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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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Quelle: commons
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[209]

No. 14.   1864.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.





Der Schatten.
Erzählung von Carl August Heigel.
1.

… Er stieg aus dem Sarge.

Angelo unterstützte ihn, mit seiner Linken das Windlicht haltend, das auf die gewölbten grauen Wände und Metallsärge einen matten Schimmer warf.

Es war in der Familiengruft derer von Waldenburg. Eine Nacht und ein Tag waren verflossen, seitdem der Sarkophag mit dem letzten männlichen Sprossen des Geschlechts, dem Grafen Heinrich von Waldenburg, beigesetzt worden. Aber Graf Heinrich war nicht gestorben, er stand um Mitternacht auf von den Todten. Er that einen tiefen Athemzug und blickte schaudernd auf die geheimnißvollen Mauernischen, die übereinander geschichteten Truhen, auf den eignen Sarg.

„Hilf mir!“ sagte Angelo, hob mit des Andern Beistand den schweren Deckel auf den leeren Sarkophag, befestigte die Schrauben und verschloß ihn. Dann stiegen Beide aus der Gruft zur Capelle empor und gelangten von ihr in die Vorhalle.

Auch dort walteten die Einsamkeit und Stille der Mitternacht. Als sie an der mondbeglänzten Haupttreppe vorüber in den Corridor eines Seitenflügels bogen, hörten sie nichts, denn ihre eignen leisen Schritte. So erreichten sie ungestört Angelo’s Thurmzimmer … Durch das breite Bogenfenster schien der Mond. Verblaßte Gobelins bedeckten die Wände; Bücherschränke und einige schwerfällige Möbel waren das Geräth, ein großes Crucifix in der Nische der Schmuck des Zimmers.

Schweigend vertauschte Heinrich sein Sterbekleid mit dem Gewand eines katholischen Priesters, das für ihn bereit lag. Als dies gethan war, ließ er sich in einem Lehnstuhl nieder und senkte nachdenklich das Haupt.

Es war ein Mann von dreißig und einigen Jahren, aber ein schwermüthiger, träumerischer Zug um den Mund, eine gewisse Müdigkeit in der Haltung des Körpers, der Anlage zur Fülle hatte, ließen ihn älter scheinen. Das Haar braun und dünn, die Stirn hoch und schmal, die Augen von feuchtem Blau, die Nase leicht gebogen – so war das Gesicht des Grafen von sanfter Schönheit, ohne aufzufallen. Ganz anders dagegen waren Angelo’s Züge, streng, fest, bedeutend. Das kurzverschnittene schwarze Haar mit der Tonsur des katholischen Geistlichen spitzte sich inmitten der Stirn, während die hohen Schläfe bloß lagen. Der fanatische Blick der tiefliegenden Augen, die dünnen Lippen, die blasse Gesichtsfarbe und der abgemagerte Körper in schwarzer Priestertracht, Alles an ihm verrieth herben, der Welt und ihren Freuden unholden Sinn.

„Wie fühlst Du Dich?“ fragte Angelo.

„Müd, sterbensmüd,“ antwortete der Andere. „Wie lange schlief ich?“

„Vor drei Tagen nahmst Du meinen Trank. Seit drei Tagen ist Graf Heinrich von Waldenburg todt für seine Frau, für die Welt.“

„Todt!“ sagte Heinrich schaudernd; dann fragte er mit ängstlicher Spannung: „Wie trägt Stephanie den Verlust ihres Gemahls?“

„Wie ein Weib; sie jammert und weint.“

„Sie weint!“ seufzte der Graf und barg das Gesicht in beide Hände. „Ihre schönen Augen weinen. Und ich, ich nannte sie herzlos. Ach, Angelo, wozu hast Du mich überredet! Jetzt erscheint mir unsere That ein Frevel gegen Gott und Menschen. Mit den heiligsten Gefühlen, mit Liebe und Treue spielen wir.“

Der Priester zuckte verächtlich die Schultern. „Wenn Du Deinen Entschluß bereu’st, geh’ hin, stürze Dich Deiner Frau zu Füßen, erzähle Deinen staunenden Leuten irgend ein Märchen von Starrkrampf und Scheintod. Sie beweinten Dich drei Tage lang; damit bist Du zufrieden, schwacher, schwankender Mensch!“

Angelo schwieg, um den Eindruck seiner Rede zu beobachten. Aber Heinrich starrte schweigend vor sich hin. „Freilich,“ fuhr Jener fort, „wenn Du das jetzt thust, war unser Beginnen thöricht, vermessen und nutzlos, ein verächtliches Spiel, eine rohe Täuschung. Folgst Du aber auch fernerhin mir, handelst Du in meinem Geist, dann vollbrachtest Du eine große That, die Dich vom Staub der Welt zum Herzen Gottes trägt.“

„Heinrich,“ sagte er mit sanfterer Stimme und legte die Hand auf des Grafen Schulter. „Erkennst Du noch immer nicht Dein besseres Selbst? lauschest Du noch dem Sirenensang? Entschließe Dich! Entweder leere den Becher der Genüsse mit kühnem Zug, sei wie die Andern ein eitler, gottvergeßner, aber lachender Thor, ein ganzer Sünder; oder mach’ es gleich mir, knechte die Sinne, verachte die Menschen und sieh die Welt als einen Traum an!“

„Ach, Freund,“ sprach der Andere schmerzlich lächelnd, „wenn die Welt ein Traum ist, warum schilt mich die Welt einen Träumer?“

„Weil Du Stunden hast, in denen Du wach bist. O daß sie dauern möchten! Denk’ an mich! Wir wuchsen zusammen auf, wir hatten einen Lehrer, eine Erziehung; mein Geschlecht ist so adelig wie das Deine, und wie Du könnte ich jetzt reich, angesehen und, was die Menschen so nennen, glücklich sein. Trotzdem mein Blut rascher fließt als Deines, hab’ ich entsagt. Arm, namenlos, einsam stehe ich – und tausche doch mit Keinem Eurer Glücklichsten. [210] Oft, wenn Du mit Deinem Reichthum, Deiner schönen, allbewunderten Gattin, mit Deinen Ehren und Orden, im Zimmer Deines armen Schloßkaplans zusammenbrachst, von unbefriedigtem Stolz, eingebildeter Eifersucht oder Herzensleerheit gefoltert, und mit Thränen ausriefst: „„Wo ist das Glück?““ hab’ ich, Dein Untergebener, Dich bemitleidet; ich, besitzlos, wunschlos – ich fand mehr als Glück, ich fand Glückseligkeit! … Heinrich, sei wie die Andern, oder gleiche mir! Für einen Hamlet ist weder auf Erden, noch im Himmel Platz!“

„Ich beneide Dich, Angelo, und, beim Himmel, gern ahmt’ ich Dir nach!“ rief der Graf im heftigen Seelenkampf. „Aber Dir gewann die Welt niemals ein Lächeln ab, Du verachtetest sie immer; ich dagegen ließ mich in den Wirbel ziehen, meine Lippen haben geküßt, ach, so selig geküßt! Mein ist ein Weib; ich habe Freunde und treue Diener.“

Angelo lächelte triumphirend. „Prüfe dies Gold!“ rief er. „Gräfin Stephanie liebte in Dir die Freuden, die Dein Reichthum gewähren konnte. Durch Deinen Tod wird sie selber mächtig. Ihre Leidenschaften braucht nicht mehr die Klugheit zu bändigen – Ich bin ja frei! wird sie nach wenigen Monaten sich sagen, und die sanfte, blonde Stephanie wird ein stolzes, grausames, lusttrunknes Weib sein – wie alle vom blauen Blut.“

Heinrich war mit wuthbebenden Lippen emporgesprungen und preßte krampfhaft den Arm des Höhnenden. „Niemals!“ stammelte er. „Den würd’ ich tödten, der außer Dir von meinem Weib so spräche!“

„Hast Du nicht selbst mir gestanden,“ fuhr der Andere unerbittlich und furchtlos fort, „daß zuweilen in Stephaniens Augen ein Feuer wie aus tiefstem Höllenabgrund emporschlage? In diesem Zimmer hingst Du an meiner Brust und klagtest, daß sie mit ihrem Blick und ihrer süßen Rede Dich zum Teufel mache. Und dann wieder warst Du untröstlich über ihre Kälte … Deine Freunde – ach, Keinen wird Dein und empfangener Wohlthaten Andenken hindern, Stephanie Dich vergessen zu lehren und Dein Erbe zu plündern. Und Dienertreue – wer glaubt daran noch? … Sei ein Jahr lang für die Welt todt und dann, rückkehrend in die Welt, erfahre, was für ein Nichts ein Menschenleben ist! Stirb als der mächtige, reiche Graf von Waldenburg und tritt als armer, namenloser Fremdling in Deine Kreise – und dann sage mir, was Menschen sind!“

„Ich will’s,“ sprach Heinrich entschlossen … „Ich weiß,“ fügte er bitter hinzu. „Ich kann nicht zurück, Himmel und Erde stritten sich von jeher in meiner Seele, und doch war sie von beiden verlassen. Am Stoffe hängend, nach Läuterung mich sehnend, flüchtete ich mich in Deine Arme. Von Dir überredet, vollbrachte ich den ungeheuren Betrug. Wenn das Lebensglück zweier Menschen darüber zu Grunde geht und Fluch das Ende des Frevels ist, wälz’ ich die Verantwortung vor dem ewigen Richter auf Dich.“

„Glaubst Du,“ erwiderte ruhig der Andere, „ich hätte das kühne Spiel gewagt, wenn ich nicht gewiß wäre, Dich damit zu retten? Doch vergiß Dein Gelübde nicht: wenn Du nach einem Jahr die Welt im wahren Licht erkanntest, der Welt für immer zu entsagen, Dich vom Weibe zu trennen und Dein Gut unserer Kirche zu geben!“

„O Freund,“ sagte der Graf, „wenn ich die Menschen treulos und das Leben eitel finde, werd’ ich dann auf die Treue des Goldes schwören? Nein, dann bau’ ich meine Hoffnungen nur noch jenseits der Sterne auf.“

„So laß uns gehen!“

Sie verließen das Gemach. Eine Wendeltreppe hinab gelangten sie durch ein geheimes Pförtchen auf die Terrasse, welche sich längs der östlichen Front des Schlosses hinzog. Eine breite Steintreppe führte zum Park hinab, doch traten die Baumgruppen auf beiden Seiten zurück, so daß von der Terrasse der Blick auf den Fluß und das jenseitige Ufer frei blieb. Dorf und Schloß Waldenburg liegen unweit der italienischen Grenze in einem waldigen Gebirgsthal, in einer Landschaft voll wilder Schönheit und ungebändigter Kraftfülle. Ein tobender Fluß theilt das Thal in zwei Hälften. Am linken Ufer zieht sich die Heerstraße südwärts, bald dem Wasser entlang geleitet, bald in’s Waldesdickicht sich verlierend und dann wieder dicht an die senkrechte Felsenwand sich schmiegend. Sie führt mitten durch das Dorf Waldenburg, das hochgelegene Schloß zwischen sich und dem Fluß lassend. Am andern Ufer dehnte sich unabsehbarer Wald aus, über dessen Wipfel die Bergkegel riesig emporsteigen, uralte Bäume wie Blumensträuße und schäumende Bäche wie wallende Bänder an der Brust.

Als Heinrich mit seinem Gefährten in’s Freie trat, stand der Vollmond über der Bergkette und wölbte sich der wolkenlose Sternenhimmel einer Juninacht dawider. Diese Fülle tiefster Schatten und milchweißen Lichts sänftigte die wilde Starrheit der Gegend und gab ihr einen schwermüthig feierlichen Charakter. Wohl rauschte der Fluß, aber das uralte Wellenlied: Fort! fort! fand kein Echo im schlafenden Wald und in seiner flugmüden Vöglein Brust. Selbst die unbewegte Bergluft war weicher durch den Duft, den die Orangenblüthen im Schloßpark ausströmten.

„Ach, Freund,“ sagte Heinrich, während sie langsam die Terrasse hinabstiegen, „als ich Deinen Trank schlürfte, schwanden meine Sinne, schwammen meine Gedanken mählich dahin. Eine süße Lethargie wiegte mich ein. Nie mehr erwachen! war der letzte Wunsch oder Traum, bevor ich ganz in kalte Nacht versank. Aber jetzt der dumpfen Gruft entflohen, athme ich Wollust unter diesem Sternenhimmel, in dieser herrlichen Natur!“

„Blinder Schwärmer!“ versetzte der Andere, „die Giftdünste des Grabes athmest Du auch in diesem schmeichelnden Aether; der Wurm nagt auch im grünen Baum, im Blumenkelch. Ein Kampf Aller gegen Alle, das ist die Losung der Natur, und ihre schönsten Blüthen treibt sie aus Verwesung.“

Aber der Graf hörte nicht auf Angelo; er hielt sein Antlitz dem Schloß zugewandt. Plötzlich blieb er stehen, ergriff hastig den Arm seines Begleiters und wies nach dem letzten Fenster des ersten Stocks. Dort erschien Licht. „Es ist Stephanie,“ flüsterte Heinrich.

„Du zitterst?“

„Es ist Stephanie,“ wiederholte Jener hoffnungslos.

„Was hat sie im Erkerzimmer zu thun ?“ fragte Angelo verdrießlich.

„Horch! sie öffnet ein Fenster.“

„Glücklicher Weise eines auf der andern Seite.“

In diesem Augenblicke ließ sich aus der Ferne ein dumpfes Rollen hören. „Ein Wagen!“

„Ah, ich begreife jetzt,“ erwiderte der Priester. „Die Gräfin blickt nach der Heerstraße aus. Cousin Edgar kommt.“

„Edgar? Weiß er denn …?“

„Ich selber schrieb ihm auf Deiner Frau Befehl die Trauernachricht. Ich muß gestehen, daß er zu trösten sich beeilt. Aber fort, Freund, fort, bevor das Schloß wach wird! Beim Pavillon brach ich soviel Steine aus der Parkmauer, daß Du bequem hinüber gelangst. Linksab führt der Schmugglerweg. Ich habe dafür gesorgt, daß er heute frei bleibt. Mit Sonnenaufgang kannst Du drüben im grauen Kloster sein. Der Prior hat meine Weisung; ungefragt wird man Dich zu den guten Vätern von Monteverde befördern. Dort erhältst Du binnen drei Tagen meinen ersten Brief. Fort, es ist höchste Zeit! … Gott über Dir, entlaß ich Dich; kehre zurück, Gott in Dir!“

Sie umarmten sich. Bald darauf verschwand der Graf zwischen den Bäumen … Am Pavillon blickte er noch einmal nach seinem Schloß zurück. Das Licht im Erkerzimmer war verschwunden. Er winkte mit der Hand … „Leb wohl, Stephanie! auf Wiedersehen!“ … Dann schwang er sich über die Mauer, überschritt die Straße und schlug den geheimen Waldweg ein, der zwischen Felsengeklüft aufwärts führte. Unsichtbar begleitete ihn der Fluß mit seinem Rauschen, das bald schwächer, bald stärker sich vernehmen ließ, zuletzt nur noch dumpf wie das geheimnißvolle Wehen tiefster Waldgründe. Den jähen, grausigen Abhang entlang führte der schmale Pfad, ein Fehltritt war sicherer Tod; aber Heinrich’s Fuß war fest; er kannte die wilde Bergnatur und ihre Gefahren seit seiner Knabenzeit. Vom scharfen Ost umweht, klomm der Todtgeglaubte höher und höher.


Ein Jahr war seit Heinrich’s Auferstehung und Flucht vergangen. Die Gräfin Wittwe war unbestrittene Erbin und Gebieterin von Waldenburg, denn Niemand außer Angelo wußte, Niemand ahnte das Geheimniß. Der jüngste Sarg in der Ahnengruft stand unberührt und vergessen, wie die andern. Der Grünspan nahm, wie der Staar dem Auge, dem Metall den glänzenden Blick; Staub lagerte sich auf den goldgestickten Sammet, und eine Spinne zog ihr Netz zwischen Sarkophag und Wand.

[211] Droben aber, im Lichte, hatte sich Alles verändert. Früher war das Schloß reich, aber alterthümlich eingerichtet gewesen. Die Melancholie des Grafen lag auf den Gobelins und dunkeln Stoffen, dem Eichengetäfel und geschnitzten Geräth. Drei Monate nach seinem Begräbniß, während Stephanie in der Residenz weilte, kamen Möbelwagen, französische Arbeiter und Gärtner nach Waldenburg. Zum Entsetzen der älteren Diener und zum Erstaunen der Dorfbewohner wurde Tag und Nacht gehobelt und gehämmert, zerstört und geschaffen, verwirrt und geordnet. Als die Gräfin bald darauf selber kam, war der Charakter des ganzen Hauses umgewandelt. Die große Treppe glich einem Blumenhügel; die Gemächer, deren Holzwerk und Riesenkamine man vorläufig verschonte, enthielten nur moderne Möbel, lichte Stoffe, zierliche Blumentische und chinesische Vasen. Sogar die altdeutschen Bilder hatten trotz ihres Kunstwerths wegen ihrer schwermüthigen Probleme und schwarzen Rahmen den modernen Frère, Diaz und Guillemin weichen müssen.

