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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[225]

No. 15.   1864.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.





Der Schatten.
Erzählung von Carl August Heigel.
(Fortsetzung.)

„So lange Graf Heinrich lebte,“ sagte Heinrich mit einem bedeutsamen Blick zu seinem Begleiter, „ward in Waldenburg nicht gebettelt.“

„Es ist des hinkenden Robert Sohn,“ erwiderte Angelo. „Sein Vater ward in Ungnade entlassen und nagt nun am Hungertuche.“

„Der Jäger Robert? Allerdings ein plumper Gesell, aber –“

„Er hinkt. Die Frau Gräfin hat einen ausgeprägten Schönheitssinn. Die Leute in ihrer Umgebung müssen hübsch und gewandt sein. Man will mit seinem Staat doch Staat machen. Und dann benahm sich Robert grob gegen Herrn von Montigny … Ist Dein Vater zu Hause?“ wandte er sich an den Knaben, der neben ihnen her lief und unermüdlich „Bitt’ schön! bitt’ schön!“ sagte.

„Ja, Vater und Mutter sind daheim,“ erwiderte der Junge. „Vater hat einen Rausch, und die Mutter schimpft. Bitt’ schön!“

„Laß uns eintreten,“ sagte Heinrich entsetzt. „Der Mann muß gerettet werden.“ Sie traten in eine elende Hütte, die am Ausgange des Dorfes lag. Die einzige Stube, durch eine Breterwand vom Stall getrennt, war nur schwach erhellt, die Luft darin dumpf und schwül. Am Heerd glimmten einige Kohlen und rösteten eine Hand voll roher Kartoffeln. Eine häßliche Frau mit wirrem Haar und ungeordneter Kleidung saß am Tische und säugte ein Kind. Ein älteres Mädchen balgte sich auf dem schwarzen Fußboden mit einem Dachshund; der Vater, ein bärtiger, wild aussehender Gesell, lag auf dem Bett. Als Heinrich und Angelo hereintraten, schrie das Kind, der Hund bellte, die Frau zerrte keifend ihren Mann empor, und dieser fluchte.

„Pater Angelo ist da, siehst Du denn nicht?“ schrie das Weib. „Pater Angelo vom Schloß, Du Trunkenbold!“

„Hol’ der Teufel das Schloß und Alle, die drin sind!“ lallte der Mann.

„Er weiß nicht, was er redet,“ wandte sich die Frau entschuldigend an Angelo. „Seitdem ihn die Frau Gräfin entlassen hat – was sie vor Gott nimmer verantworten kann – ist er ein Säufer. Schnaps ist Brod, Trost und Recht, sagt er. Ach, ich bin die unglücklichste Frau auf der Welt! Wir müssen elend zu Grunde gehen, aber die Gräfin soll auf ihrem Sterbebette an uns denken.“

„Gieb mir die Kugelbüchse ’runter,“ stammelte der Jäger, als er seine Frau schluchzen hörte. „Ich schieß’ ihn todt, den Hund, den Montigny. Gieb mir die Kugelbüchs’ …“

Seine Frau sprang auf ihn zu und rüttelte ihn unsanft an der Schulter. „Aufstehen sollst Du,“ schrie sie, „und Deine dummen Reden lassen! Oder man wird Dich auf’s Landgericht bringen und einsperren. Ach, Sie sagen’s nicht weiter, Hochwürden! Er ist so betrunken. Und Herr von Montigny ist an allem Unglück schuld. Sehen Sie, der selige Herr Graf war ein guter, aber ein wenig verworrener Herr. Er hätte in seinem Leben keine Gams getroffen. Wenn ihm nun ein Stück Wild in den Schuß kam, knallte mein Mann zugleich mit dem Grafen los, und der Herr Graf hat nichts gemerkt und sich über seinen eingebildeten guten Schuß gefreut. Wie nun im Frühjahr mein Mann zum ersten Mal hinterm Herrn von Montigny auf der Heinrichswand am Anstand steht und ein Gamsbock drüben vorbeisetzt, schießt Herr von Montigny und mein Mann schießt auch. Es lag ihm in der Hand vom Seligen her. Was aber thut der Andere? Sowie der Gamsbock gefallen ist, dreht er sich um und haut den Robert mit seinem flachen Saufänger. Mein Mann verschluckt’s, holt den Gamsbock, weidet ihn aus, nimmt die Kugel ’raus – es war seine Kugel – und sagt: wenn Sie allein geschossen hätten, könnte der Bock noch hundert Jahr’ leben! … da war’s aus; nach Hause kommen und seinen Abschied kriegen, war eins.“

„Betet für den seligen Herrn,“ sagte Angelo. „Vielleicht schickt er Euch Hülfe.“

„Ach, todt ist todt. Ein lebendiger Bettelmann kann mir mehr nützen, als ein todter König. Ich wollte, Herr von Montigny wäre uns gnädig, denn der ist jetzt Herr auf Waldenburg.“

„Recht hast Du, Frau,“ brummte der Jäger, der sich unterdessen ermuntert hatte. „Ich will zum Herrn von Montigny. Vivat der Herr von Montigny!“

„Komm!“ flüsterte Heinrich, „ich ersticke hier.“ Er legte ein Goldstück auf den Tisch und eilte, bevor die überraschte Frau Worte fand, in’s Freie.

Schweigend schritten sie nebeneinander her. Schon walteten tiefe Schatten, vom Fluß stiegen Nebel auf und am schwarzblauen Himmel traten Mond und Sterne hervor. „Begleite mich nicht weiter,“ sagte Angelo am Eingang eines finstern Fichtenwaldes. „Kehre in Dein unglückliches, entweihtes Haus zurück! Morgen Nachmittag treffen wir uns in der Sennhütte hinter der Heinrichswand. Gute Nacht!“

Sie trennten sich. Langsam ging Heinrich nach Waldenburg zurück. Als er über den stillen Schloßhof schritt, sprang aus einem dunkeln Winkel ein angeketteter großer Hund heulend empor. [226] „Diana!“ sagte Heinrich für sich und trat an den Hund heran. Dieser aber stieß plötzlich einen fast menschlichen Schrei aus, richtete sich an Heinrich empor, umarmte ihn mit seinen Vordertatzen, leckte ihm Gesicht und Hände, sprang wieder herab, wedelte mit dem Schweif und heulte, bellte, winselte und schluchzte. „Du kennst mich noch, du treues Thier,“ sagte Heinrich.

Ein Diener erschien mit einer Peitsche und drohte Dianen.

„Willst du ruhig sein, Köter!“ sprach er. „Hochwürden haben wohl Hunde gern? Die Frau Gräfin mag sie nicht. Kommen Sie, Hochwürden! Ich habe Ihnen auf Ihrem Zimmer den Thee servirt. Ruhig, Köter! –“




Der Gräfin Stephanie Schlafgemach stieß – wie schon erwähnt wurde – an das gelbe Zimmer. Die Corridorthür im letzteren wurde Nachts von innen zugeschlossen, dagegen die Flügelthür des Boudoirs weit geöffnet. Das Himmelbett der Gräfin stand dem Eingange gegenüber, so daß sie erwachend in das gelbe Zimmer und die Thür, die zu Fräulein Fanny führte, sehen konnte. Das Boudoir hatte verschlossene Läden und lag völlig dunkel, während im gelben Zimmer allnächtlich eine Lampe brannte. Diese Lampe stand seitwärts auf einem Tische, so daß Stephanie den lichten Raum, nicht aber das Licht erblickte.

Mitternacht war noch nicht lange vorüber, als Stephanie aus bangen Träumen erwachte. Sie richtete sich seufzend empor; dabei streifte ihr Blick das helle Gemach und den Parketboden, auf dem das Licht weiß wie Schnee lag. Ein jäher Schrecken durchzuckte Stephanie; sie wollte einen Schrei ausstoßen und nach dem Klingelzug über dem Kissen greifen, aber das Entsetzen lähmte ihren ganzen Körper. Im gelben Zimmer war Jemand. Der Schatten eines in einen Mantel oder ein Laken verhüllten Mannes zeichnete sich auf dem Parket ab. Stephanie konnte nicht den Mann selber sehen, nur seinen Schatten sah sie, unbeweglich, aber darum auch unleugbar, bestimmt, schrecklich deutlich. Der Todesschweiß trat auf Stephaniens Stirn; ihr Herz begann schnell und schneller, zuletzt hörbar zu pochen … mit halbem Leib aufgerichtet, starrte sie auf den finstern, drohenden, unbeweglichen Schattenriß … So saß sie eine Ewigkeit der Hölle, bis ihr Gehirn sich drehte, ihre Augen sich schlossen und sie ohnmächtig mit einem leisen Stöhnen zurücksank. Als sie erwachte, war der Schatten verschwunden; Stephanie riß am Klingelzug, und Fanny erschien.

„Hörtest Du nichts?“ fragte hastig die Gräfin. „Jemand war im gelben Zimmer!“

Erschrocken eilte das Mädchen in’s anstoßende Gemach, kam aber bald lächelnd zurück. „Unmöglich,“ sagte sie, „der Schlüssel steckt in der Thür …




2.

Heinrich schlief in Angelo’s Thurmzimmer. Er hatte von vergangenen Tagen geträumt und, frühe am Morgen von Schritten geweckt, fragte er halb im Traume noch: „Sind Sie es, Joseph?“

„Bitte, Titus, mein Herr!“ sagte der Bediente, der ohne Umstände eingetreten war und ein Kaffeebret mit Heinrich’s Frühstück auf den Tisch stellte.

Der Graf richtete sich auf, rieb sich die Augen und erblickte einen zwerghaften Burschen in weißer Livree. „Ist Joseph nicht da?“ fragte er, noch verwirrt.

Der Groom drehte das runde, dummdreiste Gesicht von räthselhaftem Alter nach dem Fragenden. „Meinen der Herr Kaplan des verstorbenen Grafen Kammerdiener?“

Des verstorbenen Grafen! Dies Wort rief Heinrich in die Wirklichkeit. „Ja, den mein’ ich,“ sprach er mit gleichgültigem Ton. „Hieß er nicht Joseph?“

Der Kleine stellte sich breitbeinig vor Heinrich’s Lager, steckte seine Rechte in die Hosentasche, zwinkerte mit den Augen und grinste: „Der Joseph ist nicht mehr da. Er steht jetzt bei einem Herrn von Specht in Condition. Nicht viel los mit dem Herrn von Specht! ’s ist ein halbes Jahr her – ich war noch nicht lange bei der Frau Gräfin, und wir wohnten damals in der Stadt …. Famoses Leben in der Stadt! …. Abends spielten ich, Franz und Joseph im Vorzimmer unser Tarok. Natürlich kam’s dabei jedesmal zwischen den beiden Kammerdienern zum Streit, Und eines Abends haut der Joseph den Franz, aber derb. Was thut der Franz? Er steckt der Gräfin, Joseph habe die goldene Uhr des seligen Herrn gestohlen. Richtig war’s; der Kammerdiener wollt’ ein Andenken und behielt die Uhr, die bei der Inventur vergessen worden. Bei Tisch fragt die Gräfin: wie viel Uhr ist es? und der Dummkopf Joseph zieht, ohne weiter zu denken, des Grafen Uhr und sagt: halb Vier. Nun wußte die Frau Gräfin freilich, wieviel es geschlagen hat, und Abends hatte der Joseph seinen Abschied. Aber auch der Kammerdiener Franz ging bald darauf ab.“

„War auch er ein Dieb?“

„Hm, das weiß ich nicht. Er ging freiwillig, denn der Banquier Levy bot ihm als Tafeldecker zwanzig Gulden mehr, als er bei uns hatte.“

Der Graf blickte finster vor sich hin. Sein ehrlicher Joseph – ein Dieb! Franz, den Waldenburg’s Vater aus bitterer Noth riß, der zwanzig Jahre lang des Grafen Brod aß, verläßt um eines kleinen Vortheils willen seine Herrin … „Ach, Angelo!“ seufzte Heinrich in seinem Herzen.

„Zu des seligen Grafen Zeit,“ fuhr der Groom sich aufblasend fort, „waren nur vier Diener im Schloß. Der Graf soll ein Filz gewesen sein. Jetzt haben wir sechs. Ich und Banks, der Neger, bedienen die gnädige Frau. Seit einigen Wochen brachte ich Pater Angelo das Frühstück, denn Lafleur hat den Herrn von Montigny, die beiden Jäger warten den Aßperg’s auf, und Schramm putzt die Stiefeln. Ein strenger Herr, der Herr Pater! Um vier Uhr stand er auf, um fünf mußte seine Milch auf dem Tische stehen. Wenn Sie das Frühstück künftig später wünschen, mir ist’s recht. Ich schlafe je länger, je lieber.“

„Ich werd’ es wie Pater Angelo halten,“ sagte Heinrich kurz.

„So?!“ versetzte der Groom gedehnt. „Sonst nichts zu befehlen?“

„Nein. Wie ist doch Dein Name, Kleiner?“

Dieser schleuderte auf Heinrich einen empörten Blick, und sich in die Brust werfend, entgegnete er: „Die Frau Gräfin nennt mich Titi, den Uebrigen heiße ich Herr Titus; die Frau Gräfin sagt Du zu mir, Fremden aber bin ich Sie! … Und übrigens bin ich lutherisch, Herr Kaplan.“

Damit kehrte er dem Letzteren gravitätisch den Rücken und verließ das Gemach. Heinrich mußte über die komische Indignation und den unverschämten Hochmuth des Däumlings lächeln. Er stand auf und öffnete, nachdem er sich angekleidet, das Fenster der frischen, würzigen Morgenluft … Vom Thurmzimmer aus konnte man in die Fenster von Stephaniens Gemächern sehen. Die Jalousien waren herabgelassen. „Sie schläft noch,“ sagte sich Heinrich, „schläft nach dem bösen Traum dieser Nacht.“ Er trat zurück und schritt langsam, mit gesenkter Stirn auf und nieder. Er gedachte der Zeit, wo er in früher Morgenstunde am Lager Stephaniens saß, den sanften Athemzügen ihrer Brust wie einer Musik lauschte und unverwandt in das liebliche Gesicht starrte, als sähe er den süßen Schlaf auf den geschlossenen Lidern liegen. Und wenn sie dann erwachte, lächelte sie ihm zu und sagte: „Du böser Heinz!“… Plötzlich flog ängstlich zwitschernd eine Schwalbe am offenen Fenster vorüber, gleich darauf krachte ein Schuß. Heinrich eilte in die Nische und sah hinab.

Auf der Terrasse stand sein Cousin Montigny, die noch rauchende Flinte in der Hand. Unweit davon zuckte der kleine Vogel auf der Erde, aber Jener hatte seines Erfolges nicht Acht, sondern blickte in die Höhe, wo hinter einer hastig geöffneten Jalousie ein weißes Kleid schimmerte, schwenkte lachend seinen Hut und rief: „Guten Morgen, Vielliebchen! Gewonnen! gewonnen!“

Der Fensterladen wurde halb wieder geschlossen, aber einige Secunden später fiel eine Rose hindurch. Montigny hob sie auf und drückte sie an seine Lippen.

Heinrich wankte vom Fenster zurück. „Vergessen, wie ein Schatten!“ flüsterte er.

Sein Herz krampfte sich zusammen. Die Stube ward ihm zu eng; er eilte hinab in’s Freie, durch den Park, durch das Dorf. Vor dem Wirthshaus zum Adler saßen Mägde und wanden Kränze aus Eichenlaub. Der Hausknecht stand auf der Leiter, um über der Thür einen Transparentrahmen zu befestigen, während sein, Herr, der dicke Adlerwirth, in Hemdärmeln und schneeweißer Schürze, das Lederkäppchen keck auf’s Ohr gedrückt, am Fuß der Leiter mit wichtiger Miene „Mehr rechts! Mehr links!“ commandirte.

Heinrich wollte mit kurzem Gruß vorübergehen, aber nicht so dachte der Wirth. Der wollte die eigene Neugierde befriedigen und andrerseits seinen Leuten zeigen, wie wohl er in allen Schloßgeschichten [227] Bescheid wisse. „Hab’ die Ehre, Herr Kaplan!“ rief er Heinrich entgegen und zog tief seine Mütze. „Freut mich die Bekanntschaft Euer Hochwürden zu machen. Ich bin der Adlerwirth. Ja, ja, der Pater Angelo hat uns verlassen. Das war ein Mann! Der hörte das Gras wachsen! Haben der Herr Kaplan in der ersten Nacht gut geschlafen? Wie gefällt Ihnen das Transparent?“

Waldenburg war näher getreten. Die Dirnen hielten in der Arbeit ein und stierten ihn an; auch der Hausknecht hörte zu hämmern auf. Aber kein Gesicht drückte mehr als Neugierde aus. „Man feiert wohl ein Fest heute?“ fragte Heinrich mit einem flüchtigen Blick auf die Guirlanden.

