusammentraten, um Rath und Gericht zu halten, wie sie Schild und Schwert zusammenschlugen, um ihren beifälligen Sinn zu offenbaren, wie sie unter Waffengetöse den selbstgewählten Herzog auf den Schild erhoben und in den Reihen umhertrugen. Das waren, so denkt man, noch urkräftige Zeiten, da galt der freie Mann noch etwas und der Name Volk hatte seine Bedeutung in Recht und That; allein diese Zeiten sind vorüber, kommen nie wieder und sind für uns auf immer unmöglich geworden.

Und doch treten noch heutzutage, wie je vor Alters, Nachkommen der Alemannen in sechs schweizerischen Cantonen zu offener Landsgemeinde zusammen, Rath und Beschluß über den Landeshaushalt zu fassen und ihren obersten Vorstand, den Landamman, sammt Regierung zu wählen. „Zwar die Ritter sind verschwunden, nimmer tönet Speer noch Schild“, aber doch tragen die Appenzeller noch ihr Seitengewehr mit zur Gemeinde, und in den übrigen Ländern stützt sich der Landamman auf das mächtige Landesschwert; noch schwören die versammelten Tausende zum freien Himmel den Landeseid, das Vaterland über Alles zu halten und zu schirmen. Und was die Hauptsache ist, der Wille des Volkes und seine Geltung sind geblieben; schlägt man nicht mehr die Waffen zusammen, so erheben sich doch, feierlich still in Appenzell, mit rauschendem Hoch in Glarus, die Hände, und ihre Mehrheit ist Gesetz.

Diese Landsgemeinde – der uralte Volksthing – ist keine veraltete Ruine, keine geborstene Säule, die über Nacht etwa stürzen kann – sie ist vielmehr ein lebensvolles Staats- und Volksinstitut, das durch seine Dauer bis auf den heutigen Tag seine Existenzfähigkeit bewiesen hat, das aber nicht alt geworden, sondern erst jetzt bestimmt ist, neu erkannt zu werden und, wenigstens in analogen Formen, um sich zu greifen und Eroberungen zu machen. Denn die Freiheit wird nicht alt, sondern nur die Menschen, welche sie nicht begreifen und ertragen, und wenn sich dieselbe im Hochgebirge, in kräftig geschirmtem und zugleich vom Schicksal begünstigtem Asyle, erhalten hat, unerkannt von den blöden Augen und unerspäht von ihren Feinden, so ist sie damit kein heiliger Rock von Trier geworden, sondern vielmehr einem classischen Kunstdenkmale zu vergleichen, das verdient, hervorgegraben zu werden und den Künftigen im Geiste und nicht im Aber- und Wunderglauben zum Beispiel und zur Lehre zu dienen.

Wie schon bemerkt, haben noch sechs Cantone der Schweiz das Institut der Landsgemeinde: Appenzell Außer-Rhoden und Inner-Rhoden, Glarus, Uri, Obwalden und Nidwalden. In dem kleinen Zug ist die Landsgemeinde abgeschafft, in Schwyz mit Bezirkslandsgemeinden vertauscht. Von den erstgenannten Cantonen sind Appenzell Inner-Rhoden, Uri, Obwalden und Nidwalden nicht in allen Stücken geeignet, uns als Vorbild zu dienen, denn in ihnen zeigt sich der demokratische Volksstaat mit starker katholisch-hierarchischer Beimischung versetzt, so daß nicht nur seine Reinheit darunter leidet, sondern daß er überhaupt einer uns hier ferner liegenden ganz besondern Darstellung und Würdigung bedürfte; dagegen sind Appenzell Außer-Rhoden und Glarus ungemischte und unverfälschte Beispiele auf die offene Landsgemeinde gegründeter Volksstaaten und um so mehr geeignet, ihre constitutionelle Organisation als lebensfähige und bemerkenswerthe Verfassungsformen zu vertreten, weil sie alle Errungenschaften der liberalen Schweiz theilen und in Bildung und Wohlstand keinem ihrer eidgenössischen Mitstände nachstehen. Von beiden aber ist wiederum die Glarner Landsgemeinde die lebendigere, dramatischere. Da dieselbe in diesem Jahre außerdem einen sehr interessanten Verlauf nahm, so wähle ich sie, um den Lesern der Gartenlaube ein möglichst anschauliches Bild eines zu Rath und Beschluß versammelten freien Volkes zu zeichnen.

Auf 22. Mai d. J. war das Glarner Volk zur diesjährigen Landsgemeinde entboten. Frühmorgens fuhren in rasch aufeinander folgenden Reihen die Wagen der Hinter- und Unterländer in die Straßen des im engen Alpenthale am Fuße des drohend hereinragenden Glärnisch gelegenen Hauptortes Glarus, und schon vor der angesetzten Zeit wimmelte derselbe von Landleuten, welche sich diesmal besonders zahlreich eingestellt hatten, weil die Tractandenliste der Landsgemeinde höchst wichtige Fragen aufwies. Der Versammlungsplatz in Mitte des Fleckens war zum Empfang der freien Landleute bestens hergerichtet. In weitem Halbkreise zeigten sich die amphitheatralisch angeordneten Bänke des „Ringes“, in dessen Mitte sich die Tribüne des Landammans erhob. Um zehn Uhr hatte sich der Ring schon bis zum Brechen gefüllt. Man zählte 5–6000 Stimmfähige. Nur die vorderste Bank harrte noch der Ankunft sämmtlicher Behörden, welche sie aufzunehmen bestimmt war. Versammlungsort der Behörden war diesmal das Gerichtshaus, weil das Rathhaus, im furchtbaren Brande des Jahres 1862 zerstört, noch seines innern Ausbaues entbehrt. Punkt zehn Uhr setzte sich von dort aus der feierliche Zug der Behörden nach dem Ring in Bewegung. An der Spitze bewegten sich unter den Klängen von Musik zwei Pelotons Scharfschützen und Infanterie in einem gravitätisch langsamen Parademarsch, welcher, dem reglementarischen Schritt der preußischen Regimenter nicht unähnlich, dennoch einen sehr verschiedenen, eigentlich staatsmäßig bürgerlichen Eindruck machte. Es folgten, in die Landesfarben, Roth und Weiß, gekleidet, die Weibel. Der Eine trug etwas vorwärtsgestreckt vor der Brust das Landesschwert, der Zweite das Landesscepter [426] Nun erschien schwarz, mit feierlichen Nebelspaltern, der Landamman und der Landstatthalter, und hinter ihnen der lange Zug der Behörden, Standescommissäre, Rath, Landrath, Gerichte, Geistlichkeit. Nach altem Brauch wird, so lange der Behördenzug sich auf dem Wege befindet, mit allen Glocken geläutet. Im Ring angelangt, nahmen die Behörden nach kurzem, stillem Gebet auf der ersten Bank des Amphitheaters Platz.

Den Beginn des Tages machte, wie immer, die Verlesung des Landsgemeindereglements, des sogen. „Dänibergerbriefes“, welcher den Landleuten bei Strafe einjährigen Verlustes von „Ehr und Gewehr“ Ruhe und Ordnung gebietet. Hierauf bestieg der Landamman, Dr. und Nationalrath Heer von Glarus, die Tribüne und sprach, indem er das Landesschwert ergriff, die feierliche Anrede an die „vertrauten lieben Herren Landleute“. Dann schwor er in die Hände des Landstatthalters den Landammaneid und, wieder auf das Schwert gestützt, sagte er den Landleuten den Landeseid vor. Langsam und feierlich schworen ihn stehend die 5–6000 Gesetzgeber nach: nach bestem Wissen und Gewissen und ohne alle böse Gefährde des Landes Wohl zu beschließen. Eine Handlung von hohem, ergreifendem Ernst und von unvergeßlicher Erinnerung, ein fast wunderbarer Anblick, ein Volk sich selbst Treue schwören zu sehen!

Nach diesem feierlichen Act begann die Tagesordnung. Die Grundlage derselben bildet das den einzelnen Staatsbürgern schon vorher behändigte sogenannte Landsgemeindememorial, welches in regelmäßiger Reihenfolge alle Gesetze und Beschlüsse des Landrathes, der Vollziehungsbehörde, die verfassungsgemäß der Landsgemeinde vorgelegt werden müssen, ferner alle von Gemeinden oder Landleuten an die Landsgemeinde gestellten Anträge enthält. Die Landsgemeinde übt als constitutionelle Attribute folgende Rechte: Sie entscheidet über Annahme, Verwerfung und Revision der Verfassung, sie sanctionirt sämmtliche Gesetze und Staatsverträge, sie verfügt über das Landeseigenthum, sie prüft und genehmigt die Landesrechnung, sie votirt die Steuern, sie creirt die Beamtungen, sie wählt die Regierung, die Beamten und Gerichte, sie ertheilt das Landrecht, d. h. das Staatsbürgerthum. Außer dem Landrath hat jede Behörde und jeder Landmann Initiative d. h. das Recht, an die Landsgemeinde Anträge zu stellen. Im Januar jedes Jahres werden Behörden und Landleute durch amtliche Publication aufgefordert, ihre allfälligen Anträge einzureichen. Die Anträge werden vom Landrath geprüft und, wenn zehn Stimmen sich für dieselben erklären, als erheblich in’s Landsgemeindememorial aufgenommen und mit einem Gutachten des Landrathes begleitet. Unerheblich erklärte Anträge müssen gleichwohl auf Verlangen im Anhang des Memorials an die Landsgemeinde gebracht und können von dieser als erheblich erklärt werden. Die Landsgemeinde debattirt über sämmtliche Tractanden des Memorials; sie kann dieselben abändern und entscheidet mit Stimmenmehrheit.

