Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[305]
Der seltsame Beweis!
Von A. v. K.
(Schluß.)

Die Miethkutsche fuhr durch mehrere Straßen, die Mathilde nicht sah, da der Vicomte aus übermäßiger Vorsicht auch noch die seidenen Vorhänge der Wagenfenster heruntergelassen hatte. Wortlos und bebend saß sie da, und nach einigen erfolglosen Versuchen, ein Gespräch anzuknüpfen, überließ sie der Vicomte ihren Gedanken.

Der Wagen hielt, der Vicomte half Mathilden aussteigen und geleitete sie durch einen feuchten Flur eine halbdunkle Treppe hinauf. Dann zog er einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete eine Thür, und Mathilde trat in ein leeres Vorzimmer und von da in einen ziemlich einfach möblirten Salon, dessen Eingange gegenüber sich eine zweite Thüre mit dichter, herabgelassener Portière befand.

„Jetzt,“ sprach der Vicomte mit leiser Stimme, „frage ich Sie nochmals: haben Sie Muth? – noch ist ein Rückschritt möglich.“

„Nichts, kein Wort,“ antwortete Mathilde, „halten Sie Ihr Versprechen.“

„Dann aber halten Sie auch das Ihrige, meine hülfreiche Hand nicht von sich zu stoßen.“

„Ja doch, ja – quälen Sie mich nicht länger!“

Der Vicomte näherte sich der Portiere und hob sie auf. Sie verdeckte eine Glasthüre, durch deren Scheiben man in’s benachbarte Zimmer sehen konnte. Mathilde trat näher, warf einen Blick hinein und einen Schrei unterdrückend starrte sie das Bild an, das sich ihren Augen zeigte. In einem Voltaire-Fauteuil saß Leo, den Kopf zurückgeworfen, an die Lehne des Sessels gestützt, die Augen auf eine weibliche Gestalt gerichtet, die vor ihm stand. Die Dame hatte ihre beiden Arme um seinen Hals geschlungen, er umfaßte die feine Taille, jetzt bückte sich die Fremde und drückte einen Kuß auf Leo’s Lippen. – Kaum einen Moment betrachtete Mathilde das Schreckensbild, das ihr Glück auf immer zertrümmerte; der Vicomte ließ die Portiere fallen, und als sie nach derselben greifen wollte, taumelte sie entkräftet dahin … Mit sicherm Arm faßte sie der Vicomte und trug sie auf das Sopha, wo sie sich nach und nach erholte, – der treue Freund saß an ihrer Seite, umfaßte sie und sparte weder Worte des Trostes noch Küsse, mit denen er ihre eiskalten Hände bedeckte. Mathilde befreite sich mechanisch aus seinem Arm und wollte sich wieder der Portiere nähern. Er hielt sie zurück.

„Wozu, Mathilde?“ sprach er in bittendem Tone, „Sie haben genug gesehen, zu viel, fürchte ich. Fassen Sie sich und verlassen wir diesen Ort, wohin ich bereue, Sie geführt zu haben!“

Halb ging sie, halb ließ sie sich führen, und halb bewußtlos hob er sie in den Wagen, der nach einigen dem Kutscher zugerufenen Worten rasch dahinrollte. Trockenen Auges und stumm saß Mathilde neben dem Vicomte, der die zarteste Besorgniß um sie zeigte und mit tausend Worten sie zu beruhigen suchte. Abermals hielt der Wagen, Mathilde stieg aus und schon im Begriffe, die Hausschwelle zu betreten, stand sie plötzlich still.

„Wohin haben Sie mich gebracht, Vicomte?“ frug sie. „Wir sind nicht zu Hause.“

„Kommen Sie nur, Mathilde, kommen Sie,“ flüsterte er und versuchte sie zum Eintreten zu nöthigen.

„Keinen Schritt weiter, Vicomte, wohin haben Sie mich geführt?“

„Mathilde, nach dem Vorgefallenen können Sie doch unmöglich zu Leo zurückkehren. Ich habe für ein anderes, passenderes Unterkommen für Sie gesorgt. Haben Sie nicht versprochen, meinen Schutz anzunehmen?“

„Wenn ich denselben beanspruche, nicht eher,“ rief Mathilde mit einer Entrüstung, die eine für den Augenblick heilsame Reaction ihrer schwindenden Kräfte hervorrief. „Jetzt wünsche ich nach Hause zu fahren und das sofort!“

„Aber, Mathilde,“ … wollte der Vicomte einlenken.

„Vicomte,“ rief Mathilde am ganzen Körper bebend, „mit welchem Rechte nennen Sie mich Mathilde? Mit welchem Rechte wollen Sie mich zwingen, ein Haus zu betreten, das ich nicht betreten will? … Ich wünsche nach Hause zu fahren, Vicomte, haben Sie mich verstanden, oder soll ich um Hülfe rufen?“

Mit diesen Worten sprang sie in den noch offenen Wagen und rief dem Kutscher „Rue Montorgueil“ zu. Die Pferde zogen an.

Der Vicomte biß wüthend die Lippen zusammen.

„Verwünscht!“ rief er endlich und starrte ihr lange nach, „ich habe mich übereilt, wer hätte aber auch der keinen Person so viel Willenskraft zugemuthet? Sacrée petite Allemande! – Doch Geduld, vielleicht ist noch nichts verloren.“

Mathilde war nach Hause gekommen und beinahe besinnungslos in die Arme der treuen Mary gesunken, die in Todesangst ihrer harrte. In kurzen Worten theilte sie ihr Alles mit.

„Mary,“ schloß sie, „Du hast versprochen, daß ich im äußersten Falle auf Dich rechnen könnte; willst Du mir nun beistehen?“

„Gewiß, Mathilde, was haben Sie aber vor?“

„Vor Allem, ihn nie wiedersehen. Mache schnell, Mary, wir müssen fort, schnell fort; nimm das Nothwendige mit, Geld habe ich für den Augenblick genug, komm, bringe mich nach Deinem Vaterlande. Unter Deinem Schutze, im freien England, will ich [306] mein Unterkommen suchen. Gott verläßt mich nicht, wenn auch er mich verlassen hat!“

Der über Leo’s Verrätherei entrüsteten Mary war es zunächst darum zu thun, Mathilde vor ferneren Verfolgungen des Vicomte zu sichern; sie machte wohl noch einige Einwendungen, deren Resultat aber kein günstiges war. Drei Stunden später dampften die beiden jungen Frauen, mit leichtem Reisegepäck versehen, dem Hafen zu, von wo aus sie bald nach Albions Ufer segelten.


Einige Monate später, in einer der entlegensten Straßen Londons, in einem kleinen Zimmer der vierten Etage, saß Mathilde vor einer Staffelei und beendete das ziemlich gelungene Pastetbild einer blonden Miß in weißem Kleide.

Mathilde war verändert, die frische Rose zur schmachtenden Lilie verwandelt, die blühenden Farbe ihrer Wangen einer durchsichtigen Blässe gewichen. Erst seit wenigen Tagen hatte sie das Krankenlager verlassen, an welches sie während langer Wochen in Folge der erlittenen Gemüthsbewegungen gefesselt gewesen. Während dieser schweren Zeit war die treue Mary nicht von ihrer Seite gewichen, bis endlich die jugendlichen Lebenskräfte die Oberhand gewonnen und der grelle Schmerz sich in stille Wehmuth verwandelt hatte. Leider traten aber den Geflüchteten statt der gewichenen Sorgen neue entgegen. Die ungenügenden Mittel waren durch Einrichtung, Krankheit und nöthige Pflege so ziemlich erschöpft, es mußte für das künftige Fortkommen gesorgt werden. Mathilde wollte ihr nicht geringes Talent für Pastelmalerei dazu verwenden, aber guter Wille und Fleiß allein sind in einer großen, kalten Weltstadt, ohne Bekanntschaften, ohne Freunde, ohne Protection, nicht genügend. Mary hatte wohl Verwandte und Freunde in der Vaterstadt, aber leider meistens unbemittelte, wie sie selbst. Nach vielen Bemühungen war es ihr doch gelungen, Mathilden die erste Bestellung zu verschaffen, und zwar durch Vermittlung ihrer Cousine, die bei den Eltern der jungen Miß, an deren Bild Mathilde jetzt arbeitete, in Diensten stand. Da Mathilde noch zu schwach war, um auszugehen, so hatte sich die junge Miß ausnahmsweise zu ihr bemüht, und nun arbeitete Mathilde eifrig, sowohl um den geringen Lohn zu erwerben, als auch um ein Probestück ihres Talents abzulegen, das ihr, wie sie hoffte, neue Bestellungen zuführen würde. Noch saß sie an der Staffelei, als Mary eintrat, Hut und Mantel bei Seite warf und, nachdem sie auf Mathildens Stirn einen Kuß gedrückt, einen zufriedenen Blick auf’s Bild warf.

„Bravo, Mathilde,“ sprach sie, „wenn Miß Maxen nicht zufrieden ist, so weiß ich nicht, was sie will … Nun aber machen Sie, daß das Bild bald fertig wird. Soeben begegnete mir Kitty und erzählte, ihre Lady habe gestern Gesellschaft gehabt, und Mutter und Tochter hätten mit Begeisterung von Ihnen gesprochen und sich dabei auf dieses Bild berufen, das zur baldigen Anschau versprochen wurde.“

„Gute Mary,“ antwortete Mathilde gerührt, „diesen ersten Erfolg verdanke ich Dir, wie meine Genesung. Was wäre aus mir geworden ohne Deine liebevolle, aufopfernde Pflege?“

„O, vergessen wir diese Schreckenstage, liebe Mathilde, und vor allen Dingen schonen Sie sich. Noch gestern sagte der Doctor, daß Ihnen nichts fataler sein könnte, als ein Rückfall!“

„Beruhige Dich, meine gute Mary, ich fühle mich ganz wohl, ja so wohl, daß ich vielleicht noch glücklich leben könnte mit Dir und mit meiner Kunst, wäre es mir nur möglich, meine Erinnerungen zu verbannen.“

Ein energisches Pochen an der Thür unterbrach Mathilde. Auf ihr „Herein!“ trat ein Mann in die Stube, der echte Typus des Engländers, wie ihn sich die Franzosen zu ihren Caricaturen nicht besser hatten wünschen können. Röthliches Haar, ein rother Backenbart, ein hochrothes Vierzigergesicht, ein sandfarbiges tout de même, von welchem ein rothes cachez-nez grell abstach, bildeten das glückliche Ensemble des ziemlich wohlbeleibten Herrn, der ohne Weiteres auf Mathilde zuging und sie mit steifem Gruße frug:

„Sie thun sein Lady Leo?“

„Ja, mein Herr, ich bin es.“

„Sie thun malen?“

„Zu dienen, mein Herr, wie Sie sehen,“ und sie deutete auf das Bild.