Des Adlerwirths glattrasirtes Antlitz glänzte im Vorgenuß von Freude, Ruhm und Gewinn. Er rieb sich die Hände, schloß vergnüglich die Augen und schnalzte mit der Zunge. „I, ein doppeltes, ein dreifaches Fest,“ rief er, „ein Fest, wie’s Waldenburg noch nicht erlebte! Für’s Erste feiern der Rottmüller und seine Ehehälfte die silberne Hochzeit, und zweitens führt heute ihr Sohn, der schöne Toni, des Silberbauern Afra heim. Was? Das nenn’ ich ein Gaudium! Eine Doppelhochzeit von Vater und Sohn. Das junge Paar das schmuckste im ganzen Dorf, und die Alten die Reichsten! In Wendelstein werden sie getraut, dann geht’s zurück, zum Adlerwirth. Huida! Meine Frau hat gestern und die ganze Nacht Kuchen gebacken, und jetzt brennen schon wieder fünf Feuer in der Küchel und wird gesotten und gebraten wie für den König Pharao. Aber nun bleibt der Hauptspectakel: Weil das Trauerjahr um unsern Herrn – Gott hab’ ihn selig! – um ist, kann die Frau Gräfin heute zur Jubelhochzeit kommen. Herr von Montigny hat’s dem Silberbauern zugesagt, daß sie kommt, mit ihren Gästen zum Adlerwirth kommt. Denn auch im Schloß ist große Tafel und jede Gutsherrschaft im Umkreis von zehn Stunden geladen. Das wird ein Jubel heute, daß die alten Berge wackeln. Sie schenken uns doch auch die Ehre, Herr Kaplan?“

Heinrich’s Antwort kam eine Frauenstimme zuvor, welche aus dem Hintergrunde des Hausflures „Nazi!“ rief; eine Stimme, die wie ein elektrischer Schlag den Wirth und seine Leute durchzuckte; die Mägde begannen plötzlich mit erneutem Eifer zu flechten und zu binden, der Hausknecht aus Leibeskräften zu hämmern. „Gleich, Frau, gleich!“ rief der Adlerwirth in’s Haus. „Heute,“ sagte er zu Waldenburg, „führt sie das große Wort. Wie finden Sie das Transparent? Ein Myrthenkranz und zu beiden Seiten flammende Herzen. Der Huberin Joseph hat’s gemalt, ein blutjunger Bursch’. Der selige Graf wollt’ ihn Maler werden lassen, und das war sein Unglück. Denn nun unser Graf todt ist, hat der Bub’ nicht das Geld, um in der Stadt zu studiren, und keine Lust, Bauer zu werden …“

Wieder unterbrach ihn die Stimme: „Nazi! Blitzkerl! Wo schwatzest Du denn wieder? Willst Du gleich den Keller –“

„Adlerwirth,“ sagte auf der Leiter ängstlich der Hausknecht, „die Frau will den Kellerschlüssel …“

„Gleich, Frau, gleich!“ rief der Redselige. „Sehen Sie, Herr Kaplan,“ fuhr er gegen Heinrich gewandt, aber den Blick unruhig nach der Thüre gerichtet, fort, „im Kranz sollte ein Spruch stehen, der auf die Herrschaft sich bezieht, aber mir fällt nichts ein. Wissen Sie keinen Vers, Herr Kaplan?“

„Ei,“ erwiderte der Andere nach kurzem Besinnen, „nehmt den Wahlspruch der Waldenburg, der in der Schloßkapelle steht!“

Der Adlerwirth schlug sich vor die Stirn. „Richtig! das ist’s! der Wahlspruch muß drauf! Nimm den Rahmen nur wieder ab, Stoffel; nimm ihn ab und lauf’ zum Huber-Joseph! Er soll den Spruch hineinmalen; hörst Du, den Spruch, der in der Schloßkapelle steht …“

„Nazi!“ tönte die Stimme heftiger. „Nazi! Kreuzelement …“

„Adlerwirth, die Frau Loni!“ mahnten die Kranzwinderinnen.

„Herr Jesus, ich komme ja… Nichts für ungut, Hochwürden! - Ich will meine geplagte Frau heute nicht ärgern, sonst sollte sie sehen … Na, tausend Dank für den guten Rath. – Spute Dich, Stoffel! – Hab’ die Ehre, Herr Kaplan!“ Und mit den Schlüsseln rasselnd, stürzte er sich eilig in den Hausflur. Heinrich aber setzte seinen Weg fort.

Er ging zum Fluß hinab, um sich an’s andre Ufer fahren zu lassen. „Gelobt sei Jesus Christus!“ sagte der alte Fährmann, der, seine Pfeife rauchend, im Kahne saß.

„In Ewigkeit, Amen!“ erwiderte Waldenburg den frommen Gruß.

„Schönes Wetter heute,“ begann der Alte, während der Nachen einer Kette entlang glitt und vom Ruderschlag vorwärts getrieben wurde. „Ihr kommt wohl vom Schloß, hochwürdiger Herr?“

„Ja.“

„Da geht’s heute wieder hoch her,“ sagte der Schiffer schmunzelnd. „Sonntag ist dort alle Tag’. Ein lustig Haus, seit der Graf todt ist! Mir kann’s recht sein. Ist das Schloß voll, wird mein Fischkasten leer.“

„Kanntet Ihr den Verstorbenen?“

„Freilich; hab’ ich doch die gräfliche Fischerei und Fähre seit zwanzig Jahren in Pacht! Fuhr ihn oft genug über, ihn und seinen Fuchs, den jetzt der Silberbauer hat. Er stieg im Kahn immer ab vom Gaul und schaute während des Fahrens in’s Wasser – gerade wie Ihr jetzt.“

Heinrich sah betroffen empor, aber der Alte verfolgte seinen Vergleich nicht weiter, sondern lachte still vor sich hin. „Ja, ja,“ sagte er, „sein Vetter, der Montigny, macht’s anders. Eins, zwei, drei, setzt er in den Kahn, daß ich oft meine, er und sein Gaul müßten Hals und Bein brechen. Und dann dreht er sich im Sattel bald links, bald rechts, fuchtelt mit der Peitsche, pfeift und kann nicht schnell genug drüben sein… Aber ich seh’ den Wildfang gar zu gern, und wenn ich ihn ansehe, werd’ ich fast selber wieder jung. Der Selige war ein stiller, guter Herr, und ich wünschte ihm hundert Jahr zu leben; aber todt ist todt, und wenn unsere Gräfin wieder heirathet, soll ein Huchen groß wie ein Walfisch auf den Hochzeitstisch …“

Wieder lachte der Alte und stieß den Kahn an’s Land. „Ihr bleibt wohl nur eine Pfeife lang, Hochwürden?“ fragte er.

„Ich komme bald wieder,“ erwiderte Waldenburg und verließ das Fahrzeug.

„’s ist rattenkahl geworden, hier drüben,“ meinte der Schiffer.

Heinrich schlug den Waldweg ein. Dieser führte durch junges Nadelholz, plötzlich dann stand man vor einer ungeheuren Lichtung. Soweit Heinrich’s Auge reichte, sah er links und rechts einen schattenlosen Grund sich dehnen, mit Wachholdergestrüpp und Haidekraut bewachsen. Zahllose Baumstrunke waren die traurigen Ueberreste eines stolzen Waldes. Gegenüber stieg die ernste Gebirgswand empor. Die Sonne schien in die Tannen auf ihrem Gipfel, daß sie wie ein zierliches Asbestgewebe durchsichtig golden schimmerten. Aber Heinrich’s Blick haftete auf dem Boden. Er blieb, die Hände gefaltet und Thränen im Auge, stehen.

„Hierher lenkt’ ich einst den Schritt,“ dachte er, „Tag für Tag seit meiner Knabenzeit. Hoch wölbten sich die Bogen, und ich ging unter ihnen dahin wie in einer Kirche. In warmen Nächten wandelte ich hier mit Stephanie Hand in Hand. Wir ließen uns am Fuß von Stephaniens Eiche nieder, sahen den Mond wie ein Freundesantlitz durch’s Gezweige grüßen und flüsterten im geheimnißvollen Wehen der Bäume von den süßen Schauern der Einsamkeit. Dahin, dahin, wie der Traum einer Sommernacht; das grüne Reich gestürzt und vergeudet wie meine Hoffnungen! Habt Ihr keinen Schatten mehr für mich? Die Lerche hör’ ich schmettern, aber wo sind die andern Sänger?“

Der Anblick der sinnlos beraubten Gründe, wo nirgends eine Spur neuer Umwandlung und künftiger Schöpfung sich zeigte, that ihm zu weh. Er kehrte zum Fluß zurück.

Während der Kahn an’s andere Ufer trieb, sagte der Fährmann mit einem schlauen Blick auf Heinrich: „Da war einmal ein schöner Forst. Aber auch die Axt, die ihn umhieb, hatte einen schönen Silberklang. Vor Alters sah man so ’nen Wald ehrfürchtig wie ein Tabernakel an und rührte nicht dran. Heutzutage ist man klüger. Anstatt Geld für den Wald auszugeben, macht man den Wald zu Geld. Ja, solang Einer nicht todt ist, kann er jeden Tag Neues lernen. Der Graf wollte nicht klug werden, drum starb er so früh … Wir Fischer, Hochwürden, haben Zeit zum Denken. Manchmal denk’ ich Lustiges, manchmal Trauriges, und zuweilen kommt mir das Kluge und das Einfältige, kommt mir Alles wie Rauch vor.“ Er blies eine Dampfwolke aus der Pfeife, die er zwischen den Zähnen hielt …

Fünf Stunden später führte Banks, der Neger, den Kaplan zur Frau Gräfin. Sie saß mit ihren Gästen und Fanny auf der Terrasse, unter einem Zeltdach. Die Baronin Aßperg lehnte in einem indischen Schaukelstuhl, eine magere Gestalt mit einem Kopf, der nie schön, aber immer noch „interessant“ war, das Gesicht von, gelblicher, doch durchsichtiger Farbe, die Nase lang und schmal, [228] die Augen dunkel, die Stirn niedrig und von schwarzem Haar umrahmt. Der Mund war groß, aber wenn sie lachte, zeigte er tadellose Zähne. Ihr Gemahl, dessen verblühtes Gesicht nichts Auffallendes hatte, als einen unmäßig langen Backenbart, saß der Gräfin zur Linken; Montigny hatte zwischen der Baronin und Fräulein Fanny Platz genommen.

Als Waldenburg sich näherte, schälte Stephanie mit ihren schönen Händen einige Orangen, riß die Scheiben geschickt von einander und überreichte die Krystallteller mit der zurechtgelegten Frucht den beiden Herren, welche die süße Kost von ihrer Hand bereitet sich erbeten hatten.

„Jedenfalls eine wilde Art, Vielliebchen zu gewinnen, Cousin!“ hörte Heinrich die Gräfin sagen. „Meine arme Fanny weckten Sie aus dem Schlaf und mir bereiteten Sie den zweiten Schrecken heute.“

„Den zweiten, meine Gnädigste?“ fragte Aßperg.

„Ja, mein erster war nichts mehr und nichts weniger als ein Schatten … Bon jour, Herr Stein!“ unterbrach sie sich, mit einer leichten Kopfwendung Heinrich begrüßend. „Mein Kaplan, Herr Stein! – Frau Baronin Aßperg – Baron Aßperg – Herr von Montigny.“

Man grüßte den Fremden, der sehr schüchtern erschien, vornehm kalt. „Nehmen Sie Platz, Herr Stein!“ lud Stephanie ein.

„Ein Schatten? schrecklich! ein Schatten war in Ihrem Zimmer?“ fragte die Baronin.

„Nicht in meinem, sondern im anstoßenden Gemach.“

Montigny that lächelnd die Frage: „Was für ein Schatten? Der Schatten eines Lehnstuhls oder des Kaminschirmes?“

„Halten Sie mich für kindisch, Herr von Montigny?“ entgegnete Stephanie gereizt. „Ein menschlicher Schatten, den ich wachend sah, der kam und verschwand. O, wenn ich jetzt ruhig davon erzähle, glauben Sie dennoch, daß diese Erscheinung mitten in der Nacht entsetzlich, beinahe tödtlich war.“

„Ich wäre gestorben,“ sagte die Baronin.

„Aber, theure Cousine,“ wandte Montigny ein, „nur feste Gegenstände werfen Schatten. Der fragliche also mußte Fleisch und Blut haben, einem Jemand angehören. Sie schlafen aber bei wohlverschlossenen Thüren. Wenn er ging, mußten Sie auch das Schloß drehen und die Thür gehen hören.“

„Fragen Sie Fräulein Fanny!“

Fanny berichtete, was sie vom Ereigniß wußte, daß sie tief in der Nacht vom Klingeln der Gräfin geweckt worden und augenblicklich in das Boudoir geeilt sei; daß sie die Gräfin halb ohnmächtig vor Schrecken über einen Schatten, im gelben Zimmer aber Alles unverändert und verschlossen gefunden habe.

„Mein Gott, am Ende spukt es in diesem Zimmer!“ sagte die Baronin. „Wählen Sie ein anderes Boudoir, liebe Stephanie !“

Diese wandte sich an Heinrich, der bisher kein Wort gesprochen hatte. „Was ist Ihre Meinung, Herr Stein? Glauben Sie an Gespenster?“

„Ich will die Todten ruhen lassen,“ erwiderte dieser langsam, „aber ich glaube an Gespenster unserer Seele. Gedanken, die uns beunruhigen, nehmen gleichsam Gestalt an und fallen wie Schatten auf unsern Weg … Erinnerte Sie das Schattenbild nicht an irgend eine bestimmte, Ihnen bedeutende Person, Frau Gräfin?“

Beim Klang von Waldenburg’s Stimme überfiel Stephanie wieder ein leises Zittern. Ihr Auge hing an seinen Lippen, ihr Gesicht ward plötzlich ernst und nachdenklich.

Edgar Montigny, dem der trübe Eindruck von Heinrich’s Rede auf seine Cousine nicht entging, sagte wegwerfend: „Sie nehmen das sehr feierlich, sehr poetisch, Herr Stein. Meine arme Cousine wird nun so lange sinnen und grübeln, bis sie einen Menschen zu diesem Schatten gefunden hat, und dann gute Nacht, süßer Schlaf! Nein, theure Gräfin, sehen Sie das Ding als das an, was es war, ein Schatten, ein Nichts!“

„Ganz meine Meinung,“ bemerkte Baron Aßperg.

Stephanie faßte sich gewaltsam und versetzte mit schwachem Lächeln: „Sie haben Recht, Montigny. Am Ende war’s nur eine Wolke, die über den Mond ging …

Fröhliche Musik unterbrach sie. Ueberrascht lauschten Alle, und Stephaniens Antlitz erheiterte sich dabei mehr und mehr. „Die Leute spielen nicht schlecht,“ sprach sie nach einer Weile. „Es ist das Musikcorps des Regiments Oranien, das in der Festung Rain liegt. Ich habe sie mir vom Commandeur erbeten, damit wir heute Abend gute Musik haben …“ Sie summte einige Takte der rauschenden Weise. „Eine allerliebste Polka,“ sagte sie und warf einen schelmischen Blick auf ihren Cousin. „Wollen wir nicht tanzen, Montigny?“

Au bal!“ jauchzte dieser und sprang empor. „Liebe Cousine, Frau von Aßperg – beginnen wir das Fest!“ Die Damen lehnten lachend ab.

„Montigny, Sie sind unverwüstlich,“ sagte der Baron, sich im Stuhl dehnend. „Heute Nacht bis zwei Uhr Ecarts mit mir gespielt; um fünf Uhr eine Schwalbe geschossen – ein verwünscht schwerer Schuß, meine Damen! – und nun denken Sie schon wieder an’s Tanzen! Unverwüstlich, auf Ehre!“

Hurrah’s schallten vom Dorfe her, Schüsse krachten und widerhallten in den Bergen. „Die Hochzeit!“ sagte Fanny. „Sie ziehen nach Wendelstein.“

Banks erschien und meldete, daß Gäste den Schloßberg herauf gefahren kämen. Alle erhoben sich. „Wir wollen die Ersten mit Blumen und wehenden Tüchern empfangen,“ rief Stephanie, glühend jetzt vor Aufregung und Lebenslust. „Kommen Sie, meine Freunde! kommen Sie! O, dieser Tag soll ein Tag der Musik, der Freude und des Uebermuthes werden!“

Der Baron bot ihr den Arm. Sie nahm ihn an und drehte sich nur noch flüchtig nach Heinrich um. „Ich sehe Sie bei Tisch, Herr Kaplan. Adieu!“ Sie gingen.

Heinrich sah schmerzbewegt seiner Gattin nach, bis sie um die Schloßecke verschwand. Dann sank er auf einen Stuhl, barg sein Gesicht in die Hände und flüsterte: „Todt! vergessen! … In der Verbannung von ihr ergraute mein Haar; mein Körper siechte, mein Herz brach vor Sehnsucht nach ihr – und sie, sie – – wollen wir nicht tanzen, Montigny?“




Die Tafel war glänzend. Der Fürst und die Fürstin Stauff befanden sich unter den zahlreichen Gästen; er ein alter, halb tauber Mann, aber mit dem Brillantstern des L…-Ordens auf der Brust und mit seinem Titel Durchlaucht für die Gesellschaft ein kostbarer Schmuck. Seine Gemahlin, mit flachsblondem Haar und weißen Wimpern, war ziemlich jung und leidlich hübsch.

Sie imponirte durch ihren unnahbaren Stolz. Die Uebrigen waren Gutsnachbarn in Begleitung ihrer Frauen und einige Officiere aus der Festung Rain.

Außer Fräulein Fanny galt nur Heinrich als Bürgerlicher.