Das heurige Landsgemeindememorial enthielt nicht weniger als 28 Nummern und zwar Geschäfte aus allen Zweigen der Machtvollkommenheit des souveränen Volkes: Landessteuer, einen Staatsvertrag betreffend Verpfändung von Eisenbahnen, Gesetzesanträge über Wasserrechte, Erbrecht der Unehelichen, Ehesachen, Armenwesen, Veräußerungen von Staatsgut, Beschränkung des Jagdrechtes, Einführung von Hundetaxen, Fleischtaxen etc., kurz eine Geschäftsliste, welche einer großen parlamentarischen Kammer würdig gewesen wäre. Die wichtigsten, alle bisher genannten Fragen überragenden Geschäfte waren jedoch ein Antrag auf Verfassungsrevision und ein Fabrikpolizeigesetz. Also nichts Geringeres, als die Aenderung des konstitutionellen Grundgesetzes und die offene Wunde der Gesellschaft, ein wichtiges Stück Arbeiterfrage, sollte eine Versammlung von 5 – 6000 Männern aller Stände, von Beamten und Geistlichen, von Gelehrten und Ungelehrten, von Bauern und Handwerkern, von Fabrikanten und Arbeitern, endgültig entscheiden.

Sehen wir nun zu, wie sich dieses Heer von Gesetzgebern bei seiner schweren Aufgabe benahm. Der Reihenfolge nach setzte der Landamman die Tractanden des Memorials mit einer kurzen Erläuterung in Discussion. Die Versammlung zeigte sich über jede Frage merkwürdig orientirt. Je nach der Wichtigkeit werden die Geschäfte kürzer oder ausführlicher behandelt. Manche passirten ohne alle Debatte. Bei den meisten meldeten sich sofort die Redner, welche von der Tribüne oder aus dem Ringe „kurz und nervose“ ihre Gesichtspunkte erörterten. Es sprachen hochgebildete Männer, Bauern, Leute aus allen Classen der Gesellschaft; der doctrinäre Styl war vertreten, nicht minder der Volkstribunenstyl, im Ganzen aber herrschten eine Würde, ein parlamentarischer Takt, eine kernige und lichtvolle Faßlichkeit in den Reden, wie sie in keinem konstitutionellen Parlamente besser zu finden sind. Die Fragen wurden erschöpfend und vielseitig behandelt, aber nirgends schweifte man ab oder hielt man sich zu lange auf. Die Zuhörer blieben unermüdlich aufmerksam und lebendig. Wie in der französischen Legislative der Redner hier und da unterbrochen wird, so hörte man auch hier Rufe verschiedener Art: „Gut geredet!“ – „Er hat Recht!“ – „Nein, das wollen wir nicht!“ – Als ein Volksredner etwas zu bitter wurde, rief Einer: „Gut reden kann er, aber er soll auch ,nit wüest’ reden!“ Wurde die Lebendigkeit etwas zu groß, so ermahnte der Landamman zur Ruhe, die Weibel kreisten umher und erhoben besänftigend die Hände: „Ruhig, vertraute Herren Landleute, ruhig, es dauert nicht lang; den dürft Ihr schon hören, der sagt’s Euch, wie man’s nicht besser findet!“ und was der originellen Weibelhöflichkeiten mehr waren. War die Debatte erschöpft, so wurde „Scheiden“ (Abstimmen) verlangt und rasch und ohne Schwanken beschlossen. Es war klar, daß die Leute eine sichere eigene Meinung besaßen und daß sie das Memorial nicht blos in Empfang genommen, sondern auch gelesen hatten. Allein auch das genügt nicht zur Erklärung des bestimmten Urtheils dieser Gemeinde, dazu gehört die lange unentwegte Uebung dieses Volkes, sich selbst zu regieren. Ist doch vor der Tribüne den Knaben ein eigener Platz hergerichtet, wo dieselben unermüdet bis zum Ende sitzen und lauschen. Die Abstimmung geschieht durch das sogenannte Handmehr, und der Landamman giebt in fraglichen Fällen unter Zuziehung anderer Vertrauensmänner nach gewissenhaftem Ermessen, ohne Abzählung, das Mehr ab. Ist das Mehr entschieden und wäre es die wichtigste Frage, so schweigen meist Minderheit und Mehrheit; kein Triumph, keine Klage, ruhig wird fortgefahren in den weiteren Verhandlungen.

In erster Linie wurde die Landesrechnung und die Landessteuer genehmigt und zwar letztere im Betrage von 3‰ Vermögenssteuer und 1 Fr. 50 Cent. Kopfsteuer. Hierauf wurden Abänderungen des Landessteuerwesens, Bestimmungen über den Bezug des Wein- und Branntweinohmgeldes, Verkauf von Landesboden etc. behandelt. Die Jagdzeit wurde zur Schonung der Gemsen und Murmelthiere um einen vollen Monat beschränkt, was bei der Jagdliebhaberei der Aelpler eine starke Concession und Selbstbeschränkung ist. Ferner wurde das Halten von Jagdhunden ganz verboten und zur Verminderung des Ueberflusses von Hunden (die Behörde erklärte ausdrücklich, es geschehe nicht etwa zu Gunsten einer kleinlichen Finanzklauberei) eine Hundetaxe von 5 Fr. für das Thier eingeführt. Bei der Revision der Verordnung über die öffentlichen Tanzbelustigungen mußte abgebrochen werden, weil zum dritten Mal Regen einfiel, und die Erledigung der noch übrig gebliebenen zehn Tractanden wurde auf die Nachgemeinde des folgenden Sonntags verschoben.

Dies war der im Allgemeinen weniger erhebliche Geschäftskreis der Landsgemeinde; schon dieser allein wäre jedoch hinreichend, um die active Theilnahme des Volkes am gesammten Staatshaushalt, wie sie in Glarus stattfindet, zu einer höchst merkwürdigen Thatsache zu stempeln. Wären die Landsgemeinden nicht, so würde man eine solche Thätigkeit des Volkes für unmöglich halten und den Gedanken, ihm eine solche zu übertragen, lachend in das Reich des Absurden verweisen. So aber existirt sie, sie ist da, wirklich und nicht wegzuleugnen; und nicht nur das, sondern sie wird in Wahrheit zum Wohl des Landes ausgeübt. Man wird Niemanden in Glarus finden, der sich bei diesem Zustande nicht wohl befände, und ich kann aus dem Munde der höchstgestellten Glarner bestätigen, daß sie ihre rein demokratische Verfassung für die freieste und zugleich glücklichste der Schweiz halten und dieselbe um keinen Preis mit irgend einer andern vertauschen würden. Ist eine solche Verfassung einmal möglich, so ist sie in der That ein Kleinod, denn sie macht das große Geheimniß zur Wahrheit, daß das Volk politisch stets mündig und die Regierung stets volksthümlich bleibt.

Die Landsgemeinde hat jedoch noch zwei Fragen behandelt, welche sie über den Kreis selbst ihrer gewöhnlichen Thätigkeit erheben und dieses Jahr vorzugsweise würdig machen, daß von ihr auch die Außenwelt Kunde erhalte. Es sind dies die Frage der Verfassungsrevision und das Fabrikpolizeigesetz.

Nach den Zuständen der europäischen Monarchieen sind die [427] Kammern der großen Länder in der Regel froh, wenn es ihnen gelingt, ihre bestehenden Verfassungen zur Geltung zu bringen, und denken nicht so leicht an Revision derselben. Dies ist schon in sämmtlichen einzelnen Staaten der Schweiz anders, denn seit den dreißiger Jahren befinden sich die schweizerischen Cantone in einem so zu sagen permanenten Revisionsprocesse. Man würde sich jedoch sehr täuschen, wenn man glaubte, daß sie damit ihre Zustände einer gewaltsamen Unruhe aussetze; denn erstens brechen sich die Revisionsbewegungen in den kleinen Umfängen der Cantone und nehmen nie den Charakter großer, revolutionärer Stürme an, zweitens wird nicht, wie im alten Athen, die Verfassung bald in eine aristokratische, bald in eine demokratische, bald in eine tyrannische umgewandelt, sondern die demokratische Grundlage bleibt unangetastet und nur das Bewegliche wird der Zeit gemäß umgebildet und fortentwickelt. Auch in der Schweiz selbst aber ist es immer eine besondere Eigenheit, daß die Revisionsfrage, wie zu Glarus, in offener Landsgemeinde debattirt und entschieden wird.