„Ho!“ gurgelte der Engländer, besah das beinahe beendete Portrait und fuhr fort. „Yes, ich sehe, die Ladies haben gesprochen wahr gestern Abend, Sie seien eine Meisterin, und das ist die wahre, lebendige Miß Sarah Maxen, ich bin sehr zufrieden mit meine Besichtigung!“

Mathilde verbeugte sich lächelnd.

„Erlauben Sie,“ fuhr der Engländer fort, „daß ich mir setzen, denn ich muß erzählen Ihnen eine lange Geschichte von das, was Sie sollen thun.“

„Reden Sie, mein Herr,“ sprach Mathilde, während Mary dem Original einen Sessel vorrückte.

„Erst Sie müssen erfahren, meine Lady, daß ich bin verliebt, sehr, viel verliebt, und Sie sollen machen mir das Bild von meinem Liebling.“

„Recht gern, mein Herr, das Fräulein …“

„O! ist keine Fräulein!“

„Also die Dame …“

„Ho! ist auch keine Dame!“

Mathilde sah ihn befremdet an und konnte kaum ein Lächeln unterdrücken, als sie der drollig ernsten Miene ihres Gastes begegnete.

„Wohl, mein Herr,“ sprach sie, „so will ich mich Ihres eigenen Ausdruckes bedienen. Wenn also Ihr Liebling mir einige Sitzungen gestatten will, bin ich bereit das Bild zu machen.“

„O! wird nicht sitzen, kann nicht! steht immer, wird auch stehen!“

„Dürfte aber sehr ermüdend sein …“

„O! thut ihr nichts, wird stehen! Sie sollen aber nur malen Kopf und Schultern, denn Körper schlecht! Sehen Sie, ich konnte kaufen ihr ganz, aber kaufe nicht, weil Körper schlecht. Will nur Kopf haben.“

Trotz alledem, was Mathilde über englische Originalität gehört, schien ihr dieses denn doch ein wenig zu stark, und sie fürchtete im Ernst einen Geisteskranken vor sich zu haben.

„Wie soll ich Sie verstehen, mein Herr?“ sprach sie, „und wo kann ich die Bekanntschaft der Dame machen? Will sie sich zu mir bemühen, oder …“

„Habe schon einmal gesagt, ist keine Dame, wird sich auch nicht bemühen. Mr. Smith ist ein sehr eigensinniger Mann, giebt sie nicht, aber bei ihm können Sie malen, das erlaubt er!“

„Und wo ist denn dieser Mr. Smith, der über die Dame zu verfügen hat?“

„Wieder Dame! Ist keine Dame, ist Puppe, schlechter Körper, das habe ich auch Mr. Smith gesagt, aber schöner Kopf, in Kopf bin ich verliebt, sehr verliebt!“

Jetzt trat Mary lächelnd hinzu. „Liebe Mathilde,“ sprach sie, „ich muß wohl helfen, wenn Du Dich mit dem Herrn einverständigen sollst. Mylord, ist Mr. Smith nicht der Besitzer der Wachsgallerie, der so meisterhaft nach Natur portraitirt?“

To be sure! Alle kennen Mr. Smith.“

„In der That habe ich von seiner Kunst gehört. Diese Lady ist aber noch fremd in London, weiß Nichts von Mr. Smith, konnte Sie also auch nicht verstehen.“

„O! Alle kennen Mr. Smith,“ wiederholte der Engländer.

Mathilde drängte das sie plagende Lachen zurück und sprach möglichst ernst: „Also, Mylord, Sie wünschen, daß ich das Portrait einer Wachsfigur male, in die Sie verliebt sind?“

„Yes, yes, kann keiner verbieten mir in eine Figur verliebt zu sein … malen Sie mir Portrait, und ich werde zahlen wie für eine wahre lebendige Figur! Gehen Sie zu Mr. Smith, er wird Ihnen zeigen: Nr. 37, Fancy Pictures. Sie werden sehen, schöner Kopf – – aber schlechter Körper!“ murmelte er hinzu, zu seiner fixen Idee zurückkehrend.

Jetzt wurde der Handel geschlossen. Mathilde versprach, sich in den nächsten Tagen zu Mr. Smith zu begeben und das Bild in möglichst kurzer Frist zur Zufriedenheit des Verliebten zu vollführen.

Noch lange unterhielten sich die Freundinnen über die echt englische Originalität des Lords, der sich in eine Wachsfigur verliebt hatte. Es war seit langen Wochen der erste heitere Moment Mathildens, die immer und immer wieder lachen mußte, wenn sie an den vierzigjährigen Seladon und an den sonderbaren Gegenstand seiner Flamme dachte. Sie hatte bereits noch eine Stunde gearbeitet und stand ziemlich abgespannt auf.

„Mary,“ sprach sie, „das Wetter scheint heute schön zu sein, ich hätte Lust meine Kräfte zu versuchen und einen Spaziergang zu wagen. Wollen wir nicht Mr. Smith besuchen? Ich bin in der That begierig, die Bekanntschaft meines Modells zu machen.“

[307] Mary war einverstanden, hüllte die zarte Gestalt Mathildens in einen warmen Pelz, und Beide wandelten durch Londons nebelige Straßen, die Mathilde zum ersten Mal sah, da sie gleich nach ihrer Ankunft erkrankt war. Das Interesse des Neuen, das rege Leben der Londoner Straßen, Bewegung und frische Luft, die sie so lange entbehrt, wirkten heilsam auf Mathilde. Lebhaften Schrittes ging sie neben der Freundin, ihre Wangen färbten sich mit einem frischen Roth, die Augen blickten dunkler, lebhafter als seit langer Zeit. Nach ungefähr zwanzig Minuten standen sie vor dem bewußten Wachscabinet, das die ganze erste Etage eines Hauses in einer der Hauptstraßen Londons einnahm. Mathilde frug nach Herrn Smith und erklärte ihm den Zweck ihres Besuches. Mr. Smith antwortete lächelnd, er wisse schon, wovon die Rede sei, und schickte sich an, Mathilden das Modell zu zeigen, das seiner Aussage nach kein Portrait, sondern eine Schöpfung seiner Phantasie war. Nun geleitete er die beiden Freundinnen durch seine Säle, und machte die Honneurs mit der ganzen Liebe eines Künstlers, der erinm der That war.

Mr. Smith’s Wachscabinet ist nicht mit denen zu vergleichen, die bis jetzt durch Europa gezogen, und in denen sich das Publicum an Napoleon auf dem Sterbebette, an Luther mit seinem Freunde Melanchthon und an Werther nebst Charlotte ergötzte. Mr. Smith hat diese Kunst, an der bis jetzt immer etwas Marionettenhaftes klebte, veredelt und zur höchsten Stufe emporgebracht; sein Cabinet bildet zur jetzigen Zeit – was nicht wenig bedeutet – eine der sehenswürdigsten Raritäten Londons. Mathilde, selbst Künstlerin, vergaß bald den Zweck ihres Besuches vor den Schöpfungen dieser neuen, einigermaßen unheimlichen Kunst, sie blieb vor bekannten, noch lebenden Persönlichkeiten stehen, die in solcher Wahrheit dargestellt waren, daß man vergessen mußte, was man eigentlich vor sich hatte, und gespannt auf eine Bewegung, auf ein Wort aus diesen stummen Lippen wartete. Mary, weniger Künstlerin, theilte unterdessen ihre Aufmerksamkeit zwischen den Besuchten und den Besuchern, und konnte sich eines schalkhaften Lächelns nicht enthalten, als sie einige Russen an der Gestalt des verstorbenen Kaisers, der in seiner wohlbekannten imposanten Majestät dastand, vorbeigehend mechanisch die Hand an den Hut legen sah.

Jetzt gelangte man an einen Salon, über dessen Thür die Aufschrift stand: „Fancy Pictures.“ – „Hier,“ sprach lächelnd Mr. Smith, „finden Milady das bewußte Ideal, dieser Raum enthält Phantasiestücke und zurückgesetzte Portraits – in meinen Augen ist er nicht der interessanteste.“

Nr. 37. stellte ein junges Mädchen vor, ein Köpfchen à la Greuze, mit blonden Locken und regelmäßigen Zügen, in dessen blauen Augen ein seltsamer Zug von wehmüthiger Sanftmuth lag. Mathilde suchte schon in ihrer Phantasie, wie sie in einem Gemälde dieses sanfte Gesichtchen am besten zur Geltung bringen könnte, als die danebenstehende Mary durch einen Verwunderungsausruf ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Mathilde wandte sich um, – und das Blut stockte in ihren Adern, sie wurde leichenblaß, und Mary mußte ihren Arm um die Schwankende schlingen, um sie zu stützen.

In einem Voltaire-Fauteuil saß – Leo, den Kopf zurückgeworfen und an die Lehne gestützt, genau in derselben Stellung, wie Mathilde ihn zum letzten Mal gesehen, nur fehlte die Frauengestalt, die damals den Kuß auf seine Lippen drückte.