Man beachtete ihn daher nur wenig, und er, mit Allen bekannt, von Allen einst als Graf Waldenburg ausgezeichnet, erfuhr als „der arme Priester“ jetzt, daß jene Verehrung nur seinem Rang und Reichthum gezollt worden.

Vor Tische flüsterten sich Einige die Bemerkung zu, daß der Kaplan mit dem verstorbenen Grafen eine entfernte Aehnlichkeit habe. Ein Lieutenant zog auch Montigny bei Seite und sagte mit ironischem Lächeln: „Du, der Schwarzrock dort hat etwas von den Waldenburgs. Er bekam wohl aus besondern Gründen diese Sinecure? Ein linker Bruder vom Seligen, was?“

Montigny bestritt lebhaft jede Aehnlichkeit. „Parbleu,“ schloß er, „sage von meinem „Vetter, was Du willst; er war nervös, mondsüchtig, überspannt, aber er sah doch immer wie ein Aristokrat aus, während ich diesen Herrn Stein niemals für Einen von Geblüt und ohne seinen Pfaffenkittel für einen ausgehungerten Schulmeister halten würde.“

Montigny sprach dies mit einem verächtlichen Blick auf den einsam stehenden, blassen Mann, sprach’s im übermüthigen Bewußtsein, daß ihn die Blicke aller Damen suchten, ihn alle Männer beneideten. Er war so hübsch, so geschmeidig und beredt. Zwar modegültig und elegant gekleidet, doch nur im schwarzen Gesellschaftsanzug, besiegte er gleichwohl selbst die Uniform. Gewachsen wie ein Antinous, hatte Montigny den Kopf eines schönen Provençalen. Das blauschwarze Haar, kräftig sich ringelnd, duldete kaum den Scheitel. Die glänzenden Augen, die aufgeworfenen Nasenflügel, die vollen Lippen, über welchen der keckaufgedrehte, schwarze Schnurrbart saß, verriethen Gesundheit, Temperament und sinnliche Kraftfülle. Man konnte ihn nicht ansehen, ohne auf einem feurigen Roß ihn dahinjagend sich zu denken. Er hatte außer dem Cavalier etwas Zigeunerhaftes in seiner Erscheinung, aber gerade dieser wilde Zug hob ihn in den Augen der Frauen, und er wirkte mit fast dämonischem Zauber auf sie.

(Fortsetzung folgt.)
[229]
Eine Perle deutscher Architektur.


Der Erfurter Dom.
Nach der Natur aufgenommen und auf Holz gezeichnet von Sprosse.


Der große Zug der Reisenden nach dem schönen Thüringer Lande und seinem frischen grünen Walde berührt zwischen Weimar und Gotha die preußische Festung Erfurt, deren umfangreiche Werke den Wanderer nicht zur Einkehr auffordern, obwohl ein freundliches, mit schönen Waldungen und reichen Blumen-, Frucht- und Gemüsegärten geschmücktes Hügelland die altehrwürdige thurmreiche Stadt umgiebt, welche auch an sich dem Freunde der alten Städtegeschichte und der Kunstdenkmäler erhebliches Interesse bietet.

[230] Die Chronisten nennen sie „die große, gedächtnißwürdigste, die volkreiche Hauptstadt Thüringens“, und in der That bestätigen noch viele Spuren, daß Erfurt im Mittelalter zu den größten und ansehnlichsten Städten Deutschlands gehörte. An der Hauptverbindungsstraße zwischen dem Norden und Süden des deutschen Reiches gelegen, bildete es zugleich einen Knotenpunkt für den Verkehr nach Osten und Westen. Handel und Gewerbe standen in höchster Blüthe, als es sich dem Bunde der Hansestädte anschloß. Aber auch eine bedeutende, bewegte Geschichte füllt die Annalen der kaiserlichen oder Reichsstadt. Ein sich fühlendes Bürgerthum lag fortwährend mit mächtigen Nachbarn in offener Fehde oder stritt mit der kaiserlichen oder Mainzer Statthalterschaft um alte Rechte. Gegen landadelige Patrizierkasten, die sich zu städtischer Aristokratie ausbildeten, brachen blutige Empörungen aus; kurz, es war ein unaufhörliches, muthiges, zu Zeiten tolles Treiben der stolzen Bürgerschaft außer- und innerhalb der Ringmauern. Aber auch ungeheure, sich öfter wiederholende Feuersbrünste legten große Theile der Stadt in Asche, und pestartige Epidemien rafften viele Tausende der Bewohner hinweg.

So erlosch der alte Glanz; doch heute noch zeugen von ihm viele Patrizierwohnungen, die aus der schönsten Zeit mittelalterlicher Baukunst herrühren. Von sechsunddreißig Kirchen, welche Erfurt früher besaß, sind noch viele und darunter prächtige Meisterbauten wohlerhalten. Die große Anzahl der Glockenthürme, der Stadt ein wahrer Schmuck, ragen weithin sichtbar über die Ziegeldächer der Häuser hervor.

Ueber alle Bauten hinaus aber erhebt sich majestätisch der Dom mit der an seiner Seite gelegenen Stiftskirche St. Severus, die wetteifernd mit der Höhe der kolossalen Kathedrale ihre drei kupfergedeckten schlanken Thurmspitzen in das helle Firmament streckt. Von einem außerordentlich großen Platze aus steigt die freie Riesentreppe, nach welcher der Platz noch immer vom Munde des Volks „vor den Graden“ genannt wird, zum Domberge empor. Zehn mächtige Bogen tragen einen sehr breiten, sich um den ganzen Chor ziehenden Vorsprung, welcher nach den aus diesen Bogen gebildeten Nischen mit dem seltenen Wort Cavate benannt ist. Man denke sich nun diese Cavate, die Treppe und den Platz von einer prunkvollen, mit wehenden Fahnen dahinziehenden Procession belebt, von einer bunten, mittelalterlichen Volksmenge umgeben, und es giebt ein Bild, der Arbeit des besten Künstlers würdig.

Die gewaltigen architektonischen Massen beider Kirchen wirken von ihrer hohen und freien Lage aus mächtig auf den Beschauer, der mit Bewunderung von der Großartigkeit des Dombaues erfüllt wird. Betreten wir mit ihm die fünf Mal vierzehn Stufen der breiten Treppenflucht, so erfreut uns zunächst an einem Pfeiler ein Denkmal der Dankbarkeit für die reichen Gaben zu diesem Bau in lateinischer Inschrift des 14. Jahrhunderts, die übersetzt lautet: „Im Lobe Christi jauchze, glückliches Thüringen, durch dessen Gnade du dich so hoher Gönner erfreuen kannst.“

Oben angelangt, stehen wir vor dem Hauptportal, einem vorzüglich schönen Bau- und Bildhauerwerke. Es ist ein seltsam herausgehobenes Dreieck am Quergebäude, zwischen Chor und Schiff, das zwei Eingänge von Osten und Westen bildet, über denen sich mit Knospenwerk reich verzierte Spitzgiebel, deren Füllung aus gothischen Rosen besteht, erheben. Aus dem Mittelpfeiler des vorderen östlichen Portals steht die Schutzpatronin der Kirche, die Mutter Gottes mit dem Christkinde auf dem Arme, an den inneren Wänden sind die zwölf Apostel, am westlichen Eingange die zehn klugen und thörichten Jungfrauen und zwei andere weibliche Statuen zu sehen. An der äußeren abgestumpften Ecke befindet sich eine vergitterte Nische in Kapellenform, welche eine uralte bemalte Statuette der heiligen Anna birgt, die wahrscheinlich früher das Ziel frommer Wallfahrer und somit eine ergiebige Quelle für die Baucasse war. Ueber diesem Kapellchen schmücken drei prächtige Bildsäulen von Bonifacius, Adolar und Eoban den aufstrebenden Eckpfeiler, den würdigen bedeutungsvollen Platz für die ersten Lehrer des Christenthums in Thüringen, welche auch die ersten Erbauer eines Kirchleins an derselben Stelle waren. Der Pfeiler geht in einer merkwürdigen steinernen Laterne von zierlicher Form aus, die gewiß nicht nur als bloßes Symbol des Lichtes, das von hier ausstrahlte, sondern zu wirklichem Leuchtfeuer gedient, ihre Helle weithin gesendet und den wunderbaren Steinbau mit magischem Lichte übergossen haben mag.

Dieses herrliche Portalwerk, das durch seine überreichen Verzierungen das höchste Interesse erregt, ist besonders wegen des hohen Alterthums der Bildsäulen wichtig, die vielleicht schon den ersten Dom, der im 12. Jahrhundert hier auf dem Felsen stand, schmückten. Die Restauration hat sich diesem baulichen Schatzkästlein mit besonderer Vorliebe und Meisterschaft zugewendet und alle Lücken und Verwüstungen, welche Zeit, Unglück und barbarische Mißhandlung vielfach angerichtet hatten, auf das Beste ergänzt und beseitigt.

Nahebei steigen von einem riesigen Unterbau, dem ältesten Theile des Domes, die kolossalen Thürme empor. Die einfachen Rundbogen des Frieses und der Fensteröffnungen bekunden den byzantinischen oder romanischen Baustyl, der im 13. Jahrhundert dem gothischen oder altdeutschen Spitzbogen weichen mußte. Noch in den oberen Stocken zeigen die Fenster bald Rund-, bald Spitzbogen.

Wir befinden uns auf dem sehr geräumigen, mit Sandsteinplatten belegten Umgange der Cavate und betrachten den Chorbau, der nach Osten uns auf der vortrefflichen Abbildung entgegensteht, in seiner großartigen reinen Schönheit. Fünfzehn bis zu enormer Höhe sich emporstreckende Fenster mit zierlichem, unerschöpflich mannigfaltigem Steinhauerwerk und zwischen ihnen die noch höher in Spitzen auslaufenden Pfeiler, mit trefflichen Bildnerwerken geschmückt, bilden diesen Haupt- und schönsten Theil des Gotteshauses.

Die schöpferische Kraft der Erfindung, der Thaten- und Opferreichthum des christlichen Mittelalters, die Herrlichkeit der altdeutschen Baukunst, „der großen harmonischen Massen, zu unzähligen kleinen Theilen belebt“, treten uns da mit hoher Gewalt vor die Seele. Die erste Bestimmung aller Baukunst, einen Raum einzuschließen, scheint hier am Chor aufgehoben zu sein, denn es giebt keine Wände, sondern nur Fenster und Pfeiler nach oben strebend, wie der lichtvolle Gedanke des Christenthums. Wir werden an F. Schlegel’s schwärmerischen Ausspruch erinnert: „Die Kunst kann das Unendliche gleichsam unmittelbar darstellen und vergegenwärtigen.“

Das Lichtmeer, welches sich durch die überaus großen Fenster in das hohe Gewölbe des Innern ergießt, würde kaum zu ertragen sein, wenn es nicht durch Glasmalereien gedämpft würde. Fabeln aber immer noch neuere Romantiker von mystischem Dunkel in gothischen Tempeln, so ist diese poetische Licenz als ein Irrthum entschieden zurückzuweisen; denn es giebt keine lichtreichere Baukunst, als die altdeutsche. Die zum größten Theile ausdrucksvollen Bildsäulen der Pfeiler sind nach der Anschauung der christlichen Baukunst so aufgestellt, daß von diesen Wächtern des Gotteshauses die männlichen Heiligen die Ost- und Südseite, die weiblichen die Nordseite einnehmen, gemäß der urchristlichen Sitte, nach welcher Männer abgesondert von den Frauen in der Kirche dem Gottesdienste beiwohnten. An der Spitze der Statuen steht, symbolisch gerechtfertigt, die Patronin des Stifts, die Mutter Gottes, Maria.

An den Pfeilern und ihren untern Verbindungen sind noch schwache Ueberreste von mit Gold belegten Malereien und Aufschriften, deutlich aber die Jahreszahl 1436 zu erkennen. Unter dem Chor hin zieht sich eine geräumige Krypta. Am Ende der Cavate beim südlichen Eingänge zur Kirche beurkundet eine Inschrift, daß der Bau des Chors am 25. März 1349 begonnen. Von dieser Seite des altanartigen Vorsprungs, von dem eine zweite schmälere Treppe nach Osten zum Platze hinabführt, ist eine reizende Aussicht über einen großen Theil der Stadt, in das anmuthige Gerathal, die blauen Berge des Thüringer Waldes im fernen Hintergründe und nach den grünen Höhen des Steigers eröffnet. Von der schwindelnden Höhe der Thürme herab wird die Umsicht außerordentlich erweitert, auch durch den Hinblick auf Erfurts Umgebungen mit den bedeutenden Citadellen, der Cyriaksburg und dem Petersberge, eine ganz herrliche. An derselben Seite führen zu beiden Seiten einer Kapelle zwei Eingänge zu dem einen Garten umschließenden Kreuzgange. Dieser in seiner düstern Stille ist ein höchst interessanter und anziehender Theil des Dombaues.

Wenn man sich im Anschauen der ruhigen Größe, von der stummen Sprache des wunderbaren Steinbaues berührt fühlt, und wenn plötzlich, an einem Ostermorgen, die gewaltige laute Sprache der ehernen Zungen zu reden beginnt; wenn die großen weithintönenden Glocken den Ambrosianischen Lobgesang „Herr Gott Dich loben wir“ intoniren, so giebt es kein Menschenherz, in dem solche Klangschwingungen nicht nachzitterten.

[231] Das weitberühmte Geläute der Domkirche besteht aus zehn Glocken. Im mittleren Thurme befindet sich die sogenannte große Glocke; sie ist Maria gloriosa getauft, wiegt 286 Centner, hat 15 Ellen im Umfange bei 6 Zoll Dicke und 5 Ellen Höhe. Die lateinische Inschrift lautet übersetzt: „Zum Preise der Gönner töne ich ruhmvoll, verjage die Wetter und bösen Geister, verkünde mit heiligem Gesange den vom Volke zu beginnenden Gottesdienst. Ehrh. Won v. Kempen goß mich. 1497.“

Im südlichen Thurme hängen drei Glocken von 66, 28 und 19 Centner, im nördlichen zwei von 82 und 38 Centner Gewicht. Ferner sind noch vier sogenannte Silberglocken vorhanden.

An den Hauptfesten erheben alle Glocken der zahlreichen Thürme der Stadt ihre Stimmen zu einem Geläute, wie wir es in Deutschland kaum schöner hören. Ueber alle die lauten Klänge hinweg herrscht natürlich die Maria gloriosa mit ihrem energischen, sonoren tiefen F, das, obgleich es die Luft auf Meilen durchzittert, von wundersamer Sanftheit erklingt.

Wie durch sein Glockengeläute so ist Erfurt auch durch Orgelspiel weithin berühmt. In einem langen Zeitraume bis heute hat die Stadt, wie Thüringen überhaupt, namhafte Organisten gezogen, deren Meisterschaft überall bekannt ist. Auch der Altmeister Joh. Sebast. Bach und sein Schüler Joh. Ludw. Krebs („der beste Krebs in meinem Bache“) sind in Thüringen geboren. Ein großes Orgelwerk ertönt im Dom. Wir treten durch den westlichen Haupteingang, von dem wiederum zwei Treppen zum Domberge hinabführen, in das Schiff, um von dem Innern des Doms sogleich den mächtigsten Eindruck zu empfangen. Es eröffnet sich vor uns eine fast unabsehbare Ferne von den buntesten Lichtern erhellt. Die ungemein hohen Gewölbe werden im Schiffe von acht Pfeilern getragen, so daß ein Mittel- und zwei ansehnliche Seitenschiffe gebildet werden. Das Quergebäude dehnt sich noch vor dem Chor aus, welchen ein schönes Eisengitterwerk abschließt. Einige Stufen führen zum hohen Chor, dessen Endpunkt der Hochaltar bildet.

Der Chor mit seinem kühngesprengten Gewölbe ohne alles Stützwerk, mit den kostbaren alten Glasmalereien, welche die Architektur durch lichtes Farbenspiel beleben, gewährt den erhabensten Anblick. Die Höhe der Gewölbe ist noch weit beträchtlicher als die des Langhauses. An beiden Seiten laufen Reihen von Chorstühlen, vortreffliche Holzschnitzarbeiten, hin; nur der Altar macht, abgesehen von guten Gemälden, dem Geschmack seines Erbauers wenig Ehre. Die sämmtlichen Fenster sind durchaus mit eingebrannten, zusammengesetzten Malereien erfüllt, welche in ihren figürlichen Darstellungen zwar mangelhaft, aber mit naiver und inniger Empfindung gezeichnet, prachtvoll colorirt und ein Schatz von höchstem Werthe sind. In der Mitte des Chors steht der sogenannte Wolfram, die metallene Gestalt eines fast lebensgroßen Mannes, in den ausgestreckten Händen Leuchter haltend. Es ist dies ein werthvolles Werk des 12. Jahrhunderts und wahrscheinlich die von einem Büßenden zur Sühne dargebrachte Gabe. Ein anderes Kunstwerk der neuesten Zeit, von dem rühmlich bekannten Erfurter Buchbinder Schropp aus Holz und Pappe gefertigt und der Kirche verehrt, ist der 18 Fuß hohe Kronleuchter, ein im reichsten gothischen Styl sich aufbauender Thurm mit einer Menge Statuetten. Die Kanzel nach Schinkel’s Entwurf und der Taufstein, ein vorzügliches Werk des 16. Jahrhunderts, ziehen im Schiff unsere Aufmerksamkeit auf sich. Daselbst ist ein riesiges Wandgemälde von 1499, den heiligen Christoph darstellend, wie er das Christkind durch die Fluthen trägt, eine Art Wahrzeichen von Erfurt. Darunter steht das interessante bemalte Denkmal des Grafen Ernst von Gleichen (1227), denselben zwischen seinen beiden Frauen darstellend. Unter mannigfachen bemerkenswerthen Bildern ist das vorzüglichste, eine Madonna von Lucas Cranach, in der Sacristei geborgen. Unter den Denkmälern zeichnet sich ein von Peter Bischer gegossenes aus. Von den vorhandenen zehn Altären sind mehrere schöne Werke der Sculptur und Malerei. Den Boden des Schiffes bedecken überall Leichensteine mit metallenen Epitaphien.