An einem schönen Sommerabend befanden sich Stephanie, ihre Gesellschaftsdame und der Priester Angelo in einem dieser Gemächer. Wegen seiner blaßgelben Vorhänge und Divans hieß es das gelbe Zimmer. Die Decke sowohl, als die geräumigen Wände waren getäfelt und in entsprechende, erhaben gearbeitete Felder eingetheilt. Trat man vom Corridor in das Gemach, so führte rechts eine Thür in das Boudoir der Gräfin, das weiter keine Verbindung hatte, die Thüre links in das Zimmer der Gesellschaftsdame.

Stephanie saß am offenen Fenster, Fräulein Fanny hinter ihr, Angelo ihr gegenüber.

„Und so wollen Sie mich wirklich verlassen?“ fragte die Gräfin.

Ihre Stimme hatte einen weichen, schmeichelnden Klang.

„Ich muß,“ antwortete er. „Meine Vorgesetzten rufen mich nach Rom. Ueberdies ist mein Freund Stein, der mich vollständig ersetzen wird, bereits eingetroffen.“

„Ach, an ihn dacht’ ich längst nicht mehr. Er ist schon im Schloß, sagen Sie? Seit wann?“

„Vor einer halben Stunde trat er in mein Zimmer. Er bittet, Ihnen seine Aufwartung machen zu dürfen.“

„Er ist willkommen … Einen Augenblick! Erwähnten Sie nicht einst seine große Aehnlichkeit mit meinem seligen Gemahl?“

„Allerdings sieht er dem Theuern ähnlich, und meine Wahl fiel auch deshalb auf meinen Freund Stein.“

„Warum deshalb?“ fragte Stephanie. Ihre stahlblauen Augen sahen Angelo starr an.

„Warum, Frau Gräfin? Liebt man nicht das Bild, den Schattenriß eines verlorenen Freundes? Sie besitzen kein Portrait Ihres Gatten. Er hatte einen Widerwillen, sich im Bild zu sehen. Eines Andern Aehnlichkeit, denk’ ich, ist immerhin eine Erinnerung an das Urbild selbst.“

„Die Erinnerung an einen Verlust, an so herben, plötzlichen Verlust ist traurig.“

„Sie ist ein Trost in neuem Unglück, eine Mahnung in der Versuchung.“

„Pater!“ fuhr die Gräfin empor, aber sie zwang sich zu einem Lächeln. „Das sollte doch keine Prophezeiung sein? Nein, lassen Sie uns heiter scheiden. Nehmen Sie meinen innigsten Dank für die treue Freundschaft, die Sie meinem Heinrich bewahrten, und geben Sie mir Ihren Segen! Wenn Sie von Rom nach Deutschland heimkehren, werden Sie in Waldenburg stets der willkommenste Gast sein! – Und nun bitte ich Sie, mir Herrn Stein vorzustellen.“

Beide hatten sich unterdessen von ihren Sitzen erhoben. Angelo verließ mit einer stummen Verbeugung das Gemach. Stephanie sandte ihm einen Blick unsäglichen Hasses nach. „Endlich!“ rief sie, tiefaufathmend. „Heute erst werde ich Herrin. Dieser finstere, blasse, unheimliche Mann vergällte jede Freude, verdüsterte alle meine Gedanken. Nun, Fanny, jubeln Sie nicht mit mir? Waren Sie Angelo’s Freundin? Freilich, wie wenig wissen Sie von ihm! Sie, hätten ihn sehen sollen, als mein Mann noch lebte! Wie er des Guten Seele Tag für Tag fester bannte und in eine Nacht höchst trauriger Gedanken senkte. Dieser Angelo stahl mir Stück für Stück vom Herzen meines Mannes. Heinrich lebte noch, hätte Jener nie unsere Schwelle betreten.“

„Mir, gnädigste Gräfin,“ erwiderte das Fräulein, eine kleine, hübsche Blondine, „mir war Angelo – seinen Stand in Ehren!– immer ein Horreur. Ich wollte, sie machten ihn in Rom zum Papst, damit er in Rom bliebe. Und ich an der Frau Gräfin Stelle bedächte mich wohl, den neuen Kaplan zu nehmen, da ihn Pater Angelo empfiehlt.“

„Das kränkt mich ja,“ sprach Stephanie leise und mehr für sich, „daß ich diesem Manne nicht Nein zu sagen wage! So tief ich ihn hasse, so sehr fürcht’ ich ihn. Wozu brauche ich überhaupt einen Kaplan? Ich bin nicht von Zweifeln geplagt, wie mein armer Heinz; ich lasse Gott in Ruhe die Welt regieren. Die Bibliothek? die ließ ich nach dem Speicher schaffen, und meine Bücher möchten Herrn Stein wenig Mühe, aber viel Kopfschütteln machen. Die dummen Dörfler können Sonntags ihre Messe drüben in Wendelstein hören, und wenn ich einen Sommer lang nicht in die Kirche gehe – nun, man wird heutzutage nicht mehr in Acht und Bann gethan.“

„Das hätte ich dem Pater Angelo gründlich dargelegt.“

„Was hätten Sie?“ versetzte heftig die Gräfin. „Sie denken doch nicht muthiger zu sein als ich? Sie hätten geweint, wie Sie immer thun, wenn Sie nicht wissen, was Sie thun sollen. Sie hätten geweint und Herrn Angelo die Hand geküßt und ihm für seine zarte Fürsorge Ihre ewige Dankbarkeit versichert. Das Letztere that ich auch. Doch still, sie kommen! … Wie lange mein Cousin wieder auf sich warten läßt! Was macht die Gräfin Aßperg?“

„Sie schläft.“

„Die Glückliche!“

„Herr Stein,“ sagte Angelo, in’s Zimmer tretend. Ihm folgte ein Priester mit kahlem Haupt, doch vollem, schwärzlich-grauem Bart; seine Stirn war tief gefurcht, seine Wange blaß und hohl, seine Gestalt zum Gerippe abgemagert, aber in seinen Augen brannte zehrendes Feuer, und diese Augen ruhten jetzt auf Stephanie, heiß und schwärmerisch anbetend und verlangend, wie der Wunsch eines Jünglings. Wie blühend, wie schön auch war sie gegen ihn! Ein schwarzseidenes Kleid verhüllte, aber verbarg nicht den Oberkörper, der auf breiten Hüften schmal, gleichsam sich zusammenfassend, ansetzte und dann zur herrlichen Brust anschwoll und zum vollendeten Nacken sich wölbte. Wie ein Triumph stieg das Haupt empor, das Gesicht von edler Rundung und heller Farbe; der Mund mit leicht emporgezogenen Winkeln, lächelnd oder schmollend, Liebesworte oder Flüche sprechend, erweckte immer Sehnsucht zum Küssen, wie Venus’ ewig frische Lippen; die Augen unter dunkeln Wimpern blau, feucht, verlangend; die Stirn niedrig, aber fein geformt, und darüber eine Wucht lichtbraunen Haares – so war Stephanie jener sirenenhaften Schönen eine, mit denen man auf einem Zaubermantel im Sturmwind über die Welt hin und durch den Sternenwirbel brausen möchte.

Nach kurzer Begrüßung, die von Stein stumm erwidert wurde, begann die Gräfin: „Sie sehen auf den ersten Blick meinem seligen Mann ähnlich, allein bei längerer Betrachtung verliert sich diese Aehnlichkeit. Mein Heinrich hatte runde, weiche Züge, seine Augen waren sanft, während Ihre Augen – Vergebung, hochwürdiger Herr! – sehr streng und bedeutsam blicken.“

Angelo gab seinem Freund unbemerkt ein Zeichen, sich zu fassen. Aber dieser war unfähig, zu antworten. Stephanie, die seine Verwirrung allein der Macht ihrer Schönheit zuschrieb, lehnte sich im Fauteuil zurück und sah in dieser halbliegenden Stellung, mit verschleierten Augen und einem leichten Lächeln um den Mund, so reizend aus, daß Heinrich – denn Er war Stein – der Allgewalt des Heimwehs und der Liebe gefolgt und seinem Weib zu Füßen gestürzt wäre, hätte sich nicht plötzlich ein Hornruf aus den Bergen vernehmen lassen. Stephanie sprang rasch empor und sagte zu Fanny „Sie kommen!“ und, von Purpur übergossen, mit fliegender Brust und glänzenden Augen, beugte sie sich aus dem Fenster und winkte mit ihrem weißen Tuch. Dann sich mäßigend, wandte sie sich an Heinrich. „Vergebung, Herr Stein! Ich habe einige liebe Gäste, die soeben von der Jagd zurückkehren. Die Jagd in den Bergen aber ist so gefährlich, daß ich die glücklich Heimkehrenden jedesmal wie Gerettete begrüße … Sie sind gewiß müde, haben Dies und Jenes zu ordnen, Herr Stein? Ihre Gemächer kennen Sie bereits. Befehlen Sie dort ganz nach Ihren Herzenswünschen! … Ich hoffe, wir werden gute Freunde.“ Sie reichte ihm ihre seine Hand.

„Ich hoff’ es,“ sagte Heinrich.

Beim Klang seiner Stimme zuckte Stephanie jäh zurück und starrte mit entsetztem Blick ihn an. „Das,“ sagte sie zitternd, „das war Heinrich’s Stimme.“

[212] Angelo trat schnell dazwischen. „Wunderlich!“ rief er, „ich finde gerade die Stimme nicht ähnlich. Mein unvergeßlicher Freund besaß ein weniger tiefes, aber weicheres Organ … Doch, gnädige Frau, erlauben Sie mir, mich zu empfehlen. Schon geht die Sonne nieder, und ich habe noch einen weiten Weg vor mir.“

Da Stephanie ganz in Gedanken verloren schien, ergriff Fräulein Fanny das Wort und bot dem Scheidenden die Benutzung von Pferd und Wagen an. Aber Angelo lehnte es ab.

„Ich bin ein Feind aller Bequemlichkeit,“ sagte er. „Meine gnädigste Gräfin, ich empfehle Sie Gottes und der Madonna Schutz. Leben Sie wohl!“

„Leben Sie wohl!“ sprach die Gräfin und reichte Angelo ihre Hand, die eisig kalt war. Sowie beide Männer das Gemach verlassen hatten, warf sich die schöne Frau auf einen Divan und begann heftig zu weinen. Fanny trat erstaunt zu ihrer Gebieterin, kniete nieder und legte Stephaniens Haupt schmeichelnd, tröstend und liebkosend auf ihren Arm, an ihre Brust. Sie verwünschte Angelo und vor Allem ihn, der in Stephanie traurige Erinnerungen weckte. Sie an der Gräfin Stelle würde ihn nicht einmal noch sprechen, sondern ihn kurzweg dem Herrn Angelo nachschicken.

„Nein, nein!“ rief die Andere hastig, „er soll bleiben. Ich will ihn sehen, ihn sprechen hören. Wie Heinrich’s Schatten will ich ihn betrachten. O, diese Stimme, mein Gewissen erwachte bei ihrem traurigen Klang und rief mir zu, welch’ ein leichtsinniges, treuvergeßnes Weib ich bin.“

Mon Dieu,“ versuchte Fanny zu scherzen, „welch’ ein verleumderisches Gewissen! Kommen Sie, gnädigste Gräfin, lassen Sie uns Ihrem Cousin und dem Grafen Aßperg entgegengehen. Wie würde Herr von Montigny erschrecken, Sie hier in Thränen und Verzweiflung zu finden, und wie würde er lachen, wenn er die Ursache davon erführe! Die Aehnlichkeit, die unbedeutende Aehnlichkeit eines armen Bettelmönchs mit dem Grafen Heinrich von Waldenburg! Und vielleicht würde Ihr Cousin auch nicht lachen, vielleicht sich tief verletzt fühlen, denn er bildet sich ein, gewisse Erinnerungen eines Herzens verdrängt und dies schöne Herz für sich erobert zu haben.“

„Glaubst Du, Montigny wäre – würde …?“

„Eifersüchtig,“ ergänzte die schlaue Schmeichlerin die Erröthende, die sich emporgerichtet und mit offenbarem Behagen Fanny’s Worten gelauscht hatte. „Gewiß ist er eifersüchtig auf Alle, die ihm seine Dame streitig machen, seien sie nun lebendig oder todt.“

„Todt, wie traurig das klingt!“

„Aber Montigny lebt, Montigny liebt, die kleine Fanny bittet für Montigny.“

Stephanie legte dem schelmisch lächelnden Mädchen die Hand auf den Mund. „Still,“ sagte sie, „Du bist ein verzogenes, unartiges Kind! …. Wir wollen Edgar – Herrn von Montigny entgegengehen.“

Unterdessen hatte Angelo in Heinrich’s Begleitung das Schloß verlassen. Sie gingen durch das Dorf, das zu beiden Seiten der Landstraße sich hinabzog. Wohl war die Sonne hinter den Bergen, aber noch ergoß sich eine Fülle goldenen Lichts durch den reinen Aether. Schimmernd lag es auf der breiten, festgeglätteten Straße, an den weißen Häusern mit vorspringendem Giebeldach und bunten Schildereien, an den grauen Kalkfelsen dahinter. Auf der Bank neben der Hausthür saßen uralte Mütterchen und Greise mit Gesichtern, die von der Zeit versteinert schienen, und stierten in das lärmende Getriebe der flachshaarigen Kinder, die Ringelreihen tanzten, dort sich haschten, hier sich balgten. Kräftige Männer und Frauen standen auf den steinernen Stufen, die zum Eingang führen, und plauderten mit einander. Aus manchem Erdgeschoß klang die Cither, und droben an der Balustrade der hölzernen Galerie, welche jedes Haus umgiebt, lehnte zwischen Nelkentöpfen und ausgespannter Wäsche eine sonnengebräunte Maid, den Kopf auf beide Arme gestützt, und sah ernst und nachdenklich aus wie ein ägyptisches Sphinxgesicht. Wo Angelo und Heinrich vorbeigingen, grüßten die Männer und knixten die Frauen, aber kaum daß der Eine oder Andere ihnen nachblickte. „Niemand erkennt mich,“ sagte Heinrich wehmüthig.

„Du hast die Feuerprobe bestanden,“ sprach der Andere. „Verstorben, vergessen.“

Ein offener Korbwagen kam ihnen entgegen, zwei Herren in Jägertracht saßen vorn, zwei Forstmänner auf dem Rückplatz.

Angelo’s Gruß wurde kalt erwidert; der eine von den Herren kutschirte und peitschte unbarmherzig auf die schönen Braunen los, die den Wagen zogen. Sie fuhren in’s Schloß.

„Montigny und Graf Aßperg,“ sagte Heinrich finster. „Gehört Aßperg auch zu den „lieben“ Gästen meiner Frau?“

„Er und sein Weib.“

„Sein Weib?“ rief der Andere heftig. „Die berüchtigte Gräfin Wanda Aßperg ist in meinem Schloß, in Stephaniens Nähe? Ich habe vor Jahren schon meiner Frau diesen unwürdigen Umgang untersagt. Stephanie gab mir damals Recht; sie verabscheute das aller Scham und Tugend bare Weib. Und jetzt würdigt sie es ihrer Freundschaft?“

„Die Aßperg ist witzig, amüsant. Die Geschichte von damals ist in der Gesellschaft vergessen. Nichts wird auf der Welt leichter vergessen als ein Scandal, ein Versprechen und ein Todter.“

„Wer waren die zwei grünen Bursche hinter meinem Cousin?“

„Der neue Förster mit seinem Gehülfen.“

„Ist denn mein alter, guter Redlich todt?“

„Nein, aber entlassen. Cousin Montigny fand Redlich zu alt und den Alten zu redlich. Als auf Herrn von Montigny’s Rath, Wunsch oder Befehl – nenn’s wie Du willst! – der Zorningerforst abgeholzt werden sollte, that der Förster Redlich Einsprache. Das zog ihm der gnädigen Frau Unwillen zu, und er wurde entlassen, der Forst aber abgeholzt.“

„Den treuen Diener kann ich belohnen,“ sagte Heinrich schmerzlich, „aber der schöne Forst, die Krone meiner Wälder! Ihn zu zerstören, anstatt stolz darauf zu sein, daß wir einen solchen Forst hegen und halten können!“

„Holz ist baares Geld, und da es sich jetzt zuweilen ereignet, daß Mangel an Baarem ist –“

„Träumst Du?“ unterbrach ihn flammend der Graf. „Meine Frau ist reich.“

„Gewiß, aber sie hat fixe Ideen, die viel, sehr viel Geld kosten. So bildet sie sich ein, Herrn von Montigny’s sprüchwörtliches Unglück im Spiel paralysiren zu können, indem sie sein Bankier beim Spiele ist. Da war Baron Orman jüngst zu Gast. Er kam mit einem einzigen Koffer, aber das war ein Wunderkoffer, denn als der Herr Baron abreiste, trug er den ganzen Zorningerforst darin fort. Leider glaube ich, daß auch die Aßperg’s ähnliche Wunderkoffer haben.“

„Aber was sagt denn der Verwalter?“

„Der neue Verwalter? O, das ist ein gefälliger Mann und ein Tausendkünstler, ein wahres „Tischlein decke dich.“ Die Gräfin braucht nur zu sagen: Geld! so schafft er Geld. Und wie bequem ist er! Er bringt fünfzig, und die Gräfin schreibt hundert; abgemacht! Keine Schwierigkeit, kein Gerede, keine langweilige Ueberlegung. Alles glatt und geschmiert und doch in bester Form!“

Der Andere seufzte. Ein kleiner, schmutziger Junge trat in diesem Augenblick an sie heran und bettelte.