Mit einem Blicke, den alle Intelligenz verlassen zu haben schien, starrte Mathilde die Figur an, bleich wie die Wand, bebend am ganzen Körper stand sie da, wie gebannt, – vergeblich versuchte es die erschrockene Mary, sie wegzuführen, sie athmete endlich tief auf, wandte sich zu Mr. Smith und frug mit erstickter Stimme: „Mr. Smith, wie kommt dieses Portrait in Ihre Sammlung?“

„O,“ antwortete er gleichgültig, „dies ist ein unbedeutendes Exemplar, ich weiß nicht einmal, wen es darstellt!“

Mathilde sah ihn flehend an.

„Mr. Smith, ich beschwöre Sie, mir zu sagen, wie es sich damit verhält, wie …“

„Es ist ganz einfach, Milady. Vor ungefähr drei Monaten kam ein junger Franzose zu mir, brachte mir die photographische Karte dieses Herrn und forderte unter einigen Angaben eine vollständige sitzende Figur, die in der kürzesten Frist vollendet werden sollte. Nach drei Tagen war die Figur auch fertig, – Sie begreifen aber, Milady, daß es schwerer ist, nach einer Photographie zu arbeiten, als nach der Natur, – somit war der junge Mann nicht zufrieden. Ich mußte nach neuen Angaben einen neuen Kopf modelliren, der, wie es scheint, seinen Wünschen entsprach, und hier sehen Sie den ersten, den mißlungenen, den ich des Pikanten der Physiognomie wegen in die Fancy-Sammlung gestellt habe.“

„Und – und wissen Sie, wer dieser junge Franzose war?“

„Seinen Namen muß ich wohl noch in meinem Notizbuche haben,“ sagte Mr. Smith, dasselbe hervorziehend, – „September, den 20., Monsieur le Vicomte de Joly!“

Laut schluchzend fiel Mathilde an Mary’s Brust; verwundert und erschrocken sah Mr. Smith die beiden Frauen an. Mary gab ihm eine genügende Erklärung, indem sie sagte, der Herr sei ihrer Freundin wohlbekannt, und die Figur habe trübe Erinnerungen in ihr wachgerufen, und bat schließlich Mr. Smith, einen Wagen vorfahren zu lassen, um die aufgeregte Freundin nach Hause zu bringen, was denn auch augenblicklich geschah.

Wer könnte Mathildens Verzweiflung, ihre Gewissensbisse schildern! Alles war nun klar, das schändliche Benehmen des Vicomte, der ihre Eifersucht benutzt und nichts gespart, um einen Beweis zu schaffen, der in seine geheimen Hoffnungen spielen sollte. Hundert Mal warf sich Mathilde ihre Blindheit, ihre Uebereilung vor, dazwischen tauchte wieder das auf Place de la Concorde gesehene Bild auf, das doch kein Trug war. Mary suchte vergebens, sie durch Worte der Vernunft zu beschwichtigen, ihre krankhafte Phantasie war zu stark aufgeregt worden, die noch schwachen Kräfte hatten einen zu harten Stoß erlitten; gegen Abend trat das Fieber mit neuer Gewalt ein, Mathilde phantasirte, raste, beschuldigte bald sich, bald den Vicomte, bald Leo, mischte Lüge und Wahrheit durcheinander – die von der armen Mary befürchteten Schreckenstage waren wieder da! Und Tage und Wochen lag Mathilde wieder bewußtlos, bald ein Opfer des Fiebers, bald in einer gänzlichen lethargieähnlichen Entkräftung. Der Arzt gab wenig Hoffnung und wartete auf die immer Alles entscheidende Krisis. Endlich stellte diese sich ein, und noch einmal siegte die jugendliche Lebenskraft; Mathilde verfiel in einen ruhigen Schlaf, während dessen der Arzt das Wort gerettet aussprach. Als sie die Augen aufschlug, fiel ihr erster klarer Blick auf Leo, der an ihrem Bette saß, ihre Hand hielt und seine Augen unverwandt auf dem bleichen Antlitze haften ließ.

Mathilde war zu schwach, um sich zu erinnern, – daß Leo da, fiel ihr nicht auf, sie fühlte nur die Seligkeit seiner Gegenwart, versuchte einen schwachen Händedruck, ein Lächeln und schloß wieder die müden Augen. Nach und nach, in den nächsten Tagen der Besserung, kehrte aber mit den zunehmenden Kräften auch die Erinnerung an das Vorgefalleue zurück; noch wagte Mathilde keine Frage, ihr unruhiger Blick fagte aber bisweilen mehr als Worte, und diese stumme Frage beantwortete Leo gewöhnlich mit einem Kusse, Mary aber mit einem seligen Lächeln, das deutlich sagte: mein Werk!

Als endlich eines Tages der Arzt erklärte, alle Gefahr sei vorüber, schloß sie der beglückte Leo in seine Arme und sprach unter den wärmsten Küssen: „Du böse, böse Mathilde, ohne unsere treue Mary wüßte ich bis heute nicht, wo mein süßes Glück weilt. Wie um Gottes willen konnte mich mein liebes Weibchen mit einer Wachsfigur verwechseln?“

„O, vergieb mir, Leo, ich war wahnsinnig, aber dazu auch so unglücklich, und dann …“

„Und dann?“ wiederholte lächelnd Leo.

„Das, was keine Wachsfigur war!“

„O Mathilde, hättest Du nur drei Tage gewartet, nur noch drei Tage mir vertraut, so hättest Du erfahren, daß die, die Du mit mir gesehen, keine Andere war, als Henriette, meine theuere Schwester!“

„Henriette in Paris – und das durfte ich nicht wissen?“

„Nein, Mathilde, Du durftest nicht. Höre, wie es sich verhielt: Henriettens Mann, aus politischen Gründen gezwungen, heimlich seine Heimath zu verlassen, flüchtete nach Paris, um sich dort eine Zeit lang zu verbergen. Er war auch da nicht sicher. Henriettens aufopfernder Liebe gelang es, den stark Compromittirten eine Zeit lang allen Blicken zu verbergen, sie berief mich nach Paris, um ihr in der fernern so schwierigen Angelegenheit seiner weitern Flucht beizustehen. Alle, ohne Ausnahme, [308] mußten getäuscht werden, selbst Du, mein armes Weibchen. Die Gefahr war zu groß, bei Deiner Unerfahrenheit, Deiner Lebendigkeit hätte ein unvorsichtiger Blick, ein unwillkürliches Erröthen von Dir Alles verrathen, und dann war Alles verloren. – Ich galt die ganze Zeit für etwas Anderes, als Henriettens Bruder, und so peinlich mir auch die Rolle war, ich mußte sie spielen, denn es war das einzige Mittel, um das Mysteriöse der Dame zu motiviren und jeden Verdacht zu entfernen, daß ein Mann im Hause verborgen war. Dieser Anschein hat auch den Vicomte getäuscht, dessen schändliches Benehmen mir sein Verschwinden bald nach dem Deinigen völlig erklärt. Meine Bemühungen blieben nicht erfolglos: in diesem Augenblicke segelt Henriette mit ihrem Manne Amerika zu; die Schwester hatte ich gerettet, dabei aber mein Glück zum Opfer gebracht, mein Liebstes eingebüßt! Ich hatte den ganzen Schmerz Deines Entfliehens, ohne den eigentlichen Grund desselben zu kennen, und alle meine Bemühungen, den Ort Deines Aufenthaltes zu entdecken, blieben fruchtlos. Ich schrieb nach Hause, auch da wußte man nichts von Dir. Welche Tage ich verlebt, magst Du nach alledem ermessen. Da endlich empfing ich Mary’s Brief, ich eilte zu Dir und mußte nun befürchten, das kaum wiedergefundene Glück wieder zu verlieren. Gott hat aber Mitleiden mit mir gehabt, jetzt habe ich Dich wieder …“

„Und gebessert, mein Leo,“ fiel Mathilde ein, „gebessert durch recht trübe Erfahrungen!“

„Arme Frau, was magst Du gelitten haben! Nun aber, Mathilde,“ fuhr Leo fort, und der alte Humor trat wieder in sein Recht, „nun und vor Allem werde wieder mein gesundes, frisches Weibchen von früher. Dann wollen wir zusammen Mr. Smith besuchen und gemeinschaftlich dem den Hals brechen, der alles Uebel zwischen uns verschuldet.“

„Nein, Leo, diesem nicht, dieser hat ja im Gegenteil Alles wieder gut gemacht, der Andere war es, der mich so namenlos unglücklich gemacht, um den ich so viele Thränen vergossen habe!“

„So viele Thränen um ein Unglück von Wachs!“ sprach Leo und küßte ihr die Thränen von den Wimpern.




Das Ruhebett Garibaldi’s – ein Erzeugniß deutscher Industrie.

Der Artikel in Nummer 15 der „Gartenlaube“, in welchem Rüstow seinen „Besuch bei Garibaldi“ schildert, war kaum in die Welt gegangen, als uns zugleich von mehreren Seiten nähere Angaben

Garibaldi’s Ruhebett.

über das Ruhebett zugingen, dessen sinnige und praktische Construction die Uebersiedelung des Generals von Spezzia nach Pisa und von da (am 22. December v. J.), nach einer viermonatlichen Abwesenheit, nach Caprera so sehr erleichterte. Wir theilen diese Angaben unseren Lesern um so lieber mit, als dieses Bett, den Bedürfnissen des Kranken vortrefflich angepaßt, aus der Werkstätte eines deutschen Fabrikanten hervorgegangen ist; um so lieber, als die deutsche Arbeit vor allen aus England, Frankreich etc. zahlreich übersandten Proben den Vorzug erhielt. Zugleich freut es uns, eine getreue Abbildung dieses wundertätigen und doch so einfachen Mechanismus beifügen zu können, der, einmal wir möchten wohl sagen von weltgeschichtlichem Interesse geworden, fortan manchem schwer Leidenden sein schmerzvolles Dasein erleichtern helfen wird.