Zur Geschichte des Dombaues haben sich außer den steinernen Urkunden am Bau selbst nur dürftige Nachrichten in Annalen und Chroniken erhalten.

Bonifacius, der Apostel der Deutschen, errichtete um die Mitte des achten Jahrhunderts in dem damals noch kleinen Erfurt eine Kirche, welche er zum Sitz eines Bischofs in der Person seines Amtsgenossen Adolar zwar bestimmte, die aber nach dem Märtyrertode beider Heiligen (in Friesland 755) erst in ein Kloster, dann in ein Collegienstift verwandelt wurde, nachdem Thüringen dem Erzstift Mainz in geistlichen Dingen unmittelbar untergeben worden war. Um die Mitte des 12. Jahrhunderts stürzte der Bau theilweise zusammen, der Rest wurde niedergeworfen, und ein neuer weit größerer Bau begann wahrscheinlich 1153; denn das folgende Jahr wurden die Körper Adolar’s und Eoban’s beim Ausgraben der Fundamente feierlich erhoben und ausgestellt. Von den für diese Reliquien erlangten Opferspenden mag der Kirchenbau langsam weitergeführt worden sein. Die Gebeine beider Heiligen wurden in silbernen Särgen in einer Kapelle des Domes beigesetzt; im Bauernkriege bewahrte sie zu größerer Sicherheit der Rath der Stadt auf dem Rathhause, ließ jedoch später zur Zeit einer Hungersnoth aus dem edeln Metall der Särge Münzen schlagen, die den Numismatikern unter dem Namen „Sargpfennige“ bekannt sind.

Im Jahre 1225 wurde bereits die erste Orgel aufgestellt, und 1236 feierte man die Heiligsprechung der Landgräfin Elisabeth von Thüringen während zehn Tagen in festlichster Weise unter dem Zuströmen unzähligen Volkes. Eine der größten Glocken Europas, 300 Centner schwer, wurde 1251 auf den Thurm gezogen. Das Schiff der Kirche stürzte wiederum 1452 zusammen, und zwanzig Jahre später ereignete sich bereits ein neues schweres Unglück. Ein aus politischer Rachsucht an mehreren Stellen der Stadt angelegter Brand erreichte auch den Domberg, entzündete das Balkenwerk der Thürme und das Langhaus; die Glocken schmolzen, und das glühende Metall soll die breiten Stufen herabgeflossen sein.

Beim sogenannten Pfaffenstürmen und im Bauernkriege litt hauptsächlich der äußere Schmuck der Kirche; 1717 endlich zerstörte der Blitz die Thurmspitzen. Einen größeren Ruin aber brachte das Jahr 1813. General d’Alton, der französische Commandant der Festung Erfurt, zog die beiden Stiftskirchen wegen der hohen Lage und der Nähe der Citadelle Petersberg zur Befestigung der letzteren und ließ sie durch Palissaden mit ihr verbinden. Schon hierbei wurde rücksichtslose Zerstörung geübt; im Laufe der Blokade aber sind beide Gotteshäuser zu Ställen, Magazinen und Kasernen entwürdigt, und das Innere derselben mit vandalischer Rohheit gänzlich verwüstet worden.

Das Domcapitel begann 1829 hie Restauration des Innern, und 1842 wurde die neue Orgel des Meisters Hesse, aus Dachwig bei Erfurt, aufgestellt.

Wir dürfen diese Mittheilungen nicht schließen ohne ein Wort der Anerkennung für die Männer, welche seit einer Reihe von Jahren die Restauration des Aeußeren des herrlichen Domes leiten. Je langsamer diese gründliche Herstellung nach dem Maße der vom Capitel mit unermüdlicher Opferwilligkeit aufgebrachten Geldmittel vorschreitet, um so solider, geschmackvoller und harmonischer treten die neuen Theile in die Reihe der alten ein. Wir müssen uns über das bisherige glänzende Ergebniß freuen und nicht am wenigsten darüber, daß es besonders heimathliche Talente sind, die hier schaffen und wirken, und ein neues unwidersprechliches Zeugniß für die Tüchtigkeit unsers thüringischen Volksstammes ablegen. Leitende, wir dürfen wohl mit Recht sagen, inspirirende Behörde von ausdauerndster und kenntnißreichster Thätigkeit ist der Regierungs- und Baurath Drewitz; unter ihm arbeiten Pabst und Meygebauer im Bureau; dem Bildhauer Kölling und seinen Gehülfen verdanken wir die schönen Bildhauerwerke.

Mögen sie fortfahren die alten Wunden des schönen Tempels zu heilen, der mit vollem Rechte einst an der Spitze der Prachtbauten stehen wird, die anderwärts nur durch fürstliche Opfer und Beihülfe von Millionen ihrer Vollendung entgegengeführt werden konnten! Möge Thüringen den Dom als einen der ältesten Zeugen seiner bedeutenden Geschichte und die alte Hauptstadt hoch in Ehren halten, deren Ruhm noch vielen Jahrhunderten Erfurts Dom durch Glockenklang und Orgelton verkünde!

[232]
Eine ungewöhnliche Frau.
Von Schmidt-Weißenfels.

In Sanssouci war eins der kleinen Sommerfeste, die Friedrich Wilhelm IV. in der ersten glänzenden Zeit seiner Regierung zu veranstalten liebte und zu denen, außer den Mitgliedern der königlichen Familie, stets eine Anzahl von Personen eingeladen war, die sich durch Ruhm, Talent oder Geist auszeichneten.

Der kunstliebende Monarch hatte erst kurz zuvor eine Sendung antiker Sculpturen und Kunstwerke erhalten, die noch in einem Zimmer des reizenden Landhauses Charlottenhof aufgestellt waren. Ein Theil der Gesellschaft besichtigte dieselben; sie umstand den ehrwürdigen Alexander von Humboldt, welcher in der heitersten Laune über einzelne der Antiken plauderte. Der alte Bildhauer Rauch kam mit einem der Sculpturstücke, um Humboldt eine darauf befindliche griechische Inschrift zu zeigen. In dem nämlichen Augenblicke trat der König herein, gefolgt von einem stattlichen Herrn, der an jedem Arm ein schönes Mädchen führte.

Der König besichtigte mit seiner Lorgnette das von Humboldt gehaltene Sculpturstück. „Was ist dies für eine Inschrift?“ rief er neugierig und sichtlich erfreut. „Was heißt das?“

„Majestät, wir haben hier eine der besten Kennerinnen des Griechischen“ – und indem Humboldt sich an die ältere jener beiden jungen Damen wendete und auf die Inschrift deutete, fuhr er in seiner liebenswürdigen Weise fort: „Durchlaucht, deuten Sie uns dies Orakel?“

Die junge schöne Dame erröthete, aber sie gab die Übersetzung der Inschrift schnell in französischer Sprache, hinzufügend, daß Herr von Humboldt so galant gewesen sei, sich unwissend zu stellen.

Der Alte lächelte; der König sagte der Uebersetzerin eines seiner liebenswürdigsten Complimente; dann verließ er mit dem Herrn und dessen beiden Damen wieder das Zimmer.

„Wer ist diese junge Dame?“ fragte Rauch den Nestor der Wissenschaft. „Sie ist eine Schönheit.“

„Sie kennen sie noch nicht?“ erwiderte Humboldt und ging dabei mit dem greisen Künstler hinaus in die dufterfüllten Rosengänge. „Sie ist eine Fürstin Ghika, die Tochter des Herrn, der sie und ihre Schwester führte, des Fürsten Michael Ghika, Banus von Krajowa. Die Familie ist, wie Sie wissen werden, die erste der Donaufürstenthümer und lieferte seit zweihundert Jahren die meisten Hospodaren und Minister der Moldau und Walachei, ein uraltes rumänisches Geschlecht, welches bis vor einigen Jahrzehnten noch stolz war, von der abendländischen Cultur nicht beleckt zu sein. Aber die Eltern der Prinzeß Helene, deren Schönheit Ihnen mit Recht auffiel, überhaupt die letzte Generation der Ghika, hat die orientalische Bojarennatur abgelegt und ist als die gebildetste Familie in unserem Sinne unter dem türkischen Scepter anzusehen. Eine eigenthümlich literarische Neigung herrscht in ihr. Die Mutter schrieb zum ersten Male in rumänischer Sprache die Übersetzung eines Werkes von Madame Campan; der Vater ist eine Art Gelehrter, Archäolog, und reist, seitdem er seinen Ministerposten 1841 niedergelegt hat, in Europa mit seinen Töchtern umher, ‚Studien halber‘, wie man auf ihre Pässe setzen mußte, um sie unserer Polizei nicht verdächtig zu machen.“

Der greise Humboldt lächelte dabei schalkhaft zu Rauch hinüber. „So halten sie sich wohl auch hier in Berlin ‚Studien halber‘ auf?“ fragte dieser.

„Ja, ’s ist so etwas,“ entgegnete Humboldt. „Sie lebte eine Zeit lang in Wien, dann in Venedig, in Dresden und nun hier. Ueberall sorgt der Fürst Michael dafür, daß seine Töchter die besten Gelegenheiten finden, ihr Wissen und ihre Bildung zu bereichern. Ich versichere Sie, die älteste namentlich, die Prinzeß Helene, besitzt ein bei ihren einigen zwanzig Jahren überraschendes Wissen; man kann mit ihr discutiren, wie mit einem Gelehrten, und so oft ich auch schon das Vergnügen hatte, mich mit ihr zu unterhalten, stets entdecke ich neue glänzende Seiten ihres reichen Geistes. Denn sie hat etwas Ursprüngliches; es ist mir oft, als schlummere eine Mission in ihr, und wäre sie kein Weib, ich sagte ihr eine große Laufbahn voraus. Man möchte es bedauern, daß so viel Bildung und Anlage nur bestimmt sein soll, an einen Mann gegeben zu werden, der es vielleicht gar nicht zu würdigen weiß. Sie haben, lieber Rauch, als Künstler ihre Schönheit sogleich in’s Auge gefaßt, und in der That, sie ist griechischer Art; man könnte das Modell zu einer Statue nicht vollkommener finden. Diese Stirn, dies Auge, die Nase, alle Linien ihres Gesichts, die ganze Büste, sie sind alle nicht gewöhnlicher Art. Aber ich meinerseits hebe noch mehr die überraschenden Eigenschaften ihres Geistes hervor. Ihre Sprachkenntnisse sind ein wahrer Schatz. Und dabei ist sie nichts von dem, was man eine Gelehrte, einen Blaustrumpf nennt, sie ist weiblich in Allem, und anderseits doch auch mit einer männlichen Energie und Charakterstärke begabt. Sie schießt vorzüglich mit der Pistole, und obgleich ich leider noch keine Probe ihrer Schwimmkunst mit ansehen konnte, so rühmt man dieselbe doch, und sie soll einmal in Gegenwart des ganzen Ghika’schen Hospodarenhofes der Walachei ein wahres Forcestück im Schwimmen geleistet haben. Auch malt sie. Ja, ja, lieber Rauch – sie gehört Ihrer Sphäre nicht minder an, wie der meinigen, und Sie werden ihre Bekanntschaft mit Vergnügen machen. –“

Der Fürst Michael Ghika kehrte mit seiner Familie erst Ende des Jahres 1848 nach der Walachei zurück. Die Revolution in der Hälfte des abendländischen Europa wurde von seiner Tochter, der Fürstin Helene, sonach geistig mit durchgemacht. Sie konnte den Athem dieser Zeit fühlen; sie mußte den Ruf der Völker nach Freiheit hören; sie hatte Gelegenheit, zu sehen, wie der Westen Europa’s sich gewaltsam aus der Schale mittelalterlicher Einrichtungen riß.

Bald nach ihrer Heimkehr verheirathete man sie mit dem Prinzen Alexander Koltzoff-Massalsky, einem Sproß der ältesten echt russischen Geschlechter. Der Gemahl der Prinzeß Ghika war aber eben nur ein Mann, ein Russe, der in den Anschauungen des Großrussenthums und der griechischen Pietisterei lebte. Seine Gemahlin war aber mehr als eine Frau; sie fühlte sich weder glücklich, daß sie eine der ersten russischen Aristokratinnen geworden, noch daß sie am Hofe Nikolaus des Ersten einen ausgezeichneten Empfang und einen der bedeutendsten Ehrenposten bei der Großfürstin Olga erhielt.

Etliche Jahre vergingen. In der Fürstin Helene Koltzoff-Massalsky war, was längst als Keim in ihr gelegen, aufgegangen, und der große russische Kerker des Czaren Nikolaus ward ihr zu enge. Die im Westen Europa’s eingesogenen Ideen entfalteten sich in ihrem Kopfe unter dem halborientalischen Himmel Moskau’s; der Gegensatz der Bestrebungen der civilisirten Menschheit und des in Sclaventhum und Barbarei versunkenen Orients, den sie gerade deshalb am besten zu würdigen wußte, weil in ihrer Heimath an der Donau die Ströme abendländischer Cultur und morgenländischen Lebens aufeinander stoßen, versetzte ihr innerstes Wesen in eine Disharmonie, unter welcher Geist und Körper gleichmäßig litten. Sie verstand ihr Unglück als Frau, indem sie die Gewalt begriff, mit welcher ein wahrhaft männlicher Geist sie fortriß, eine Mission zu übernehmen. Die Idee der Civilisation wollte sie in die Völker des Orients tragen, mit dem sie sich durch ihre alte Familie verwandt fühlte; der Geist der Freiheit, der in dem Westen nach Herrschaft rang, sollte Bresche auch in die verdumpfte Welt des Orients legen und aufrütteln zum Leben, was hier noch lebensfähig war. Sie hielt sich für fähig, eine solche Mission zu übernehmen; es war eine Art leidenschaftlicher Patriotismus in ihr, als Rumänin, als eine Tochter des Volks, welches zwischen dem Europa der Fortschrittsbestrebungen und dem in Auflösung begriffenen Morgenlande steht, der Civilisation und der Freiheitsidee der Völker eine Gasse nach dem noch schlummernden Osten Europa’s zu brechen. Ihre Erfahrungen in Rußland belehrten sie gerade, daß auch hier die Ideen der Zeit einen fruchtbaren Boden finden konnten.

Der Kaiser Nikolaus hatte Manches von der Fürstin Koltzoff vernommen, was sie ihm des verhaßten Liberalismus verdächtig machte. Der Fürst Koltzoff selbst mußte manches ungnädige Wort des despotischen Czaren hören, so daß er, in soldatischer Ergebenheit gegen seinen Herrn, seine Gemahlin mit einem gewissen Unbehagen betrachtete. Diese selbst konnte ihre Lage nicht länger ertragen. Man verständigte sich sonach beiderseits, und der Fürst verschaffte selber seiner Gemahlin einen Paß und gab ihr die Freiheit als Frau zurück. Nichts fesselte Eines an das Andere, weder Liebe, noch Kinder, noch Geistesverwandtschaft.

Am 26. April 1855 reiste Prinzeß Helene Koltzoff, geborne Ghika, aus Rußland. Sechs Wochen zuvor war Nikolaus gestorben, und sie konnte noch bemerken, daß unter seinem Nachfolger Alexander II. eine liberale Bewegung in dem geknechteten Rußland [233] begann. Sie reiste, wie heißhungrig nach der Luft der Freiheit, nach der Schweiz. „Zum ersten Mal seit langer Zeit,“ schrieb sie über ihre Gefühle, als sie den Boden Helvetiens betrat, „fand ich mich angesichts meiner selbst, ohne mich von den Gewichten der Langeweile und Erschlaffung bedrückt zu fühlen. Die Luft ist hier so rein! Die Stimme der Natur; die uns in ihrem Schooße wiegt wie eine Mutter in ihren schützenden Armen, ist hier so tröstend! Alles was mich umgiebt ist so friedlich wie mein Gemüth. Ich fühle, daß mein wohlthätiger Genius mich in diese gewaltigen Berge geführt hat. Werde ich hier andere Leiden oder einen gesegneten Boden finden? Was thut’s – diese Sonne, welche in goldenen Nebeln untergeht, kann nicht der Verkünder eines traurigen Morgens sein. Das Glück muß hier sein, wo es so schön strahlt.“

Die Frucht ihrer Reise nach der Schweiz und ihres Aufenthalts daselbst war das später erschienene Werk: „Die deutsche Schweiz und die Besteigung des Mönches“. Sie hatte diesen selten erklommenen Berg, einen der Trabanten der Jungfrau, mit einer ihre Führer in Erstaunen setzenden Energie erstiegen und auf dem Gipfel desselben die Fahne der Walachei wie ein Siegeszeichen ihres Volkes aufgepflanzt. Ihr Werk über die Schweiz machte den Namen Dora d’Istria, welchen sie als Schriftstellerin angenommen hatte, sogleich berühmt; es war überraschend, ein Weib mit solcher Gründlichkeit und mit so philosophischem Geist gelehrte und historische Stoffe behandeln zu sehen, wie es von Dora d’Istria geschah. Besonders reich an Gedanken ist das Capitel über das Concil zu Constanz und die Märtyrer der Freiheit im 15. Jahrhundert, eine Apotheose von Huß, „dessen Scheiterhaufenflamme über den Häuptern der Generationen gestrahlt hat, gleich einem heiligen Lichte, glänzender als die Sonne. Seine Asche, in alle Winde verstreut, hat den Boden des alten Europa befruchtet und Lefèvre, Zwingli und Luther darauf hervorgebracht.“ Auch die Geschichte des Sonderbundes athmet diesen Geist der Freiheit und des Fortschritts, als deren Apostel sie seitdem sich bei Gelehrten wie bei Völkern einen Ruhm seltener Art erworben hat.