(Fortsetzung folgt.)




Aus dem deutschen Schriftstellerleben.
Erinnerungen an Hermann Marggraff.
Von Friedrich Hofmann.

In den letzten zehn Jahren konnte man in Leipzig, früher auf dem Wege nach Gohlis, in jüngster Zeit auf der belebten Straße zwischen den Brockhaus’schen Geschäftsgebäuden und dem äußersten Ende der Kohlenstraße am bayerischen Bahnhofe, tagtäglich in den Abendstunden einem Mann begegnen, dem manches Auge mit Wohlgefallen nachblickte, denn nie sah man ihn allein, immer umgab ihn ein Kranz köstlich lachender blonder Lockenköpfchen. Ein Knabe und drei bis vier Mädchen, Alle mit ihren Schulränzchen behängt, bildeten seine regelmäßige Begleitung, sie hielten sich an seinen Händen, an den Kleidern fest, umschwärmten ihn mit der lieblichsten Kinderlust, die munteren Augen lachten nur ihm, und wie die Gruppe so dahinzog, erkannte man leicht, daß es ein Stückchen von einem Familienbilde war, das auch auf der Straße ein um die Umgebung unbekümmertes Ganzes blieb.

[213]

Hermann Marggraff.

Wir folgen der jubelnden Schaar auf dem Fuße nach. Es ist nicht schwer, das Haus zu erkennen, dem der Mann zueilt. Da hüpft es mit lautem „Papa! Papa kommt!“ aus der Thür ihm entgegen, wiederum lauter blonde Lockenköpfchen, und oben aus den Fenstern drängen sich noch ein Paar Gesichtchen hervor, ganz so fröhlich und lieblich, wie die den Vater unten umjubelnden, und so tritt er endlich in den vollen Kreis, wo ihm das Jüngste, von der Mutter geführt, entgegenzappelt und mit lallendem „Papa“ die Händchen entgegenstreckt. – So feiert unser Mann jeden Abend ein Freudenfest des Wiedersehens, und wenn in seinem Auge ein so ganz besonderer Strahl der Liebe glänzt, so ist das nicht blos der natürliche Ausfluß eines warmen Dichterherzens, sondern ebenso das Werk der Kinder, die mit ihren Augen in die des Vaters die Immer-frische der Jugend hineinzaubern.

Nun wird der Tisch gedeckt, denn erst jetzt, wo der Vater daheim, ist’s Mittag im Hause geworden; und nun zählt es sich auch leichter, als vorher im Gewimmel, jetzt sehen wir, daß zehn liebe, prächtige, gesunde Kinder, ein Knabe und neun Mädchen, um Vater und Mutter am Tisch versammelt sind.

Ein Abend im Familienkreise Hermann Marggraff’s war für Jeden, der ein Herz für Kinder hat, so anmuthend, wie er für den, welcher mit Marggraff’s Charakter und seiner Stellung in der Literatur vertraut war, belehrend sein konnte. Sämmtliche Kinder zeigten ein ebenso vielgetheiltes Spiegelbild des Vaters. In jedem Einzelbildchen konnte man, je nach der Entwickelung des Kindes mehr oder weniger hervortretend, irgend eine Besonderheit angedeutet finden, die sich am Original in voller Ausgeprägtheit zeigte. Hier ein vorherrschender Hang zum ernsten Denken, dort zum dramatischen Gestalten, hier zu lyrischen Ergüssen, dort wieder der neckende Humor, die Liebe zur bildlichen Darstellung, die Lust am Fabuliren, und Allen gemein die Herzensgüte, die der Vater so vielfach durch die That bewährt hat, die bei den Kindern unter sich durch wahrhaft rührende Geschwisterliebe, und gegen Andere durch die reizendste „Zuthulichkeit“ sich äußerte. – Wir dürfen jedoch nicht zu lange bei ihnen verweilen, wir schicken sie zur Ruhe. Da kommt Eines um das Andere, gute Nacht zu sagen, in der Schlafstube wird’s um so munterer, bis durch die Bemühung der Größeren die Kleineren nach und nach beschwichtigt werden, und dazu hilft jeden Abend am besten ein Gesang. Heute hören wir das „Hobellied“ erschallen, erst von allen Stimmen, dann immer einzelner, bis endlich das kleine Volk schon süß schlummert, wenn die Großen den Schlußvers singen:

„Dann klopf ich meinen Hobel aus
Und sag’ der Welt ade!“

Es ist Ruhe ringsum. Auch die Mutter hat sich zu den Kindern begeben. Nun beginnt in der stillen Nacht des sorgenvollen Vaters und des gewissenhaften Schriftstellers schweres Tagewerk.

Wir folgen ihm in seine Arbeitsstube. Sie ist so einfach ausgestattet, so verlassen von allem Luxus, ja selbst von den wohlthätigen Erfindungen des Comfort, daß wir uns in frühere Zeiten [214] versetzt glauben, wo diese Einfachheit noch allgemein Sitte war. Nicht einmal eine stattliche Bibliothek paradirt an der Wand; nur schmucklose, aber vielgebrauchte Bücher füllen die Breter. Und der Arbeitstisch zeugt davon, daß der Mann „seine Feder“ nicht vergeblich besungen, daß sie in der That „ein arbeitsames Werkzeug, sein Rüstzeug und seine Ehrenwaffe“.

Eines erkennen wir auf den ersten Blick: daß in diesem Raume mancher stille schwere Kampf gekämpft wird zwischen äußerem Beruf und innerem Sehnen. Hier Briefe, Manuscripte, neue Bücher, Broschüren und Zeitschriften, alle auf Beantwortung, Prüfung und Beurtheilung wartend, und dort aufgehäufte Skizzen zu eigenen Werken, Anfänge von Dichtungen aller Art, halb verdeckt, wie um sich nicht zu sehr zu zeigen und doch nicht ganz vergessen zu werden. Zu diesen zieht es das Herz, zu jenen die Pflicht. Da ist oft mancher Gang der Beruhigung durch das Zimmer nöthig, bis gewöhnlich die stärkere Sorge siegt; schweraufseufzend weicht der Dichter und überläßt dem Kritiker den Platz am Tisch allein.

Von aller schriftstellerischen Thätigkeit ist diejenige, welche Hermann Marggraff’s Lebensberuf wurde, die schwerste und die undankbarste zugleich. Sie erfordert ein ausgebreitetes Wissen, einen gestählten Charakter und ausdauernde Arbeitskraft. Es gilt nicht blos, Buch zu führen über alle bemerkenswerthen Erscheinungen der vaterländischen Literatur und durch Lob und Tadel einfach die Schafe von den Böcken zu scheiden; der Kritiker, dem die Nationalehre am Herzen liegt, wird die Literatur nie anders, wie als den Ausdruck des Nationalgeistes auffassen, und wie er in allem Mittelmäßigen und Schlechten nur Krankhaftes erkennt, gegen das er mit der Entschiedenheit eines gewissenhaften Arztes zu verfahren hat, so wird er alle guten Werke mit der Freude des Patrioten begrüßen, der ein Nationalgeschenk in Empfang nimmt. Nur auf diesem Standpunkt ist ein Urtheil ohne Ansehen der Person möglich, und nur ein solches Unheil ist befähigt, veredelnd auf die Entwickelung des Nationalgeistes einzuwirken. Auf dieser Höhe stand Marggraff und von ihr aus leitete er namentlich die Redaction der allbekannten „Blätter für literarische Unterhaltung“, denen in den letzten zehn Jahren seines Lebens seine Thätigkeit vorzugsweise gewidmet war und die ihm allein ihre stets würdige und edle Haltung und dadurch ihre hohe Geltung in Deutschland verdankten.

Indeß wird es Zeit und ist es zum Verständniß der literarischen Bedeutung dieses Schriftstellers nothwendig, seine Vergangenheit an uns vorübergehen zu lassen.

Hermann und der Münchner Kunsthistoriker Rudolph Marggraff sind die Söhne eines Obersteuereinnehmers zu Züllichau, wo sie eine glückliche Kindheit und Beide ihre Gymnasialzeit verlebten. Hermann, am 14. Septbr. 1809 geboren, kam 1829 nach Berlin, um Philologie und Philosophie zu studiren und später den akademischen Lehrstuhl zu besteigen. Bald zogen ihn jedoch die damaligen beiden einzigen Kampfgebiete der Journalistik, die Literatur und das Theater, in ihre anregenden Kreise, so daß er sich ihnen mit Leib und Seele verschrieb: er war „unter die Journalisten gegangen“, unter die geistigen Streiter der Tagespresse, und ward bei ihrer Fahne festgehalten, bis er sie, aus Liebe und Noth, selbst festhielt und mit ihr in der Hand fiel. Daß die Rührigkeit seiner Feder ihm so früh, im Jahre 1836, die erste Redaction („Berliner Correspondenzblatt“) einbrachte, ward verhängnißvoll für sein ganzes Leben. Es liegt ein hoher Reiz in der selbstständigen Leitung eines Blattes, es ist eine Wirksamkeit, die dem Manne voll Thatkraft und Strebelust schmeichelt, es ist ein Amt voll Macht und Einfluß. In den glücklichen Tagen der geistigen Elasticität der Jugend wird das rastlose Drängen und Gedrängtwerden der von der Zeit gebotenen Thätigkeit nicht als Last gefühlt, das Aufreibende der vielseitigen Arbeiten nicht empfunden und selbst die von Zeit zu Zeit aufsteigende Sehnsucht nach eigenem freierem Schaffen leichter besiegt. Aber die Jahre ändern den Menschen, der Reiz der Redactionsgloire schwindet, die Last wird schwerer, die Sehnsucht stärker, die Elasticität schwächer, und wenn äußeres Glück den ermattenden Kämpfer nicht vom Schlachtfeld zu einer freundlichen Stätte des Friedens führt, so ist ein stilles Hinschmachten in innerer Zerwürfniß das traurige Loos des einst so wackern Streiters.

Hermann Marggraff war ein solcher wackrer Streiter, und zwar einer, der von einem Kampffeld zum andern zog, immer mit demselben ritterlichen Anstand und bürgerlichen Fleiß, aber auch immer fern davon, seine „Ehrenwaffe“ in einem Concurrenzkampf literarischer Geschäftsvortheile zu führen. Wie ein echter Ritter vermochte er es nie, sein Schwert zu einem Handwerkszeug der Speculation für sich zu machen, er führte es stets nur für die gute Sache, die er verfocht, und für den Stand, dem er angehörte; ihm wog allezeit die Ehre schwerer, als der Mammon, der sich freilich deshalb um so gemeiner an ihm rächte. – Nachdem Marggraff 1837 Süddeutschland bereist hatte, finden wir ihn im folgenden Jahre in Leipzig. Hier betrieb er die Herausgabe der „Münchner Blätter für Kunst“ und betheiligte sich eifrig an der daselbst blühenden Journalistik. Hier schloß er damals auch seinen Ehebund. Dennoch setzte er auch von da seinen rastlosen Stab wieder weiter; er siedelte 1843 nach München über und arbeitete hauptsächlich für die süddeutsche Presse. Dies veranlaßte 1845 seine Einladung nach Augsburg zur Redaction der „Allgemeinen Zeitung“ und 1847 nach Heidelberg, wo die „Deutsche Zeitung“ dem damals in Deutschland erwachenden freien national-politischen Geiste als Organ dienen sollte. Das Blatt, wie ganz Deutschland, vom Jahre 1848 überrascht, theilte das Schicksal des deutschen Parlaments, und nachdem die eigenen Begründer es verlassen, führte Marggraff allein es, von Frankfurt aus, noch bis zum Herbst 1849 fort, – die undankbarste von allen seinen Arbeiten, die ihm die unsäglichsten Anstrengungen schließlich noch mit eigenen Verlusten lohnte. – Nachdem er noch einige Zeit das „Frankfurter Volksblatt“ redigirt, ward ihm (im Sommer 1851) die Mitredaction des „Altonaer Merkur“ angetragen. Da er jedoch 1850 ein Heftchen Lieder zum Besten der Schleswig-Holsteiner unter dem Titel: „Trutz Dänemark“ herausgegeben hatte, so ward er dafür aus dem dänischen Reiche ausgewiesen. Er übernahm nun (1852) das Feuilleton des „Hamburger Correspondenten“, folgte aber schon im Jahre 1854 der Einladung der Brockhaus’schen Buchhandlung nach Leipzig, wo er die Scholle fand, die ihn endlich festhielt und schließlich bedeckte.

Zehn Jahre lang, die Zeit seiner höchsten Manneskraft, von seinem 45. bis zum 54. Jahre, hat er den Blättern, für die er berufen worden war, den „Blättern für literarische Unterhaltung“ seine beste Kraft gewidmet, und zwar „mit jener Pflichttreue und jenem ausdauernden Fleiß, der (wie Robert Prutz es ausspricht) überhaupt einen so hervorstechenden Zug seines Charakters bildete.“ Ehrenwerthe Anerbietungen, wie eine Einladung nach Köln, hat er, den Blättern zu Liebe, ausgeschlagen; ebenso noch 1861 einen Ruf als Professor nach Kiel. Die rasch anwachsende Familie ward zum schweren Anker seines ehedem so leicht beweglichen Lebensschiffs. Aber warm, zum Ankeimen warm ist er in Leipzig nicht geworden, die immer tiefer nagenden Sorgen für die Seinen ließen ihn in letzter Zeit manchen sehnsüchtigen Blick in die Ferne thun, – aber dabei blieb’s. Ein Wunsch seines Lebens war es, nur einmal die Schweiz zu sehen, aber die Mittel zu einer solchen Reise waren für ihn zu unerschwinglich; ein Ausflug von Leipzig bis zur Wartburg, vier Stunden Eisenbahnfahrt, mit ein paar Tagen der Erholung in Thüringen, das war das Höchste, das er in diesen zehn Jahren für sich erringen konnte.

Kehren wir zurück zu dem edlen Ringer in seine Arbeitsstube, um sein Wirken in der Werkstatt seines Geistes zu betrachten. Da ist der emsige Mann mit seinem kindlich frischstrahlenden Auge, mit dem zuthulich hastigen Wesen, mit dem nur allzu offenen Herzen, in das auch ein Schurke sich einschleichen konnte und das oft so häßlich verrathen ward. Hätte er Alles, was er geschrieben, wie manche Andere von geringerem Werth, in einer Ausgabe seiner gesammelten Werke vor sich stehen, es würde eine imponirende Bändezahl sein; aber die Mehrzahl würde nur die Zeugnisse seines undankbaren Berufs enthalten, jene massenhaften kritischen Aufsätze, die vielleicht oft nur von einem einzigen Menschen, dem Verfasser des kritisirten Buchs, gewürdigt wurden und die doch die beste Kraft seines Lebens aufgezehrt haben.

Es ist, aber leider erst seitdem Hermann Marggraff im Grabe ruht, von Blatt zu Blatt die Anerkennung für sein Wirken als Kritiker und hauptsächlich als Redacteur der „Blätter für literarische Unterhaltung“ gedrungen; ebenso das Lob seiner fast grenzenlosen Gefälligkeit und Uneigennützigkeit Jedem gegenüber, der sich ihm mit einem literarischen Anliegen nahte; aber auch seine unerbittliche Strenge gegen jede unredliche Zumuthung gehört zu den Tugenden, wegen deren er den deutschen Kritikern als Muster aufgestellt werden darf. Und wenn sie jetzt an allen seinen kritischen Arbeiten im vollen Chor preisen „gediegenes Wissen, sittlichen Ernst, künstlerischen Geschmack, unparteiisches Urtheil, vor Allem aber – [215] als für Marggraff ganz besonders charakteristisch – eine herzgewinnende Milde und Toleranz“, – so ist nur zu beklagen, daß letztere schöne Tugenden im Leben gegen ihn selbst so wenig geübt worden sind – namentlich in der Beurtheilung und Behandlung seiner eigenen selbstständigen Schöpfungen.

Marggraffs erste Werke „Bücher und Menschen“ (1837) und „Deutschlands jüngste Cultur- und Literaturepoche“ (1839) sind zwar aus einer Sammlung früher veröffentlichter Journalartikel entstanden, haben aber bleibenden Werth als treffende Charakteristiken der damaligen literarischen Zustände in Deutschland und sind anerkannte und oft ausgebeutete Quellen für die Literaturgeschichte jener Zeit. Von gleichem Werthe ist seine kritische und literarhistorische Einleitung zu seinen „Politischen Gedichten aus Deutschlands Neuzeit von Klopstock bis auf die Gegenwart“ (1843) und seine Einleitung zu dem „Hausschatz deutscher Humoristik“; seine Biographie von Ernst Schulze und die von Goethe. In Gemeinschaft mit Robert Blum und Carl Herloßsohn gab er ein „Allgemeines Theaterlexikon“ heraus. Zu seinen gediegensten Schriften gehört ferner „Schiller’s und Körner’s Freundschaftsbund“ (1859). Ueber seinem jüngsten Werke, der Einleitung zu einer Anthologie aus Shakespeares Werken, überraschte ihn der Tod.