Die Verfassung von Glarus ist eine rein demokratische und entspricht der in den schweizer Gebirgsdemokratien herrschenden Organisationsform. Die Regierung besteht in einer fächerförmig sich erweiternden Stufenleiter von Behörden. Regierungshaupt ist der Landamman, ein Einzelregent von großem moralischem Einfluß. Sein Einfluß darf aber eben nur ein moralischer bleiben, daher hat er selbst keine befehlende Gewalt, sondern er theilt die regierende Gewalt für die weniger wichtigen Geschäfte zunächst mit den zwei ersten Mitgliedern der Standescommission, dann mit allen acht Mitgliedern dieser Behörde, für die wichtigern mit dem Rath, welcher aus der Standescommission und 30 von den Gemeinden gewählten Vertretern gebildet ist. Landamman, Standescommission und Rath sind die eigentliche Regierungsbehörde. Zur Gesetzgebung und Landesrepräsentation erweitert sich dann dieser Rath wieder in den aus 117 Mitgliedern zusammengesetzten dreifachen Landrath, und über allen steht die Landsgemeinde. Die Verfassung besteht also nicht aus sich gegenüberstehenden Gewalten, sondern in einer nach oben aufsteigenden und sich stets vermindernden, nach unten wieder herabsteigenden und im Volke ruhenden Souverainetät. Die Gerichte sind in viele Gerichtsstäbe zersplittert. Glarus hat ein Civilgericht, Criminalgericht, Ehegericht, Augenscheingericht, Polizeigericht und Appellationsgericht.

Diese Verfassung sollte nun also revidirt werden, und zwar war es gerade die städtische Bildung des Hauptfleckens, welcher sie nicht mehr ganz behagte. Allein während anderwärts die Regierung allzumächtig ist und zu Gunsten des Volkes beschränkt werden muß, verfolgten unsere Glarner Revisionisten das umgekehrte Ziel. Es fiel ihnen nicht ein, die Souverainetät des Volkes anzutasten, vielmehr erklärten sie laut, die Landsgemeinde sei der Stolz jedes Glarners und Niemand denke sie in ihrer Machtvollkommenheit verringern zu wollen. Dagegen wünschten sie eine in weniger Einzelbehörden zersplitterte, eine concentrirtere Regierung und Landesvertretung. Ebenso beantragten sie eine Verminderung der verschiedenen Gerichtshöfe, um dadurch eine einfachere und bessere Justiz zu erzielen.

Offenbar hatten diese Ideen viel für sich und traten mit um so größerer Berechtigung auf, als über die Zersplitterung der Behörden, sowie über die Gerichte viele Klagen laut wurden. Allein das Volk verwarf die Revision mit großer Mehrheit, trotzdem daß die Revisionisten mit Feuer und Würde sprachen und alle Mittel der Beredtsamkeit, Satire, Dialektik und des Pathos erschöpften.

Warum aber verwarf das Volk eine Reform, der in so vieler Beziehung die Zweckmäßigkeit nicht abzustreiten war? Aus Mißtrauen, aus Furcht, es möchte seine alte Freiheit durch eine kräftigere, concentrirtere Regierung gefährdet sehen und sich mit einer solchen einheitlichern, straffern Regierungsform eine specifische Bureaukratie schaffen; aus dem gerechtfertigten Bedenken, etwas Gewisses, das sich lange bewährt, gegen etwas noch unerprobtes Ungewisses einzutauschen. Man kann nicht umhin, den politischen Blick des Volkes anzuerkennen, denn „Weniger Regierung!“ nicht „Mehr Regierung!“ ist die Losung der Zeit. Auch ist es ein schlagender Beweis, wie es seine Freiheit kennt, liebt und bewahrt, daß es sich sofort zur Wehr setzen zu müssen glaubt, wo auch nur der Schatten des Argwohns auftaucht, es könne in einem oder dem andern Stücke an seiner Freiheit gekürzt werden.

Nicht weniger gespannt, als auf die Verfassungsrevision, war ich auf das Fabrikpolizeigesetz. Daß Glarus die Nachtheile der Fabriken empfindet, wie alle andern Länder, daß die lange Arbeitszeit Erwachsene und besonders Kinder mit erschreckender Schnelligkeit consumirt und die Bevölkerung entartet, braucht nicht auseinandergesetzt zu werden. Auch daß der Glarner Landrath sich mit der Sache beschäftigte und ein Fabrikpolizeigesetz erließ, ist nichts Besonderes. Das Besondere liegt vielmehr darin, daß dieses Gesetz nun auch vor die Landsgemeinde kam. Wohl nirgends sonst in der Welt geschieht es, daß dergleichen sociale Fragen vom versammelten Volke selbst behandelt werden, und wenn es vorkäme, so würde es nur etwa in Gestalt einer communistischen Umwälzung der Fall sein, die mit einer Landsgemeinde nicht das Geringste gemein hat.

Der Verlauf in der Glarner Landsgemeinde war ein sehr rascher und regelmäßiger. Mit dem Gesetze des Landraths war man nicht zufrieden. Dasselbe reducirte die Arbeitszeit auf zwölf Stunden, aber nur für Kinder und Weiber, und enthielt auch sonst keine bedeutende Erleichterungen des Arbeiters. Es war daher Opposition zu erwarten, um so mehr, da die Arbeiter sich in Vereinen gesammelt hatten, um ihren Beschwerden Gewicht zu verschaffen. Ihr Auftreten und ihre Begehren waren aber, wie von allen Seiten anerkannt, mäßig und taktvoll gewesen. So verhielten sie sich nun auch in der Landsgemeinde. Freilich fühlte Alles, daß eine möglicherweise verhängnißvolle Frage herannahe, und als der Landamman die Debatte eröffnete, herrschte lange Zeit tiefe Stille. Da trat endlich der Gemeindepräsident von Glarus, Dr. med. Tschudi, auf und entwickelte in warmer, aber von keinerlei falschem Pathos angekränkelter Rede, daß noch mehr für die Fabrikarbeiter geschehen müsse, wenn nicht eine Degeneration der Bevölkerung eintreten solle, unter welcher Arbeiter, Industrie und Staat gleich zu leiden hätten. Das Volk sei eine Familie, und wenn ein Glied leide, so leiden die andern mit. Er beantragte daher, daß die Arbeitszeit auch für Erwachsene auf zwölf Stunden gekürzt, daß alle Nachtarbeit verboten und die Fabrikanten angehalten werden, ihre Maschinen mit möglichster Vorsorge gegen Unglücksfälle zu versehen. Freilich sei dies, so schloß der Redner, noch nicht Alles, was der Arbeiter wünschen, und hoffentlich auch nicht Alles, was noch für ihn geschehen könne, allein für jetzt sei es das Mögliche, und besser sei es, in Frieden das Erreichbare anzustreben, als dem Unerreichbaren mit gewaltsamen Kämpfen nachzujagen.

Dieser Ausspruch traf den Nagel auf den Kopf. Das gesammte Volk, die Arbeiter mit, begriff, daß dies die erreichbare Transaktion sei, welche sofort und beharrlich festgehalten werden müsse. Als daher nach Dr. Tschudi ein Industrieller auftrat, um über Benachtheiligung der Industrie zu wehklagen, schnitt ihm der allgemeine Ruf „Scheiden“ das Wort ab, nicht minder aber allen Andern, welche noch sprechen wollten. Die Abstimmung wurde durchgesetzt, und die Anträge Tschudi’s mit jubelndem Mehr zum Beschluß erhoben.

Das war eine schweizerische Landsgemeinde. Mancher Leser wird vielleicht sagen: „Wie mag man nach solchen Kleinigkeiten so viel nachfragen! Dieses Glarus ist ein Fleck Erde, den man kaum sieht; was interessirt es die großen Nationen draußen, wie da regiert und gerichtet wird! Wir können es doch diesem Zwerglein nicht nachmachen.“ Allein, mein Freund, begegnet es Dir nicht, daß Du zuweilen durch den Wald gehst und einen zierlich gebauten Ameisenhaufen entdeckst, oder emporblickst zu einer feinen duftigen Bienenwabe, oder die wunderbaren Pflanzenzellen zerlegst, und in allem ahnend das große Geheimniß der Natur erkennst? So ist es auch im Staatsleben, und so verhält sich das kleine Glarus zu ihm. Wie Du die Gestalten der Natur nicht nachahmen kannst, aber doch die köstlichen Lehren der Wissenschaft aus ihnen ziehst, so ist das kleine Glarus das Modell einer Volksfreiheit, wie sie noch kaum geahnt wird. In dieser Gestalt kann sie freilich nicht auf alle andern Völker überkommen, allein lernen können die Völker aus ihr, wie weit Freiheit und Ordnung friedlich zusammengehen; sie können ein Bild reiner, wirklicher Freiheit sehen, ein wahres lebendiges Gebilde des Volksgeistes, dessen Betrachtung sie lehren wird, was Freiheit ist, es ihnen überlassend, wie sie das Gelernte bei sich anwenden wollen. So untröstlich das dumpfe Brüten ist, das noch vielenorts auf den Menschen liegt, so tröstlich der weite Blick in die erreichbare Reife und Mündigkeit des Volkes, welchen uns die kleine Glarner Landsgemeinde eröffnet. Beseligend ist das Bewußtsein, daß die Menschheit noch viel vor sich hat.