Ein paar Jahre Aufenthalt in der Schweiz gaben ihr Muße zu großen Studien und zur Sammlung ihrer eigenen Erfahrungen über die Sitten und Einrichtungen des Orients. Die Resultate derselben liegen in starken Bänden vor, Zeugnissen eines erstaunlichen Fleißes und eines überreichen Geistes. Im Jahre 1858 erschien ihr gediegenes und Aufsehen erregendes Werk über das Klosterleben in der orientalischen Kirche, in dem sie als eine energische Widersacherin der Klöster auftrat und durch zahllose Beispiele diese längst überlebte Einrichtung in ihrer Schädlichkeit und Nutzlosigkeit darstellte. Nach einem geschichtlichen Abriß der Entstehung des orientalischen Mönchthums, seiner Fortschritte, Leistungen und seines Verfalls, werden die Klosterregeln und Gebräuche der einzelnen Länder aufgeführt. Am interessantesten ist das Capitel über Griechenland. Dies an sich arme Land wird durch zahllose Klöster ausgesogen; ein einziges besitzt 2 Mill. Franken Revenüen und hat in seinem Keller 50.000 Flaschen Wein. Auf dem Berge Athos in Macedonien befinden sich 23 Klöster mit 6000 Mönchen, die Nichts thun als ihr Leben in Essen, Trinken und Beten, man weiß nicht weßhalb und wofür, verbringen.

Berühmter noch als dieses Werk machte den Namen Dora d’Istria das 1860 veröffentlichte: „Die Frauen im Orient“. „Der Westen,“ schreibt sie darin, „erinnert sich heut nicht Alles dessen mehr, was der Orient für ihn gethan hat; er vergißt gern die Erinnerungen alter Zeiten und die Wunder der Renaissance. Es existirt sogar eine Schule, welche sich systematisch auf die Erniedrigung der Orientalen und ihrer religiösen Einrichtungen, ihrer Traditionen, Ideen und Gesetze legt. Die Frauen sind dabei nicht geschont. Ich versuche in meinem Werke diesen übelwollenden Stimmen zu antworten, wie ich anderwärts versucht habe, die Freiheiten unserer (griechischen) Kirche zu vertheidigen.“ Nation um Nation wird nun in den Verhältnissen, in denen sich ihre Frauen befinden, mit geistreichen Parallelen auf abendländische Verhältnisse beschrieben, die Griechen, die Albanesen, die Russen, Armenier, Polen, Slaven, Kosaken, Samojeden, Mandschuren, fast alle Völker Ost-Europas und Asiens. Das Werk mit ungemeinem Reichthum an Wissen ist aber nichts weniger als eine Apotheose des Orients und der dortigen Frauenwelt. Aus seinen Endfolgerungen kann man erkennen, in welcher Idee Dora d’Istria ihr Buch geschrieben hat. Sie resumirt, daß in den Gesellschaften, in denen die Religion die Rechte des Herzens, die Bedürfnisse des Geistes und das heilsame Princip der bürgerlichen Gleichheit von Mann und Frau nicht heiligt, weder Achtung noch Liebe für das schwache Geschlecht existiren kann. Die Frau wird dort Sclavin und sinkt zum Thier herab; sie bleibt ein Werkzeug der Lust, ein Gegenstand des Handels, nichts weiter. Die Frau ihrerseits entschädigt sich dadurch, daß sie nur ihre Eitelkeit befriedigt. Bei den Völkern, wo die Frau dem Manne gleichsteht, aber die Sklaverei noch existirt, bringt dieselbe ähnliche Wirkungen hervor wie die Polygamie der Asiaten. Religion und politische Einrichtungen tragen also die Schuld am Loose der Frauen. Der Islam behandelt die Frau als Dirne, das Christenthum hat sie auf eine höhere Stufe gestellt. Aber der Katholicismus seinerseits behandelt sie mit Mißtrauen und sucht sie niedrig zu halten; die Concilien hielten das Weib mit der Bezeichnung der Griechen stets für etwas Schwaches, für nichts Ehrenvolles. Erst die moderne Philosophie hat die Frau dem Manne völlig gleichgestellt, ihr Rede, Freiheit, Würde und Vertrauen gegeben; der Protestantismus ist vom Geist dieser Philosophie am meisten erfüllt. In die uncultivirten Völkerstämme des Ostens eine aufgeklärtere Religion zu tragen, das sieht Dora d’Istria deshalb als eine dem Westen zustehende Mission an. –

Nach Erscheinen dieses Werkes reiste sie nach Griechenland, wo sie einen enthusiastischen Empfang fand und sogar zum Mitglied der Akademie von Athen, ernannt wurde. Ihre Studienreise dehnte sich dann über ganz Rumelien aus, dessen Sitten und Verhältnisse sie erst neuerdings in zwei starken Bänden beschrieben hat. Ihr ständiges Domicil nahm sie seitdem im nördlichen Italien.

Dora d’Istria ist, wie aus dem kurzen Abriß der Gedanken in ihren Hauptwerken wohl ersichtlich geworden sein wird, eine Frau, wie es zu allen Zeiten nur wenige gegeben hat. Sie hat für das gelehrte, und gebildete Europa die Welt des Orients wie nie zuvor offengelegt; sie hat den lebensfähigen Orient auf die reformatorischen Ideen Europas hingewiesen, damit jener sich aufraffe; ja sie weiß, wo diese Ideen ihre Wurzeln haben: in der Revolution von 1789, die das feudale Gebäude des Mittelalters zusammenriß, auf dessen Ruinen die Freiheit der Nationen und die Freiheit des Einzelnen trotz Unkrauts und trotz aller Stürme und Angriffe immer kräftiger emporstreben. Noch hat die Idee der Freiheit, welche die Revolution entfesselte, in Europa mit ihren Feinden zu kämpfen, und fußbreit muß sie sich ihr Terrain und, was mehr werth ist, ihr Verständniß erobern; noch langsam und schwer richtet sich die europäische Gesellschaft in die neue Ordnung ein, welche die Folge der Ideen von 1789 sein wird. Aber sie schreitet fort; ihren Marsch hält der Egoismus einzelner Menschen nicht auf … Schon sehen wir, wie sie in dem weiten Rußland die Schläfer erweckt und die Ketten der Leibeigenschaft löst, und ein Weib ist es, welches ihr die Thüren zu der bisher geistig abgesperrten Welt des europäischen Morgenlandes einschlägt.




Ein Besuch bei Garibaldi auf Caprera.
Von Moritz Wiggers.[1]

Schon in Frankfurt a. M. hatte ich gewichtige Empfehlungen an Garibaldi erhalten. Andere empfing ich in Turin durch die Güte der Marchesa Pallavicino Trivulzio, der Gemahlin des Marchese Pallavicino, des alten Patrioten und Leidensgefährten Silvio Pellico’s, der unter Garibaldi Prodictator von Neapel und später Präfect von Sicilien war, und so konnte ich hoffen, mir den Zutritt zu dem Helden von Italien zu bahnen. Es war nicht die Neugierde, die mich zu ihm zog. Ich wollte ihm die Zustände [234] in Deutschland und die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit einer engeren Vereinigung des deutschen und italienischen Volkes darlegen.

Wer von Genua nach Caprera geht, spart Kosten, wenn er in ersterer Stadt ein Billet direct nach Maddalena nimmt, mit welcher nur eine Stunde von Caprera entfernten kleinen Insel die italienische Dampfschifffahrtsgesellschaft Robattini eine Verbindung unterhält. So that auch ich, als ich mich am 10. October Morgens 8 Uhr auf das Dampfschiff l’Italia begab, das um 101/2 Uhr die Anker zur Weiterfahrt lichtete.

Das Wetter war prachtvoll. Tiefe Windstille und ein blauer italienischer Himmel über uns. Nach Osten zu das italienische Ufer mit den Wellenlinien seiner bläulichen Berge. Bald erhob die Insel Gorgona ihre steilen Klippen aus dem grünen Meere. Dann kam die Insel Capraja mit ihren gewaltigen Felsenmassen, an denen wir dicht vorbei schifften. Weiter erschien Corsica.

Nach einem einstündigen Aufenthalt auf der Rhede von Bastia, von wo wir die weißen Häuser der Stadt und auf dem Marktplatze die kolossale Statue Napoleon’s I. erblicken konnten, welche in neuerer Zeit die Bewohner von Bastia ihrem ehrgeizigen Mitbürger gesetzt haben, fuhren wir weiter nach Süden und sahen noch in der Ferne die durch Alexander Dumas berühmt gewordene Insel Monte Christo. Dann aber ward’s dunkel. Die Luft blieb warm wie am Tage, und die vom Schiffe durchschnittenen Wellen sprühten elektrische Funken. Bis gegen Mitternacht weilte ich noch auf dem Deck im einfachen Oberrock.

Es waren noch drei andere Personen, die mit mir nach Maddalena und Caprera sich einschiffen wollten. Zwei Brüder, Alpinolo und Teodoro Sgaralino aus Livorno, Söhne des Major Sgaralino, welcher unter Garibaldi als Officier der freiwilligen Cavallerie alle Feldzüge desselben mitgemacht hatte. Ich sah ihn, als er seine Söhne nach dem Dampfschiffe begleitet hatte. Er trug noch die Uniform der freiwilligen Reiterei mit dem kurzen dunklen Halbrock. Er hinkte: ein Schuß war ihm durch die Hüfte gegangen. Nach der Lebhaftigkeit seiner Bewegung zu schließen, war dies indeß kein Hinderniß für ihn, noch einmal der Fahne Garibaldi’s als Freiwilliger sich anzuschließen. Sein ausdrucksvolles und kühnes Gesicht schien diesen Augenblick herbeizusehnen. Die Söhne waren ein Paar liebenswürdige junge Leute. Der Eine derselben, welcher erst kürzlich aus Californien zurückgekehrt war, wo er mehrere Jahre in einem kaufmännischen Geschäfte gearbeitet hatte, sagte mir: „Ich werde auch noch einmal Soldat. Aber ich diene nur unter Garibaldi,“ setzte er, sich stolz aufrichtend und augenfunkelnd, hinzu. Der Dritte, welcher nach Caprera wollte, hieß Edoardo Magherini. Er diente mit dem Grade eines Lieutenants auf der königlich italienischen Kriegscorvette Magenta als erster Maschinist und war ein aufgeweckter munterer Mann von dreißig Jahren, begabt mit gesundem Verstande, der mit großer Gewandtheit und Energie die „natürlichen Menschenrechte“ zu vertheidigen wußte. Er stammte aus Livorno und hatte jetzt einen kurzen Urlaub erhalten. In vier Wochen wollte er mit seinem Schiffe nach Amerika gehen. Sein Vater war früh gestorben, und er nun die männliche Stütze seiner Mutter und seiner Geschwister.

Bereits in der Nacht waren wir in der Nähe der Insel Maddalena, welche sich dicht am nördlichsten Theile der Insel Sardinien aus dem Meere erhebt. Die Einfahrt nach dem auf derselben belegenen Städtchen gleichen Namens windet sich zwischen Klippen durch eine enge Straße und ist bei Nacht nicht zu passiren. Deshalb kreuzten wir bis Tagesanbruch auf hoher See, und dann erst fuhren wir in die von felsigen Inseln umgebene Meerenge. Die Insel Caprera ist von der Insel Maddalena durch einen schmalen Meeresarm getrennt, welcher einen vortrefflichen Hafen bildet. In demselben hat einst die ganze Nelson’sche Flotte Zuflucht gefunden. Nicht weit von dem Städtchen Maddalena eröffnet sich die Aussicht auf Caprera, welches ganz aus Felsen und Klippen besteht und zu einer Höhe von vielleicht 2000 Fuß emporsteigt. Im Vordergrunde auf einem Hügel von einigen 100 Fuß erhebt sich ein kleines Häuschen mitten in unwirthbarer Gegend, wo alles vegetabile Leben erstorben zu sein scheint, umgeben von gigantischen Felstrümmern und Felsmassen. Es ist die Wohnung Garibaldi’s.

Um 7 Uhr ankerten wir in Maddalena. Es giebt dort nur ein Wirthshaus, und in diesem ist nur ein geräumiges Fremdenschlafzimmer mit zwei Betten, welches von mir und Signor Edoardo, dem Maschinisten, occupirt ward. Dem Wirth, Raffo Lorenzo, steht aber noch ein anderes ihm gehöriges, von seinem verheiratheten Sohne bewohntes Haus zu Gebote, in welches die überzähligen Fremden placirt werden konnten. Es lebte sich übrigens bei der Raffo’schen Familie sehr angenehm. Das Essen war nicht schlecht, der Wein von Maddalena und Sardinien nicht übel, die Seefische waren gut und die sardinischen Trauben ganz vortrefflich.

Jedesmal nicht lange nach der Ankunft des Dampfschiffes kommt Menotti Garibaldi mit seinem Boot von Caprera herüber, um die angemeldeten Freunde, die Post und die angekommenen Sachen in Empfang zu nehmen. Natürlich ist für die einsamen Bewohner von Caprera die Ankunft des Dampfschiffes ein Gegenstand von hoher Bedeutung. Auch diesmal war der junge Mann nicht ausgeblieben. Er stand nicht weit von der Thür meines Wirthshauses zusammen mit seinem jüngeren Bruder Ricciotto, als ich mich ihm vorstellte und meine Empfehlungen an seinen Vater vorzeigte. Er hat eine hohe, markige und breitschulterige Gestalt, die zusammen mit dem stolzen und trotzigen Gesicht seinen Muth und seine Riesenkraft verräth. „Er ist ein wahrer battiferro (wörtlich: Eisenschlager), wie wir Italiener sprechen,“ sagte mir mein Freund, der Maschinist. Dem Ansehen nach hat er die Mitte der Zwanziger nicht überschritten. Ricciotto, der kaum zwanzig Jahre alt sein mag, sieht nicht weniger kräftig aus, aber er macht nicht den Eindruck eines kühnen Soldaten, wie sein Bruder. Er hat sich bisher nur mit den Wissenschaften, namentlich mit der Mathematik, beschäftigt, und den größten Theil seiner Jugend in England, wo er erzogen ward, zugebracht, weshalb er noch jetzt das Italienische mit englischem Accent spricht. Dort hat er einen unglücklichen Sturz vom Pferde gethan und hinkt daher ein wenig. Er sah mir aber nicht so aus, als würde dies ihn zurückhalten, seinem Vater zu folgen, wenn dieser wieder zum Schwerte greift. Menotti blickte mich erst etwas barsch und forschend an, als ich ihn anredete. Als ich aber mit meinen Empfehlungen hervorrückte, wurde seine Miene freundlicher und er sagte mir, daß sein Vater mich gewiß jederzeit gern annehmen würde. Die Empfehlungsbriefe rieth er mir persönlich zu übergeben.

Ich miethete mir nun mit Signor Edoardo ein Boot, welches von Giuseppe Raffo und einem rothhaarigen Vetter desselben geführt ward. Der Wind war ziemlich stark und conträr. Wir mußten daher kreuzen und brauchten anderthalb Stunden, um nach Caprera zu gelangen. Vornan liegt das Haus einer amerikanischen Lady, Namens Hull, welche dort schon länger als dreißig Jahre gewohnt und ihrem Manne, der auf der Insel verstorben ist, in der Nachbarschaft ihrer Wohnung ein Denkmal gesetzt hat. Von ihr hat, nach Giuseppe’s Erzählung, Garibaldi sein Besitzthum auf Caprera im Jahre 1848 gekauft. In der Nähe unseres Landungsplatzes fuhr sie in einem kleinen, von einem Schiffer geruderten Boote an uns vorüber.