Wer sich, nach dem Schicksalsdruck, von dem Marggraff sich leider nicht befreien konnte, ein Bild von einem ewig trüben und zerrissenen Innern desselben macht, ist in Irrthum. Ihm hatte die Natur ein starkes Gegengift gegen die Bitterkeiten des Daseins in einem trefflichen Humor mitgegeben, einem so lebenstüchtigen Humor, daß er bis an das Ende seiner Tage den Mann aufrecht erhielt. Zeugnisse desselben sind, außer vielen lyrischen Ergüssen, besonders seine komischen Romane „Justus und Chrysostomus Pech, Zeit- und Lebensbilder“ (2 Bände 1840), „Johannes Mackel. Bunte Schicksale einer häßlichen, aber doch ehrlichen deutschen Haut“ (2 Bände, 1841) und „Fritz Beutel. Eine Münchhauseniade“ (1856).

Mit unzweifelhaftem Beruf, aber mit viel zu viel Bescheidenheit, um durch Vordrängen in die Nähe des Glücks zu kommen, betrat er das dramatische Feld. Sein Erstlingswerk, „Die Maler von Florenz“, ein Trauerspiel, ist wohl ungedruckt geblieben; erschienen sind: „Kaiser Heinrich IV. Historisches Trauerspiel“ (in Willkomm’s Dramaturgischen Jahrbüchern, 1837), „Elfride, Trauerspiel“ (in Gubitz’ Jahrbuch deutscher Bühnenspiele für 1841) und „Das Täubchen von Amsterdam. Trauerspiel“ (1839). Der rauschende Beifall, mit dem letzteres in Leipzig, wo die blühende Dessoir in der Rolle der „Düveke“ (Täubchen) entzückte, über die Bühne ging, versprach dem Dichter eine glänzende dramatische Laufbahn, aber auch diese Hoffnung hat ihm nicht Wort gehalten.

Die wärmste Anerkennung hätte Hermann Marggraff für die lyrischen Gaben verdient, die er dem deutschen Volke bot, und wenn unsere „gebildeten Stände“ schon so gebildet wären, bei dem Genuß, den ihnen schöne Dichtungen bringen, auch an die Dichter zu denken, ein wenig Dankgefühl zu empfinden und bis zu der Idee emporzusteigen, wie edel es sei, für Freuden wieder mit Freuden zu lohnen, so hätte in Hermann Marggraff’s Haus für die vielen gehobenen und heiteren Stunden, die er Anderen bereitete, wiederum, und war’s nur durch ein freundliches Wort, einen herzlichen Gruß, gar manche erquickende Stunde einkehren müssen. Aber wer kann an so etwas denken? Man hat ja das Buch oder das Entrée bezahlt, was geht Einen da noch der Dichter an? – Von Marggraff’s ersten Gedichten, die er 1830 zusammen mit denen seines Bruders Rudolph herausgegeben, hat er nur wenige in die Sammlung aufgenommen, welche 1857 erschienen ist. Im Jahre 1862 erschien seine „Balladenchronik“; eine besondere Ausgabe seiner sämmtlichen „Lieder für das Haus und die Familie“, die er im Plane hatte, sollte nicht unterbleiben. Die Ballade, das Familienlied und die humoristische Lyrik hat er am glücklichsten gepflegt und unsern poetischen Nationalschatz in allen drei Arten um wahre Meisterstücke bereichert. Die humoristischen Gedichte Marggraff’s gehören zu den besten Ergüssen unserer modernen Dichtung; „es liegt,“ sagt R. Gottschall, „oft eine reizende Schalkheit und eine Laune von glücklichster Wirkung in ihnen“, wie in „Der Deutsche an der Himmelsthür“, in „Was thut man nicht aus Liebe“ und noch in seinem letzten komischen Bildchen, mit dem er mich für meinen „Weihnachtsbaum für arme Kinder“ erfreute, in der köstlichen Philisterschilderung: „Wir bleiben bei unserem Oele.“

Als eine theure Reliquie werden wir Hermann Marggraff’s letztes Lied in der nächsten Nummer folgen lassen.

Wir stehen am Ende und blicken zurück auf Das, was der Mann geleistet, und das Auge wird uns trübe vor dem, was er errungen hat. Erfüllt von der Würde des Schriftstellerstandes, fühlte er um so schmerzlicher den Abstand zwischen der geistigen Höhe, auf der er stehen, auf der er sich erhalten muß, um seinen hohen Beruf zu erfüllen, und der bürgerlichen Bedrängniß, die ihn rief unter jeden andern, jeden materiellen Erwerbszweig niederdrückt. Darum war es ihm eine Herzensangelegenheit, die Schriftsteller in ihrem eigenen Interesse näher zusammenzubringen, daher seine Bemühung für die Gründung eines Schriftstellervereins und ebenso sein Eifer für die Förderung der Schillerstiftung, die wenigstens verhüten sollte, daß nicht, zur Schande für Deutschland, für die Hinterbliebenen jedes in Dürftigkeit gestorbenen Schriftstellers öffentlich gebettelt werden müsse. Er hat redlich für diese letzte Ehre des Schriftstellers gerungen, und nun? – Indeß darf nicht verschwiegen werden, daß die Schillerstiftung sich ihm dankbar erwies; sie sicherte ihm einen Ehrensold von je 300 Thaler auf drei Jahre zu, und die erste Auszahlung der ersten Jahreshälfte von 150 Thalern war Marggraff’s letzte Lebensfreude. Als diese langersehnte Schillerhülfe endlich kam, da war es des strengrechtlichen Hausvaters erste Sorge, sich von den nach und nach angehäuften Schuldpöstchen zu befreien, deren Druck ihm von je der schmerzlichste war. Mit inniger Freude siegelte er Paketchen um Paketchen, bis endlich von der ganzen „Schillerhülfe“ noch – 171/2 Ngr. übrig blieben. Für diese kaufte er eine Flasche Rothwein, die erste, die seit langer, langer Zeit den Tisch des Dichters schmückte, und auch die letzte!

Hermann Marggraff starb am 11. Februar dieses Jahres. Sein Tod war der bitterste, – drei Tage lang, im Bewußtsein des nahen Endes und mit dem Gefühl im Herzen, alle seine Lieben hülflos der Barmherzigkeit der Welt überlassen zu müssen – war ihm das letzte Glück des Menschen, die Seele durch die Rede zu erleichtern, versagt, er konnte nicht mehr sprechen, rang vergeblich darnach, sich verständlich zu machen, nur die unaufhörlich rinnenden Thränen zeugten von seinem brennenden Schmerz und die Inbrunst, mit welcher er alle seine Lieben an sich drückte und küßte, bis ihm der letzte Hauch entfloh.

Am kalten trüben Nachmittag des 13. Februar geleiteten ihn etwa fünfzig Männer, die Mehrzahl Schriftsteller Leipzigs, zu Grabe, still und prunklos, wie er gelebt hatte.

Wir können jedoch unmöglich so schließen. Die Kinder haben uns in ihres Vaters Wohnung geführt; dort wollen wir auch von ihnen scheiden. Wir wollen die letzte Weihnacht mit ihnen verleben, wir wollen Hermann Marggraff’s letztes Weihnachtsfest in seiner Familie mit feiern. Betreten wir noch einmal das liebe Haus.

„Guten Abend, Kinder! Es sieht ja noch recht dunkel bei Euch aus! Wo ist denn Papa?“ – „In seiner Arbeitsstube,“ antworten sie ziemlich kleinlaut. – Da saß er, bei ihm seine Gattin, Beide Thränen in den Augen. „Liebe Frau, es geht nicht, es geht nicht! Der Vorschuß aus der Buchhandlung muß herunter und wir müssen mit den Paar Thalern bis zu Ende des Monats ausreichen, ich kann den Kindern kein Christfest bereiten; es thut mir weh, sehr weh, aber es geht nicht! Vertröste sie auf die bessere Zeit, wenn die ersten 150 Thaler von der Schillerstiftung angekommen sind, da sollen sie sich recht freuen, da will ich Alles wieder gut machen. Nur jetzt keine Ausgabe, die uns in Verlegenheit bringen könnte! O, es ist traurig, es ist sehr traurig! Meine armen, armen Lieblinge!“ – „Lieber Mann, Du weißt ja, wie bescheiden die Kinder sind, gieb nur zu einer kleinen Stolle und zu einem Bäumchen, das sie sich selbst anputzen. Den drei Kleinsten habe ich ihre alten Püppchen ein wenig hergestellt, das ist Alles. Nur damit sie nicht weinen, wenn sie nicht einmal ein Christbäumchen sehen!“ – „Nun ja, jawohl, das geht, wir müssen uns eben dann darnach einrichten.“ – – Und da kam die eine kleine Christstolle für die 10 Kinder und ein kleines ärmliches Bäumchen, und daran hingen die größeren Mädchen fünf Pfennig-Zuckerstückchen und steckten drei Lichtchen darauf. Sie hatten nicht mehr. Und als die drei Lichtlein brannten, wurden die Kleinen gerufen, und da stürmen die blonden Lockenköpfchen herein, und wie strahlen die Augen und wie groß ist die Freude, wie klatschen sie in die Händchen und tanzen um den Tisch und sind so glücklich! – Aber der Vater schleicht sich hinaus, hinüber in seine Arbeitsstube, um sich auszuweinen.

Das war Hermann Marggraff’s letztes Weihnachtsfest.



[216]
Zweierlei Recht für die Reichen und für die Armen in England.
Die Processe Townley und Wright in England.

„Ein Mörder begnadigt und ein Todtschläger gehängt,“ – „Zweierlei Recht für den Armen und für den Reichen“, – so las man im Januar dieses Jahres in den Londoner Blättern, und brausend drang der Wiederhall dieser Anklage durch die Straßen der Weltstadt.

Im December vorigen Jahres waren nämlich vor den englischen peinlichen Gerichtshöfen zwei Criminalfälle verhandelt worden, die ein ganz außerordentliches Aufsehen auf sich gezogen und das Publicum in fieberhafte Aufregung versetzt hatten.

Der eine dieser Processe führt uns einen modernen Othello vor, der, den besseren Ständen der englischen Gesellschaft angehörig, unter einem gesetzten Aeußeren und feinen Manieren einen unbeugsamen Willen und unerbittliche Rachsucht bergend, mit kalter Berechnung und entsetzlichem Vorbedacht die Ermordung seiner ihm untreu gewordenen Desdemona beschließt und ausführt, während im andern Proceß ein armer Arbeiter, der immer für einen gutartigen Gesellen galt, in einem Anfalle ungezügelter Leidenschaft die mit ihm in wilder Ehe lebende Geliebte ergreift und in augenblicklicher Wuth tödtet. Beide Verbrecher wurden des Mordes angeklagt und dieser Anklage nach den Gesetzen für überführt erklärt, der Erstere durch das Verdict der Jury, der Zweite auf seine eigene Schuldigerklärung hin; – gegen Beide mußten Todesurtheile ausgesprochen werden; aber nur eines derselben wurde vollzogen, das gegen den armen Arbeiter, während der Reichere dem Vollzug dieser Strafe entging. Beide Processe sind von höchstem psychologischen Interesse und werfen so charakteristische Streiflicher auf die englische Justiz, daß wir nach den stenographischen Aufzeichnungen unseren Lesern das culturgeschichtlich merkwürdige Bild zu zeichnen versuchen wollen. –

Die Verhandlungen des ersten Processes, die am 11. und 12. December vor der Jury zu Derby vor sich gingen und denen mit höchster Spannung eine dichtgedrängte Menge lauschte, gaben folgendes Resultat:

George Victor Townley, 25 Jahre alt, der älteste Sohn eines Commissionshändlers von Hemdhamvale bei Manchester, ein Mann von guter Erziehung, sanftem Charakter und angenehmen Manieren, der in der Schule mit Leichtigkeit fremde Sprachen lernte und durch eine bedeutende musikalische Begabung sich auszeichnete, hatte vor etwa vier Jahren in Manchester Miß Elisabeth Goodwin, die damals neunzehnjährige Tochter des Herrn Henry Goodwin und Enkelin des nunmehr vierundachtzig Jahre alten, angesehenen Capitains Goodwin zu Wigwellhall in Derbyshire, kennen gelernt, bei welch Letzterem das Fräulein wohnte.

Die jungen Leute liebten sich und verlobten sich miteinander trotz der Warnungen der Freunde und Verwandten des Mädchens, denen nicht unbekannt war, daß der begabte Musiker weder Geschick noch Lust hatte zu einem ernsten praktischen Beruf und eben darum keinen festen Fuß im Leben fassen konnte. Vier Jahre dauerte das Verlöbniß, vier Jahre lang schrieben sich die Verlobten die zärtlichsten Briefe, – noch immer aber war keine Aussicht da, das ersehnte Ziel zu erreichen, George hatte weder eine Anstellung, noch Hoffnung auf solche. Da, am Mittwoch den 12. August 1863, wurde er von einem Briefe seiner Geliebten überrascht, in welchem sie ihm mittheilte, sie habe vor einigen Wochen in Wigwellhall einen Geistlichen kennen gelernt, „den liebenswürdigsten Mann, den sie je gesehen; der Großvater meine, dieser Geistliche wäre eine passende Partie für sie, aber das gehe ja nicht …“ Der Brief schließt mit der Versicherung ihrer unveränderten Zärtlichkeit. Schon am Samstag, den 15., erhielt George indeß einen neuen Brief von Elisabeth, in welchem sie sagt: „sie habe ihm Vieles zu schreiben, der Großvater habe ihre Correspondenz mit ihm entdeckt und sei ungehalten darüber, daß seinem Plan etwas im Wege stehe; George sollte sie deshalb ihres Versprechens entbinden, damit sie sagen könne, sie sei frei. Sie werde trotzdem nicht heirathen, wenn sie anders dem entgehen könne ...“

Dieser Brief versetzte George in die höchste Aufregung. Er „erschütterte“, wie seine Mutter vor den Geschworenen aussagte, „das Gehirn meines Sohnes“. George nahm den ganzen Tag so gut wie nichts zu sich und ging am Samstag Nacht nicht in’s Bett. Am Sonntag, den 10., aber schrieb er an „seine theuerste Bessie“: „er sei furchtbar niedergeschlagen, werde ihren Wünschen aber nicht im Wege stehen; nur wolle er noch aus ihrem eigenen Munde vernehmen, was sie beschlossen. Er habe einen Antrag erhalten, England zu verlassen, wolle sie aber vorher, zum letzten Male, sehen, sie möge bestimmen, wo.“ „Dein Dich stets liebender George.“

Nachdem er den Brief abgeschickt, legte er sich auf’s Sopha, fand aber keine Ruhe. Seine Hände und Füße zuckten krampfhaft, so daß seine Mutter ihm etwas Morphium gab. Am Sonntag aß George wieder nicht zu Mittag, schrieb aber nach Tisch einen zweiten Brief an seine Geliebte, in welchem er den Wunsch aussprach, daß die Zusammenkunft am Donnerstag, den 20., Abends, oder Freitag, den 21., Morgens stattfinden möge, – „nach der letzten Zusammenkunft werde es Beiden besser zu Muthe sein.“

Am Dienstag Vormittag ging George Townley nach einer schlaflosen Nacht nach Manchester, wo er eine französische Stunde gab. Schweißtriefend kam er zurück. Am Mittwoch erhielt er einen Brief von Bessie, in welchem sie ihm (unwahrer Weise) „in größter Eile“ mittheilte, sie reise heute ab von Wigwellhall und wisse nicht, wann sie zurückkehre, sie wolle ihn nicht mehr sehen; es sei besser für Beide, auf diesem Wege sich Lebewohl zu sagen. Nach Verfluß von drei Tagen könne er ihr nicht mehr schreiben, da von dieser Zeit an Briefe an sie abgefaßt und erbrochen würden.

Dieses letzte Schreiben seiner Braut empfing George am Donnerstag. Am nämlichen Tag reiste er mit der Eisenbahn nach Derby, um daselbst zu übernachten und am andern Tag Bessie in Wigwellhall aufzusuchen. Am Freitag Morgen, den 21., fuhr Townley von Derby nach Whatstandwell, der letzten Station vor Wigwellhall, ging an jenem Ort in ein Wirthshaus, trank nach einander zwei Glas Brandy mit Wasser, bestellte ein Bett für die Nacht und machte sich dann auf den Weg. Dieser führte ihn nach Wirksworth, 11/2 englische Meilen von Wigwellhall, wo er den Pfarrer, den Hausfreund und Vertrauten seiner Bessie, aufsuchte und ihm bemerkte: „Elisabeth habe ihm geschrieben, sie wolle ihn nicht mehr sehen, er aber müsse aus ihrem eigenen Munde hören, daß sie von dem Verlöbniß zurücktrete; er wisse wohl, daß er keine gute Partie sei, und wolle ihr daher nicht im Wege stehen.“ Der Pfarrer, welchem George „ganz ruhig und gefaßt“ erschien, gab ihm den Rath, Miß Goodwin zu Hause aufzusuchen. Auf das Begehren Townley’s ihm den Namen des Geistlichen mitzutheilen, der vor drei bis vier Wochen in Wigwellhall gewesen sei, ging der Pfarrer nicht ein.