[309] Das Ruhebett ist aus der bekannten „Fabrik hydropathischer und mechanischer Heilgeräthschaften“ der Herren Fischer und Co. in Heidelberg hervorgegangen und wurde dort vom Leibarzte Garibaldi’s, Dr. Enrico Albanese, bestellt. Derselbe schreibt unterm 6. Februar d. J. von Caprera aus an die Verfertiger u. a.: „Ich bin Ihnen übrigens dankbar für das treffliche Ruhebett, indem der General manche Stunde des Tages im Freien darauf zubringen kann; besonders hier auf Caprera hat es ihm vorzügliche Dienste geleistet, und ich habe die Ueberzeugung erlangt, daß es für Invaliden und Verwundete ein ausgezeichnetes Mittel ist, die Wiedergenesung zu beschleunigen, indem es namentlich einen sicheren und leichten Transport ermöglicht. Auf Ihrem Ruhebette wurde der General von Spezzia nach Pisa und von da hierher gebracht, wo er nun immer bei guter Witterung auf dem Platze vor seinem Hause auf und ab gefahren wird.“

Zu unserer Abbildung geben wir noch folgende kurze Erläuterung: Das Ruhebett, auf das Beste gepolstert und hübsch ausgestattet, kann in Folge seiner sinnreichen Construction leicht in ein Fauteuil, Sopha oder Bett verwandelt werden und erlaubt es, den Kranken ohne Störung und ohne ihn berühren zu müssen, in jede ihm wünschenswerthe Lage zu bringen. Den Armlehnen wird ein verstell- und verschiebbares Tischchen, welches auf das Bequemste zum Lesen, Schreiben, Essen etc. benutzt und beim Ein- und Aussteigen des Patienten entfernt werden kann, angefügt. Die am unteren Theile angebrachte Fußstütze ist je nach Bedürfniß länger oder kürzer zu machen, damit der Leidende jederzeit einen Haltpunkt für die Füße hat; ebenso ist das Fußpolster höher und niedriger zu stellen. Das ganze Bett steht auf drei niedrigen Rädern, mittelst welcher beim Fahren, das ohne Geräusch und Erschütterung vor sich geht, die kürzesten Wendungen gemacht werden können. Die Rücken- und Armlehnen sind beweglich, um jede beliebige Lage vom Wagrecht- bis zum Aufrechtsitzen damit herstellen zu können, welche Bewegungen durch eine einfache und leichte Manipulation am Mechanismus bewerkstelligt werden. Dadurch endlich, daß man die Armlehnen an der Rücklehne aushängen und an den Seiten zusammenlegen kann, kann man, wenn das Ruhebett an die Lagerstelle des Patienten gebracht wird, diesen auf das Bequemste herüber und hinüber legen – eine treffliche Einrichtung beim frisch Herrichten des Krankenbettes, beim Auslüften des Zimmers etc.




Ein geheimnißvolles Grab.
Von Friedrich Hofmann.
(Schluß.)

Für die Vornehmheit dieser wunderbaren Gäste sprach auch ihre Lebensweise. Auf den gräflichen Tisch kamen die besten Erzeugnisse der Jagd und des Fischfangs, die Kochin mußte das feinste Backwerk bereiten, der Graf trank nur theure französische Weine, Porter und feine Liqueure. Der Keller mußte stets gut versehen sein. Am auffälligsten für die ländliche Zurückgezogenheit erscheint der bedeutende Aufwand für die Garderobe. Die Kleidersendungen kamen von Frankfurt a. M. her. Wie bereits bemerkt, trug sich die Gräfin stets nach der neuesten Pariser Mode, daher sich im Lauf der Jahre eine sehr starke Kleidersammlung im Schloß anhäufte. Der Graf trug von feinen weißseidenen Strümpfen das Paar nie länger als 14 Tage. Ebenso stark war der Bedarf an Glacéhandschuhen, von der feinen Leibwäsche ganz zu schweigen. Es herrschte im ganzen Schlosse in jeder Beziehung eine Reinlichkeit, die für den Grafen auf holländischen Ursprung hindeutete.

In welchem Rufe stand nun der Graf in Eishausen, Hildburghausen und der Umgegend? Trotz aller unbefriedigten Neugierde über die Gründe seiner fast kartäuserischen Einsiedelei stand er überall in wahrhaft hoher Achtung, und diese hatte er sich nicht etwa blos durch den Aufwand erworben, der von bedeutenden Mitteln zeugte, sondern durch sein persönliches Auftreten gegen die Wenigen, mit denen er verkehrte, und insbesondere durch die Größe und die Art und Weise seiner Wohlthätigkeit. Abhold jeder zudringlichen Bettelei, die selbst an Thür und Fenster klopft, kam er um so eifriger der stillen Noth und bescheidenen Armuth zu Hülfe, und um diese auszukundschaften, dazu dienten nicht blos die wenigen Vertrauten, mit denen er mündlich oder brieflich (wir erzählen später, wie?) verkehrte, sondern auch sein Fernrohr, das er sehr viel handhabte, mittelst dessen er sich sogar seine Lieblinge aus den Dorfkindern auswählte, denen er zur Weihnacht bescheerte, und überhaupt seine Bekanntschaft mit den hervorragenden Dorfpersönlichkeiten unterhielt. Kam dabei auch manches Bizarre zum Vorschein, gab z. B. der Graf einem Knaben monatlich 24 Xr., blos weil er beobachtet hatte, daß derselbe nie zu den Fenstern des Schlosses hinauf sah, und belohnte er überhaupt mit Vorliebe Alles, was für die Ruhe des Schlosses geschah, so waren doch die Beweise wahrer Menschenfreundlichkeit so zahlreich, daß der Verdacht ungerechtfertigt wäre, er habe dies Alles nur für die größere Sicherheit seines Geheimnisses gethan. Es gab im Lande Hildburghausen keine wohlthätige Anstalt und Unternehmung, die sich nicht seiner stets ansehnlichen Unterstützung erfreut hätte. Und da man wußte, daß sich der Graf verletzt fühlte, wenn man bei einer öffentlichen Danksagung seinen Namen nannte, so folgten später Alle dem glücklichen Rathe, welchen die damalige Erbprinzessin von Hildburghausen Einem gab, der in Zweifel war, wie es nun zu bezeichnen sei, von wem die Gaben gekommen: „Schreiben Sie: Von einem Manne, der unserm Lande nur durch seine Wohlthaten bekannt ist.“

Uebrigens stand der Graf mit dem herzoglichen Hofe in gar keiner Verbindung. Es ist früher (auch öffentlich) behauptet worden, der Graf sei von jeder obrigkeitlichen Anfechtung frei geblieben, weil er dem Herzog oder der Herzogin sein Geheimniß anvertraut habe. Das ist eine bloße Erfindung. Während der französischen Kriege dachte Niemand daran, den Grafen in seinem Asyl zu stören, und als es endlich Friede wurde, hatte man längst erkannt, daß sein Abzug aus dem Lande ein fühlbarer Nachtheil für dasselbe sein würde. Dagegen ist es richtig, daß die Herzogin Charlotte, eine der schönsten und geistreichsten Frauen und, nebenbei bemerkt, zugleich eine der ausgezeichnetsten Sängerinnen ihrer Zeit, die Schwester der Königin Louise von Preußen und Mutter der Königin Therese von Baiern, allerdings einen feinen Versuch der Annäherung an den Grafen machte. Durch den damaligen Pfarrer von Eishausen, der früher Lehrer und Erzieher der herzoglichen Kinder gewesen und seitdem ein lieber Vertrauter der Familie geblieben war, hatte man am Hofe erfahren, daß der Graf in Bezug auf die von ihm gemietheten Localitäten des Eishäuser Schlosses einen Wunsch habe. Diese Gelegenheit benutzte die Herzogin, um dem Grafen in einem kurzen französischen Handbillet zu schreiben: „daß sie sich freue, ihm die Erfüllung seines Wunsches von Seiten des Herzogs zusagen und dabei einen Dank aussprechen zu können für die Wohlthaten, die er im Lande verbreite.“ Es erfolgte allerdings eine Antwort des Grafen, ebenfalls französisch, geistreich und artig, aber so aalglatt jeder Möglichkeit einer Fortsetzung solcher Correspondenz entschlüpfend, daß der Schluß: „er hoffe, später noch das Glück zu haben, Ihrer Hoheit sich persönlich nähern zu dürfen,“ sogar das Gegentheil von jeder Annäherung ausdrückte. – Wie oft auch Glieder der herzoglichen Familie das Eishäuser Pfarrhaus besuchten und dort sich im Freien ergötzten, so mieden sie doch absichtlich die Umgebungen des Schlosses.

Ein desto innigeres Verhältniß entspann sich zwischen Pfarrhaus und Schloß, und gewiß eines der seltsamsten der Welt.

Als der genannte Geistliche im Jahre 1812 nach Eishausen kam, ließ der Graf ihm einige der politischen Zeitungen, die er hielt, zum Lesen anbieten. Der Pfarrer nahm natürlich das Anerbieten dankbar an. Von diesem Augenblick an scheint es zu den Functionen der „Aufwärterin“ gehört zu haben, in aller Frühe das couvertirte Zeitungspacket durch eine Spalte unter der Hausthür in’s Pfarrhaus zu schieben. Dort fand man es regelmäßig jeden Morgen. Es enthielt deutsche und französische Blätter, sämmtlich legitimistischer Tendenz, zuweilen auch englische. Bald darauf brach der Sturm des Befreiungskrieges los. In dieser erregten Zeit ließ der Graf durch die Bötin mündlich dem Pfarrer über besonders [310] wichtige Nachrichten seine Bemerkungen mittheilen, die stets von großem politischen Scharfsinn zeugten. Bisweilen erbat er sich durch dieselbe Vermittlung ein oder das andere Buch vom Pfarrer, und da machte es sich zuerst nöthig, daß der Graf, wenn es Werke in fremden Sprachen betraf, deren Titel aus dem Munde der Bötin nicht zu entziffern waren, dieselben auf sorgfältig couvertirte Zettelchen schrieb. Bald fanden auf diesen Zettelchen auch die bisher mündlich von der Bötin ausgerichteten Bemerkungen Platz, die den Pfarrer zu ebenfalls brieflichen Gegenbemerkungen veranlaßten, und das war der Anfang einer Correspondenz, welche sich später zu einem fast ununterbrochenen, in vielen Beziehungen höchst vertraulichen, herzlichen und gemüthlichen Gedankenaustausch der beiden Männer entwickelte.