[428] Und ohne alle Aussicht, so gar einsam ist die Glarner Landgemeinde nicht. Von der Landesversammlung zu Rendsburg ist ein verwandter Klang zu uns nach der Schweiz gedrungen, und wir geben die Hoffnung nicht auf, daß dereinst wieder einmal in West und Ost, in Nord und Süd freie Volksgemeinden, wenn auch nicht Speer und Schild zusammenschlagen, so doch mit erhobener Hand den nationalen Willen kundgeben und zur Geltung bringen werden.
F. Gengel. 




Fünf Löwen und ihr Bändiger.

Unter die halb wahnsinnigen Ausbrüche des englischen Aergers darüber, daß die deutschen Großmächte sich, unbekümmert um das Maulaufreißen des britischen Löwen, erkühnt hatten, den Elbherzogthümern zu helfen, unter diese ärgerlichen Ausbrüche gehörte auch der vor einigen Wochen in einer englischen Zeitung stehende, dahin lautend, daß jetzt kein Engländer mehr sicher in Deutschland reisen könne, ohne den Pöbelhaftigkeiten des von seinem Nationalhaß gegen die Engländer vollständig beherrschten deutschen Volkes ausgesetzt zu sein. Daran war zugleich die naive Aufforderung geknüpft, die Engländer möchten ihr Geld fortan lieber in England verreisen, worauf dann die Deutschen sehr bald durch die ihnen bevorstehende Aushungerung sich zu freundlicheren Gesinnungen bekehrt sehen würden.

Leider hatte das würdige Blatt vergessen hinzuzufügen, wie es diejenigen Engländer halten sollten, welche nicht sowohl bei uns reisen, um Geld zu verthun, als vielmehr, um es zu verdienen. Wäre diese Lücke nicht vorhanden und hätte die Zeitung ihren Racheschrei überhaupt eher gebracht, wer weiß, ob man dann in Hamburg, Berlin, Breslau, Leipzig und anderen deutschen Städten das schauerliche Vergnügen würde gehabt haben, Herrn Thomas Batty mit seinen fünf Löwen zu sehen. Indessen, unser Geld ist ja auch kein Blech, und darum handelt Herr Batty als vernünftiger Familienvater und steckt es ein.

Den vielen Lesern der Gartenlaube, welche Batty noch nicht gesehen haben, der vorher nur in London Vorstellungen gegeben und in Deutschland erst im September vorigen Jahres in Hamburg sich zu produciren begonnen hatte, bin ich wohl eine kurze Schilderung seines Auftretens im Käfig schuldig, da das beigegebene Bild natürlich nur eine Scene, nicht aber den ganzen Verlauf des Ballspiels darstellen kann und überhaupt das Ganze so weit von allem in dieser Art in Deutschland Gesehenen abweicht, daß man sich schwerlich eine richtige Vorstellung davon machen kann.

Nachdem die eigentlichen Mitglieder des Circus, die Reiter und Reiterinnen, ihre „Arbeiten“ beendigt und die Clowns ihre Späße ausgegeben und zur ferneren Verwendung wieder an sich genommen haben, wird von dem dienenden Personal ein an den vier Ecken gerundeter großer Wagen mitten in den Kreis gefahren. Die ihn rings verdeckenden hölzernen Läden werden weggenommen, und er erscheint jetzt als ein auf Rädern ruhender umfänglicher Käfig, bewohnt von fünf Löwen, welche, aus ihrer Ruhe gestört und geblendet von dem plötzlichen grellen Licht, sich gähnend strecken und dehnen. Sehr einig sind sie dabei nicht, und ein Vorspiel findet gewöhnlich gleich in so fern statt, als sie vorläufig unter sich eine kleine Hauerei im eigentlichen Sinne des Worts aufführen, indem sie gegenseitig mit Tatzenhieben auf einander losfahren. Große, langgemähnte Thiere wie die Schulbücherlöwen, sind es allerdings nicht; denn nur das eine der zwei männlichen zeigt die beginnende Mähne, und keins ist ganz ausgewachsen. Dafür sind sie aber um so lebhafter, und von der Faulheit eines alten Löwen ist keine Spur zu finden. Schon während des erwähnten Vorspiels werden Sägespähne in den Käfig geworfen, um das Ausgleiten des Löwenbändigers zu vermeiden, sodann wird der kleine Vorkäfig, durch welchen derselbe eintritt, angeschraubt, und nun erscheint Batty selbst.

Ein schwarzer knapper Rock mit Goldborde, knappe Beinkleider und eben solche, aber bis über’s Knie reichende Stiefeln sind seine Bekleidung. Man sieht sofort, daß diese sehr zweckmäßig gewählt ist. In der Hand trägt er die bedeutungsvolle Peitsche aus Nilpferdhaut, gemeinhin die Nilpeitsche genannt. Sie birgt den Zauber der Thierbändigung, und zehnmal eher wird der Thierbändiger auf die Wirkung seines Blicks verzichten, als auf die jenes Zauberrüthchens.

Gleich beim Eintreten von dem Aufbrüllen der Bestien begrüßt, fährt er wie der Blitz unter sie, mit geschwungner Peitsche sie hierhin und dorthin treibend, und Auge wie Ohr des Zuschauers sind jetzt vollauf beschäftigt. Zwar läßt der von den fünf Bestien umgebene Mann nur einzelne Ausrufe hören, desto lauter und zorniger ertönt aber das jedesmalige Gebrüll der Löwen, sobald ihnen ihr Meister zu nahe tritt. Jetzt sind sie alle, außer einer Löwin, in dem einen Winkel des Käfigs zusammengedrängt. Diese aber liegt in der entgegengesetzten Ecke. Batty streckt sich zu ihr hin und macht sich’s auf ihr bequem; er stampft mit dem Fuß auf den Boden, und mißmuthig, aber doch folgsam kommt endlich der eine Löwe heran und legt sich zu den Füßen Batty’s und seinen Kopf auf dessen Schooß. Eine kurze Liebkosung ist sein Lohn.

Aber schnell verändert sich die Scene. Aufspringend jagt Batty die Ungeheuer abermals im Käfig herum, ringsum von ihren Tatzenhieben bedroht. Flüchtend vor der immer drohenden Peitsche, drängen sie sich über einander, gegenseitig auf einander losfahrend und hauend. Jetzt liegt die Löwin abermals allein, in der andern Ecke. Schnell wirft sich Batty zu ihr hin, legt ihre Tatzen um seinen Hals, sich ganz in ihre Gewalt gebend. Alles bleibt ruhig. Er erhebt sich halb, öffnet der Löwin den Rachen und, seinen Kopf ganz in denselben steckend, kreuzt er die Arme auf dem Rücken und verbleibt in dieser Lage lange genug, um sich ein halbes Dutzend Köpfe abbeißen zu lassen. Die Löwin läßt ihm aber sogar den einen, und nachdem er sich über denselben wieder die Verfügung gewahrt, klappt er den Rachen der Bestie zu, mit einem Tone, als würde ein in Schweinsleder gebundener großer Foliant zusammengeschlagen.

Abermals springt Alles empor, und ein weiterer Abschnitt der Produktion entwickelt sich. Batty stellt sich allein an das eine Ende des Käfigs, die Bestien sind am andern versammelt. Er stampft mit dem Fuß, und plötzlich stürzt die eine Löwin auf ihn los. Statt aber ihn niederzureißen, springt sie blos an das Gitter über ihm an und schnellt sich in bogenförmigem Satze auf den Boden zurück. Auch einer der Löwen, dem nöthigenfalls von außen mit einer Stange zugeredet wird, springt in derselben Weise auf seinen Meister an, und dies wiederholt sich mehrere Male.

Von Neuem beginnt nun als Zwischenact das Zusammentreiben der Bestien, bis sie zur folgenden Scene richtig gruppirt sind. Jetzt ist es der gemähnte Löwe, welcher die eine Seite allein einnimmt. Während die anderen wüthend durcheinander brüllen und von rückwärts mit den Tatzen nach ihrem Herrn hauen, bemüht sich dieser, den Löwen zum Aufrichten am Gitter zu bringen. Der bei seinem Alter schon nicht mehr recht dienstwillige Löwe will erst seinen Herrn nicht verstehen, wenn dieser, sich bückend und mit ausgebreiteten Armen schnell erhebend, ihm auseinandersetzt, worum es sich handelt. Zähnefletschend erhebt er sich endlich auf die Hinterbeine, und nun wendet sich Batty zur anderen Gruppe, und eine andere der Bestien wird gleichfalls zum Aufrichten am Gitter genöthigt. Eine dritte liegt vor ihm, und sie zum Schemel seiner Füße nehmend, tritt er in drohender Haltung dieser aufgeregten und brüllenden Gruppe gegenüber. Dies ist die Scene unsers Bildes.