Abends gegen fünf Uhr verließ George Townley den Pfarrer. Zwanzig Minuten vor sechs Uhr kam er in Wigwellhall an und wurde daselbst von der Dienerin in’s Besuchszimmer zu Miß Goodwin gewiesen. Beide gingen miteinander in den Garten und setzten sich auf eine Bank nahe beim Hause. Nach einer halben Stunde holte das Dienstmädchen Miß Goodwin in’s Haus. Hier blieb dieselbe bis ein Viertel vor sieben Uhr, wo sie sich wieder zu George in den Garten begab. Wiederum saßen die Beiden beisammen auf der Bank. Was sie aber miteinander verhandelten, ist Geheimniß geblieben. Ein Viertel nach sieben Uhr wurde Miß Goodwin zum Thee gerufen. Die jungen Leute saßen noch immer am gleichen Ort. Bessie erwiderte, sie werde gleich kommen. George Townley benahm sich ruhig und gefaßt, „wie andere Leute“.

Elisabeth aber kam nicht zum Thee. Sie verließ vielmehr mit ihrem früheren Geliebten den Garten, und Beide spazierten miteinander auf die Landstraße und in einen engen Heckenweg. Hier sah sie um halb neun Uhr in eifriger Unterhaltung ein Arbeiter. Gleich darauf vernahm in derselben Richtung ein anderer Arbeiter einen Jammerruf, eilte darauf zu und – welch’ schrecklicher Anblick! – Miß Goodwin, mit einer furchtbaren Halswunde, Gesicht, Hände und Kleider mit Blut überzogen, tastete sich an der Mauer Wigwellhall zu. Das Mädchen bat den Mann, sie nach Hause zu führen, und sagte, „es sei ein Gentleman da, der sie umgebracht habe.“ Townley war etwa siebzig Schritte hinter seinem Opfer, kam jetzt heran und erwiderte auf die Frage des Arbeiters, wer Miß Goodwin ermordet habe: „Ich habe sie erstochen.“ Von dem Arbeiter um den Leib, von ihrem Mörder am Kopfe gestützt, wurde das verblutende Mädchen weiter dem Hause zu geführt. George Townley nannte Elisabeth mehreremale seine arme Bessie und sagte zu ihr: „Du hättest mir nicht untreu werden sollen.“ Bessie gab [217] keine Antwort. Endlich legten die Zwei das Mädchen nieder. Townley bat seinen Gefährten um irgend Etwas, das er um den Hals der Verwundeten legen könne, das Blut damit zu stillen, und sandte ihn fort, um Hülfe zu holen. Als der Arbeiter nach vier bis fünf Minuten zu der Gruppe zurückkam, hatte Townley seine Bessie verbunden. Er rief dem Ankömmling zu, sie lebe noch; sie aber wimmerte: „Bringt mich nach Hause.“ Wiederum ging der traurige Zug ein wenig weiter. Da kamen zwei Nachbarn und fragten: „Wer hat es gethan?“ Townley erwiderte: „Ich habe es gethan.“ Einem dritten Nachbar entgegnete er auf die gleiche Frage: „Ich habe es gethan und werde dafür gehängt werden.“ Immer kälter und starrer wurde der Körper der armen Elisabeth, die endlich mit den Worten: „Ich sterbe jetzt,“ – den letzten Athemzug thut. Jetzt hört man die Worte ihres Mörders: „Ich fürchte, sie ist todt,“ und George Townley beugt sich über die Leiche und küßt sie. Die Leiche wird in’s Haus getragen, der Zug stößt auf den greisen Großvater. Derselbe fragt, was es gegeben habe, worauf Townley ganz gleichgültig autwortet: „Es ist Eure Enkelin Bessie, ermordet, und ich bin der Thäter.“ Der Capitain fragt weiter: „Wer seid Ihr?“ Townley antwortet: „Ich heiße George Townley,“ – und auf die Frage des Alten, warum er den Mord verübt habe, erwiderte Jener: „Sie hat mich betrogen, und das Weib, das mich betrügt, muß sterben. Ich sagte ihr, daß ich sie tödten werde; sie kannte mein Temperament.“ Darauf ging George Townley mit dem Greis in’s Besuchzimmer und händigte ihm daselbst zwei Pakete Briefe der Ermordeten ein mit dem Bemerken: „der Capitain könne dieselben lesen, verbrennen, damit thun, was er wolle; er, Townley, wolle die Briefe nicht mitnehmen in den Gerichtshof.“ Der Capitain verbrannte dann die Briefe ungelesen.

Als ein Polizeibeamter kam, ging ihm Townley mit den Worten entgegen: „Ich wünsche mich als den Mörder der jungen Lady verhaften zu lassen,“ und erwiderte auf die ernste Frage des Beamten, ob er auch wisse, wessen er sich anklage, – : „Ja wohl, ganz gut, und ich werde ruhig mir Ihnen gehen; nur will ich Bessie zuvor noch einmal sehen.“ Townley nahm dann das blutige Messer, mit dem er die That verübt hatte, aus der Tasche – es war ein gewöhnliches Einschlagmesser – und übergab es dem Beamten, der ihn nun in die Küche führte, wo der Leichnam lag. Townley betrachtete denselben lange und starr, sprach aber kein Wort. Auf dem Weg zum Gefängniß äußerte er: „Ich bin jetzt viel glücklicher, seit ich es ausgeführt habe, und ich bin überzeugt, auch sie ist es.“ Othello selber, wenn er seinen verhängnisvollen Irrthum nicht entdeckt, hätte sich kaum charakteristischer ausdrücken können.

Bei der Obduction fand man drei Wunden an der rechten Seite des Halses der Ermordeten: einen Stich, wahrscheinlich von hinten, unter dem rechten Ohr, einen solchen vorn, unbedeutend, noch weiter vorn aber, drei Zoll lang und fast bis zum Kinn reichend, eine schreckliche Wunde, welche die äußere Carotis und die innere Drosselader durchschnitt. Sie war absolut tödtlich. Auf diesen Belastungsbeweis hin beantragte der Ankläger, der in den Fällen von absichtlicher Tödtung auch im englischen Verfahren immer ein öffentlicher ist, gegen Townley das Schuldig des Mordes, indem er beifügte, die Vertheidigung werde wahrscheinlich die Unzurechnungsfähigkeit des Angeklagten behaupten, der Nichtschuldig plaidirt hätte. Um aber mit dieser Behauptung auszukommen, müßte bewiesen werden entweder, daß der Angeklagte in einem Zustande des Wahnsinns gehandelt habe, in welchem er die Natur und Beschaffenheit seiner Handlungsweise nicht kannte, oder daß er, wenn er die Natur seiner That kannte, nicht gewußt habe, daß er rechtswidrig handle.

Die Vertheidigung brachte zwei Aerzte vor die Schranken. Dieselben deponirten, sie haben den Angeklagten zweimal im Gefängniß

Vorposten bei der Rübler Wassermühle auf der Sonderburger Chaussee.
Originalzeichnung unsers Specialartisten Otto Günther.

[218] besucht, das erste Mal am 18. November (also drei Monate nach der That) und das zweite Mal unmittelbar vor dem Gerichtstage. Beidemal sei das Benehmen des Angeklagten ganz natürlich, nicht erkünstelt gewesen. Derselbe bestreite, ein Verbrechen verübt zu haben, und fühle weder Schmerz, noch Reue, noch Zerknirschung über seine That. Miß Goodwin, so behaupte er, sei sein Eigenthum gewesen, das man durch einen Act der Gewalt ihm habe entreißen wollen; er habe seine Braut angesehen wie seine Gattin, die einen Ehebruch begangen und über deren Leben er eben darum habe verfügen dürfen wie über das Geld in seinem Beutel. Um das ihm gestohlene Eigenthum wieder zu gewinnen, habe er Elisabeth getödtet; er würde es gerade so mit einem Dieb machen, der ihm ein Gemälde stehle. Er gestehe Niemandem das Recht zu, über ihn zu Gericht zu sitzen, denn er sei ein freier Mann; da er sich nicht selber in die Welt gesetzt, so könne er denken und handeln, wie es ihm beliebe, ohne Rücksicht auf irgendwen. Der Angeklagte, so finden die Aerzte, habe ganz falsche Moralbegriffe, derselbe sei auch Atheist, ja mehr als das, er leugne Gott und Unsterblichkeit. Zudem stehe er im Wahn, schon einige Wochen vor dem 21. August das Opfer von sechs Verschworenen geworden zu sein, die sein Verderben beschlossen hätten, eine Verschwörung, welche ihren Fortgang genommen habe während seiner Verhaftung; er wolle deshalb, sobald er wieder frei, das Land verlassen. Aus alledem schließen die Aerzte, daß George Townley, der zumal „wild und wahnsinnig“ aussehe, wenigstens seit dem November v. J. geisteskrank sei.

Nachdem die drei Vertheidiger, mit denen der Angeklagte erschienen war, darzuthun versucht hatten, daß George Townley, immer ein liebenswürdiger und sich selbst beherrschender Mann, durch den „furchtbaren Schlag, den seine Gefühle erlitten,“ verrückt geworden sei, entgegnete der Ankläger: sämmtliche Handlungen des Angeklagten, seine Briefe an die Ermordete, das Benehmen auf der Reise nach Wigwell, seine Aeußerungen nach der That seien die eines geistig Gesunden. Allerdings möge Townley gewisse von denen der übrigen Menschen abweichende philosophische Ansichten haben, die aber unverträglich seien mit dem Wohlbefinden der bürgerlichen Gesellschaft; das Gesetz dulde es wohl, solche Ansichten zu hegen, allein es verbiete, daß sie zu Handlungen werden; gewiß wäre es sehr gefährlich, Denjenigen, der das Stehlen nicht für unmoralisch halte, ungestraft rauben zu lassen. Die von den beiden Aerzten neuentdeckte Species von Geisteskrankheit, „die allgemeine moralische Zerrüttung“, wäre unverträglich mit der Existenz der bürgerlichen Gesellschaft.

Der Vorsitzende Richter erläuterte den Geschwornen: „Der Angeklagte habe gewiß durch die Untreue seiner Geliebten so viel gelitten, als je ein Mann litt, sein Gemüth sei wahrscheinlich krank gewesen am 21. August; daraus folge aber noch nicht die Unzurechnungsfähigkeit für seine That. Wenn George Townley wußte, daß seine Handlungsweise wahrscheinlich den Tod der Miß Goodwin zur Folge haben werde und daß er dabei gegen das Gesetz Gottes handle und gesetzliche Strafe zu erwarten habe, so ist er für seine Handlung criminell verantwortlich. Die Geschworenen haben diese Fragen zu beurtheilen und zu entscheiden nach den Aeußerungen und Handlungen des Angeklagten zur Zeit der That; eine solche Aeußerung sei: „Das Weib, das mich betrügt, muß sterben,“ hierin liege das Motiv zur That, und in der weiteren Aeußerung: „Ich werde dafür gehängt werden,“ das Bewußtsein von der Strafbarkeit dieser That. Miß Goodwin möge den Angeklagten betrogen haben, deshalb aber dürfe er ihr nicht die Kehle durchschneiden. Der Angeklagte beanspruche zwar jetzt ein mit seinen eigenen brieflichen Aeußerungen im Widerspruch stehendes Recht, über sein Weib und seine Verlobte zu verfügen wie über ein Stück Vieh, – das sei aber keine zur Unzurechnungsfähigkeit führende Sinnestäuschung, sondern nichts als eine von den gewöhnlichen Ansichten abweichende und den göttlichen Gesetzen widersprechende Ansicht.“

Nach dieser vortrefflichen Belehrung zogen sich die Geschworenen zur Berathung zurück. Schon nach fünf Minuten verkündigte der Obmann das Schuldig. Der Richter aber setzte die schwarze Kappe auf, erklärte sich einverstanden mit dem Wahrspruch der Geschworenen, da eine Freisprechung in ihren Folgen gefährlich gewesen wäre für die Gesellschaft, forderte den Angeklagten auf, seinen Frieden mit Gott zu machen, und verkündigte mit bewegter Stimme das Todesurtheil.

Kann man dem Angeklagten, der in verzweifelnder Liebeswuth zum Mörder seiner Geliebten wurde, auch die Theilnahme nicht versagen, so wird man doch den Spruch der Geschworenen gerecht finden müssen. Auch der berühmte Mohr von Venedig hätte nach menschlichen Gesetzen zum Tode verurtheilt werden müssen.




Vier Tage nach dieser interessanten Verhandlung, am Mittwoch, den 16. December 1863, wurde vor dem Central-Criminal-Gerichtshof in London ein ähnlicher Fall verhandelt, bei dessen Erzählung wir uns kürzer fassen können.

Samuel Wright, dreißig Jahre alt, dessen Herkunft uns indeß die Londoner Blätter nicht melden, ein fleißiger und ordentlicher Maurer, wohnte seit vier Monaten in London, im Süden der Themse mit der zweiundvierzigjährigen Anna Green friedlich zusammen. Beide galten, ihrer ruhigen und geregelten Lebensweise wegen, für Mann und Frau. Sie waren aber nicht verheirathet. Am Samstag, den 12. December 1863, Abends acht Uhr waren sie noch in ihrer Wohnung, „glücklich und zufrieden“. Hernach gingen sie mit einander in’s Wirthshaus. Hier soll es Streit und das Weib dem Wright zwei Streiche gegeben haben, wovon aber Letzterer selber nichts sagt. Sonntag, den 13. December, Morgens zwischen drei und vier Uhr kam das Paar nach Hause, das Weib, wenn nicht betrunken, so doch in sehr erregtem Zustand. Um vier Uhr erwachte durch einen starken Lärm in dem Zimmer über ihr eine im ersten Stocke wohnende Schneiderin. Bald darauf hört sie lautes Stöhnen. Sie wird von Angst befallen, steht auf, macht Licht und geht die Treppe hinauf, um nachzusehen, was es gebe. Auf der Treppe begegnet sie dem Wright, der nur halb angekleidet ist. Seine Hemdärmel sind aufgeschlagen, Gesicht und Arme blutig, sein Blick verstört. Auf die Frage der vor Angst fast ohnmächtigen Schneiderin: „Was giebt’s?“ erwidert er: „Sieh selber nach!“ Sie tritt hinein in die Stube und sieht hier – Anna Green, völlig angekleidet, auf den Händen und Knieen kauernd, mit einem schrecklichen Schnitt in der Kehle. Das Blut floß in Strömen auf den Fußboden. Auf dem Heerd brannte frisch angezündetes Feuer. Auf den Ruf der Schneiderin: „Um Gotteswillen, Frau Wright, was giebt’s?“ erwidert diese in schwachem Ton: „er hat mir den Hals abgeschnitten.“ Aus den Blutflecken im Zimmer schien hervorzugehen, daß ein Kampf zwischen den Beiden, stattgefunden hatte.

Als die sofort herbeigeholte Polizei und ein Arzt kamen, war Anna Green, der die Hauptarterien auf beiden Seiten des Halses durchschnitten waren, todt. Hinter der Stubenthür aber stand Samuel Wright, der auf die Frage des Constabel: „Was hat es gegeben?“ vortrat und antwortete: „Ich hab’s gethan und es ist aus.“ Auf dem Tisch lag ein blutiges Rasirmesser. Wright deutete darauf hin und sagte: „Mit dem hab’ ich’s gethan.“ Ein großes Tischmesser mit Elfenbein-Handhabe lag in der Nähe der Todten. Als der Constabel auch dieses zur Hand nahm, rief Samuel Wright aus: „Das ist das Messer, das sie gegen mich aufhob.“ Dann bat der Unglückliche, man möge ihn abführen, er könne es hier nicht länger aushalten, die Schneiderin aber möge seinen Freunden mittheilen, in welcher Lage er sich befinde.

Am andern Tag, Montag den 14. December, wurden in Gegenwart des Wright die Zeugen vom Friedensrichter des Southwarkdistricts vernommen. Auf seine Frage, ob Wright über die Aussagen derselben etwas zu bemerken habe, erwiderte derselbe mit schwacher Stimme: „Ich habe nichts zu bemerken,“ worauf der Beweis für vollständig erklärt und Samuel Wright wegen Ermordung der Anna Green in’s Gefängniß von Newgate geschickt wurde. Tags darauf, am Dienstag, nahm der gerichtliche Todtenbeschauer, der Coroner, die Leichenschau vor: die Getödtete hatte zwei schreckliche Wunden am Hals, die eine auf der rechten Seite desselben war fünf, die andere auf der linken Seite neun Zoll lang. Zufällig saß gleichzeitig die große (Anklage-)Jury des Londoner Central-Criminal-Gerichtshofes, der Coroner überwies ihr den Fall; dieselbe versetzte Samuel Wright in Anklagestand, und schon am folgenden Tag, Mittwoch, den 16. December, stand derselbe, ehe noch die Leiche seines Opfers begraben war, vor dem Lord Oberrichter des Central-Criminal-Gerichtshofes, um sein Urtheil zu empfangen. Samuel Wright erschien aber nicht, wie George Townley, von drei Vertheidigern begleitet vor der Jury, – der arme Mann, der keinen Vertheidiger bezahlen konnte, erschien ohne einen solchen! Man eröffnet ihm, daß er angeklagt sei, am 13. December die Anna Green mit Vorbedacht und aus bösem Vorsatz ermordet zu haben.