Da diese Correspondenz es hauptsächlich ist, welche uns einen Einblick in das Wesen des merkwürdigen Unbekannten gestattet, so wollen wir einen Augenblick bei ihr verweilen. Sie umfaßt im Lauf der Zeit Alles, was Wissenschaft, Kunst und Politik den beiden Männern vorführte und was das Leben und das alltägliche Bedürfniß dazu brachte. Aus den Briefen des Grafen geht hervor, daß derselbe eine sehr rege geistige Thätigkeit entfaltete und daß sein Wissen ein ganz ungewöhnliches war. „Nur eine Stunde des Tags gönne ich mir, um blos zu meinem Vergnügen zu lesen,“ schrieb er einmal, und ein andermal setzte er seine tägliche Correspondenz nach dem Pfarrhause aus, „weil dringende Geschäfte seinen ganzen Tag in Anspruch genommen.“ Seine Sprachkenntnisse erstreckten sich über das Französische, Englische, Italienische, Deutsche, Lateinische und Griechische. Das Holländische war wahrscheinlich seine Muttersprache. Ueber seine classischen Studien schreibt er einmal: „Können Sie eine Vorstellung davon haben, welches Glück ich auch in meiner Einsamkeit genossen habe? Wo hätte ich sonst diesen stillen Frieden genossen, wo sonst die Muße gefunden, die Classiker von vier Nationen der Reihe nach zwei und drei Mal zu lesen?“ Längere Zeit trieb er mit Vorliebe Naturphilosophie (französische und deutsche), auch christliche Kirchengeschichte, las mit großem Interesse David Strauß und schrieb einst: „Zur katholischen Religion erzogen, wurden doch in meiner Jugend deren Grundpfeiler gerade so tief erschüttert, daß sie nie wieder fest standen.“ Jede neue Erscheinung ward zwischen Schloß und Pfarrhaus so gründlich besprochen, daß die Bötin nicht selten an einem Tage zehn bis zwölf Mal zwischen Beiden mit den oft ganz hitzigen Briefen hin- und hereilen mußte. Im Zeitraum eines Jahres, versichert der genannte Berichterstatter, verbreitete sich diese Correspondenz über thierischen Magnetismus, über die Philosophen Locke, Kant und Schelling, über die Theologen Schleiermacher und de Wette, über specielle Vorsehung, Unsterblichkeit, positive Religion, Stolberg’s Uebertritt, Reform des Universitätswesens, Ursprung der alten Aegypter, und außerdem über eine Unzahl von Tagesfragen. – In vielen Briefen des Grafen äußert sich eine sehr lebhafte Sympathie für die Bourbons und die Schicksale der Emigranten nach dem Sturze Napoleon’s. Dabei sei gleich bemerkt, daß alle Briefe weder Datum noch Unterschrift trugen. Gesiegelt waren sie in der Regel mit Oblaten und einem quarrirten Petschaft; nur zwei Male fand der Pfarrer ein charakteristisches Siegel, das drei Lilien im Felde zeigte.

Besondere Lieblingsstudien des Grafen waren Meteorologie (nach seinen Wetterprophezeiungen, die er dem Kammerdiener und dem Pfarrer mittheilte, richteten sich sogar die Bauern mit ihren Feldarbeiten) und – Medicin, die er mit Hülfe einer kleinen Hausapotheke auch – natürlich nur im eigenen Hause – ausübte. Einen Arzt nicht zu bedürfen, war allerdings für die Sicherheit seines Geheimnisses von Bedeutung.

Die Correspondenz ließ sich aber auch zu den Angelegenheiten des Dorfes herab und erging sich hier oft in köstlichem Humor über Familienverhältnisse, deren Kenntniß dem Grafen Niemand zugetraut hätte, und über Personen, wie des Müllers schöne Tochter und des Schulmeisters noch schönere Tochter, die er nur mittelst des Fernrohrs kennen gelernt haben konnte. – Am innigsten äußerte sich aber die Correspondenz über jedes Ereigniß, jedes Fest im Pfarrhause, an denen der Graf stets den augenscheinlich herzlichsten Antheil nahm.

Aber trotz all dieses freundschaftlichen Verkehrs hütete der Graf auch gegen den Pfarrer sein Geheimniß auf das Strengste. Nie ist in seinen Briefen von einer weiblichen Person im Schlosse die Rede; nur einigemal deutet er durch „man“ an, daß noch Jemand bei ihm lebe. „Man hat, wegen der Unruhe in der Nähe des Schlosses, die Nacht schlaflos zugebracht und fühlt sich sehr angegriffen“ – so schreibt er nach einer Neujahrsnacht, in welcher die Bauernbursche nach landüblicher Polizeiwidrigkeit ihre Mädchen besonders kräftig „angeschossen“ hatten.

Ja noch mehr: die Vorsicht gegen den Pfarrer ging so weit, daß dieser von der Jahre lang geführten Corrrspondenz auch nicht ein einziges Zettelchen mit des Grafen Handschrift zurückbehalten durfte. Die Bötin, welche die gräflichen Schriftstücke (und zwar stets mit weißen Glacéhandschuhen!) überbrachte, mußte sie, sammt der Antwort des Pfarrers, auch sogleich wieder mit zurücknehmen.

Und trotz der brieflichen Versicherung des Grafen: „wenn Friede wird, so werde ich das Vergnügen Ihrer persönlichen Bekanntschaft suchen“ – ist auch dies nicht in Erfüllung gegangen. Die beiden Männer, welche vierzehn Jahre lang im engsten geistigen Verkehr leben, der ihnen zu einem Lebensbedürfniß geworden, welche von ihren Fenstern aus sich mit bloßen Augen sehen und grüßen können, diese beiden Männer grüßen sich mit stummer Verneigung, wenn der Graf am Pfarrhaus vorüber fährt oder der Pfarrer am gräflichen Wagen vorüber reitet, – diese beiden Männer, die sich vierzehn Jahre lang und oft täglich zehn Mal schreiben und bis zum erbitterten Meinungskampf die Geister aneinander reiben, haben im Leben nie ein Wort mit einander gesprochen!

Im Februar 1827 starb der Pfarrer. Dieser Todesfall ergriff den Grafen tief. Er fragte Niemand nach der Bedeutung des Glockenläutens am Morgen nach der Todesnacht, aber als die Bötin die Zeitungen ihm uneröffnet zurückbrachte, sah sie Thränen in seinen Augen. Er verließ seine bisherigen Wohnzimmer und bezog andere, die abgewendet vom Pfarrhause lagen. Sein Trauer- und Trostwort an die Wittwe schloß mit der Versicherung: „mit dem Pfarrer sei das letzte Band mit der Welt für ihn zerrissen.“ – Später trug er jedoch das Vertrauen vom Pfarrer auf die Wittwe über und setzte mit ihr seine Correspondenz fort bis zu seinem Tode. –

Warum, müssen wir hier fragen, schloß der Graf sich gerade von dem einzigen Manne seiner Umgebung, der ihm geistig ebenbürtig war, so streng, ja so ängstlich ab? Verschiedene andere Männer von Eishausen, namentlich einen Schreiner, Namens Christ, ließ er nicht selten zu sich rufen und freute sich sichtlich der Unterhaltung mit ihnen, wie denn diese wiederum seine Freundlichkeit und „die erstaunliche Macht seiner fließenden Rede“ nicht genug rühmen konnten. Warum zog er nicht auch mit dem Geistlichen die mündliche Unterhaltung bisweilen der schriftlichen vor? Schrieb er doch selbst einmal: „Manches im Leben läßt sich bei weitem besser mündlich, als schriftlich behandeln; ja es bedarf sehr häufig erst eines durch persönliches Zusammensein zuwege gebrachten Berührungs- und Anknüpfungspunktes.“ Und dennoch dieses schroffe Betragen gegen den Mann, den er als „das einzige Band zwischen ihm und der Welt“ schätzt! War das nicht verletzendes, kränkendes Mißtrauen? – Ja, Mißtrauen war es, aber ich erkenne darin kein Mißtrauen des Grafen gegen den Pfarrer, sondern gegen sich selbst. Dem ehrwürdigen Geistlichen gegenüber, der ihm schon brieflich oft das Herz tief zu ergreifen verstand, mochte er für sein Geheimniß fürchten. In einem Briefe an des Pfarrers Wittwe sagt er einmal von sich selbst: „Es geht mir wie den Nonnen: wenn sie einmal sprechen dürfen, sprechen sie zu viel.“ – Und fürchtete er nicht für sein Geheimniß, so war ihm sicherlich sein Verhältniß zum Pfarrer zu kostbar, um es der Gefahr auszusetzen, durch einen bei seiner Reizbarkeit so leicht möglichen persönlichen Anstoß gestört oder gar zerrissen zu werden.

Wie brachte aber sie ihr Leben dahin, um derentwillen dies Alles erduldet werden mußte?

Der Blick hinter diesen Vorhang fällt auf ein trauriges Bild. Während der Graf in edlen geistigen Genüssen wahrhaft schwelgte, war es des armen Weibes Zeitvertreib, mit Hunden und Katzen, Drehorgeln und Geldbeutelchen zu spielen. Eine höhere geistige Entwickelung scheint ihr nicht vergönnt worden zu sein, nicht der Trost und die Erhebung, welche die Tonkunst gewährt, nicht die stille Freude irgend einer andern Kunst. Es ist wirklich so: eine Drehorgel war das einzige Instrument, das je im Schloß gehört wurde, und ein beliebter Zeitvertreib soll es gewesen sein, Katzen in einen Wagen zu setzen und von angespannten Hunden durch die Säle und Zimmer des Schlosses fahren zu lassen. Eine Unterhaltung [311] für den Winter war es, die Sperlinge auf einem Blumenbret zu füttern. Außerdem wurde jeder längere Aufenthalt an den Fenstern vermieden; auch der Graf machte seine vielen Beobachtungen mit dem Fernrohr (selbst Bote und Bötin verfolgte er täglich mit demselben die halbe Stunde Wegs nach Hildburghausen hin, die er vom Schloß aus beherrschte!) hinter den Vorhängen.