Die Vorstellung nähert sich nunmehr ihrem Ende. Indem die Thiere nochmals vor der Peitsche ihres Meisters, brüllend und nach ihm hauend, durcheinander flüchten, empfängt derselbe von außen ein geladenes Gewehr. In hochgehobener Rechte dasselbe haltend, tritt er mitten unter die wüthende Gruppe und feuert es ab. Zornig brüllen die Löwen dem Schusse nach; ihr Meister aber tritt zurück, macht sich nöthigenfalls mit der Peitsche Bahn und verläßt den Käfig, wobei es vorkommt, daß, nachdem er eben hinaus ist, eine der Bestien noch an das Gitter ihm nachspringt. Gewaltiger Beifall folgt natürlich jedesmal dem Schluß der Vorstellung.

Wodurch übt dieser Mensch solche Gewalt über die wilden Bestien? so fragt gewiß mancher unserer Leser. Darauf ist die einfache Antwort: Durch seinen persönlichen Muth und – seine Peitsche. Keines allein, aber beide zusammen bewirken ineinandergreifend das wunderbar Scheinende. Selbstverständlich ist dabei ein gewisses Verständniß des Thiercharakters vorausgesetzt, ein feines

[429]

Batty und seine Löwen.
Nach der Natur gezeichnet von H. Leutemann.

[430] Erkennen der Grenze, bis zu welcher bei jedem einzelnen Thiere gegangen werden darf.

Daß man einen bestimmten Blick dazu haben muß, ist allerdings eine sehr gangbare Redensart geworden, die, selbst in unsern Tagen aus scheinbar authentischer Quelle wieder aufgefrischt, jedenfalls noch lange gelten wird. „Bei dem Thierbändiger muß das Weiße des Augapfels über der Pupille sichtbar sein,“ so lautet die Phrase. Nun, wenn ein Löwe sonst keinen Respect vor seinem Herrn und dessen Muth hat, aus dem Weiß von dessen Augapfel macht er sich ganz gewiß sehr wenig. Wer solchen Vorstellungen aufmerksam beigewohnt hat, muß dies sofort begreifen. Oder kann Batty vielleicht durch Schielen seine fünf Löwen zugleich ansehen? Oder hat er, wenn er ihnen, wie dies oft geschieht, den Rücken kehrt, einen Blick von hinten mit Weiß über der Pupille? Ich wenigstens habe von beiden Kunststücken noch nichts wahrgenommen.

Daß Muth eine Hauptsache bei dergleichen Unternehmungen ist, braucht nicht weiter erörtert zu werden: er ist selbstverständlich unerläßlich. Deswegen hat noch nicht Jeder, welcher sich zu einem vielleicht schon dressirten Löwen begieht und einige friedliche Spielereien mit ihm ausführt, den hier gemeinten Muth. Zu einem Auftreten, wie das Batty’s, gehört er aber unbedingt. Dieser Muth muß indeß von einer tüchtigen Peitsche gehörig unterstützt werden, wenn er anerkannt werden soll. Es giebt allerdings unter diesen Bestien einzelne, welche, besonders wenn sie beim Einfangen nicht mehr ganz jung waren, schlechterdings nicht zu dressiren sind, solche muß eben der Thierbändiger einfach wieder verkaufen oder blos als Menageriethiere zeigen. In der Regel läßt sich aber mit jungen Thieren der Art schon viel anfangen. Die jugendliche Lebhaftigkeit und die noch nicht entwickelte Kraft, verbunden mit der dem Löwen innewohnenden Intelligenz, machen das Anlernen junger Thiere nicht zu schwer. Das Hauptgeschick dabei ist, wie ich dies schon früher erwähnt habe, den einzelnen Thieren ihre Neigungen und Angewohnheiten abzusehen und diese zum Kunststück auszubilden, sodann aber auch die genau wiederholte Aufeinanderfolge der einzelnen „Arbeiten“.

Batty hat zudem das Glück, in der einen Löwin ein so gutwilliges Thier zu besitzen, wie man unter zwanzig kaum eins finden wird. Mit ihr führt er auch die Hauptstücke aus. Da sie, was freilich nicht ausposaunt wird, ganz blind ist, so vermehrt dies jedenfalls ihre Brauchbarkeit zu der passiven Rolle sehr, welche sie hauptsächlich spielt. Sie ist daher so zu sagen die Hauptactrice und wird dies, selbst wenn sie alt wird, wohl auch bleiben, während es bei den übrigen Thieren immer fraglich ist, wie lange sie sich die ihnen zugemuthete Rolle gefallen lassen. Die männlichen Löwen insbesondere dürften, sobald sie sich erst den Löwinnen gegenüber als Männer fühlen, nicht nur unter sich, sondern auch gegen Herrn Batty noch anders auftreten, sofern ihnen die jetzige Rolle dann noch zugemuthet wird, denn vor seiner Frau läßt sich auch ein Löwe nicht gern blamiren. Indessen bis dahin wird sich wohl ihr Herr zur Ruhe gesetzt haben.

Als ich Batty in seiner Wohnung aufsuchte, um meine Bitte, daß er mir zu dem Bilde sitzen möge, vorzubringen, fand ich – es war kurz vor Beginn der Circusvorstellung – den Mann, der dem Publicum sich blos in Gesellschaft wilder Bestien zeigt, ganz gemüthlich neben seiner höchst netten Frau und seinem reizenden Kinde beim Abendessen sitzen. Er blieb auch, als ich mein Gesuch durch die Wirthin verdolmetschen ließ, vernünftigerweise sitzen, beschied mich aber abschläglich, da er wegen seiner am folgenden Tage stattfindenden Abreise bereits im Einpacken begriffen war. Der geneigte Leser wolle also die möglicherweise nicht ganz erschöpfende Aehnlichkeit nachsichtig beurtheilen. Sie wird ja wohl auch nicht die Hauptsache des Bildes ausmachen.

Von der Lebensgeschichte des berühmten Löwenbändigers und wie er zu seinem gefährlichen Handwerke gekommen ist, habe ich trotz aller Bemühungen leider nichts Authentisches erfahren können. Zwar ist unlängst in Berlin eine Broschüre unter dem Titel: „Thomas Batty der Löwenbändiger, kurze Lebensbeschreibung nebst Mittheilung über das Einfangen und Zähmen der fünf dressirten Löwen“, erschienen, in welcher Verschiedenes über die Jugendschicksale und Abenteuer des merkwürdigen Mannes mitgetheilt wird. Jedenfalls beruht ein Theil des darin Erzählten auf Wahrheit, da ich aber nicht weiß, von welchen Stellen der Schrift dies gilt, so wage ich nicht Einzelheiten daraus mitzutheilen. Dergleichen Dinge, wie z. B. daß Batty in Hamburg von dem einen Löwen mit der Tatze einmal wirklich getroffen wurde, passiren jedem Thierbändiger und sind ja ohnedies für die Zeitungs-Feuilletons ein eifrig gesuchtes Futter. Nur schade, daß sie regelmäßig übertrieben werden. Nach einem andern neuen Schriftchen, für dessen Inhalt ich aber ebenso wenig einstehen möchte, hat Thomas Batty, ein geborener Irländer, früher gar nicht daran gedacht, als Schausteller von Löwen umherzureisen; er war vielmehr nur passionirter Löwenjäger und durchstreifte mit zwei Dienern das westliche Afrika. In Freetown mit seiner todten und lebendigen Beute eintreffend, erhielt er von einem Speculanten, Namens Staal, den Antrag, diesem die Hälfte seiner Löwen zu verkaufen, die zu Kunststücken abgerichtet und in den größeren afrikanischen Städten, Marokko, Arib, Fez, Tanger, gezeigt werden sollten. Nach sechs Monaten sollte der damit gewonnene Erlös getheilt werden. Batty ging auf den Vorschlag ein. Als er nach länger als einem halben Jahre Herrn Staal in Oran wieder traf, überzeugte er sich, daß es viel einträglicher und minder beschwerlich sei, Löwen abzurichten, als zu schießen, und wurde von Stelle an aus dem Löwenjäger der Löwenbändiger.

Batty scheint übrigens bereits seine Nebenbuhler zu haben. Von der Thierbändigerfamilie Kreuzberg tritt schon jetzt der Eine mit acht Löwen auf; ich kann aber nicht aus eigener Anschauung über seine Leistungen berichten. Man sieht indeß, daß es bereits auf ein Ueberbieten abgesehen ist. Der Thierbändiger Herrmann, welcher einer neulichen Abbildung nach mit vier Löwen „arbeitet“, dürfte sich daher jetzt nothgedrungen noch einige zulegen. Den Preis wird jedenfalls derjenige davontragen, dem es zuerst gelingt (das Zuerst schöpft auch hier das Fett ab), Löwen, Tiger, Leoparden und Bären (alle in mehreren Exemplaren) zu vereinigen und ähnliche Scenen, wie Batty, aufzuführen. Möglich ist’s vielleicht, aber wahrscheinlich nicht. Sollte man diesen Gipfelpunkt einmal erreichen, so wird mir Herr Keil gewiß erlauben, auch davon den Lesern der Gartenlaube ein Bild vorzuführen.
L. 