[219] Der Angeklagte erklärt sich schuldig.

Es ist in den Annalen der englischen Strafjustiz fast unerhört, daß Jemand, der capitalen Verbrechens angeklagt ist und zudem nicht einmal einen Fluchtversuch gemacht hat, sich unbedingt schuldig erklärt. Der Richter sah sich deshalb zu der Frage veranlaßt: „Habt Ihr auch vollständig verstanden, wessen Ihr Euch schuldig erklärt, und kennt Ihr die Folgen dieser Erklärung? Mit dem „Schuldig“ gesteht Ihr nicht nur zu, der Anna Green die tätlichen Wunden zugefügt, sondern auch, dies mit Vorbedacht und ohne Entschuldigungsgrund (without excuse) gethan zu haben. Es ist nicht Sache des Richters, den Angeklagten zum Widerruf einer Schuldigerklärung zu bewegen, falls derselbe weiß, was er thut; überzeugen aber möchte ich mich, ob Ihr die Bedeutung Eurer Erklärung verstehet?“

Angeklagter: „Ja, Mylord, ich verstehe sie.“

Der Ankläger: „Der Angeklagte ist soeben erst den Assisen überwiesen worden und hat wahrscheinlich noch keine Zeit gehabt, sich nach gesetzlichem Rath oder Beistand umzusehen. Ich habe die wider ihn abgelegten Zeugnisse gelesen und es scheint mir, der Angeklagte könnte, wenn er gut berathen würde, geneigt sein, seine Erklärung zurückzuziehen.“ Diese Bemerkung des Anklägers war um so mehr begründet, als ja der Angeklagte unmittelbar nach der That behauptet, die Getödtete habe ihm mit einem Messer gedroht.

Der Richter: „Es scheint mir, wenn der Angeklagte die Bedeutung und die Folgen seiner Erklärung kennt, und darüber ist er allein Richter, so bleibt nur übrig, daß er sein Urtheil empfange. Es liegt nichts in dem Beweise, was mich bestimmen könnte, seine Schuldigerklärung umzustoßen. (Zum Angeklagten:) Verstehet Ihr vollständig die Natur und Bedeutung der Schuldigerklärung?“

Angeklagter: „Ja, Mylord.“

Der Gerichtsschreiber: „Ihr seid auf Euer eigenes Geständmß hin des Mordes überwiesen. Habt Ihr einen Grund dafür anzuführen, warum etwa der Gerichtshof die Todesstrafe gegen Euch nicht aussprechen sollte?“

Der Angeklagte giebt keine Antwort.

Der Richter setzt die verhängnißvolle schwarze Kappe auf, bemerkt, der Angeklagte habe Schuldig plaidirt, sein Verbrechen eingestanden und darin recht gethan, sofern er wirklich die Wirkung seiner Erklärung gekannt habe. Der Angeklagte möge daher seinen Frieden mit Gott machen, denn in dieser Welt sei nicht die geringste Hoffnung auf Gnade für ihn. Darauf erfolgt die Verurteilung zum Tode, und der Angeklagte, der sich kaum aufrecht halten konnte, wird abgeführt.

Am Sonntag früh die verbrecherische That, am Mittwoch darauf das Todesurtheil. Das ist eine unerhört schnelle Justiz! Unerhört ist aber auch die Verurtheilung eines Menschen zum Tode ohne vorausgegangene Vertheidigung durch einen Anwalt. Zwar gilt im englischen Verfahren der Satz: der Richter ist der Vertheidiger des Angeklagten; aber dieser Satz hat seine Grenzen, und es widerspricht den ersten Geboten des Rechtes, der Humanität und des kriminalistischen Anstandes, den eines todeswürdigen Verbrechens Angeklagten ohne Vertheidiger zu lassen, weil er einen solchen aus eigenen Mitteln nicht zu bezahlen vermag, ja es ist geradezu empörend, die Todesstrafe über einen Menschen auszusprechen und zu vollziehen, der nicht den Schutz eines Vertheidigers genossen hatte. Wer bürgt denn dafür, daß Samuel Wright den Unterschied zwischen Mord und Todtschlag kannte? Und doch bedingt dieser Unterschied den Kopf!

Erst nach seiner Verurtheilung zum Tode erfuhr man im Publicum, Wright habe erzählt: „In der verhängnißvollen Nacht habe Anna Green gedroht, ihn zu verlassen. Deshalb sei zwischen ihnen Zank ausgebrochen. Darauf habe er sich schlafen gelegt, Anna aber ihn geweckt, geschüttelt und erklärt, sie lasse ihn nicht schlafen, sie werde ihm ein Messer in den Leib stechen; da sei er aus dem Bette gesprungen, habe das Rasirmesser ergriffen, das auf dem Tisch gelegen, und ihr damit den Hals abgeschnitten. Ihr letztes Wort sei gewesen: „O, Samuel, ich wollte das nicht thun!“ (d. h. mit dem Messer Dich nicht verwunden.)

Spricht diese Erzählung nicht eher für Tödtung im Affect, also für Todtschlag, denn für Mord? Spricht nicht der friedliche Charakter des Verurtheilten gegen vorbedachten Mord? Hätte nicht ein Vertheidiger diese für Todtschlag sprechenden Momente hervorheben und den Angeklagten bestimmen müssen, seine Schuldigerklärung für Todtschlag anstatt für Mord abzugeben? Wäre es in einem Falle, wo es sich um einen Kopf handelt, nicht zum Mindesten gerathen gewesen, die Frage der Seelenstimmung, in welcher der Angeklagte gehandelt, der Entscheidung der Jury zu unterbreiten?




Townley und Wright waren zum Tode verurtheilt. Ein Todesurtheil darf in England nicht vollzogen werden ohne ausdrückliche Ermächtigung des Ministers des Innern. Die Königin kann nicht begnadigen ohne vorhergegangenen auf Begnadigung gerichteten Antrag dieses Ministers. Nur in seltenen Fällen stellt aber der Minister einen solchen Antrag. Die Engländer lieben das Schauspiel des Hängens wie die Spanier die Stiergefechte. Der Vollzug der erkannten Todesstrafe bildet die Regel, nicht wie in andern Staaten die Ausnahme.

Am Tage nach der Verurtheilung Townley’s machte der Vorsitzende Richter von diesem Urtheil Mittheilung an den Lord Grey, den Staatssecretair des Innern, und lenkte dabei, ohne indessen einen Antrag zu stellen, die Aufmerksamkeit des Lords auf die Thatsache, daß vor der Jury zwei Aerzte den Beurtheilten für derzeit geisteskrank erklärt haben. Sir George Grey ließ nun den Geisteszustand Townley’s im Gefängniß durch eine Commission von Sachverständigen untersuchen. Diese erklärten, nach sorgfältiger Prüfung, am 28. December, der Geisteszustand des Verurtheilten habe sich seit seiner Verhaftung am 21. August nicht verändert: Townley habe extravagante Ansichten und verkehrte Moralbegriffe, seine Begriffe von Recht oder Unrecht aber, ob falsch oder nicht, seien zusammenhängend und der Angeklagte ihrer Tragweite sich bewußt; insbesondere aber wisse derselbe, daß seine Ansichten abweichen von den gewöhnlichen. – Die Commission hatte also keinen neuen Thatbestand gefunden, welcher der erkennenden Jury nicht vorgelegen hätte, denn gerade so hatten die Aerzte in der Verhandlung vom 11. und 12. December den Geisteszustand des Angeklagten beurtheilt und trotzdem die Geschworenen, in ausdrücklicher Uebereinstimmung mit dem Lord Oberrichter, das Schuldig ausgesprochen. Die Todesstrafe hätte also jetzt wenigstens vollzogen werden sollen. In der That drang auch die Presse von dem Standpunkt des Ansehens der Jury aus, und zwar schon vor dem Ausspruch der Commission, auf den Vollzug der Todesstrafe; „der Delinquent,“ so riefen die Blätter aus, „sei nach Ordnung und Recht verurtheilt worden. Der Ausspruch der Geschwornen müsse respectirt werden.“

Die Presse fand eine mächtige Unterstützung in dem Auftreten der Richter der Grafschaft Derbyshire. In einem in der Times abgedruckten Memorial an Sir George Grey erklärten mehr als vierzig Friedensrichter dieser Grafschaft: „Townley’s Geisteszustand sei vollständig und öffentlich untersucht worden, der Verurtheilte sei Mörder mit Vorbedacht und mit dem Bewußtsein der Gesetzesverletzung; nie habe früher seine Familie ihn für geisteskrank gehalten. Jetzt nehme man eine geheime neue Untersuchung seines Geisteszustandes vor, dabei werden keine Zeugen beeidigt, kein Kreuzverhör mit denselben angestellt. Ueber dieses einseitige Verfahren herrsche große Unzufriedenheit und die beklagenswerthe Meinung, es gebe in England ein Gesetz für den Reichen und ein anderes für den Armen, die Macht des Geldes vermöge den Lauf des Gesetzes zu hemmen, und Townley wäre, wenn er und seine Freunde arm gewesen wären, hingerichtet worden. Auf diese Weise werde die Achtung vor der Justiz tödtlich untergraben.“

Auf diese Demonstration erwiderte, freilich erst nach dem Ausspruch der Commission, der Minister: „Es sei ihm soeben ein neues Separat-Gutachten dreier Aerzte und zweier Friedensrichter aus der Grafschaft Derby übergeben worden, in welchem behauptet werde, Townley sei gegenwärtig geisteskrank; da nun eine Parlamentsacte von 1840 bestimme, „daß, wenn immer ein zur Deportation, zum Gefängniß oder zum Tod Verurtheilter von zwei Aerzten und zwei Friedensrichtern innerhalb des Bezirks, da er gefangen, für geisteskrank erklärt werde, ein solcher vom Minister des Innern in eine Irrenanstalt zu versetzen sei“, so bleibe ihm nichts übrig, als den Delinquenten Townley in eine Irrenanstalt bringen zu lassen.“

Während die Presse nicht nur den Minister zu tadeln fortfuhr, der schon vor dem Eingang jenes Separat-Gutachtens die Vollstreckung des Todesurtheils gegen Townley gehemmt habe, sondern auch die „absurde“ Parlamentsacte geißelte, die es vier Privatpersonen möglich mache, jeden Verbrecher von der Todesstrafe zu befreien, [220] sofern ein vermöglicher Verurtheilter immer zwei beliebige Aerzte finden werde, welche zwei sentimentale Friedensrichter bestimmen können, ihn für geisteskrank zu erklären, und das um so eher, je gräulicher ein Mörder sei;[1] während die Presse also in dieser Weise, zum Theil mit großer Bitterkeit, gegen den vermöglichen Townley auftrat, wurde in entgegengesetzter Richtung für den armen Wright agitirt. An der Spitze dieser Agitation stand der Advocat der Anklage selber, Herr Sleigh. Derselbe war rastlos in seinem Bemühen, Sir George Grey zu bewegen, bei der Königin den Gnadenact zu befürworten, indem er seine Ueberzeugung aussprach, „daß der Angeklagte, hätte er einen Vertheidiger gehabt, von den Geschwornen nur des Todtschlags schuldig befunden worden wäre.“ In gleicher Weise verwendeten sich bei dem Minister die das Gefängniß besuchenden Richter. Eine Monstreversammlung von Arbeitern bat in einer motivirten Eingabe, unter Hervorhebung der unerhörten Ueberstürzung der Untersuchung, um Begnadigung des Verurtheilten; ebenso sechshundert Handelsleute in Lambeth, dem Hauptbezirke Londons, in dem Wright gewohnt hatte. Sir George aber erwiderte: „Hätte Wright sich nicht selber schuldig erklärt, so würde eine ihrer Pflicht bewußte Jury dies gethan haben. Nichts spreche für eine von Seiten des Weibes gegen den Delinquenten verübte Gewaltthätigkeit, wodurch derselbe gereizt worden sei. Allerdings sei die Ermordete „von heftigem Charakter und bösartig“ gewesen, dies sei aber kein Beweis dafür, daß sie am Sonntag, den 13. December, in der Frühe den Verurtheilten angegriffen habe. Der gleichen Ansicht sei der Vorsitzende Richter.“ Sir George bedauert, einen Mann von „bisher gutem Charakter“ zum Tode verurtheilt zu sehen, kann sich aber, im Hinblick auf die bisherige Praxis (!), nicht entschließen, bei Ihrer Majestät die Begnadigung zu beantragen. Eine Petition an den Prinzen von Wales wurde abgewiesen, weil jedes Einschreiten seinerseits „inconstitutionell“ wäre, und eine der Königin direct übergebene Bittschrift mit der Antwort abgefertigt, „daß Ihre Majestät es nicht unternehmen könne, ihren Räthen zu rathen.“

Auf Dienstag, den 12. Januar 1864, wurde die Hinrichtung festgesetzt. Die Regierung befürchtete Unordnungen und traf deswegen Vorsichtsmaßregeln in großem Maßstabe. Dieselben waren jedoch überflüssig, denn das Volk demonstrirte in anderer Weise, friedlich, aber ergreifend. Am Montag, den 11., circulirten im südlichen Stadttheil Londons, wo die Execution vor sich gehen sollte, Zettel mit Trauerrand, des Inhalts: „Feierlicher Protest gegen die Hinrichtung Samuel Wright’s. Männer und Frauen von London, haltet Euch fern von dem traurigen Schauspiel der Ungerechtigkeit! Nur der Himmel soll auf das Verbrechen schauen, das der Henker begeht. Schließet und verhüllet alle Fenster! Engländer, wenn Wright gehängt wird, dann giebt es zweierlei Recht in England: eines für den Armen, und eines für den Reichen!“ Die Protestation wirkte. Nur Gesindel der niedrigsten Art sammelte sich am Dienstag vor dem Horsemongerlane-Gefängniß, wo die Hinrichtung stattfinden sollte. Das betrunkene Gesindel jauchzte und verhöhnte den „Hängeminister“ Sir George. Alle Läden und Fenster in den umliegenden Straßen waren geschlossen und verhängt. Arbeiter besetzten die Zugänge, die Neugierigen beschwörend, den „Platz der Schande und des Justizmords“ zu meiden. Während sonst mehr als 20.000 Menschen dem traurigen Schauspiel einer Execution in London beizuwohnen pflegen, waren diesmal kaum 3000 erschienen, darunter wenigstens 1000 Constabler.

Um neun Uhr wurde Wright auf’s Schaffot geführt. Gefaßt und festen Schrittes ging der Mann zum Tode. Er wurde mit furchtbarem Zuruf empfangen. Das Volk sah in ihm nicht den Missethäter, sondern nur das Opfer eines störrigen Bureaukratismus. Wright dankte für die Anstrengungen, die das Volk gemacht habe, sein Leben zu retten. Dieses aber schrie und brüllte: „Schande, Schande, Justizmord! – Wo ist Townley?“ Wright verbeugte sich tief. Zwanzig Mal drang zu ihm der Zuruf allgemeinen Mitleids; zwanzig Mal verbeugte er sich, selbst als ihm schon die weiße Kappe über die Augen gezogen war. Eine Minute später hing er leblos am Galgen, während wahnsinniges Gezisch, Pfeifen und das Geschrei: „Wo ist Townley?“ durcheinander tobte.

Das entmenschende Schauspiel einer solchen Hinrichtung giebt kein vortheilhaftes Bild von dem Culturzustande des „freien“ Volkes von England. Am 13. Januar aber erfolgten in London neue Monstreversammlungen, welche Adressen an’s Parlament beschlossen für Abschaffung der Todesstrafe, zugleich erklärend, Sir George Grey habe sich des Postens eines britischen Ministers unwürdig gemacht. In den Londoner Blättern geht indessen der Streit über die Bedeutung der Parlamentsacte von 1840 fort. Die Einen behaupten, in Folge des „Separat-Gutachtens“ müsse Townley lebenslänglich in einem Irrenhause verwahrt werden, während die Anderen anführen, sobald die Geisteskrankheit desselben geheilt, worüber die Irrenärzte zu entscheiden haben, sei Townley wieder wie zur Zeit der Verurtheilung und müsse dann der Spruch vollzogen werden.

Die Freunde der Humanität und die Gegner der Todesstrafe werden aus beiden Fällen, aus dem Fall Townley sowohl, wie dem Fall Wright, bedeutendes Capital machen für Abschaffung dieser Strafe, allen aber liefern die merkwürdigen Processe den schlagendsten Beweis, daß die Handhabung der Gerechtigkeit sehr übel bestellt ist in einer Nation, die sich in ihrem Uebermuthe gern in jeder Beziehung für die Musternation der modernen Zeit hält.