Die Gräfin verstand deutsch auch zu lesen und zu schreiben. Ich sah selbst mehrere Hefte der damals in Hildburghausen erschienenen „Deutschen Classiker“, in welchen, wie der Graf später sagte, die Dame sich ihre Lieblingsgedichte bezeichnet hatte. Auch ein Brief[1] von ihr hat sich erhalten, natürlich ein sehr unverfänglicher, eine Geburtstagsgratulation der „Gräfin“ für den „Grafen“, welcher wenigstens leise Andeutungen an die Vergangenheit der Erstern giebt und die Taufnamen Beider, Ludwig und Sophie, verräth.

Die Spazierfahrten nach Rodach hin gehörten vielleicht zu den größten Freuden der Gräfin, wobei wir jedoch nicht verschweigen dürfen, daß sie nicht ein einziges Mal allein, d. h. ohne des Grafen Begleitung, ausgefahren ist. Diese Fahrten verkürzten sich später bis zur Coburg-Hildburghäuser Landesgrenze, weil der Rodacher Chausseegelder-Einnehmer einmal beim Grafen um eine Entschädigung für die immer nur bis kurz vor den Schlagbaum benutzte Chaussee angehalten hatte. Plötzlich wurden die Pferde wieder verkauft, und der Graf miethete einen Grasgarten jenseits eines Baches und ungefähr 30–40 Schritte vom Schloß entfernt. Obwohl dort hohes Buschwerk stand, wurde er doch noch mit einer acht Fuß hohen Breterwand versehen, – und das war nun auf der großen schönen Gotteserde das einzige Fleckchen, wo – doch erzählen wir lieber gleich die Art der Benutzung dieses Bischens freier Natur an einem Tage, so haben wir ein Bild für viele Jahre. Die Schwiegertochter der alten Bötin Schmidt, von der ich am Schluß dieses Artikels spreche, erzählte mir Das so oft, daß es mir wie zu etwas Selbsterlebtem wurde. Um so mehr freute ich mich, als ich später mit den Angaben des obengenannten Berichterstatters bekannt wurde, jene mündlichen Mittheilungen hier so genau wiederzufinden. Darnach begab sich also „an jedem Morgen, in der schönen Jahreszeit, doch nie früher, als die Bötin aus der Stadt in’s Schloß gekommen war, der Graf in den Garten; hier ging er eine Stunde lang auf und ab und kehrte dann in’s Schloß zurück. Darauf trat die Bötin aus der Thür des Schlosses und wartete, dieser den Rücken zugekehrt. Die Thür wurde von innen aufgeschlossen, die Gräfin, tief verschleiert, trat heraus, und die Bötin, ohne sich nach ihr umsehen zu dürfen, schritt ihr voraus, über den Steg hinüber an die Gartenthür, schloß diese auf und stellte sich hinter die Thür, die sie aufzog. Sobald sie merkte, daß die Gräfin hinter ihr in den Garten geschlüpft war, zog sie die Thür wieder zu, verschloß sie und hielt Wache davor. Der Graf beobachtete vom Fenster aus (und man behauptete später, daß er dabei Schußwaffen bereit gehabt, mit denen er allerdings versehen war) die im Garten auf- und abgehende Dame. Wenn diese in’s Schloß zurückkehren wollte, warf sie ihr Taschentuch in die Höhe, und nun wurde, auf einen Wink vom Schlosse aus, die Gräfin in derselben vorsichtigen Weise in’s Schloß zurückgeführt.“ So hat die Schmidtin dieses Führer-Amt viele Jahre besorgt, ohne je zu sehen, wen sie führte! –

Nur drei Menschen haben, außer dem Grafen, einmal die Stimme der Dame gehört. Die Köchin, die, bei einer plötzlichen Krankheit des Grafen schon einmal Nachts durch die Klingel gerufen, zu ihrem Schrecken damals zum ersten Mal die Gräfin gesehen hatte, die an des Kranken Lager weinte, erlebte dies zum zweiten Male im Winter von 1829 auf 1830. Die Gräfin stand abermals, bitterlich weinend, im Zimmer und rief ihr entgegen: „Der Herr ist plötzlich erkrankt, helfen Sie mir ihm einen Trank bereiten!“

Der andere Mensch war ein Eishäuser Bauer, der einmal hörte, wie die Gräfin von einem Fenster des Schlosses aus Katzen lockte und zwar mit dem Rufe „Puß! Puß!“

Der dritte war ein Sohn des Boten Schmidt. Der Graf hatte bei Hildburghausen (in der Nähe des jetzigen Bahnhofs) ein Haus und einen Garten gekauft, den er vergrößern und ebenfalls mit einer hohen Breterwand umgeben ließ. Dahin fuhr er bisweilen mit der Gräfin, und das sei, erzählte der junge Schmidt, auch einmal im Jahre 1832 geschehen. Er habe soeben im Garten gearbeitet, was die Herrschaften wahrscheinlich nicht gewußt hätten. Da sei aus einem der Gänge plötzlich die Gräfin herausgetreten, habe ihn erblickt und sei, wie es schien, anfangs erschrocken, bald aber mit hastigen Schritten auf ihn zugeeilt und habe fast athemlos gesagt: „Lieber Schmidt, ich möchte Sie gern sprechen, ich – –“ In dem Augenblick aber sei der Graf aus dem Gange getreten, wie wüthend herbeigerannt und habe die Gräfin am Arm fortgeführt. Später soll die Dame noch einmal den Versuch gemacht haben, sich diesem Schmidt zu nähern, worauf ihm für immer der Garten verboten wurde.

Armes Weib! Auch nicht das vergänglichste Zeichen von Liebe und Theilnahme durfte ihm zu Theil werden. Die Frau Pfarrerin hatte es, kurz nach ihrem Anzuge in Eishausen, eines Tages gewagt, im Pfarrgarten einen schönen Strauß zu pflücken und ihn durch ihr Dienstmädchen „für die gnädige Frau Gräfin“ in’s Schloß bringen zu lassen. Das Dienstmädchen meinte freilich, der Graf müsse sich sehr gefreut haben, denn „er sei wie närrisch in der Stube herumgesprungen.“ Die Aufklärung kam bald genug: die freundliche Gabe hatte seinen äußersten Zorn erregt. Man wußte nun, daß für Niemand eine Dame im Schloß existire: sie war aus den Reihen der Lebenden gestrichen, und der Graf war nur der Wächter ihres Athems.

Trotz all dieser Vorsichtsmaßregeln schwebte das Geheimniß mehrmals in der Gefahr der Enthüllung. So gestand der Graf später selbst, daß während der Truppendurchzüge von 1814 und 1815 im Pfarrhaus ein russischer Officier gelegen habe, der sein Geheimniß gekannt und, wenn er ihn gesehen hätte, sein Schicksal entschieden haben würde. Nicht geringere Gefahr drohte ihm einige Jahre später durch seinen Kammerdiener. Die Eingeschlossenheit desselben mit der Köchin war nicht ohne Folgen geblieben: sie hatte ihm in wenigen Jahren zwei Kinder geboren. Ward auch dadurch das gräfliche Geheimniß nicht beunruhigt, so schien dagegen den Kammerdiener, der regelmäßig zur Kirche ging, eine schwere Last im Gewissen zu drücken; er bat den Pfarrer mehrmals, heimlich bei ihm beichten und das heilige Abendmahl nehmen zu dürfen. Der Pfarrer versagte ihm diesen Wunsch, weil ihm die Verheimlichung der Beichte bedenklich war. Und als der Kammerdiener auf dem Sterbebette lag und in großer Unruhe nach dem Geistlichen verlangte, widersetzte sich der Graf diesem Verlangen. Ohne Arzt und ohne Pfarrer, nur von einer gewissen sogenannten „Teichgreth“ gepflegt, starb der arme Mann, den nun der Graf dem Pfarrer als einen „Philipp“ Scharre, 60–66 Jahre alt und aus der Schweiz gebürtig bezeichnete. An diese Adresse sollen dann noch zwanzig Jahre lang Briefe in’s Schloß gelangt sein! Wohin sind sie gekommen? Offenbar hat die Flamme stark im Dienste dieses Geheimnisses gestanden. – Spurlos vorüber ging der Verdacht, welchen der bekannte Polizeimann Eberhardt auf das Schloß warf, indem er es mit Kaspar Hauser in Verbindung zu bringen suchte; er führte den Findling vor das Schloß und in der Umgegend umher, mußte aber ohne das gewünschte Resultat wieder mit ihm abziehen.

Eine ernstlichere Gefahr führte die Ernestinische Erbtheilung nach dem Aussterben des Fürstenhauses Gotha, 1826, herbei. Das Herzogthum Hildburghausen kam an Meiningen, und die meiningische Regierung drang darauf, daß der Unbekannte sich legitimire. Und weil man wohl an das Gerücht glaubte, daß der Graf sein Geheimniß der Herzogin Charlotte von Hildburghausen entdeckt und damit seine Duldung im Lande gesichert habe, so gab man ihm auch jetzt an die Hand, daß der Herzog von Meiningen bereit sei, [312] die Legitimation persönlich entgegen zu nehmen und sein Geheimniß zu wahren und zu schützen, wenn es zu verantworten sei. Der Graf erklärte jedoch entschieden: „daß seine Papiere bereit lägen, daß er aber, wenn er gezwungen werden sollte, sie vorzulegen, sofort das Land verlassen werde, um in einem anderen Winkel der Welt unbekannt zu leben.“ Da ließ die Regierung ihre Forderung fallen, in edler Rücksicht auf das Hildburghäuser Land, das soeben den Verlust seines Herzogshauses erfahren hatte und durch den Abzug des Grafen in neuen materiellen Verlust gekommen wäre. So war auch diese Gefahr vorüber gegangen. Die Stadt Hildburghausen erfreute in Folge davon den Grafen mit ihrem Ehrenbürgerrecht, und dieser kaufte deshalb jenes Haus mit dem Garten, in welchem die Begegnung der Gräfin und des jungen Schmidt stattfand; später kaufte er noch ein Haus mit Gärtchen im nahen Dörfchen Walrabs und endlich das schöne Gartenhaus mit dem Garten hoch am Stadtberg, der nun das Grab der armen Gräfin birgt.