Der Dichter in der Backstube.


Ein Bäcker und ein Dichter, das ist schon etwas; aber nun gar ein Bäcker, ein Arbeiter, ein Dichter und zugleich ein Legitimst, das war für die blasirte Pariser Gesellschaft mehr als nöthig, um den Kitzel zu fühlen, diesen Wundermenschen, der sich Jean Reboul nannte, in ihre Kreise hineinzuziehen. Nicht ohne Mühe gelang es auch, den Dichter nach Paris zu locken. Er wurde im Triumph herumgeführt, überall mit Weihrauch bestreut, überall in den Vordergrund geschoben und war bald des Pariser Getreides so satt, daß er mit dem glühendsten Heimweh nach seiner Vaterstadt Nimes in Südfrankreich zurückeilte, wieder in seiner Backstube Posten faßte und dann freilich auch von den Parisern nach und nach vergessen wurde, bis sein neulich erfolgter Tod ihn endlich noch einmal auf vierundzwanzig Stunden in den Literaturberichten der pariser Blätter von den Todten auferweckte, um ihn nun wohl für immer der Vergessenheit zu übergeben.

Ein Mann des Volkes, ein Sohn der Arbeit, der aus seiner Werkstatt heraus Geistesfunken in die große Welt hinauswirft, die sich die Aufmerksamkeit eines ganzen Volkes erzwingen, ist indeß immerhin eines Andenkens werth. Ueberdies aber liegt in der Geistesrichtung seiner Gedichte auch eine allgemeine Lehre, und dieser zu lieb wollen denn auch wir dem Todten sein Recht eines Nachrufes widerfahren lassen.

Wer war der Bäcker-Dichter von Nimes? Wie wurde er zum Dichter? Was wollte er mit seinen Gedichten? – Das sind die Fragen, die wir mit ein paar Andeutungen beantworten wollen.

„Er war ein Mann von beinahe arabisch brauner Gesichtsfarbe, mit schwarzen, glänzenden Haaren und perlmutterweißen Zähnen. Sein Blick war rasch und durchdringend, er hatte prachtvolle, indische, mächtige, sammetne Augen, gemacht um die Liebe wie den Zorn auszusprechen.“ So fand und schildert ihn, in der Vorrede zu [431] Reboul’s Gedichten, Alexander Dumas, als er ihn besuchte und in seinem Bäckerladen in der Bäckerjacke fand. Noch bezeichnender aber ist es, wenn der Bäcker dem berühmten Schriftsteller sagt: „Ich bin Bäcker von fünf Uhr Morgens bis vier Uhr Abends. Wollen Sie Milchbrod, so bleiben Sie hier; – wollen Sie Verse, so kommen Sie diesen Abend wieder zu mir.“

Als Alexander Dumas Abends kam, fand er den Bäcker wieder im Laden. Dieser führte ihn dann auf den Speicher und zwischen Haufen von Weizen und Korn hindurch zu seiner Poetenstube. Auch die dann folgende Scene schildert Dumas, und sie ist bezeichnend genug, um wiedergegeben zu werden.

„So,“ sagte Reboul, indem er die Thüre hinter sich schloß. „Hier ist mein Heiligthum. Das Gebet, die Begeisterung, die Poesie nur haben das Recht, hier einzudringen. In dieser Kammer, die einfach ist, wie Sie sehen, habe ich meines Lebens schönste Stunden, die der Arbeit und der Träume, zugebracht.“ Das Zimmer war so einfach wie möglich, zwei Stühle, ein Schreibpult, ein elfenbeinernes Crucifix waren alles Geräthe; die ganze Bibliothek bestand aus zwei Büchern, der Bibel und Corneille.

Auch Dumas ließ die stille Frage: „Wie kommst Du dazu, zu dichten?“ endlich laut werden. Der Bäcker-Dichter antwortete: „Das Unglück hat mich dazu gebracht!“ Er hatte seine Geliebte durch den Tod verloren. „Diejenigen, die mich bis dahin umgeben hatten, suchten, anstatt mit mir zu weinen, mich zu trösten; meine Thränen flossen gegen das Herz zurück und überschwemmten es. Ich suchte die Einsamkeit und in Ermangelung einer Seele, die mich verstand, suchte ich Trost in Gott. Diese einfachen und gottgläubigen Klagen nahmen einen poetischen Charakter an; meine Gedanken bildeten sich eine Sprache, die mir selbst unbekannt war, und da sie, in Ermangelung einer gleichgestimmten Seele auf Erden, dem Himmel zustrebten, so gab Gott ihnen Flügel und sie stiegen zu ihm hinauf.“

Es liegt in diesem Auftreten des Dichters und Bäckers so viel Poesie wie Selbstschätzung, Selbstüberschätzung, so viel Tiefe wie oberflächliche Eitelkeit. Bezeichnend ist es dann ebenfalls, daß der legitimistische Dichter und Bäcker seine Gedichte von Lamartine und Alexander Dumas zugleich in die Welt einführen ließ; er war in der That ein Schüler Lamartine’s und – kokettirte doch ein wenig mit Alexander Dumas in der napoleonisch-republikanischen Richtung, die Letzterer vertrat.

Beide Gegensätze finden wir auch in seinen Gedichten wieder. Die große Mehrzahl derselben sind aus dem Samen aufgegangen, der durch die Winde aus den welkenden Blumen der Lamartineschen Treibhauspflanzen emporgetragen wurde. Sie sind schwungreich und schön, nur sind sie in dem weniger üppigen Boden des Bäckerkämmerleins lange nicht so voll, duftig, strotzend und farbenstrahlend, wie in den Warmhäusern der Lamartine’schen Prunkgärten. Im Geiste sind sie aber vollkommen dieselben: Weltschmerz, Gottbegeisterung, tiefes Bewußtsein der Verkommenheit des Tagesgetreibes und hoffnungsloses Hinübersehnen nach irgend etwas Besserem. Es fehlt das rechte Mark, die einfache Natur, der frohe Muth, das klare Wollen.

Der legitimistische Anflug des Südens liegt auf fast allen Blättern und Blumen. Auch diese Richtung deutete Reboul in dem Gespräche an, welches er mit Alexander Dumas in seinem Dachstübchen führte. „Sie sind kein Royalist, ich weiß es,“ sagte er dem zukünftigen Historiographen Garibaldi’s, „aber Sie sind religiös. Denken Sie sich also, was es heißt, die heiligen Bilder, zu denen Euch als Kinder Eure Mütter führen, um zu denselben zu beten, umgeworfen, unter die Hufe der Pferde getreten, in den Koth geschleppt zu sehen. – – O, wenn ich nicht die Poesie, um zu klagen, und die Religion, um mich zu trösten, gehabt hätte, was wäre aus mir geworden, o mein Gott!“

In diesen paar Aeußerungen liegt der ganze Mensch und liegen auch alle seine poetischen Ergüsse. Sie sind sämmtlich Variationen über dasselbe Grundthema. Schön aber sind sie mitunter, recht schön, und so wollen wir denn wenigstens eins davon in freier Verdeutschung mittheilen. Es heißt:

 Meine Leier.

Für Wahn wird heute die Vernunft gehalten,
Des Brandes Fackel für ein leuchtend Licht,
Und eh’ die Ströme des Vulcans erkalten,
Hebt sich an seinem Fuße Schicht um Schicht

5
Der Bau des Hochmuths! Was soll dir dies frommen,

O Leier? Nichts! Du bist von Gott gekommen!

Schon fühlt die Macht, wie ihr die Kraft ermattet,
Die Hände zittern und der Glanz verblaßt –
Und droben hängt, von Trauer überschattet,

10
Die stolze Fahne regungslos am Mast.

Kaum sind die letzten Wetter wild zerstoben,
Droht neues Blitzgewölk, bereit zum Toben.

Was kümmert’s mich, wenn solche Eintagsmächte
Der Alltagsmensch als seine Götter ehrt?

15
Er ist ein Knecht, und es gefällt dem Knechte,

Daß er den Staub vor jedem Tempel kehrt.
Der Götze, den er heute will zertreten,
Wie oft lag er vor ihm in brünst’gem Beten!

Die Geißel nur lehrt ihn den Meister kennen,

20
Nur in der Geißel achtet er den Herrn;

Und heute wird er den Verräther nennen,
Der gestern noch als Brutus war sein Stern,
Und den er gestern in den Staub gezogen,
Dem baut er heute des Triumphes Bogen!

25
Und darum ist es Dein Beruf geworden,

O meine Leier, Deines Zorns Orkan
In donnernden gewaltigen Accorden
Zu schleudern gegen solchen Doppelwahn!
Gedenke stets des Himmels, meine Leier!

30
Du kommst von ihm, nur ihm ist Deine Feier!

Und um dieses Bewußtseins willen, daß seine Leier vom Himmel komme, um des hohen Berufes willen, den er für sich in Anspruch nahm und den er mit keiner Sylbe verleugnet hat, widmen auch wir ein ehrendes Andenken dem edlen Arbeiter, der für uns eben so hoch steht wie Lamartine, in der That unendlich viel höher, da er seine Backstube nicht verließ, sondern der Arbeit – und nicht dem Heller Belisar’s – das Brod in hohem Alter dankte.