Es war halb zwölf Uhr, als wir über die am Landungsplatze verstreuten Felsblöcke mühsam hinwegkletterten. Menotti war dicht hinter uns mit seinem Boot, aber er schlug einen weiteren Weg ein, der zu einer bequemeren und für den Transport von Sachen benutzten Landungsstelle führte. Ein steiniger Fußweg schlängelte sich zu dem hinteren Theile der Wohnung Garibaldi’s hinauf. Wir hatten verschiedene Einfriedigungen zu passiren, welche zur Absperrung des Viehes dienten. Die Kühe und Kälber, denen wir begegneten, hatten mit Schweizer Kühen nur eine sehr entfernte Aehnlichkeit; ihr Ansehen entsprach vielmehr den dürftigen Futterkräutern, welche innerhalb dieser Einfriedigungen wuchsen. Durch ein Thor traten wir in den Hof und schritten über denselben zu einem kleinen hölzernen Quergebäude, worin sich ein kleines Zimmer mit einem Schreibtisch befand, zu welchem die Thür offen stand. Es war aber Niemand darin. Wir gingen darauf in die Seitenthür des Hauses, wo wir endlich einen Bedienten im rothen Garibaldihemd trafen. Die Marchesa Pallavicino hatte die Güte gehabt, mir, außer an Garibaldi, auch an dessen Secretair, den Major Basso, durch den alle Anmeldungen gemacht werden und der daher auf die Zulassung zu Ersterem einen großen Einfluß hat, einen Empfehlungsbrief mitzugeben. Ich erkundigte mich bei dem Diener nach dem Major Basso. Zuvorkommend erwiderte der Mann, der Major sei auf den Fischfang gegangen, werde aber bald zurückkehren, und dann solle ich sofort gemeldet werden.

Wir hatten nun Zeit, uns etwas umzusehen. Der Hof ist geräumig und von einer hohen Mauer umgrenzt. Zu denselben führen an den Ecken vier Eingänge. In der Mitte des Hofes [235] sind kleine Einfriedigungen, in welchen sich zahlreiches Federvieh befand. Ein mit Laub bedeckter Gang führt zum mittleren Theile des Hauses. Dieses besteht aus zwei Etagen mit kleinen Fenstern und sieht in seiner hellen Farbe recht freundlich und einladend aus. Dicht an den hintern Theil des Hauses lehnt sich ein Hügel, der eine kleine Mühle trägt. Von dem Hügel hatten wir eine imponirende Aussicht rechts über’s Meer, geradeaus auf Maddalena, und links auf die Bucht, welche man dort den See nennt. Rundum Klippen, Felsmassen und Wasser. Wir stiegen eben den Hügel wieder herab, als ich plötzlich einen Mann auf Krücken und in der Garibaldiuniform in der Entfernung von etwa zwanzig Schritt von uns gewahrte. „Garibaldi!“ flüsterte ich zu meinem hinter mir gehenden Begleiter. Wer anders konnte das sein, als Garibaldi selbst? Wir blieben stehen, nahmen ehrfurchtsvoll unsere Hüte ab und verbeugten uns. Mit großer Leichtigkeit bewegte er sich auf seinen Krücken und ging noch einige Schritte auf uns zu. Dann blieb er stehen. „De l’autre côté, Messieurs, s’il vous plaît; après je vous attends,“ rief er uns mit kräftiger und volltönender Stimme und mit dem feinsten französischen Accent freundlich zu, indem er auf den ersten Eingang zum Hofe zeigte.

Bald darauf kam der Major Basso, der treue Freund des Generals, den er schon nach Amerika begleitet hat. Das erwähnte Zimmer im Quergebäude war sein Studirzimmer. Er führte uns in’s Haus, wo wir über die Diele, durch die Küche und einen Gang in ein kleines Gemach gelangten. Es war Sitte, daß man im ganzen Hause die Kopfbedeckung aufbehielt, der Major erinnerte mich wiederholt daran. Er öffnete den an ihn gerichteten Brief, fand darin einen zweiten Brief an Garibaldi und ging mit diesem und dem andern Empfehlungsschreiben, das mir die Marchesa Pallavicino eingehändigt hatte, in das nebenan befindliche Zimmer des Generals. In der Stube, in der wir uns befanden, stand das Bett Garibaldi’s, das, in Heidelberg angefertigt, ihm zum Geschenk gemacht wurde. Er hat sich desselben so lange bedient, als seine Wunde noch nicht geheilt war. Ich erkannte es sofort nach der Abbildung, welche davon in der „Gartenlaube“ gegeben worden ist. Nachdem wir eine kurze Zeit gewartet hatten, erschien Garibaldi. Er wandte sich an mich und fragte: „Parlez-vous français ou italien?

Italiano, un poco, signor Generale.

Ah, è meglio“ (das ist besser), erwiderte der General mit dem ihm eigenthümlichen, gewinnenden Lächeln und nöthigte uns zum Sitzen. Basso blieb hinter uns stehen. Zuerst erkundigte sich Garibaldi angelegentlich nach dem Marchese Pallavicino und der Marchesa. Ich überbrachte ihm die mir mündlich aufgetragenen Grüße. Dann händigte ich ihm die noch in meinem Besitz befindlichen Empfehlungsbriefe ein, auch ein Gedicht und ein Briefchen der Enkel des verstorbenen Patrioten Wirth, zweier Kinder, von denen der Knabe Corporal bei der Bürgerwehrjugend in Frankfurt ist. Er zog sein Augenglas hervor und las die ihm von mir übergebenen Schreiben aufmerksam durch, dann und wann beifällig lächelnd. Besonders schien er sich über einen mir in Frankfurt eingehändigten Brief des Generals Haug zu freuen, der im Jahre 1849 in Rom unter ihm gefochten hatte. Als er an eine Stelle kam, worin dieser ihm von meiner fünfjährigen Gefangenschaft geschrieben, drückte er mir lebhaft die Hand und sagte herzlich: „Tenetemi per un vostro amico!“ („zählt mich zu Euren Freunden!“) Ich konnte ihn inzwischen aufmerksam betrachten. Ohne die Krücken hätte man ihn für einen völlig Hergestellten gehalten. Sein Aussehen war kräftig, frisch und gesund und entsprach den Bildern, die vor seiner Gefangenschaft aufgenommen sind.

Demnächst ging er über auf die Politik und fragte mich nach meinen Ansichten und Hoffnungen in Bezug auf Deutschland. Ich setzte ihm die dortigen Verhältnisse in Kurzem auseinander, die Sympathien, welche in einem großen Theile von Deutschland für ihn und das italienische Volk vorhanden wären, und das gemeinsame Interesse, welches beide Völker mit einander verbände. Er erwiderte darauf mit großer Gewandtheit im Ausdruck, mit tiefem und heiligem Ernst und mit seinem stolzen, volltönenden und zum Herzen dringenden Organ. Ich füge hier die Antwort, welche ich bald darauf notirte, in wörtlicher Uebersetzung bei, weil sie, von Garibaldi kommend, für Deutschland nicht ohne Bedeutung ist. Natürlich kann ich nicht für jedes einzelne Wort einstehen, aber im Wesentlichen gebe ich seine Worte richtig wieder: „Wir Italiener,“ sprach er, „sind in derselben Lage, wie Ihr Deutschen Euch befindet, indem Ihr für Eure Unabhängigkeit kämpft. Wie Ihr ein einziges Deutschland gründen wollt, so wollen auch wir ein einziges Italien haben. Deshalb ist zwischen Deutschen und Italienern eine Verständigung nöthig, um sich als Brüder zu vereinigen, damit wir es moralisch verständlich machen, daß wir frei sein wollen, und um uns von dem Joche zu erheben, in welchem wir uns befinden. Sodann ist beiden Nationen gemeinsam der niedrigste Feind, Louis Napoleon, der Verräther aller Nationen, schädlich für die Welt, der nicht existiren sollte. Mir, der ich in Nizza geboren bin, mir hat er mein Vaterland geraubt! Wäre er nicht mehr auf dem Throne, so würden die Völker ruhig, zufrieden und frei sein und ihre Regierungen nach ihren, Willen wählen.“ Garibaldi sprach dies mit großer Ruhe und Würde. Als er aber auf Louis Napoleon und sein geraubtes Vaterland kam, da drängten sich ihm die Worte in der Hast des Eifers über die Lippen, und Feuer des Zornes sprühte aus seinen wunderbar schönen Augen. Hierauf fügte er noch hinzu: „Die deutsche Nation ist eine edle Nation, welche, freilich langsam und bedächtig, aber immer vorwärts geschritten ist. Die Franzosen dagegen haben viele Revolutionen gemacht, aber sie sind eher rückwärts als vorwärts gegangen.“

Große Freude machte es Garibaldi, als ich ihm erzählte, daß meine Vaterstadt die erste Stadt in Deutschland gewesen sei, in welcher eine Geldsammlung für seine denkwürdige Expedition in Sicilien und Neapel veranstaltet worden wäre. Ich zeigte ihm die Nummer des damaligen officiellen Blattes von Palermo, in welcher mir über den Empfang von 107 Thlr. Pr. Crt. als Geschenk für die Nationalcasse quittirt ward, um ihm zu beweisen, daß meine Sympathien für ihn und die italienische Sache nicht erst jetzt entstanden wären. Das Concept eines Briefes, den ich am 22. Juli 1860 an ihn gerichtet hatte, der aber nicht an seine Adresse gelangt war, las ich ihm vor, und er gab zu der folgenden Stelle seine lebhafte Zustimmung zu erkennen: „Auch im Norden Deutschlands ist die Zahl derer groß, welche Ihren Waffen den besten Erfolg und dem italienischen Volke die Freiheit und die Unabhängigkeit wünschen. Vergessen Sie niemals, daß die Völker sich immer lieben und daß nur die Regierungen aus egoistischen Absichten den Haß und die Zwietracht unter die verschiedenen Völker säen.“

Wir kamen auch auf die venetianische Frage zu sprechen. Der General fragte mich, wie man über dieselbe in Deutschland denke. Ich erwiderte ihm, daß allerdings eine Partei in Deutschland existire, welche Venedig nicht aufgeben wolle; daß aber die liberalen Fractionen im übrigen Deutschland zum bei weitem größten Theil sehr wohl einsehen, daß Venedig eine italienische Stadt sei und deshalb Italien gehöre, und daß sie mit sich in Widerspruch geriethen, wenn sie das ganze deutsche Volk als ein einheitliches Ganzes constituiren und Italien, nehme es das Gleiche für das italienische Volk in Anspruch, dies Recht bestreiten wollten. Ueberdies sei Venedig für Oesterreich nur eine Quelle von Verlegenheiten, deren Ende nicht abzusehen wäre, so lange es einen Theil des Kaiserstaates bilde. Wir hätten daher überall kein Interesse, Venedig den Italienern vorzuenthalten. Aber wir müßten auch die Garantie haben, daß Venedig den Italienern und nicht unserem gemeinschaftlichen Feinde, Louis Napoleon, zu Gute komme. Aus diesem Grunde glaubte ich versichern zu dürfen, daß unter den deutschen Patrioten Niemand wäre, der wünschte, daß Venedig im gegenwärtigen Augenblick, wo Louis Napoleon mit seiner bewaffneten Macht noch Rom im Schach halte und folglich das italienische Volk nicht Herr seiner selbst wäre, an Italien abgetreten würde. Erst wenn die Zeit gekommen, wo kein französischer Soldat mehr auf italienischem Grund und Boden stände und Rom die Hauptstadt Italiens sei, hätten wir die Garantie, daß Italien sich selbst gehöre, und dann würde ein Krieg Oesterreichs für die Erhaltung Venedigs den Kern der liberalen Partei in Deutschland zum Gegner haben. Deshalb aber erscheine es mir wichtig, daß Italien in erster Linie Rom zu gewinnen suche. Der General hörte meine Auseinandersetzung aufmerksam an und ließ der Folgerichtigkeit dieser Politik alle Gerechtigkeit widerfahren.

Nachdem Garibaldi noch einige Worte mit meinem Begleiter gewechselt, sagte er zu uns: „Passeremo al pranzo e poi parleremo di più“ („gehen wir zum Mittagsessen und dann sprechen wir weiter“).

(Schluß folgt.)
[236]
Jütisches Land und jütische Leute.
1. Kolding.

Bei uns im Norden erweckt das Wort Jütland eigenthümliche Empfindungen, von denen man sich im südlichern Deutschland schwerlich eine richtige Vorstellung machen kann. Wir denken dabei an kümmerliche, schmutzige Wohnungen, an allerhand Unsauberkeit jeder Art, an Zimmer und Lagerstätten, in welchen Individuen, die das Unglück haben, mit leicht reizbarer Haut begabt zu sein, wenig Ruhe finden, und endlich kann man das Wort Jütland nicht aussprechen hören, ohne sich gleich von ganzen Stößen kohlschwarzer Töpfe umringt zu wissen, zwischen denen glotzäugige, tückisch blickende, breitköpfige Menschen sitzen, von welchen mancher ganz das Ansehen hat, als habe er seit der Taufe keinen Tropfen Wasser mehr über sich laufen lassen.

In Folge dieser Annahmen und Voraussetzungen dürfte, auch wenn sie sich späterhin nicht bewahrheiten sollten, eine Reise nach Jütland nicht zu den Genüssen des Lebens gehören. Kommt dazu noch kaltes, regnerisches Winterwetter und das wilde Getöse des Krieges mit seinen Fatiguen, seinen Schrecknissen, seinen möglichen Wechselfällen, so wird Jeder begreifen, daß unter so bewandten Umständen sich die Reiselust leicht zur Qual umgestalten kann.

Chaussee vom Süden nach Fridericia. Kolding. Hafen.
Ruine des Königsschlosses.
Originalzeichnung unsers Specialartisten E. Wolperding.

Schon in Flensburg wurde es allen dem Norden zustrebenden Reisenden einleuchtend, daß es mit der Gemüthlichkeit und Gemächlichkeit hier ein Ende habe. Straßen und Plätze waren nicht nur mit Wagen aller Art überfüllt, sondern so vollgepfropft, daß es einiger Entschlossenheit bedurfte, sich in dies Gewühl hineinzuwagen. Es gehört aber mit zu den charakteristischen Erscheinungen kriegerischer Zeitläufe, daß mehr oder weniger jeder Einzelne, sobald er den Rayon des Kriegstheaters erst überschritten hat, gleichgültiger wird und das eigene liebe Leben nicht mehr so hoch anschlägt, als daheim in der stillen, aber gesicherten Ruhe bürgerlicher Häuslichkeit. Es erklärt sich dies durch die Allgemeinheit der Gefahr, der sich Keiner ganz entziehen kann und die dem Furchtsamen oder Schüchternen weit eher auf den Leib rückt, als dem Beherzten.

Die Stunden lang währenden Durchzüge von Proviantwagen aller Art, denen im raschen Trabe eine Munitionscolonne folgte, die wie ein vorüberrauschendes Gewitter über das holprige Straßenpflaster fortpolterte, bestätigten die Behauptung, die wir allseitig aussprechen hörten, daß auf der großen, nach Norden führenden Straße für Privatpersonen nicht mehr durchzukommen sei. Jene ungeheuren metallenen Brummer, die man gezogene Vierundzwanzigpfünder nennt, waren eben unterwegs theils nach Düppel, theils nach Fridericia, und spielten der Chaussee, die vom Thauwetter aufzuweichen begann, übel mit. Wagen und Pferde in dieser Richtung waren für schweres Geld nicht aufzutreiben. Mithin blieb nur einer der Seitenwege übrig, die westlich über die Haiden der Geest laufen. Nach diesen abgelegenen Gegenden hatten sich Truppenabtheilungen der verbündeten Armeen nicht verirrt. Es wäre auch überflüssig gewesen; denn der eiligst zurückweichende Feind hatte ganz Schleswig mit Ausnahme von Düppel vollständig geräumt. Zur Aufrechthaltung der Ordnung aber bedarf es auch im Norden Schleswigs, dem jetzt noch mancher beunruhigte Diplomat so gern dänische Gesinnung einimpfen möchte, keiner bewaffneten Macht. Wir sollten alsbald erfahren, daß selbst an den idyllischen Ufern der Schlei und an der wogenumbrandeten, fast ausschließlich von [237] Friesen bewohnten Küste der Westsee keine besseren Deutschen leben, als nördlich von Tondern und westlich von Christiansfeld, bis hart an die jütische Grenze.

Durch Vermittelung Befreundeter ward alsbald eine Gelegenheit ausgekundschaftet, die unter den gegebenen Verhältnissen nicht besser sein konnte. Zwei Geschäftsreisende wollten, trotz Krieg und Kriegsgefahr, die nämliche Straße ziehen. Sie hatten sich bereits in den Besitz eines Fuhrwerkes gesetzt und warteten nur einen Moment eintretender Ruhe ab, um rascher vorwärts zu kommen und zunächst die nach Bau, dem alten Schlachtfelde von 1848, führende Straße zu erreichen. In Compagnie mit diesen des Landes und der etwas verzwickten Sprache, die im Norden Schleswigs zum Theil das herrschende Idiom bildet, vollkommen kundigen Herren machten wir uns, vier an der Zahl, schließlich auf den Weg. Um unterwegs nicht aufgehalten zu werden, ward für gute Verproviantirung Sorge getragen. Es fehlte uns weder an Brod und Fleisch, noch an Rum und Wein. Mußte also gerastet werden, so war unsere Tafel überall, auch in der jämmerlichsten Hütte unter den „schwarzen Bauern“, ohne Schwierigkeit leicht gedeckt.