Der Graf machte mit der Gräfin in diesen neuen Wohnstätten jährlich einige Besuche, und zwar in einem eleganten, aus Frankfurt a. M. angekommenen Wagen und stets mit vier Postpferden von Hildburghausen. Er vermied gern die Stadt und fuhr auf der sogenannten Marienstraße abseits von ihr zu seinen Besitzungen. Auf einer solchen Fahrt begegnete ihm auf einer Stelle, wo der Wagen langsam fahren mußte, ein Mann (Geheimrath B. aus Meiningen), welcher die französische Königsfamilie genau gekannt. Als dieser die Dame erblickte, war er betroffen von der auffallenden Aehnlichkeit ihrer Züge mit der charakteristischen Gesichtsbildung der bourbonischen Familienglieder.

Im Herbste des Jahres 1837 erwähnte der Graf in seinen Briefen an seine Correspondentin, die Wittwe des Pfarrers, die nach dessen Tod nach Hildburghausen gezogen war, zum ersten Male „seine Lebensgefährtin“. Er sprach von der raschen Abnahme ihrer Kräfte und wollte offenbar auf den Todesfall vorbereiten. Wirklich starb die Gräfin am 25. November. Kein Arzt war an ihr Krankenbett getreten, kein Priester hatte ihr Worte ihres Glaubens zugesprochen, kein liebendes Auge ist ihrem letzten Blick begegnet, keine liebende Hand hat ihr das gebrochene Auge zugedrückt. Sie kam zum ersten Male unter Menschen, als sie todt war, ein zahlreiches Geleite Theilnehmender folgte ihr zur neuen Einsamkeit ihrer Grabesstätte.

Bis zu diesem Augenblick stand es noch als allgemeine Annahme fest, daß die Dame vielleicht von höherer Abkunft als der Graf, aber die Gemahlin desselben und darum gezwungen gewesen sei, sein Einsiedlerleben zu theilen, denn viele von den äußersten Vorsichtsmaßregeln zur Verbergung ihrer Person waren damals noch nicht bekannt geworden. Ihr Alter glaubte man nicht höher als zu 45 Jahren annehmen zu dürfen. Wie groß war daher das Erstaunen, als der Graf auf die Anfrage der Geistlichkeit nach den Personalien „seiner verstorbenen Gemahlin“ antwortete: „Die Verstorbene war nicht meine Gemahlin; ich habe sie nie dafür ausgegeben!“ Seine Mittheilung über sie bestand in den Worten: „Sophie Botta, ledig, bürgerlichen Standes, aus Westphalen, 58 Jahre alt.“

Diesmal glaubte das Gericht, den Schleier des Geheimnisses nicht länger schonen zu dürfen Man schritt zur Versiegelung des Nachlasses der Verstorbenen. Die seit 30 Jahren jedem Auge verborgenen Gemächer thaten sich auf. Man fand indeß in den Zimmern der „Gräfin“ außer einer reichen Garderobe und vielen in allen Winkeln herumliegenden Beutelchen mit Goldstücken gar nichts, was Aufschlüsse über ihre Person hätte geben können; letztere verweigerte der Graf aber so entschieden, daß er erklärte: „keine Gewalt der Erde werde diese ihm entreißen.“ Und so schloß denn abermals die Verhandlung mit dem Siege des Geheimnisses: „der Graf hinterlegte den Schätzungswerth des Nachlasses der Verstorbenen im Betrag von 1470 Gulden, und diese Summe wurde bis auf Weiteres, d. h. bis zum Tode des Grafen, gerichtlich deponirt.“ Der nunmehr siebzigjährige Greis sollte für den Rest seiner Tage in Friede bleiben. Allgemein sprach sich auch noch in dieser Zeit die öffentliche Theilnahme für den Mann aus, von dem man nur Gutes kannte und hinter dessen Geheimniß Niemand ein Verbrechen sah.

Wie kräftig auch der Geist sich gegen den Andrang des Alters wehrte, der Körper gab nach, und das Gefühl der Vereinsamung drückte schwerer auf den alten Herrn. Wichtig aus dieser Zeit ist eine Unterredung des Grafen mit dem auch als Schriftsteller bekannten Obermedicinalrath Hohnbaum, auf das wir noch zurückkommen werden. Der uns für diesmal zugewiesene Raum heißt uns zum Ende eilen. Der Graf starb im Jahre 1845 und wurde in Eishausen neben seinen Freund, den Pfarrer, begraben. Aber die Enthüllung seines Geheimnisses ward selbst nach seinem Tode und aus den mancherlei Papieren seines Nachlasses nicht gefunden, und auch die gerichtlichen Ermittelungen, welche in dem Grafen Vavel de Versay einen Leonardus Cornelius van der Valck erkannten, haben zu keiner vollständigen Aufklärung geführt, obwohl einem „Verwandten dieses van der Valck“, welcher sich in Folge der gerichtlichen Edictalladung als solcher legitimirte, der Nachlaß des Grafen von 15,000 Gulden rhn. ausgehändigt worden ist.

Die Quelle der Einnahme des Grafen ist damit nicht ermittelt und ebensowenig erklärt, wer das unglückliche Weib gewesen, für dessen Verbergen vor der Welt wohl eine halbe Million Gulden aufgewendet worden ist. Und der Graf selbst starb nicht mit leichtem Gewissen. Er hatte in den letzten Jahren den einen Sohn seines alten Boten Schmidt und dessen Gattin mit ihren zwei Kindern in’s Schloß zu seiner Pflege berufen. Diese Frau ist noch Besitzerin des Berggartens, in welchem das Grab der Gräfin ist, und in ihrem großen Berggartenhaus wohnte ich mehrere Jahre. Sie war die Pflegerin des alten Grafen in der letzten Krankheit, mit ihr sprach ich viel und oft über die arme Gräfin, deren Grab nur wenige Schritte von meiner Schlafkammer entfernt war, sie zeigte mir mancherlei Spielzeug derselben, und sie war es auch, die mir den letzten schweren Kampf des Grafen mit seinem Gewissen schilderte, wie oft er die Boten zum Gericht und zum Geistlichen abgehen und wieder zurückrufen ließ, wie er immer für sich und in fremden Sprachen redete und immer tiefer aufseufzte, bis ihm endlich die Kraft zum Entschluß gebrach und er sein Geheimniß mit in die Gruft nehmen mußte.

Diese Umstände und die vielen neuen Andeutungen, namentlich über den früheren Aufenthalt des Grafen mit der verschleierten Dame und demselben schweigsamen Kammerdiener in Ingelfingen, von wo das Schicksal des Herzogs von Enghien sie vertrieben zu haben schien, ferner Winke aus französischen Blättern, Hypothesen geistreicher Männer, die nach des Grafen Tod in der Presse laut wurden, sind wichtig genug, um uns nicht von diesem Gegenstand hier für immer scheiden zu lassen. Vielleicht gelingt es der „Gartenlaube“, bis zu Personen vorzudringen, welche weitere Aufschlüsse über dieses unheimliche Geheimniß nunmehr geben können. Für alle Fälle verspreche ich, in einem nachträglichen Artikel alles bis jetzt Ermittelte treulich zu berichten.




Die deutschen Juden in London.
Der Berliner – Der Frankfurter – Der „eigentliche“ Jude.

Unter der ausländischen Bevölkerung Londons, zu der wohl alle Nationen der Welt ihre Contingente geliefert haben und die in runder Zahl auf 150,000 veranschlagt wird, dürfte es kaum eine interessantere, charakteristischer in sich abgeschlossene Individualität geben, als die des deutschen Juden. Die Classe ist sehr zahlreich, da alle nicht portugiesischen Juden, namentlich die holländischen und polnischen, dazu gerechnet werden und sich selbst dazu rechnen. Gleichwohl ordnen sich alle diese verschiedenartigen Elemente einem weiten, leicht zu definirenden und in seinen charakteristischen Zügen unverkennbaren Gattungsbegriff unter, der sich eine Lorgnette in das Auge klemmen und im modischen Frack auf der Straße herumlaufen oder in Kaftan und Synagogenbart hinter der Trödelbude stehen mag, aber in allen Lagen, in allen Trachten und in allen Sprachen seine bezeichnenden Eigenschaften bewahrt. Der Begriff ist weit und deckt daher die mannigfaltigsten Abstufungen von Respectabilität, Laster und Verbrechen, aber im Ganzen muß man gestehen, daß der deutsche Jude in London nicht zu der am wenigsten beachteten Classe der Fremdenbevölkerung gehört. Der ihm [313] innewohnende Trieb der Thätigkeit hebt ihn über manchen Abgrund hinweg, in welchem andere Ausländer versinken. Es mag ihm oft und lange schlecht gehen, er mag die plötzlichsten und härtesten Schicksalsschläge zu erdulden haben, heute in Reichthum schwelgen und morgen in Armuth darben: er wird nie ganz niedergeworfen, die halsbrechendsten Sprünge von Ueberfluß zu Mangel executirt er mit der größten Leichtigkeit, die Noth und er sind alte Bekannte, die sich vor einander nicht fürchten, er versteht gute Miene zum bösen Spiele zu machen und nimmt mit derselben Rührigkeit die Bandschachtel unter den Arm, mit der er noch vor Kurzem die Börsencourse studirte und alle Zonen in den Bereich seiner Speculationen zu ziehen suchte. Er weiß, daß Gott einen ehrlichen Deutschen nicht verläßt, zumal wenn dieser Deutsche Jude ist und es mit der Ehrlichkeit ebenso genau nimmt, als manche Christenseele, die in der schwülen Atmosphäre des Londoner Geschäftslebens treibt, blüht und wuchert. Er kommt immer wieder oben auf, weil er nie den Glauben an seine Thätigkeit verliert. Der deutsche Jude in London arbeitet zwar selten, aber er ist nie müßig, er sucht und findet immer Beschäftigung, er handelt, schachert, photographirt, ist Künstler und Lohndiener, Gelehrter und Stiefelwichser, Krämer und Großhändler, Banquier und Kommissionär, Diebshäscher und Schwindler, aber etwas ist und muß er sein, an der absoluten Faulheit, der so viele andere Ausländer hier obliegen, geht er nicht zu Grunde. Selbst wenn er liederlich wird, wozu er große Anlage besitzt, so betreibt er die Liederlichkeit geschäftsmäßig und regt seine physischen und moralischen Kräfte auf, ohne sie zwecklos zu vergeuden.