Reboul war der würdige Schüler Lamartine’s. O, warum konnte der Meister vom Schüler nicht lernen, der Arbeit allein zu danken, was das Leben bedarf! Dem Schüler aber gebührt ein reines Denkmal; wir zollen unsern bescheidenen Beitrag dazu.
J. Venedey. 




Blätter und Blüthen.


Grisettentreue.[2] Durch die vielen Veränderungen, Umwälzungen und Neubauten, die gegenwärtig in Paris vorgenommen werden, verliert die große Stadt nicht nur eine bedeutende Anzahl interessanter historischer Erinnerungen, sondern büßt auch den eigenthümlichcn, charakteristischen Reiz ihrer Physiognomie nach und nach ein. Jenes ursprünglich pariserische Gepräge, das sich in Dingen, Erscheinungen und Persönlichkeiten aussprach, die eben nur in Paris und für Paris möglich waren, geht allmählich verloren und fällt der Tradition anheim. Zu diesen entschwundenen Typen gehören auch die „Grisetten“. Dieses zierliche, heißblütige, gutherzige Geschlecht ist leider ausgestorben, man findet die gazellenartigen Geschöpfe nicht mehr; sie sind dahin, die Heldinnen der vielgelesenen Romane von Paul de Kock!

Dagegen ist die Zunft der „Loretten“, der „Biches“, der „Cocottes“, der „Dames aux camélias“ aufgetaucht; diese glänzenden, geschminkten und höchst eleganten Damen bieten aber einen sehr kläglichen Ersatz für ihre liebenswürdigen Vorgängerinnen. Sie sind im höchsten Grade unpoetisch, von empörender Berechnung, lieben den Müßiggang und sind durch und durch verdorben. Dagegen waren die Grisetten arbeitsam wie die Bienen, leichtsinnig wie die Schmetterlinge, durchaus uneigennützig, treu in ihren Neigungen und Freundschaften, schöner und edler Regungen fähig. Ich denke, in der folgenden kleinen und wahrheitsgetreuen Geschichte ein siegreiches Argument für meine Vorrede zu liefern.

Mein Freund Alfred Derval, Sohn eines hochgeachteten Notars in der Provinz, kam vor etwa zehn Jahren als achtzehnjähriger Mensch hier her nach Paris, um seine Rechtsstudien an der Sorbonne zu vollenden. Er miethete eine kleine bescheidene Wohnung im Quartier Latin, jenem interessanten Stadtviertel, das fast ausschließlich von der hoffnungsvollen studirenden Jugend bewohnt wird. Nachdem er sich in seinen anspruchslosen Räumen einigermaßen eingerichtet hatte, öffnete er sein Fenster in der Absicht, die Nachbarschaft ein wenig zu recognosciren. Zunächst wurde sein Ohr sehr angenehm berührt durch den Klang einer frischen, jungen Stimme, die ein kleines Lied, das damals gerade in Aufnahme war, lustig zwitscherte. Natürlich suchte Alfred sogleich das Singvögelchen zu entdecken, das sich so harmonisch vernehmen ließ. Sein Suchen blieb nicht lange fruchtlos, denn [432] er gewahrte sehr bald im sechsten Stock des gegenüberliegenden Hauses ein kleines Fenster, das von allerhand duftenden Blumen freundlich eingerahmt war und hinter welchem ein reizender Mädchenkopf, der sich über eine Arbeit beugt, sich im Takte wiegte, wie um die Melodie zu begleiten, die den blühenden Lippen entquoll. So war also das trillernde Vögelcheu entdeckt, und Alfred’s ganze Aufmerksamkeit wurde alsbald von diesem reizenden Anblick in Anspruch genommen, dem er sich um so ungestörter hingeben konnte, als das schöne Mädchen, ganz in ihre Arbeit vertieft, sich gar nicht um die Außenwelt zu bekümmern schien. Mit immer wachsendem Entzücken bewunderte Alfred das reizende, fein beschnittene Gesicht, die vollen, zierlich geglätteten schwarzen Haare und die weichen Formen der schönen Gestalt des lieblichen Mädchens, das sich zuweilen von seiner Arbeit erhob, um kleine häusliche Verrichtungen zu besorgen. Es lag durchaus nicht in Alfred’s Absichten, sich im vorliegenden Falle auf eine stumme Bewunderung zu beschränken, vielmehr bestrebte er sich auf alle erdenkliche Weise, durch anfänglich bescheidene, nach und nach aber immer dringender werdende telegraphische Zeichen und Andeutungen seiner schönen Nachbarin die zärtlichen Gefühle verständlich zu machen, die sie in ihm erweckt hatte. Lange Zeit blieb Alfred’s Zeichensprache unerwidert und, wie es schien, auch unverstanden; indessen ließ er sich nicht entmuthigen, zog vielmehr unter der Hand Erkundigungen ein und erfuhr, daß seine schöne Nachbarin Risette heiße, siebzehn Jahre alt, sehr „sitt- und tugendreich“ sei und sich durch den Ertrag ihrer Hände Arbeit ihr bescheidenes Brod ehrsam verdiene. Diese vortrefflichen Nachrichten bestärkten Alfred natürlich in der Fortsetzung seiner stummen Huldigungen, und gerührt von so vieler Beharrlichkeit entschloß sich Fräulein Risette endlich, ihm ihr Vertrauen zu schenken, nachdem sie sich jedoch zuvor feierlich von ihm hatte versprechen lassen, daß er sehr zurückhaltend und sehr fügsam sein werde. Bei Gelegenheit einer Landpartie aber, in den blühenden Gefilden von Montmorency, konnte Alfred die stürmischen Gefühle seines achtzehnjährigen Herzens nicht länger beherrschen und zu den Füßen eines jener berühmten Esel, die nur in Montmorency geboren zu werden scheinen, um Kirschen und Grisetten zu tragen, und die Heinrich Heine schon durch eines seiner Lieder unsterblich gemacht hat – zu den Füßen eines solchen berühmten Esels hauchte Alfred seine glühenden Liebesschwüre aus und gelobte ewige Treue und Ergebenheit. Fräulein Risette, die, wie ich beinahe vergessen hätte zu bemerken, auf dem Esel thronte, war jedoch mit dieser stürmischen Liebeserklärung keineswegs einverstanden und fand, daß dieselbe gewaltig gegen die von ihrem Seladon angelobte Zurückhaltung sündige. Hierauf entspann sich ein kleiner Zwist unter dem jungen Paare, der jedoch mit einer feierlichen Aussöhnung endete: zwar folgten noch mehrere ähnliche Spaltungen, die aber alle dasselbe Resultat hatten, bis endlich Alfred die versprochene Zurückhaltung nach und nach ungestraft bei Seite setzen durfte, da er hinlängliche Beweise seiner Treue und Beständigkeit gegeben hatte.

Drei Jahre lang blieben sich die jungen Leute treu, machten sich gegenseitig glücklich und genossen vereint ihre Jugend – den schönen Frühling des Lebens. Nach Ablauf dieser Zeit aber und nachdem Alfred sein letztes Examen bestanden hatte, fand er durchaus keinen Vorwand mehr, um in Paris zu bleiben, jedoch verbarg er der armen Risette die herannahende Nothwendigkeit der Trennung, die ihm selbst höchst schmerzlich war. Das junge Mädchen hatte ihm eine wahre und ernste Zuneigung eingeflößt. Vielleicht wäre ihm die Trennung minder schwer angekommen, wenn er ein Mittel gewußt hätte, ihr eine sorgenlose Stellung zu verschaffen und sie vor allen Entbehrungen zu sichern; aber Risette würde entschieden jedes Geschenk zurückgewiesen haben, das ihr wie eine Bezahlung ihrer Liebe und somit verächtlich erschienen wäre.