Im Sommer oder Herbst ist eine Reise über die endlosen Moore und Haidestrecken der Schleswigschen Geest auf offenem Stuhlwagen interessant und vielfach belehrend. Die Monotonie der Landschaft erhält gerade durch ihre eigenthümliche melancholische Oede, durch das röthliche Braun der Haide und durch die zahllosen tiefen, dunkeln Wassertümpel, zwischen denen hier schwarzer Torf hoch aufgeschichtet liegt, dort die einsamen konischen Hügel alter Heldengräber aufsteigen, einen fesselnden Reiz. Jetzt heulte der Weststurm über verdorrtes, hie und da noch mit Schnee bedecktes Gestrüpp, und Schnee und Regen peitschten uns entgegen. Wir waren aber allesammt guten Muthes und heitersten Humors, und daß wir es blieben, das hatten wir ganz allein dem Kriege zu verdanken. Jeder von uns war ja höchst neugierig, wie sich die Dinge in unmittelbarster Nähe der kämpfenden Heere anlassen würden und mit welchen Augen jenseits der Königsau das Volk harmlose Reisende, die nicht einmal einen versteckten Revolver bei sich führten, ansehen würde.

Einquartierung in der Küche.
Originalzeichnung unsers Specialartisten Otto Günther.

Im westlichen Theile des Amtes Hadersleben geht es auf dem Lande mit der deutschen Sprache großentheils zu Ende, nicht aber mit der deutschen Gesinnung. Es ist ein Irrthum, wenn von vielen Seiten behauptet wird, die Einwohner der Nordhälfte Schleswigs seien dänisch und sprächen dänisch. Ihre Sympathien gehören, soweit es nicht eingewanderte Jüten sind, die sich vor kürzerer oder längerer Zeit überall im Lande seßhaft machten, Deutschland. Alle sprachen mit demselben Enthusiasmus von ihrem Herzoge Friedrich VIII. und beklagten sich eben so bitter über die Tyrannei der dänischen Beamten, deren leider noch eine Unzahl fest auf ihren fetten Pfründen sitzt, wie die Angeliter und Schwansener. Dänisch aber reden diese Leute ebensowenig, wie Deutsch. Auf Plattdeutsch konnte man sich Vielen verständlich machen, obwohl es nicht Allen mehr geläufig ist. Das allgemein gebräuchliche Idiom, das man häufig auch schon in Flensburg hört, ist das Platt- oder Rabendänische, das Manche auch Wasserdänisch nennen. Dieser verdorbene und äußerst schlecht klingende Dialekt, eine Abart des Dänischen, welche der Inseldäne ebensowenig wie der Hochdeutsche versteht, ist hier die Umgangs- oder Verkehrssprache auf dem Lande. Nur glaube man ja nicht, daß Niemand Deutsch verstehe oder [238] verstehen wolle. Ich bin vielmehr fest überzeugt, daß es wenige größere Höfe auch noch unmittelbar an der Grenze Jütlands giebt, wo nicht entweder der Besitzer selbst oder doch ein im Hause Lebender der deutschen Sprache soweit mächtig ist, daß er sich wenigstens gebrochen darin verständlich machen kann.

Unmittelbar nach Ueberschreitung der Grenze umschwirrten uns die unharmonischen Laute des jütischen Dialekts, der auch eine Art jenes Wasserdänisch ist. Wir hielten vor einem Dorfkruge, in dem sich viele Menschen drängten. Er lag abseits von der Straße, welche von Ripen kommend über Eistrup nach Kolding führt. Die ganze Umgebung hatte für Deutsche etwas überaus Unheimliches. Man merkte an Allem und Jedem, daß man sich unter Feinden befand, die nur aus Furcht vor der siegreichen Armee, welche wenige Tage früher in Sturmeseile die Dänen wieder nordwärts gejagt hatte, mit ihren wahren Gesinnungen zurückhielten. Träg, murrend und mit feindseligen Blicken, in denen man lesen konnte, daß sie jeden Deutschen am liebsten zur Hölle fahren sähen, wurde den geringen Forderungen, die wir zu machen genöthigt waren, genügt. Und so, wie in diesem ersten Haidekruge, zeigten sich alle Jüten, so viele wir deren später zu sehen bekamen.

Diesseits der Königsau lebt ein ganz anderer Menschenschlag, dessen rein germanischer Ursprung sich auf den ersten Blick erkennen läßt. Schlanke Leiber, klar und offen in die Welt blickende Augen, ovale Köpfe mit hohen Stirnen und fast immer ausdrucksvollen Gesichtszügen, begegnen uns in jedem Orte. Jenseits dieses vielgenannten Grenzflusses wohnt dagegen ein ganz anderer Volksstamm, der mit dem germanischen Typus nichts als die blonde Farbe des Haares gemein hat. Der Jüte ist selten schlank und hoch gewachsen. Ein ziemlich breiter Rumpf ruht auf dünnen Beinen, und zwischen den breiten Schultern auf kurzem Halse steht der gewöhnlich runde, dicke Kopf. Die Volkstracht, für welche der Jüte eine große Vorliebe zu haben scheint, ist ganz dazu angethan, die geringen Reize, die ihm etwa die Natur in’s Leben mitgegeben hat, vollkommen verschwinden zu machen. Dunkelblaue Beinkleider von grobem Tuch, meistentheils im Schnitt etwas zu kurz, so daß sie die Knöchel nicht bedecken, und eine kurze, weite Jacke von gleichem oder doch ähnlichem Stoff trägt mit seltenen Ausnahmen jeder Mann aus dem Volke. Das häufig lange und gewöhnlich struppige Haar bedeckt eine runde Mütze ohne Schirm von unschöner Form, die tief in die Stirn gedrückt wird. Nehmen Sie dazu noch die reizende Fußbekleidung aller Jüten, den kahnartig geformten plumpen und schweren Schuh aus Buchenholz, der auf der Sohle ein paar kurze Querhölzer hat, um ihm beim Gehen wenigstens eine Art Beweglichkeit zu geben, so können Sie sich eine ziemlich deutliche Vorstellung von einem jütländischen Adonis auf dem Lande machen. Hat er nichts zu thun, so steckt er gewiß beide Hände entweder in die weiten Taschen seiner blautuchenen Jacke, oder in die kurzen Unaussprechlichen und glotzt jeden Vorübergehenden tückisch an. An ihn gerichtete Fragen werden entweder gar nicht oder nur grinsend und in einem bellenden Nasalton beantwortet. Es ist möglich, daß in Friedenszeiten die Jüten einen weniger unangenehmen Eindruck auf den Fremden machen; als jetzt, wo die Kriegsfurie entfesselt ist und der Nationalhaß zwischen Deutschen und Dänen eine Höhe erreicht hat, die sich kaum schildern läßt und von der man erst in unmittelbarster Nähe der Ereignisse einen Begriff bekommt, jetzt wird auch der unbefangenste Deutsche in jedem Jüten nur einen fanatischen, unversöhnlichen Feind deutschen Wesens und deutscher Gesittung erblicken müssen.

Bei Eistrup gelangt man an die Koldingau, die vielfach gekrümmt durch Wiesen und Bruchland ostwärts fließt. Hier waren überall die Spuren des Krieges zu bemerken, wie denn auch das Durcheinander kriegerischen Lebens immer lärmender ward, je mehr wir uns der Ostküste näherten.

In Deutschland glauben Viele, wo nicht die Meisten, Jütland sei ein steriles, wüstes und unwirthbares Land, das zu besuchen oder gar näher kennen zu lernen, sich nicht der Mühe verlohne. Diese weit verbreitete Ansicht ist sehr irrig. In Schleswig gehören die Landschaften Dänisch-Wohld, Schwansen, Angeln und Sundewitt zu den fruchtbarsten, die man sich denken kann. Die breiten und tiefen Einbuchtungen der blauen Ostsee und die sanft geschwungenen Hügelgelände, oder die schönen Buchenhaine, welche ihre Küsten umsäumen, sind bekannt und verleihen dem ganzen Lande den Charakter eines ungeheuern Parkes. Die Ostküste Jütlands bis über Veile hinaus ist nur eine Fortsetzung dieser parkartigen, an landschaftlichen Schönheiten überreichen Gestaltung des Landes. Im Sommer, wenn die Erde sich mit Blüthen und Blumen bedeckt, wenn diese prächtigen Laubholzhaine zu grünen beginnen und sich mit tausend befiederten Sängern bevölkern, muß die Umgegend von Kolding, ganz besonders aber das ungemein romantisch gelegene Veile mit seinen zwar niedrigen, aber stark bewaldeten Höhenzügen[WS 1] ein wahres Paradies sein.

Die Lage der Stadt Kolding am westlichen Ende einer schönen Thalmulde, welche von dem Kolding-Fjord, der gewiß eine gute deutsche Meile lang ist, bespült wird, gewährt ein sehr freundliches Bild, läßt aber auch augenblicklich erkennen, daß sie für kriegerische Operationen ein äußerst wichtiger Punkt sein muß. Schon im Jahre 1849 ward dies von dem Oberbefehlshaber der damaligen schleswig-holsteinischen Armee oder – was vielleicht richtiger ist – von Oberst Delius, dem Chef des Generalstabes, erkannt. Die mit großen Opfern gewonnene Schlacht bei Kolding brachte die Stadt selbst in den Besitz der Schleswig-Holsteiner und ebnete ihnen die Wege nach Veile und nach der Festung Fridericia. Kolding ist nämlich durch seinen tiefen Fjord der Schlüssel zu Fünen, welches letztere freilich nur mittelst Schiffen zugänglich wird. Wer Kolding besitzt, der schützt auch Schleswig, indem er einen Feindes-Einfall vom Norden her unmöglich macht. Es war daher nur Selbstfolge, daß auch in dem gegenwärtigen Kriege die Besetzung dieses wichtigen Punktes von den Truppen der Alliirten sofort in Aussicht genommen wurde. Auch wenn es in dem Feldzugsplane der deutschen Heerführer ursprünglich nicht gelegen hätte, weiter nordwärts vorzudringen und Fridericia zu berennen, so würde doch ein Heer, welches Düppel einnehmen und Alsen erobern will, sich Kolding’s um jeden Preis haben bemächtigen müssen, weil nur dadurch der Feind in kräftiger Vertheidigung der Düppelstellung gestört und unausgesetzt beunruhigt werden kann.

Die große von Süden nach Norden ziehende Chaussee führt durch die südlichen Hügelgelände, welche im Osten die Bucht, die Thalmulde selbst und die Ufer der von Westen durch sumpfiges Bruchland herabfließenden Koldingau umfassen, hinab in’s Thal und gerade durch die Stadt. Am nördlichen Bucht- und Thalrande steigen die Hügel noch höher empor und gipfeln hier in zwei Punkten, die für militärische Operationen von großer Wichtigkeit sein müssen. Der eine dieser Punkte sind die Ruinen des alten Schlosses von Kolding, im äußersten Westen der Stadt auf einem Hügel gelegen. Die verwitterten Mauern von Koldinghuus, wie man die Ruine nennt, sehen weit in’s Land hinein. Der Erbauer dieser ehedem wahrscheinlich starken Veste, die sich unschwer in ein ganz Kolding beherrschendes Castell verwandeln ließe, war Herzog Abel. Damals hieß es Oernsborg und ward von mehr als einem der dänischen Könige als Residenz benutzt. Christian III. wählte es zu seinem Lieblingsaufenthalte und starb daselbst 1559. Bei dem Brande von Koldinghuus 1808, der es gänzlich einäscherte, ward auch der berühmte, von Christian IV. erbaute Riesenthurm mit zerstört, der, wie Chroniken erzählen, ein plattes Dach hatte und in jeder Ecke ein sieben Fuß hohes Steinbild trug. Es ist zu verwundern, daß die Dänen, welche die letzten zwölf Jahre dazu benutzten, ganz Schleswig mit zahllosen Schanzen zu bedecken, diesen zur Vertheidigung so günstig gelegenen Punkt ganz unbefestigt lassen konnten.

Wichtiger noch möchte der im Norden von Kolding gelegene Windmühlenberg sein, der höchste Punkt der Hügelkette auf dem Nordrande der Bucht. Er beherrscht die aus der Stadt nordwärts durch die Hügel führende Chaussee vollkommen und dürfte, tapfer vertheidigt, einem vordringenden Heere schwere Verluste beibringen.

Gleich Holland, sind auch Schleswig-Holstein und Jütland sehr reich an Windmühlen. Die hübschen Formen dieser Mühlen – sie sind rund und gewöhnlich mit Schilfstroh von oben bis unten auf allen Seiten bekleidet – verleihen dem Lande ein freundliches Ansehen, besonders wenn sie ihre mit weißem Segeltuch überspannten Flügel rasch bewegen. An der Ostküste Jütlands giebt es an allen geeigneten Punkten solche Windmühlen, die, wie sich schon beim Sturme auf Veile ergab, von ihren Besitzern oder von andern fanatisirten Eingeborenen des Landes als optische Telegraphen benutzt wurden, um die Dänen von den Bewegungen der deutschen Truppen zu unterrichten. Dem militärischen Scharfblicke des Feldmarschall-Lieutenants von Gablenz konnte diese eigenthümliche [239] Art, unbemerkt durch Zeichen sich mit den abziehenden Landsleuten zu unterhalten, nicht lange verborgen bleiben, weshalb alles Mahlen am Tage sämmtlichen Windmühlenbesitzern bei strenger Ahndung verboten ward. Seitdem bewegen sich auf jütischem Grund und Boden die Windmühlenflügel nur noch des Nachts. Am Tage stehen sie allerwärts, auch bei dem allerschönsten Winde, still.

Kolding ist weder groß noch schön und kann selbst im tiefsten Frieden als Stadt für Fremde keine Anziehungskraft haben. Die Straßen sind ärmlich, die Bevölkerung blickte, soweit man ihrer ansichtig ward, mißtrauisch und giftigen Auges auf jeden ihr unbekannten Civilisten. Deutsch sprachen die Gebildeteren nur, weil ihnen unter dem Druck der Einquartierung etwas Anderes nicht übrig blieb. Sobald sich aber ein paar Menschen unbeobachtet glaubten, machten sie durch Worte und Blicke ihrem Herzen Luft und verfluchten die gehaßten Deutschen in den tiefsten Abgrund der Hölle. Der Fanatismus dieser Menschen geht häufig so weit, daß sie die eigene Sicherheit hintansetzen, nur um ihrem Ingrimm freien Lauf lassen zu können. Ja ich bin überzeugt, daß sich schreckliche Dinge zutragen würden, fürchteten sie nicht die Rache der alliirten Truppen und namentlich der hagern, braunen, katzengewandten Oesterreicher, die ihnen einen sehr heilsamen Schrecken eingejagt haben. Dem bewaffneten Feinde, der diesen fanatischen Jüten bereits gezeigt hat, daß er nicht gesonnen ist, sich ungestraft Trotz bieten oder beleidigen zu lassen, beugen sie sich zähneknirschend, destomehr hat der unbewaffnete Deutsche von ihnen auszustehen, sei’s auch nur in Worten. Wir glauben aber, daß gerade dieses feindselige Gebahren der Jütländer, das auf den dänischen Inseln ein billigendes Echo findet, den Truppen der Alliirten und namentlich den intelligenten Führern derselben die Ueberzeugung beibringen wird, daß ein ferneres Zusammenwohnen zweier Nationen, die einander in Folge eines vierhundertjährigen Kampfes so tödtlich hassen, wie Dänen und Deutsche es thun, eine moralische Unmöglichkeit sei. Ein Machtspruch kann freilich die Elbherzogthümer mit ihren urdeutschen Bewohnern noch einmal an Dänemark festschmieden, vorausgesetzt, daß das deutsche Volk ruhiger Zuschauer bei einem solchen politischen Selbstmorde bliebe; Friede zwischen Dänemark und Schleswig-Holstein würde aber durch eine so unkluge politische Handlung nicht geschlossen, sondern nur der Keim gelegt zu neuen, blutigeren und erbitterteren Kämpfen, die nie enden werden in diesen Landen, so lange die Königsau nicht wirklich die Grenzscheide bildet zwischen deutschem und dänischem Lande.

In der mit Einquartierung überfüllten Stadt war nur mit großer Mühe ein ärmliches Unterkommen für schweres Geld zu finden – und zwar in einer Art von Küche, die von preußischen Soldaten in Beschlag genommen war. Da herrschte denn ein munteres Leben bis tief in den Abend hinein, da kochte und wärmte sich einer nach dem andern von der ab- und zugehenden Mannschaft, ein stattlicher Füsilier schleppte Holz zu, die meisten nicht eben in parademäßigem Anzuge, ganz so wie es der Künstler auf seinem netten Genrebildchen dargestellt hat. Von Bequemlichkeit freilich war nicht groß die Rede, und doch hatten wir immer noch Glück gehabt, überhaupt unter Dach und Fach zu sein und auch nicht, wie schon Mancher, die Eroberung eines elenden Stuhles für ein paar Nachtstunden mit einem dänischen Species (1½ Thaler pr. Cour.) bezahlen zu müssen. Unerträglich, ohrbetäubend aber war das entsetzliche Rädergerassel der unzähligen Fuhrwerke, die in endlosen Reihen unter Schreien und Fluchen der Trainsoldaten bald im Schritt, bald im Trab, mitunter sogar in vollem Galopp vom Süden her durch die Stadt jagten. Einer Anzahl schwerer Belagerungsgeschütze, die nach Fridericia gingen, folgte eine ewig lange Munitionscolonne mit hart polternden Bombenkarren. Dann kam wieder ein nicht enden wollender Zug von Proviantwagen für die österreichische Armee, die ihre Posten bis über Aarhuus vorgeschoben hatte. Dazwischen sprengten schwere preußische Kürassiere, mit ihren klirrenden Pallaschen Alles bei Seite treibend, hindurch, und einzelne ungarische Husaren, die wohl als Ordonnanzen von Veile hereingekommen sein mochten, tänzelten auf ihren graziösen, muthigen, mit rothen Bändern geschmückten Pferden, deren lange Mähnen in Zöpfe geflochten waren, courbettirend an den Häusern entlang, als wollten sie all dem Volke, das sie umdrängte, die schönsten Reiterkunststücke zum Besten geben.