Aus den Landen des verlassenen Bruderstammes.
6. Ein Brief unsers Specialartisten.
Flensburg, am 12. März 1864. 

„Was lange währt, wird gut.“ Möchten Sie, verehrter Herr Herausgeber der Gartenlaube, und die Riesenarmee Ihrer Leser dazu, dies alte Sprüchwort auch stichhaltig finden, wenn Ihnen die Zeichnungen zu Gesichte kommen, die ich heute als einer Ihrer wohlbestallten „Specialartisten vom Kriegsschauplatze“ südwärts dirigire! Wohl hätten Sie schon früher Schöpfungen meines Bleistifts haben können, aber, was die englischen, französischen und süddeutschen illustrirten Blätter auftischen, Phantasiegebilde, die man zu Hause ganz gemüthlich selbst componiren und auf der Berliner und Wiener Wachtparade in aller Bequemlichkeit beschauen kann, wollten Sie nicht haben und mochte ich noch weniger Ihnen geben. So mußte ich denn erst wirklich auf dem Theater der Ereignisse und so recht im dicksten Getümmel sein, um Motive zu meinen Skizzen zu gewinnen. Daß aber die Künstlerfahrten Ihres Specialartisten einen ganz ordentlich militärischen Charakter gehabt und sich nicht allzuweit hinter den einprasselnden blauen Bohnen gehalten haben, das wird Ihnen schon aus meinen neulichen Zeilen ersichtlich gewesen sein.

Wahrhaftig, an Strapazen und Anstrengungen fehlt es nicht in diesem Winterfeldzuge bei dem anhaltenden scharfen Ostwind, dem ewigen Schneegestöber, dem selten nebelfreien Horizonte und einer Kost, die auch für den allergesündesten und ausgepichtesten Magen eine harte Nuß wird. Das unaufhörliche Einerlei von dicken Linsen und Erbsen will auf die Länge gar nicht „rutschen“, und doch ist’s ein Glück, daß von Kost überhaupt noch die Rede sein kann. Dazu grundlose Morastwege, in denen man bis zum Knie einsinkt, wochenlang nicht aus den Kleidern und nur ausnahmsweise einmal ein menschliches Bett. Alles Das hat Ihr tapferer Specialartist pflichtschuldig und berufsmäßig mit durchgemacht und sogar neulich mit auf Vorposten gelegen, in der vordersten Vedettenkette bei der Nübler Wassermühle, dicht dem Feinde gegenüber hinter demselben Verhau, welches die eine seiner heutigen Skizzen bis auf jede Einzelheit getreulich darstellt.

Mit dergleichen, meist aus Reisig und Holzbündeln gebildeten Verhauen oder Barrieaden schützen sich hier unsere Vorposten überall, damit der Feind sie nicht ohne Weiteres überrumpelt. Ganz ähnlich verbarricadiren die Feldwachen auch die von ihnen besetzten Häuser und Gehöfte, um im Nothfalle selbst einem numerisch überlegenen Angriffe mit Erfolg Widerstand leisten zu können.

Indeß alle diese Beschwerden lassen sich ertragen und werden von den Truppen mit Selbstverleugnung, ja mit Freudigkeit überstanden; dürften sie doch danach, jetzt vor den Düppeler Schanzen zu zeigen, wie der alte preußische Muth, die Tapferkeit aus den Schlachten des siebenjährigen Krieges und von der Katzbach und von Dennewitz, von Leipzig und von Belle-Alliance als Erbtheil fortleben im heutigen Geschlechte, – wenn man nur auch von

[221]

Im preußischen Hauptlazareth zu Flensburg.
Originalzeichnung unsers Specialartisten Otto Günther.

[222] oben ernsthafte Anstalten machen wollte, diesen Geist der Welt offenbar werden zu lassen! „Ohne Düppel genommen zu haben, können wir mit Ehren nicht heim,“ habe ich aus dem Munde von Musketieren und Füsilieren, von Kanonieren und Bombardieren, von Gemeinen und Officieren mehr als einmal vernommen, und kein Einziger bebt vor dem Gedanken zurück, daß vielleicht über seinen in blutiger Verstümmelung zuckenden Leichnam die Stürmenden sich Bahn brechen müssen zum endlichen Siege.

Es liegt etwas merkwürdig Fortreißendes in dieser Begeisterung, dieser Kampfeslust, dieser Siegeshoffnung, und auch Ihr sonst höchst civiler Specialartist fühlt sich bereits angesteckt von derlei kriegerischen Gelüsten und betrachtet zu Zeiten den schmucken Revolver, mit dem er sich den Gürtel geziert hat, mit einem ganz eigenthümlichen Appetite. Aber wenn’s ihm ab und zu gar zu militärisch zu Muthe wird, da drängt sich ihm immer im rechten Moment die Kehrseite dieses flotten Kriegsbildes vor die Augen, jene Kehrseite, welcher er die größere seiner heutigen Zeichnungen gewidmet hat, – der Jammer und Schrecken des Lazareths, wie er ihn vor wenigen Tagen im hiesigen Haupthospitale der Preußen zu Gesichte bekam.

Das preußische Hauptlazareth befindet sich augenblicklich in der ehemaligen dänischen Commandantur, im de Meza’schen Hause zu Flensburg. Ich wollte einen armen Landsmann besuchen, der darin, wie ich hörte, an schwerer Verwundung, mit amputirtem rechten Oberschenkel, darnieder liegt. Zwar hatte man Hoffnung, daß ihm das Leben erhalten bliebe, aber welchem Leben und welcher Aussicht geht der Unglückliche entgegen? – Es war am Vormittage, während der gestatteten Besuchsstunden von 11–2 Uhr, als ich mich nach dem Hause des Elends auf den Weg machte. Mit einem erklärlichen Gefühle von Beklommenheit und Angst trat ich in den mir bezeichneten Saal ein, da zeigte sich mir ein durch seine Contraste so charakteristisches, gewissermaßen exotisches Bild, daß ich’s sofort für Sie auf’s Papier warf. Am ersten der reihenweise aufgestellten und von beiden Seiten zugänglichen Betten, das ich zu passiren hatte und in welchem ein schwer Kranker stöhnte, sah ich einen Mann und eine Frau beschäftigt, der Erstere offenbar in klösterlichem Gewande, in langem schwarzem Talare mit einem schwarzen runden Käppchen auf der Tonsur des Kopfes, die Dame in vollem Putz der heutigen Mode. Jener war ein sogenannter Alexianer, einer am Rheine heimischen geistlichen Brüderschaft angehörig, die sich die Krankenpflege zur Lebensaufgabe gemacht hat und ihre Mitglieder überallhin sendet, wo man, natürlich gegen Bezahlung, ihre Dienste begehrt.

Bekanntlich hat man einige Alexianer aus Köln und eine Anzahl barmherziger Schwester vom Niederrheine in das preußische Hauptlazareth nach Flensburg berufen und ihnen die Pflege von Blessirten und Kranken übertragen. Wie ich allgemein höre, versehen Beide ihr beschwerliches und oft genug auch für die stärksten Nerven kaum erträgliches Geschäft zur vollsten Zufriedenheit der Aerzte und der armen Leidenden selbst. Ueberhaupt aber verdient die Einrichtung der preußischen Lazarethe in Schleswig alles Lob: die Verwaltung ist vortrefflich, an tüchtigen Aerzten jetzt kein Mangel, die Ventilation der Zimmer, welche allwöchentlich gründlich gereinigt werden, läßt wenig zu wünschen übrig und die Kost darf eine den verschiedenen Körperzuständen der Kranken wohlangemessene genannt werden, wie man auch für die geistige Unterhaltung und Erholung der dazu fähigen Pfleglinge nach besten Kräften Sorge trägt, ihnen Bücher und Zeitungen verschafft und die für sie eingehenden Spenden und Gaben aus der Heimath pünktlich zustellt. Daß die Kost auf das Gewissenhafteste bereitet wurde und wohlschmeckend war, überzeugte ich mich mit eigenen Augen und eigener Zunge. Damit Sie selbst jedoch ein Urtheil über das in dieser Begehung Gebotene haben, lege ich Ihnen ein Exemplar des „Speisereglements“ bei, wie es in den in Flensburg bestehenden preußischen Lazarethen maßgebend und in jedem Zimmer angeheftet ist.[2] Daß auch der hochadelige und urchristliche neualte oder altneue Johanniterorden ein Lazareth etablirt und Diakonissinnen von Bethanien zur Pflege der siechen Leiber und Seelen herbeicitirt hat, wissen Sie. Dieses fromme Lazareth hat von einer sehr freundlichen Localität, der sogenannten Bellevue, Beschlag genommen.

Das österreichische Hauptlazareth in Flensburg hat sich in der früheren dänischen Kaserne eingehaust. Wie mir erzählt wird, soll die österreichische Lazarethverwaltung erst in der allerjüngsten Zeit die den berechtigten Anforderungen entsprechende Sorgfalt und Pünktlichkeit entwickeln, doch immer noch hinter den preußischen Leistungen zurückbleiben. Dagegen darf ich, so sehr mich auch landsmännische und Freundschaftsbande an die preußischen Truppen fesseln, Ihnen nicht verschweigen, daß sich, wie dem österreichischen Militär überhaupt, so den österreichischen Verwundeten insbesondere, die Sympathien des schleswigschen Publicums weit mehr zuwenden, als unsern Preußen. Die anspruchslose Gemüthlichkeit der Mannschaft, das allem Junkerhaften und Windigen fremde Wesen der Officiere, namentlich aber das taktvolle, liebenswürdige und bürgerfreundliche Benehmen des Feldmarschall-Lieutenants von Gablenz hat die Oesterreicher zu großen Lieblingen der hiesigen Bevölkerung gemacht, welche Alt und Jung, Vornehm und Gering förmlich hätschelt, während man oft genug Ursache hat, sich von der preußischen brüsken und exclusiven Officiermanier ebenso abgestoßen zu fühlen, wie von den Erlassen des Höchstcommandirenden und seines Civilcommissars, in denen das neupreußische Gebahren und das ganze unklare Spiel dieses Krieges ihren Ausdruck finden. [3]

Eben wollte ich nach einer trostlosen Viertelstunde am Bette meines in heftigem Wundfieber liegenden jungen Landsmannes den Krankensaal wieder verlassen, als ein Paar feingekleidete Damen eintraten, denen eine Dienerin einen schweren Korb nachtrug, welcher mit mancherlei Labsal und Erquickung für die Kranken gefüllt zu sein schien.

„Haben Sie häufig solchen Besuch?“ frug ich den neben mir stehenden Assistenzarzt, indem ich auf die still an uns Vorüberschreitenden deutete.

„O ja, ziemlich oft,“ war die Antwort. „Die Flensburger Damen interessiren sich recht lebhaft für unsere Patienten, – doch hauptsächlich nur für die verwundeten Dänen.“

„Wohl nicht möglich?“

„Gewiß. Die Thatsache läßt sich nicht wegleugnen, daß hier in Flensburg noch ein gut Theil von dänischen Sympathien vorhanden ist. Zum großen Theile aber verhält sich das hiesige Publikum vorläufig so meinungslos wie möglich und betrachtet zunächst den Krieg als eine herrliche Chance, sich Taschen und Beutel zu füllen.“ – Bisher war der Gesundheitszustand der verbündeten Truppen im Allgemeinen ein durchaus befriedigender, abgesehen davon, daß im österreichischen Heere Fälle leichter acuter Augenentzündung ziemlich häufig vorkamen. Allmählich aber beginnen die großen Strapazen, die mit einer Wintercampagne in ungewohntem rauhen Klima verbunden sind, ihre schlimme Wirkung zu äußern. Tag für Tag treffen Krankentransporte aus Jütland bei uns ein, meist Oesterreicher, und schon hält der Tod in unsern Flensburger Lazarethen, deren wir zusammen achtzehn zählen, eine reiche Ernte.

Uebermorgen marschire ich wieder mit in den Krieg, mit Zeichenmappe und mit Revolver wohlausgerüstet. So ein vierzehn Tage werde ich wohl bei meinen soldatischen Freunden unterkommen können und abermals getreulich die Beschwerden und Mühen, das Strohlager und die Erbsensuppe mit ihnen theilen. An Stoff zu weiteren Bildern soll mir’s da nicht fehlen, und sobald ich wieder in civilisirte Herberge heimgekehrt bin, werden Ihnen neue und, ich hoffe, interessante Zeichnungen zugehen – wenn nicht etwa vor den Düppeler Schanzen eine vorwitzige dänische Granate allen künstlerisch-kriegerischen Bestrebungen Ihres Specialartisten ein frühes Ziel setzt.

[223]
Das Unglück am Haut de Cry im Wallis.
Ein Winterbild aus den Schweizer Alpen.
Von Abraham Roth.

Wer auf der Eisenbahn von Martigny nach Sion, der Hauptstadt des Kantons Wallis, fährt, gewahrt links, unmittelbar hinter dem Dorfe Ardon, einen ziemlich isolirten, 2956 Meter (9755 par. Fuß) hoch in die Luft strebenden Kalkkegel, auf den Karten als Haut de Cry verzeichnet, im Munde des anwohnenden Volkes aber Pic d’Ardon genannt. Es ist ein vorgeschobener Posten der vergletscherten Kette, welche von den Diablerets bis zur Dent de Morcles den westlichen Ausläufer der Berner Alpen bildet. Zwischen dem Haut de Cry und den in gerader Linie nördlich von ihm liegenden Diablerets hindurch führt der Cheville-Paß, welcher nicht selten von Touristen begangen wird, die durch das Gebirge von dem vielbesuchten Bex nach Ardon und weiter nach Sion gelangen wollen. Der Haut de Cry ist gletscherfrei und zeigt während des Sommers nur in der Tiefe seiner verdeckten Schluchten etliche Schneegruben; er kann daher in der schönen Jahreszeit ohne Gefahr bestiegen werden. Allein die Berge dieser Gattung sind just die gefährlichsten im Früh- und Spätwinter: sie sind hoch genug, um, wenn die Novemberstürme durch die Alpen brausen, gewaltige Schneeladungen an ihren Hängen und in ihren Schluchten aufzunehmen, diese luftigen Massen aber finden nicht Halt genug, um jene compacte Verbindung einzugehen, welche das Gletschereis oder der über dem Gletscher festgefrorene Schnee zeigt. An solchen Bergen gehen auch meist die Gemsenjäger zu Grunde, welche im Sturme der Waidmannsleidenschaft vergessen, daß der lose Schnee an Berghängen und in Tobeln das allerperfideste Element in der Alpenwelt ist.

Daß die Expedition, welche am 26. Februar dieses Jahres sich die Besteigung des Haut de Cry zum Ziele gesteckt hatte, diesen, obgleich durch die Erfahrung genugsam erhärteten Satz nicht gehörig beachtete, muß als die Hauptursache ihres Unglückes bezeichnet werden, – eines Unglückes, von dem die Mehrzahl unserer Leser bereits durch die Zeitungen erfahren haben werden. Doch sei zugleich bemerkt, daß die Urheber des Unternehmens, die beiden jungen Schweizer Ingenieure G. und B., daneben nichts weniger als blindlings in die Sache hineintappten und noch weniger blos zur Befriedigung einer touristischen Eitelkeit ihr Vorhaben in’s Werk setzen wollten. Ihr Zweck war ein wissenschaftlicher, insofern sie beabsichtigten, thermometrische und barometrische Beobachtungen anzustellen, wie G. mit Glück in einem Winter auf dem Niesen im Berner Oberlande und nicht minder B. im vergangenen November und December auf dem Aeggischhorn im obern Wallis gemacht hatte. Bei ihren vorgängigen Erkundigungen in Ardon mußten sie vernehmen, daß am Haut de Cry niemals Lawinen vorkämen, und obwohl Beide tüchtige, G. ein erprobter Bergsteiger, wollten sie nicht ohne einen Führer vom ersten Rang vorgehen. Zu dem Ende beschieden sie, außer drei Mann aus Ardon selbst, vom Oberwalliser Dorfe Lax herab den bewährten Johann Bennen, welcher schon beinahe alle höchsten Gipfel der Berner und Walliser Alpen betreten hatte, auf mehreren der schwierigsten, wie z. B. auf dem Weißhorn, der Erste gewesen war und am gefürchteten, noch unbezwungenen Matterhorn mit englischen Kletterern bis dahin am weitesten vordrang. Jetzt freilich, nachdem das Unglück erfolgt ist und der Arme schwer gebüßt hat, muß man es wohl gelten lassen, was ihm hier und da ein Berner Oberländer Führer nachsagte: Bennen sei zu keck, er nehme es mit seiner Verantwortlichkeit zu leicht oder er kenne die Beschaffenheit des Schnees und Firns nicht genug; man werde erleben, daß es ihm einmal schlecht gehe. Gleichwohl wird man aus der nachfolgenden Erzählung ersehen, daß Bennen gerade diesmal nicht der Fehler der Tollkühnheit vorgeworfen werden kann, sondern umgekehrt der der Schwäche, insofern er seine Autorität und Erfahrung als Hauptführer zu wenig geltend machte und sich allzusehr auf die specielle Ortskenntniß der Führer aus Ardon verließ.

Doch nun zur Sache.