Da kam ein an sich ziemlich geringfügiger Umstand den ehrenwerthen Absichten Alfred’s, in Bezug aus Risettens Zukunft, zu Hülfe. Risette empfing eine Einladung, der Hochzeit einer ihrer Freundinnen beizuwohnen. Bei dieser festlichen Gelegenheit wünschte das junge Mädchen das Haupt, das bis jetzt immer nur jene frischen, koketten, leider nun auch verschwundenen Grisetten-Häubchen geziert hatten, mit einem Hute, natürlich nach der neuesten Mode, zu schmücken. Der Ankauf eines Hutes erforderte aber mindestens die Summe von 20 Francs, und Alfred, der von Tag zu Tage die Gelder erwartete, die ihm sonst immer regelmäßig von seinem Vater zuflossen, befand sich in jenem Augenblicke zufällig nur noch im Besitze von 10 Francs, als einzigem disponiblen Vermögen. Wie sehr er auch seinen Geldbeutel schüttelte, sein Schatz wollte sich nicht vermehren. Risette verzichtete augenblicklich und mit der größten Liebenswürdigkeit auf ihr Gelüst nach einem Hute, aber Alfred, der seiner Freundin ihren verzeihlichen Wunsch nicht versagen mochte, machte sich auf, um von einem Bekannten die kleine Summe zu erborgen, deren er noch bedurfte, um die Ausgabe bestreiten zu können. Unterwegs traf sein Blick zufällig auf ein Aushängeschild, wie man deren in den Straßen von Paris so häufig findet, auf dem in großen Buchstaben geschrieben stand: „Geschäftsverkauf.“ Es ergab sich, daß das zu verkaufende Geschäft zufällig ein Mode-Magazin war. Alfred blieb, wie von einem plötzlichen Gedanken durchzuckt, stehen, sann ein wenig nach und betrat sodann ziemlich entschlossen den Laden. Er fragte die Inhaberin nach dem Preise ihres Geschäftes, der ihm mit 2000 Francs bezeichnet wurde; hierauf nannte er sich, wies sich mittels seines Passes und seiner Papiere aus, sagte der Dame, daß es seine Absicht sei, das Geschäft zu kaufen, und bot ihr einen Wechsel auf seinen Vater an, einen in der Handelswelt ziemlich bekannten vermögenden Notar. Der Wechsel wurde angenommen, der Handel geschlossen, und Risette konnte noch am nämlichen Tage unter zwanzig Hüten den Kopfputz aussuchen, der ihr am meisten zusagte. „Der Laden gehört uns,“ sagte ihr Alfred, „wir wollen das Geschäft anfangen!“ Und Risette, strahlend in Wonne und Entzücken, nahm unverzüglich von ihrem neuen Wirkungskreise Besitz. Am folgenden Tage aber erlitt ihr Glück einen schmerzlichen Stoß: man überbrachte ihr einen Brief: der Brief enthielt Alfred’s Lebewohl und zugleich die Versicherung, daß der Ankauf des Geschäftes auf ihren Namen erfolgt sei und dasselbe somit ihr unumschränkt angehöre.

Also hatte Alfred mit seinem letzten Studenten- und Geniestreiche zugleich der Stimme seines Herzens und seines Gewissens Genüge geleistet, und Risettens Zukunft war gesichert. Sein Vater, ein vermögender Mann, hatte ohne zu heftiges Widerstreben den Wunsch des Sohnes berücksichtigt, und alles war demnach in der besten Ordnung.

Mittlerweile verstrichen die Jahre, und Alfred und Risette sahen und hörten nichts mehr von einander. Da beschloß Alfred’s Vater, der sich alt werden fühlte, seine Geschäfte als Notar aufzugeben, der Provinz den Rücken zu kehren und sich mit seinem Sohne in Paris niederzulassen. Einige alte und bewährte Freunde öffneten den Ankömmlingen ihre Häuser, und bald hatten sie einen angenehmen geselligen Kreis um sich gebildet. Es zeigten sich für Alfred vielfache Gelegenheiten zu vortheilhaften Heirathen, aber er bekundete fortgesetzt gegen das Joch der Ehe eine entschiedene Abneigung, die man sich gar nicht recht zu erklären wußte.

Eines Tages bekam Alfred von der Post einen Brief; der Brief enthielt einen Wechsel von 2000 Francs auf das Mode-Geschäft von Fräulein Risette, 21 Rue du Faubourg St. Honoré, und der Wechsel war von nachfolgenden Zeilen begleitet: „Mein Herr! In der Inlage beehre ich mich Ihnen die Summe zurückzuerstatten, die Sie vor neun Jahren zum Ankauf eines Putz-Geschäftes mir darzuleihen die Güte hatten.

Empfangen Sie den Ausdruck meiner herzlichen Dankbarkeit.

Risette.“ 

Drei Tage lang behielt Alfred den Brief in seiner Tasche; endlich sagte er sich, wie thöricht es sei, länger dem sehnlichen Wunsche zu widerstehen, das gute Mädchen wiederzusehen, das er so herzlich geliebt hatte. Er eilte zu ihr. Ihr Anblick erweckte ihm eine Fülle der glücklichsten Erinnerungen; sie stand vor ihm, wie seine Jugend!

… – „Ein entzückend Bild,
Als jugenderstes, längstentbehrtes, höchstes Gut!
Des tiefsten Herzens frühste Schätze quollen auf –“

und er lag zu ihren Füßen und bedeckte ihre Hände mit Küssen. Sie durchlebten noch einmal im Geiste die schönen Jahre ihres Jugendglückes, das sie so heiter und treu getheilt hatten. Der Eselspartie in Montmorency wurde hierbei natürlich auch gedacht. Etwa vierzehn Tage nach diesem glücklichen Wiedersehen verkündeten zierlich gestochene Karten den theilnehmenden Freunden und Bekannten „die Verlobung des Herrn Alfred Derval mit Fräulein Risette Moulard.“

Ich war Brautführer bei der Trauung des glücklichen Paares und fröhlicher Gast bei ihrem Hochzeitsschmause, und heute bin ich der treue Freund ihres Hauses und freue mich ihren reinen Glückes. Ich pflege meine Sonntage bei ihnen zuzubringen, wo, mir zu Ehren, deutsche Leibgerichte aufgetragen werden und wo ich dann beim Nachtisch den kleinen Alfred auf meinen Knieen schaukeln darf, der mittlerweile angekommen ist und die Freude und das Entzücken seiner glücklichen Eltern bildet.




Noch ein ungedrucktes Lied von Hermann Marggraff.

Wenn Du zu lieben hältst für Pflicht,
Und es an Liebe Dir gebricht:
     Quäle Dich nicht! quäle Dich nicht!
Denn die Liebe will ungetheilt sein,

5
Ganz vom Haß will das Herz geheilt sein –

Halbe Lieb’ ist umwölktes Licht.

Willst Du dichten ein Gedicht,
Wenn es an Schaffensdrang Dir gebricht:
     Quäle Dich nicht! quäle Dich nicht!

10
Sprudelt der Quell Dir nicht zur Stunde,

Warte, bis er aus tiefstem Grunde
Fröhlich hervor von neuem bricht!




Rosenblätter.

„Laßt die Kinder ihren Müttern
Und die Rosen laßt am Stock!“

ist ein altes wahres Wort. Trotzdem erleidet wenigstens sein zweiter Satz doch wohl einige Einschränkung, denn auch an die gepflückten Rosen knüpft sich manche interessante Erinnerung.

So erzählt man, daß zu Anadom eine gelehrte Gesellschaft bestand, deren Statuten folgende Bestimmungen enthielten: „Die Mitglieder sollen viel denken, wenig schreiben und so wenig als möglich sprechen.“ Der Doctor Zeb, ein hochgelehrter Mann, der berühmt war im ganzen Orient, kam leider zu spät, um sich in diesen Verein aufnehmen zu lassen, der bereits vollzählig war. Um dem Gelehrten begreiflich zu machen, daß er die Zeit der Aufnahme versäumt habe, ließ der Präsident des Vereines vor den berühmten Doctor ein Gefäß niedersetzen, welches so dicht mit Wasser angefüllt war, daß ein Tropfen mehr es unfehlbar zum Ueberlaufen gebracht haben würde. Der arme Doctor verstand hieraus sogleich, daß kein Platz mehr für ihn in der hohen Versammlung sei, und war schon im Begriff sich ganz betrübt zurückzuziehen, da gewahrte er zu seinen Füßen ein Rosenblatt, er hob es auf und legte es leise auf das Wasser im Gefäße nieder – und siehe da! das Gefäß lief nicht über! Diese geistreiche Art zu beweisen, daß bei einigem guten Willen sich doch noch ein bescheidenes Plätzchen für ihn finden könne, entzückte die Versammlung dermaßen, daß sie einstimmig den Doctor Zeb noch nachträglich zu ihrem Mitgliede ernannte.

Maroncelli, der berühmte Leidensgefährte Silvio Pellico’s, mußte sich während seiner Gefangenschaft einer Amputation unterwerfen. Gern hätte er den Arzt für die gewagte und mühevolle Operation belohnt, aber er besaß nichts. „Doctor,“ sagte er zu dem Arzte, „ich habe nichts, gar nichts auf der weiten Welt, als diese Rose hier, die ihren Stiel in einer Tasse Wasser badet. Sie ist die Gefährtin des Gefangenen, die einzige Freude seines Kerkers ich schenke sie Ihnen!“


  1. Wolf und Walther v. Goethe sind gegenwärtig Kammerherren im Dienst des regierenden Großherzogs Alexander. Die von ihrem Großvater sorgfältig bewahrte Zeichnung haben auch sie aufgehoben und hatten sie, wie sie mir vor Kurzem freundlich versichert, sehr in Ehren. Aehnlich waren die Bildnisse damals, aber die jetzigen Kammerherren hätte ich freilich darnach nicht erkannt.
  2. Aus derselben frischen Feder wird die Gartenlaube ihren Lesern fortan in regelmäßigen Bildern und Skizzen das Interessanteste aus dem öffentlichen und socialen Pariser Leben vorführen. D. Red.