Am späten Abend ließ der Lärm des Tages wenigstens zeitweise etwas nach. Die Luft war ruhiger geworden und der Himmel klärte sich auf. Da hallte in weiter Ferne dumpfer Kanonendonner von Fridericia oder Snoghoi herüber, und als die Nacht völlig hereinbrach, spiegelte sich neben dem Silberschimmer des Mondes die düstere Gluth einer irgendwo an der Meeresküste auflohenden Feuersbrunst in dem tiefen Gewässer des pittoresken Kolding-Fjord.


Blätter und Blüthen.
Zweierlei Recht für die Reichen und für die Armen in England. Nachtrag. – Nachdem unsere letzte Nummer bereits geschlossen war, ging uns vom Verfasser des Artikels „Zweierlei Recht für die Reichen und für die Armen in England“ das folgende Nachwort zu, aus dem allerdings ersichtlich wird, daß die englische Justiz die begangene Ungerechtigkeit einigermaßen zu sühnen versucht hat, – aber freilich bleibt das Maß, womit man den reichen Mörder und den armen Todtschläger gemessen hat, noch immer ein sehr verschiedenen.
D. Red.

Im Verlaufe des Monats Februar d. J. lief bei dem Minister des Innern in London eine neue Protestation der Richter von Derbyshire ein, welche sich auf die Thatsachen stützte, daß einer der Aerzte, welche in dem Memorial an den Minister den Verurtheilten für wahnsinnig erklärt hatten, den Sinn dieser Erklärung dahin erläuterte, er habe damit nur eine neue Untersuchung bezwecken wollen, während der andere Arzt, als „nicht zum königlichen Collegium der Aerzte gehörig“, unberechtigt erschien, den Act zu unterzeichnen, und einer der Richter erklärte, er habe die Tragweite seines Zeugnisses nicht gekannt!

Bald darauf gaben auch die vier von dem Minister zur Untersuchung des Geisteszustandes Townley’s abgeordneten Experten ihr Gutachten ab. Dasselbe, außerordentlich klar und einfach, erklärte den Verurtheilten für geistig gesund. Derselbe sei ruhig, vollkommen Herr seiner selbst, kein Zeichen von Geistesstörung in Sprache, Blick, Benehmen, Unterhaltung wahrnehmbar. Die Ansicht Townley’s, die Menschen, als Geschöpfe des Zufalls, werden mit Unrecht verantwortlich gemacht für ihre Handlungen, sei ein Product persönlicher Schlußfolgerungen. Daß er für die Ermordung der Miß Goodwin sich verantwortlich gewußt, gehe hervor aus seiner Aeußerung zu den Aerzten: „Ich erwartete, für den Mord gehängt zu werden, denn ich bin nicht so thöricht, um nicht zu wissen, daß das Gesetz den Mord mit dem Tod durch Hängen bestraft. Ich dachte allerdings nicht daran, während ich die That verübte, sonst hätte ich sie unterlassen.“ Seine Ausrede „er habe seine Braut getödtet, um sie wiederzugewinnen“, habe Townley anerkanntermaßen erst nachher erfunden, um seine That zu entschuldigen. Er suche dieselbe jetzt als das Resultat eines plötzlichen Affectes hinzustellen, allein dem widersprechen seine eigenen Zugeständnisse, daß er seine Braut vor der That wiederholt bedroht habe. Seine klare Erinnerung an die Einzelnheiten der That und die Versuche, seinen Geisteszustand zur Zeit derselben in einem falschen Lichte darzustellen, beweisen die Gesundheit dieses Zustandes. Unter den gegen ihn „Verschworenen“ verstehe Townley Niemanden anders, als die Verwandten seiner Braut.

Indem der Minister dieses Gutachten den protestirenden Richtern mittheilte, sprach er sein Bedauern aus, daß „die Justiz durch die Anstrengungen des Vertheidigers, seinen Clienten von dem Vollzug der Todesstrafe zu retten, irre geführt worden sei“, bemerkte aber zugleich, die Regierung habe es, nachdem einmal Zweifel über den Geisteszustand Townley’s erhoben und in Folge dessen der zum Vollzug des Todesurtheils bereits angesetzte Termin wieder aufgehoben worden sei, – „nicht mehr für recht gehalten“, das Urtheil vollziehen zu lassen, weshalb dasselbe in lebenslängliches Gefängniß verwandelt und Townley aus der Irrenanstalt Bedlam in’s Gefängniß von Pentonville abgeführt worden sei. Außerdem aber halte es die Regierung für ihre Pflicht, eine Verbesserung der Parlamentsacte von 1840 zu beantragen.

Diesen Worten folgte die That auf dem Fuße. Wenige Wochen darauf bat im Parlament der Minister des Innern, unter ausführlicher Darlegung der Verhältnisse des Falles Townley, um die Erlaubniß, eine Bill einbringen zu dürfen des Inhalts: „daß nur noch die das Gefängniß besuchenden Richter und [240] die in der Medical-Registrations-Acte eingetragenen Aerzte Certificate an den Minister ausstellen dürfen über den Geisteszustand eines verurtheilten Gefangenen, und daß auf den Grund eines solchen Certificats der Minister des Innern nur befugt, nicht aber gezwungen sein solle, vor dem Vollzug der über den Gefangenen ausgesprochenen Strafe die Versetzung desselben in eine Irrenanstalt anzuordnen behufs weiterer sachverständiger Untersuchung seines Geisteszustandes.“

Das Parlament gab die nachgesuchte Erlaubniß zur Einbringung dieser Bill, und zwar sowohl das Unter- als das Oberhaus, – das erstere nicht, ohne daß einzelne Mitglieder desselben ihre lebhafte Unzufriedenheit darüber aussprachen, daß der Minister durch die Anwendung eines „Kniffes" sich habe bewegen lassen, die wohlverdiente Todesstrafe Townley's in Gefängniß zu verwandeln.




Hermann Marggraff’s letztes Lied.
 Mein Stern.

Aus des Himmels tiefsten Falten
Flammt’s wie tausend Funken auf;
Ungezählte Globen halten
Ihren nächtlich stillen Lauf.
Unter diesen tausend Sternen
Ach, wo such’ ich meinen Stern?
Nah ist nichts in diesen Fernen,
Und das Nächste selbst ist fern.

Dennoch glaub’ ich ihn zu schauen,
Meinem Geiste tritt er nah;
In des Luftmeers dunkelblauen
Tiefen ist er plötzlich da.
Ich erblicke seine Fläche;
Grüne Wälder rauschen dort;
Murmelnd rieseln klare Bäche
Durch die Blumenwiesen fort.

Doch ein Wetter bricht mit argen
Schlägen unverhofft herein,
Und die dunkeln Wolken sargen
Das Gebild der Schönheit ein.
Um der Berge Marmorspitze
Tobt der Sturm mit wildem Zorn,
Und im grellen Schein der Blitze
Leuchtet jedes Alpenhorn.

Durch der Höhlen Finsternisse
Tönt es plötzlich wie ein Schrei,
Und mit einem jähen Risse
Bricht mein Stern, mein Stern entzwei;
Er zerbricht und fällt in Splitter –
Ach, es war ein Weltenmord! –
Und es tobt das Ungewitter
Selbst noch auf den Trümmern fort.

Sollt’ ein Stern erlöschen, klagen
Schmerzlich dann die andern mit?
Sterb’ ich, wird die Menschheit fragen,
Was ich war und was ich litt?
Ach, im unermeßnen Raume
Ist der Einzelne der Welt,
Was ein kleines Blatt dem Baume,
Das in Frühlings Tagen fällt;

Was dem ganzen Strom die Welle,
Die im Augenblick zerrinnt,
Während an derselben Stelle
Schon die zweit’ ihr Spiel beginnt;
Was der ganzen Wolkenmenge
Nur ein einz’ger Tropfen ist,
Der mit andern im Gedränge
Fällt und stirbt zu gleicher Frist.




Das Speisereglement in den preußischen Lazarethen in Flensburg. Dem in letzter Nummer gegebenen Versprechen gemäß, lassen wir hier den in den preußischen Lazarethen in Flensburg geltenden Küchenzettel wörtlich folgen. Unsere Leser werden sich daraus überzeugen, wie jetzt die Verpflegung der Kranken und Verwundeten nach dieser Richtung hin mindestens kaum etwas zu wünschen übrig läßt:

Volle Kost. Frühstück: Jeden Morgen 50 Q. Roggenbrod mit 3 Q. Butter, sowie 1 Pegel warmer Milch. – Mittagsessen: Sonntag, Dienstag, Donnerstag und Freitag: 1 Pott Fleischsuppe, gekocht aus 621/2 Q. Ochsenfleisch, welches nach dem Kochen mit 32 Q. schierem Fleisch ohne Sehnen und Knochen ausgewogen wird. In der Suppe 1/60 Achtelschipp Graupen, 1/40 Schipp Kartoffeln. Kraut und Salz nach Bedarf. – Montag, Mittwoch und Sonnabend: 3/4 Pott Wassergrütze mit 3 Q. Butter und 1 Pegel Milch oder Bier; als Nachspeise 25 Q. gekochtes Fleisch, gebraten in 3 Q. Butter, mit Kartoffeln. – Zu jeder Mittagsmahlzeit 371/2 Q. Roggenbrod. – Vesper 4 Uhr Nachmittags: 50 Q. Roggenbrod mit 3 Q. Butter, sowie 1/2 Pott Bier. – Abendbrod 7 Uhr: 1/2 Pott Grütze mit 3 Q. Butter.

Mittelkost. Frühstück: Jeden Morgen 20 Q. ausgesichtetes Brod mit 3 Q. Butter, sowie 1 Pegel warmer Milch. – Mittagsessen: Sonntag und Donnerstag: 3/4 Pott Hafersuppe mit 1/40 Pott Weinessig und 5 Q. Puderzucker; als Nachspeise frische Fische mit 3 Q. Butter. – Montag, Mittwoch und Sonnabend: Pott Fleischsuppe, gekocht auf 50 Q. Ochsenfleisch, mit Graupen, Kartoffeln und Kraut, ohne Fleisch. (Das Fleisch wird für die Patienten auf voller Kost verwandt.) – Dienstag und Freitag: 1/2 Pott Biersuppe von ausgesichtetem Brod mit 5 Q. Puderzucker. – Zu jeder Mittagsmahlzeit: 20 Q. ausgesichtetes Brod, wozu Dienstag und Freitag 3 Q. Butter gegeben werden. – Vesper 4 Uhr Nachmittags: 20 Q. ausgesichtetes Brod mit 3 Q. Butter, sowie 1/2 Pott Bier. – Abendbrod 7 Uhr: 1/2 Pott Grütze mit 3 Q. Butter.

Fieberkost. Morgens: 1 Pegel Thee mit Milch und Zucker, oder 1 Pegel warmer Milch. – Mittags: 3/4 Pott süße Suppe oder Fruchtsuppe mit, wenn es gewünscht wird, 1/40 Pott Weinessig und 5 Q. Puderzucker, abwechselnd mit 1/2 Pott Gersten-Wassergrütze mit 3 Q. Butter und 1 Pegel Milch oder Bier; und als Nachspeise: Fische oder ausnahmsweise Fricassée. – Täglich 1/2 Franzbrod und 2 Zwiebacke.

Frische Hafersuppe, Roggenmehlsuppe oder durchgeschlagene Gerstensuppe wird den Patienten geliefert, wie der Arzt es für gut befindet.

Die Patienten, welche nichts von den obengenannten Speisen genießen können, werden auf dem Tagzettel unter einer neuen Rubrik „Ohne Kost“ aufgeführt.

Im Uebrigen fällt jede Ordination von bereiteten Extraspeisen weg, so daß die Extra-Artikel, welche requirirt werden können, sich einschränken auf: Wein, Bier, Reiswasser, Milch, Häringe, Citronen, Apfelsinen, Essig, Eier und Weizenbrod, außer was für den medicinischen Gebrauch erforderlich wird. –




Die Zeichner und Berichterstatter auf dem Kriegsschauplatze. Das Generalcommando der preußisch-österreichischen Truppen in Schleswig hat bekanntlich in der letzten Zeit alle Zeitungscorrespondenten und Specialartisten auf dem Kriegsschauplatze unerbittlich zurückgewiesen. Nur mit einigen Wenigen, die sich besonderer Empfehlungen und Verbindungen zu erfreuen hatten, schreibt uns unser Correspondent, sind Ausnahmen gemacht worden; so mit dem Correspondenten der Times und der Londoner Illustrated News, dem Berichterstatter der Nationalzeitung, einem ehemaligen preußischen Artillerieofficier, der verschiedenen militärischen Blättern mit seiner Feder dient, und mit dem Specialartisten der Gartenlaube, dem Maler Otto Günther aus Weimar. In den jüngsten Tagen hat sich dieser kleinen Schaar von Auserwählten noch der im Auftrage des Königs von Preußen nach dem Kriegstheater entsandte Maler Kaiser aus Berlin beigesellen dürfen, der auch für die Illustrirte Zeitung Zeichnungen liefern wird.




Erklärung. Seit Anfang d. J. giebt Herr Friedrich Gerhard in New-York (früher in Danzig) eine deutsche Wochenschrift unter dem Titel „Gartenlaube" heraus, in welcher Erzeugnisse der deutschen Journalistik, mit oder ohne Bewilligung der betreffenden Verfasser und Blätter, ab- und nachgedruckt werden. Es war bisher meine Absicht, zu dieser jedenfalls etwas befremdlichen Namenswahl des neuen Unternehmens stillzuschweigen, weil ich glaubte, daß schon die oberflächliche Vergleichung genügen wurde, den himmelweiten Unterschied der beiden Namensschwestern erkennen zu lassen; nachdem mir aber von jenseits des Oceans wiederholte Aufforderungen zugehen, gegen eine mögliche Verwechselung meiner Zeitschrift mit der New-Yorker zu protestiren, erkläre ich, im Interesse meiner zahlreichen transatlantischen Leser, daß das von mir herausgegebene allbekannte und bewährte Journal mit dem New-Yorker Nachahmungsversuche nicht das Mindeste gemein hat.

Leipzig, April 1864.
Ernst Keil. 

Deutsche Blätter.
Literarisch-politisches Beiblatt zur Gartenlaube.
Wöchentlich 1/2 Bogen. Für die Abonnenten der Gartenlaube nur 6 Ngr. pro Quartal.

Die bereits in ihrem zweiten Jahre erscheinenden „Deutschen Blätter" werden fortan die Tendenz, welche bei ihrer Begründung in’s Auge gefaßt wurde, entschiedener zum Ausdrucke bringen, als es bisher geschehen ist: sie werden in jeder Beziehung eine Ergänzung der Gartenlaube bilden, welche bei ihrer sehr zeitraubenden Herstellung von vornherein auf eigentliche Neuigkeiten aus dem Gebiete des Lebens und Wissens verzichten mußte. Ganz besonders werden sie sich daher die Zusammenstellung eines anregenden, frischen und interessanten Feuilletons zur Aufgabe machen, das in der Gartenlaube bei der Ueberfülle von Stoff und wegen der erwähnten langsamen Druckvollendung jeder einzelnen Nummer leider nicht zu ermöglichen ist. Wir glauben daher die deutschen Blätter Allen, welche einen regen geistigen Antheil nehmen an der Zeit, in der sie leben, auf das Angelegentlichste empfehlen zu können.

Nr. 14 enthält: Die Kehrseite des Schlachtenruhms. Die Wahlstatt nach der Schlacht. I. – Umschau: Werthschätzung des Adels in der Schweiz. – Ein Proletarierkind (Alexander Calame). – Ein Gast aus dem Geisterreiche bei einem Jubelfeste.

Leipzig, April 1864.
Die Verlagshandlung von Ernst Keil. 

  1. Die vorstehende Schilderung ward uns schon im Laufe des verflossenen Herbstes zur Veröffentlichung mitgetheilt. Da aber damals bereits alle Blicke sich ausschließlich der Entwickelung der Dinge auf dem Kriegsschauplatze in Schleswig zuzuwenden begannen, fanden wir immer keinen Raum, den Artikel zum Abdruck zu bringen. Jetzt hingegen, wo Garibaldi’s plötzliche Abreise nach England darauf hindeutet, daß derselbe vielleicht schon in der nächsten Zukunft wieder eine bedeutende Rolle in der Zeitgeschichte spielen werde, glaubten wir unsern Lesern den interessanten Einblick in die Häuslichkeit des großen Parteigängers nicht länger vorenthalten zu dürfen.
    D. Red. 

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Höhenzugen