Die Expedition brach am Morgen des 28. Februar sehr frühzeitig, kurz nach zwei Uhr, von Ardon auf. Es war eine klare Nacht und der Himmel versprach einen schönen Tag, wie er auch wirklich erfolgte. Nur die Temperatur der Luft war für diese Jahreszeit zu warm: das Thermometer zeigte beim Aufbruche ein bis zwei Grad Réaumur unter Null.

Da der Haut de Cry nach Süden ungangbar steil nach dem Rhonethal abfällt, so muß man ihn von hinten anpacken. Die Karawane bog deshalb in das Thal der Lizerne ein und hielt links an, hoch über dem rechten Ufer des entgegenströmenden Waldbaches, der in der Sohle des Tobels sich durch die Felsen wühlt. Es war ein sehr beschwerlicher Marsch wegen des vielen und weichen Schnees, welcher beständig und tief durchwatet werden mußte. Schon während dieser ersten Etappe äußerte G. Zweifel über die Thunlichkeit der Unternehmung, und Bennen schien ihm beizustimmen, allein die Männer aus Ardon vertrösteten auf die höheren Lagen, wo der dem Biswind (Nordwind) ausgesetzte Schnee fester sein werde, und sie behielten mit ihrer optimistischen Meinung die Oberhand.

Nach etwa fünf Stunden anhaltenden Marsches, um sieben Uhr herum, erreichte die Expedition eine Sennhütte, deren Höhenlage die barometrische Messung auf circa 7000 Fuß herausstellte und die sich am Ausgange der ersten Schlucht des Haut de Cry befindet. Zur Spitze dieses Berges führen nämlich von Nordosten her, vom Hochplateau des rechten Ufers der Lizerne, drei Felsengrate: ein mittlerer, in ziemlich gerader Richtung ungangbar steil; zur Linken ein zweiter, fast parallel mit jenem und kurz vor dem Erreichen der Spitze in scharfem Winkel nach Süden abbiegend; zur Rechten endlich der dritte, in weitem Bogen ausholend, so daß er der höchsten Höhe von Nordwesten zustrebt. Auf dem Gipfel des Berges begegnen sich alle in spitzem Dreieck und erzeugen damit die schmale und steile Spitze. Die Zwischenräume zwischen den drei Graten bilden zwei tiefe Tobel oder Schluchten, in welchen sich des Winters der Schnee massenhaft ansammelt. Einer dieser Tobel, der zwischen dem erst- und zweiterwähnten jener Grate liegende, ist der Schauplatz unserer Katastrophe, und an seinem Ausgange liegt die oben erwähnte Sennhütte.

Die Temperatur der Luft war an dieser Stelle und zu dieser Stunde auf + 0,5° R. gestiegen. Dies machte natürlich den Schnee nicht fester. Schon vorher, wo der Weg durch einen Wald führte, hatte der Sennhütte etwa eine Stunde lang im Zickzack zugestrebt werden müssen, und von der Hütte aufwärts war wieder Zickzack geboten, bei welchem die Mannschaft beständig einsank, mindestens bis an die Kniee, sehr häufig noch tiefer. Man bewegte sich bereits inmitten der Schlucht. Als die Beschaffenheit der Bahn immer nicht günstiger werden wollte, lenkte die Karawane endlich nach der linksseitigen Felsenkante ab, in der Hoffnung, durch Klettern am Gestein rascher vorwärts zu kommen. Sie gewann dadurch einen Punkt, welcher sich bei der Messung als circa 8000 Fuß hoch erwies. Um diese tausend Fuß Distanz von der Sennhütte weg zurückzulegen, waren drei Stunden nöthig gewesen. Es war also bereits zehn Uhr des Vormittags.

Auf dem Felsengrate ließ sich wegen seiner Steilheit doch auch nicht viel weiter kommen, die Rückkehr nach der Schlucht wurde bald wieder als räthlicher erachtet; und merkwürdiger Weise, obschon das Thermometer mittlerweile auf + 1,5° R. gestiegen war, fand sich auf der neuen Bahn eine lange Strecke festen, leicht gangbaren Schnees. Dann aber ging er in raschem Wechsel wieder in weichen über, und es war von da an nur in ganz kleinen Zickzacks hinanzusteigen. Die Leute sanken häufig so tief ein, daß von Schreiten keine Rede mehr sein konnte: den Alpstock mit den ausgestreckten Armen quer in den Schnee vorgeschoben, kletterte man gleichsam an ihm empor, während von unten die Kniee statt der Füße nachschoben.

Dies ging so bis Mittags zwölf Uhr, indeß auch die warme Sonne ihren höchsten Stand erreichte, und schon befand sich die Expedition auf ungefähr 9400 Fuß, also nur noch wenige Hundert Fuß von der Spitze. Allein von da war wegen der zu steil ansteigenden Kehle der Schlucht in bisheriger Weise nicht zum Gipfel zu gelangen, das leuchtete Allen ein. Entweder noch einmal nach links den Felsengrat gewinnen oder – umkehren, das war hier die Frage. Obschon die noch übrige Strecke bis zum Grat nicht so weit reichte, als das mitgebrachte Seil, so erhoben sich doch ernste Bedenken gegen den Vorschlag, überzusetzen; denn gerade bei diesem Uebergange sah der Schnee am gefährlichsten aus und drohte am leichtesten zu brechen. Nicht nur G., auch Bennen bezeugte die Neigung zur Umkehr, und B., der als weniger Erfahrener bisher die drohenden Gefahren geringer geschätzt hatte, als sein Freund, war doch seit ungefähr einer Viertelstunde in eine auffallend ernste, melancholische Stimmung gerathen, gleich als [224] hätte ihn eine Todesahnung beschlichen. Es ist sicher, daß, wenn Bennen an dieser entscheidenden Stelle seine Autorität als Hauptführer geltend gemacht und nach eigenem Instinct befohlen hätte, das Wagniß nicht unternommen worden und das daraus entstandene Unglück nicht geschehen sein würde.

Die Männer aus Ardon waren es, welche auch jetzt noch an keine Gefahr glauben wollten und mit ihrer Sicherheit das Urtheil Bennen’s verwirrten. Zwei derselben wagen sich auch sogleich in die gefürchtete Stelle hinein und zielen in horizontaler Linie gerade nach dem etwa 20 Fuß entfernten Felsengrat. Der Erste sinkt über die Hüfte ein und schreitet nicht mehr, sondern drückt mit der ganzen Vorderfläche seines Körpers eine Bahn, gleich einem Pfadschlitten, so daß in dem Schnee eine tiefe Furche entsteht. Der Zweite folgt nach und sinkt noch tiefer ein. Da protestirt Bennen: „Es geht nicht! kehrt um!“ Mittlerweile aber hat der Vorderste schon den Grat erreicht, er glaubt damit sich und die ganze, an ein und dasselbe Seil gebundene Gesellschaft geborgen und erwidert dem Bennen: „Es geht; machet nur, daß Ihr schnell herüberkommt!“ Bennen sieht, daß in der That keine Zeit zu verlieren ist, wenn nicht die weiche Masse unter der andauernden Last der Männer in Bewegung gerathen soll, er giebt sich in Gottes Namen darein und klettert zur Vorsicht nun hurtig ein paar Schritte höher, als jene Schneefurche, setzt sich an einer weniger bedenklichen Stelle fest und ersucht G., zu folgen. G. schreitet vor, von Bennen oben am Seil gehalten, aber sinkt nach wenigen Schritten bis an die Schultern ein. Neues Stutzen, neue Neigung zur Umkehr. Aber schon ist’s zu spät! Eben folgt B. dem Freunde nach, und die schwerere Körperlast des neu Ankommenden giebt der letzten Tragkraft des Schnees den Stoß; B. sinkt stürzend in die Tiefe. Bennen, der ihn mit ganzer Kraft zurückhalten will, fühlt, daß er selbst hinuntergezogen wird, daß der Grund unter seinen eigenen Füßen rutscht. Mit stoischer Ruhe und Kaltblütigkeit spricht er nur noch das resignirte Wort: „Jetzt sind wir Alle verloren!“ – – im gleichen Augenblick reißt es ihn kopfüber, im Nu liegen fünf Mann wirr durcheinander im langsam gleitenden Schnee, und der Sechste, der bereits auf sicherem Felsen stand, wird mit herabgerissen. Da erfolgt auf den allgemeinen Prall krachend ein gewaltiger Schneeriß längs des Felsengrats, und – die Lawine ist fertig. Wenige Secunden reichen hin, das erst langsam schleichende Ungeheuer in rasche Bewegung zu bringen. Was nicht fest in der Erde wurzelt, bricht los. Die Wucht der sinkenden Masse, der vorauseilende Luftdruck, die überall sich öffnenden Klüfte bewirken, daß von allen Seiten immer neue Schneemassen, Eisschollen, Steinblöcke in den kalten Gischt stürzen und die Gewalt der Lawine immer furchtbarer anschwillt. Rascher, immer rascher-, zuletzt blitzschnell stürmt der entsetzliche Strom zu Thal, es kracht und dröhnt und wiederhallt an den Felsen wie ein wildes Wetter. Und mitten in diesem Strudel rollen sechs Menschen mit, in eine Tiefe von gut 2000 Fuß! – – G. ist es gelungen, sich aufzurichten und aufrecht zu erhalten, er arbeitet mit den Armen, wie wenn er in einem Wasserstrom schwämme, und in der That wälzt sich die Lawine über die abschüssig schiefe Ebene in Gestalt aufschäumender Wogen. Mehr als einmal taucht G. unter, wird gleich darauf von einer Welle hoch in die Luft gespieen und sinkt wieder unter, bis er sich zuletzt vollständig vergraben fühlt, als die Lawine stockt.

Das Unglück war geschehen, und es war das Werk kaum einer Minute. Doch, wie so manches Mal selbst beim gräßlichsten Unheil glückliche Zufälle mitspielen, die an das Wunderbare streifen, so auch hier. Einer der drei Führer aus Ardon war während des Lawinensturzes weit aus dem Strom hinausgeschleudert worden und blieb eine Zeitlang auf sicherem Port besinnungslos liegen.

Ohne diesen glücklichen Zufall wären Alle unrettbar verloren gewesen, denn Keiner hätte sich selbst, geschweige Andere aus den eisigen Banden der erstarrten Lawine zu befreien vermocht; wer nicht schon todt in die Tiefe gelangte, wäre erfroren. Daß Einer frei geblieben, verhalf drei Andern zur Rettung.

Als der bei Seite Geschleuderte wieder zur Besinnung gekommen, herrschte Todesstille ringsum, wo eben noch ein Aufruhr der Elemente getobt. Als ein ungeheures Leichentuch lag die Lawine über der Ausmündung des Tobels gebreitet. Keiner der Gefährten um den einsam Erwachten. Sie liegen Alle im Schnee, todt oder mit dem Tode ringend. Der Gedanke, daß Einer oder der Andere vielleicht noch zu retten wäre, giebt dem Manne plötzlich wieder neues Leben, und wie er sich aufrafft und die Glieder reckt – o Wunder, o Glück! – bemerkt er erst, daß er krampfhaft noch in der Faust das Gletscherbeil hält. Wie ist diese Waffe jetzt so nöthig!

Nachdem der Führer erst der gepreßten Brust durch laute Rufe nach seinen Gefährten Luft gemacht – keine Antwort! – schritt er eilends der Lawine zu. Noch einmal rief er nach allen Seiten. Keine Antwort. Er späht umher, wo das Auge Einen fände. Da auf einmal sieht er in einiger Entfernung etwas an der Oberfläche krabbeln – dort ist Einer, ein Lebender! Und in der That fand er einen Lebenden, einen Cameraden aus Ardon, und gleich darauf den Zweiten. Er befreite sie mittelst des Beiles, nicht ohne große Anstrengung; denn der mächtige Druck der stürzenden Massen hatte den ursprünglich lockeren Schnee fest zusammengepreßt, und die compacten Massen froren bereits ineinander.

Nun spähen die drei Geretteten nach den Uebrigen aus und gewahren an einer Stelle weiter oben zwei aus dem Schnee ragende Hände. Es sind die Hände G.’s. Er lebt noch. Er fühlte, nachdem die Lawine zur Ruhe gekommen, daß seine Hände über dem Kopfe im Freien schwebten, aber er kann sie weder zusammenbringen, noch zurückziehen. Die Arme wie der Leib sind wie eingemauert. Das Einzige, was ihm gelingt, ist, daß er von oben gegen das Gesicht herabkrabbelt, um sich einen Luftgang zum Munde zu graben, da die Lunge nach Atmosphäre seufzt. Aber es gelingt nur so weit, daß das Auge nach einiger Zeit den Tag matt durch die harte Schneedecke dämmern sieht; das Uebrige muß der Athem thun, den der Vergrabene heiß gegen das Licht ausstößt. In dieser Arbeit wird er endlich – endlich unterstützt von den geretteten Führern, die aber wieder mit dem Beil hantiren müssen, bis sie nur den Kopf G.’s freigemacht haben.

Das Erste, was dieser erblickt, ist, ganz in seiner Nähe, ein Fuß des Freundes, dessen Körper köpflings im festgepreßten Schnee steckt. „Rettet ihn! rettet ihn!“

Aber B. war todt.

Es kostete die selber hart mitgenommenen Führer eine schwere Arbeit, den Körper G.’s vollends aus der eisigen Kruste loszuschälen. Während sie eine grausam lange halbe Stunde hackten mit dem Beil, und mit den Händen scharrten, fühlte der Eingemauerte immer deutlicher von den Extremitäten herauf seine Glieder ersterben. Endlich ward er doch erlöst.

Nun aber reichten die Kräfte der Männer kaum mehr aus, den Leichnam B.’s auszugraben, der bis zu diesem letzten Augenblick durch das Seil an den Freund gefesselt geblieben. Nachdem dies vollbracht, waren sie erschöpft. Bennen mußte preisgegeben werden. Auch stand bei Allen die Ueberzeugung fest, daß er todt sei; er lag tief vergraben, und Einer hatte ihn während des Sturzes gesehen, wie er von einer Welle ausgestoßen worden, bleich und starr, die Arme leblos an den Hüften hängend. Außerdem war es zur vollständigen Rettung G.’s dringend nöthig, daß er die erfrorenen Füße durch Bewegung wieder belebe. Wenn er heute, gottlob, nach zweiwöchigem Krankenlager wieder ordentlich in seinem Zimmer herumhumpelt und binnen Kurzem ganz genesen sein wird, so hat dazu wesentlich beigetragen, daß er von der Unglücksstätte bis Ardon hinunter noch vier volle Stunden marschiren mußte.

Etwas nach 1 Uhr Nachmittags brach der traurige Rest der Karawane vom Morgen wieder auf und erreichte Ardon Abends 51/2 Uhr. Hier waren sie mit Angst und Bangen erwartet, denn die Lawine und ihr Wiederhall hatte weit über das Rhonethal hin gedröhnt.

Tags darauf brachen 25 Mann aus Ardon auf, um die Leichname der Verunglückten in das Dorf herabzuholen. Sie fanden jedoch nur B. und brachten ihn für die folgende Nacht in der Kirche unter. Seine bleibende Ruhe hat B. auf dem Friedhofe von Ouchy, an den Gestaden des Leman, gefunden. An seinem Grabe weint eine Wittwe um den einzigen Sohn und gäbe wohl alle ihre reichen Schätze hin, um dieses theuerste Kleinod wieder zu gewinnen. Seine Freunde betrauern in ihm einen jungen Mann von ganz vortrefflichen Geistes- und Charaktereigenschaften, der es verschmähte, nach Art so vieler seiner Standesgenossen auf faulem Erbe zu liegen, der mit ganzem Eifer sich einer Fachwissenschaft hingab und es nach menschlicher Berechnung zu sehr tüchtigen Leistungen gebracht haben würde, wäre sein Leben nicht so grausam in der Blüthe geknickt.

Bennen konnte erst nach dreitägiger Arbeit an’s Tageslicht gefördert werden und er ist seitdem auf dem Kirchhofe von Lax beerdigt. Dort finde der brave Mann den ewigen Frieden. Der alte Berggeist aber, wenn er noch umgeht auf Gletschern und Firnen, wird ihm auf der leuchtenden Zinne des Weißhorns ein Denkmal setzen.


  1. Der berühmte Criminalist Köstlin äußerte: die Aerzte geben sich nie mehr Mühe, das Leben eines Menschen zu retten, als wenn ihm die Justiz dieses Leben abgesprochen hat.
  2. Wir werden unter den „Blättern und Blüthen“ unserer nächsten Nummer diese Küchenverordnung wörtlich mittheilen, da sie unsern Lesern als ein Andenken an eine immerhin bedeutungsvolle und folgenschwere Zeit sicher nicht ohne Interesse ist.
    D. Red. 
  3. Auch noch von mancher andern Seite sind uns Mittheilungen geworden, welche den Gegensatz des österreichischen und preußischen Wesens, wie er sich im Benehmen der beiderseitigen Truppen ausspricht, grell beleuchten. Allein im Interesse der guten Sache, und um nicht einen schon so großen Riß noch zu erweitern, glauben wir auf Veröffentlichung jener Mittheilungen verzichten zu müssen.
    D. Red.