Diese allgemeine Charakteristik könnten wir sehr leicht noch weiter ausdehnen; aber wir würden dadurch unserem Ziele, dem Leser ein lebenswahres Bild von der Gattung und Species des „deutschen Juden in London“ zu zeichnen, um kein Haar breit näher kommen. Im gewöhnlichen Leben pflegt man hier den deutschen Juden in drei Theile zu zerlegen: 1) den Berliner, 2) den Frankfurter und 3) den eigentlichen Juden, womit jedoch nicht gesagt sein soll, daß jene uneigentlich seien. Im Gegentheil, sie sind eigentlich genug, haben jedoch den Gattungscharakter zu einer bestimmten Specitalität ausgebildet, die oberflächlich mit „Berlinisch“ oder „Frankfurtisch“ bezeichnet werden kann. Ueberhaupt macht diese Eintheilung auf wissenschaftliche Gründlichkeit keine Ansprüche, aber für die praktische Orientirung genügt sie. Der „Berliner Jude“ kommt selten zu etwas in London; er ist zu sehr an das Berliner Zehnsilbergroschen-Börsenspiel gewöhnt, und das zieht hier nicht. Die Londoner Börse ist eine sehr ernsthafte Institution, die sich durch wuchtige Privilegien gegen die Zwickauerei verschließt und nur demjenigen ihre Thore öffnet, welcher Tausende von wohlerworbenen oder wenigstens wohlgezählten Pfunden einzusetzen vermag. Das Börsenspiel, wie es in Paris und in verkleinertem Maßstabe in Berlin betrieben wird, hat hier überhaupt keine Chancen und ist nur dann erfolgreich, wenn es großartigere Dimensionen annehmen kann. Dasselbe gilt vom Schwindel, Der kleine Schwindel, der meist von Ausländern betrieben wird, wirft gewöhnlich nicht viel ab und ist von kurzer Dauer. Um Erfolg zu haben, muß sich der Schwindler erst durch jahrelange ehrliche Geschäftsführung Respectabilität und Capital erworben haben. In England muß gearbeitet werden, selbst der professionirte Dieb hat Vorstudien, Plan, Capital und Energie nöthig, um sein Geschäft mit Erfolg zu betreiben.

Alles das geht über den Geschmack und die Fähigkeit derjenigen Juden, die man hier unter dem Namen „Berliner“ zusammenfaßt. Der Berliner Jude ist zu fanatischer Preuße und zu eingefleischter Berliner, um aus Abenteuerlust und Geschäftstrieb in die Welt zu gehen; daher ist seine Uebersiedelung nach London gewöhnlich unfreiwilliger Natur. Am liebsten pflegt er politischer Märtyrer zu sein. Reactionäre Gläubiger haben ihn vor den Bankerottgerichtshof gebracht, polizeiliche Werkzeuge einer despotischen Regierungsform haben seine Art der Wechselausstellung beanstandet, um die Volksfreiheit ihres wackersten Kämpen zu berauben u. f. w. Außerdem spricht er immer von Berlin, macht Erfindungen, später Gedichte, die er zu declamatorischen Abendunterhaltungen benutzt, geräth tiefer und tiefer in den Schmutz von Leicester-Square, bis endlich seine Schuhe darin stecken bleiben. Sein röthlicher Bart wird nicht mehr schwarz gefärbt, Demokratie, Gedichte, Erfindungen und Philosophie laufen bettelnd auf der Straße herum und suchen jeden Menschen in Contribution zu setzen, der ein ausländisches Gesicht trägt und wo möglich Berlinisch versteht. Der „Berliner Jude“ bildet eine Ausnahme von allen seinen Glaubensgenossen, er lernt nie seine eigene, geschweige denn eine fremde Sprache, ist durchaus unpraktisch, voll Selbstüberschätzung und passiver Selbstgefälligkeit, er speculirt, aber er arbeitet nicht und reibt sich mit seinen Berliner Mucken und Grillen so lange an den scharfen Ecken und Kanten des englischen Lebens wund, bis ihm nichts Anderes übrig bleibt, als religiös zu werden. Bekanntlich giebt es hier religiöse Gesellschaften, welche einen bestimmten Marktpreis für jede bekehrte Judenseele zahlen; ihnen fällt er gewöhnlich in die Hände, läßt sich zum Christen machen und unter die Judenmissionäre anwerben. Er trägt jetzt wieder ganze Schuhe, hält Vorträge über die Rechtfertigung durch den Glauben in den Vereinen „christlicher Arbeiter“, schreibt auch Tractate über seine „persönlichen Erfahrungen in Christo“, giebt seinem Haar einen gottseligen Scheitel in der Mitte, geht glatt rasirt und bekundet seine Wiedergeburt vor aller Welt, indem er nur noch Schinken und Bratwürste ißt. Aber lange dauert das auch nicht. Er wird des Christentums und die Engländer werden des Zahlens müde; und bald sieht man ihn wieder in Leicester-Square und in dem alten Aufzuge, ein trauriges Bild verkommener Großthuerei. Ihm ist nicht zu helfen, die passive Berliner Kritik, die von jeher seine Arme lähmte, fährt ihm schließlich in die Beine, er kann nicht mehr fort und sinkt an den Stufen eines Hospitals nieder, das ihn aufnimmt, sterben und von seinen medicinischen Prakticanten seciren läßt.

In diesem Schicksale, das unter der Klasse von Ausländern, die man hier der Kürze halber als „Berliner Juden“ bezeichnet, leider zu gemein ist, liegt nun freilich durchaus nichts Jüdisches. Wenn er mehr Jude und weniger Berliner wäre, so würde es ihm in London viel besser ergehen. Er würde dann arbeiten können und sich nicht bis zum Hospital durchzubetteln brauchen, er würde sich zu fügen und zu schicken wissen, er würde den rauhen Stößen des englischen Lebens geschickt auszuweichen verstehen, anstatt sich von ihnen zerschlagen zu lassen, er würde einen guten Puff vertragen können, wie seine anspruchsloseren Glaubensgenossen, die in den polnischen Landstädtchen oder im Verkehr mit süddeutscher Intelligenz dieses gelernt haben, er würde vor die Füße und in die Zukunft sehen, anstatt für die Berliner Oper zu schwärmen und in sentimentaler Erinnerung an die verschwundenen Genüsse des Kroll’schen Etablissements dahin zu leben, er würde keine Gedichte machen und keine Abhandlungen über hohe Politik schreiben, sondern beobachten und lernen, daß das Preußenthum, über das er nicht hinauszublicken vermag, in seiner jetzigen Gestalt außerordentlich klein ist und mit der hohen Politik ebenso wenig zu schaffen hat, wie Zwickauer mit den riesenhaften Proportionen des englischen Geldmarktes. Wollen wir nun noch eine Moral daraus ziehen, so ist es die, daß sich der auswandernde Berliner vor zwei ererbten Vorurtheilen zu hüten hat, die mehr als alles Andere dazu beitragen, um den „Berliner Juden“ in England erfolglos zu machen. Diese sind 1) die durchaus ungegründete, aber zur süßen Gewohnheitsphrase gewordene Ansicht, daß das Berlinerthum witzig sei und daher jeder Berliner das angeborene Talent und Privilegium des Witzes besitze. Das Berlinerthum ist nicht witzig. Der Eckensteherwitz wurde von Glaßbrenner erfunden, der kein Berliner ist, und die Gelehrten des Kladderadatsch sind unseres Wissens zum größten Theile nach Berlin übergesiedelte Schlesier. Die Witzelei, zu der sich jeder specifische Berliner gedrungen fühlt, ist einfach unausstehlich und bedarf einer starken Portion Unverschämtheit, um nur einige Würze zu haben, sie gewinnt nicht, sondern sie entfremdet und ist die schlechteste Empfehlung, mit der ein Mensch in ein neues Leben eintreten kann. Ebenso verkehrt ist 2) die Annahme, daß Niemand, der den Accusativ von dem Dativ zu unterscheiden und die Präpositionen richtig zu construiren vermöge, sich an Genialität und Geistestiefe mit demjenigen messen könne, der in glücklicher Unkenntniß über solche grammatische Pedanterien schwebt. Es heißt zwar, daß nur die Lumpe bescheiden seien; aber es ist auf der andern Seite ebenso wahr, daß ein großer Theil von Bescheidenheit dazu gehört, um den Menschen vor der Verlumpung zu bewahren. Der Berliner Jude besitzt diese Bescheidenheit nicht. Daher ist es eine durchaus nicht auffallende Thatsache, daß sich fast keine der vielen jüdischen Firmen der City, die es zu Wohlhabenheit und Ansehen gebracht haben, auf einen Berliner Ursprung zurückführen läßt, während die Vertreter der beiden andern Classen des „deutschen Juden in London“ ein sehr gewichtiges Wort in [314] der City von London, d. h. auf dem Weltmarkte, mitzusprechen haben.

Mit viel größerem Geschick und lohnenderem Erfolge pflegt sich der „Frankfurter Jude“, der seinen Namen für alle süddeutschen, österreichischen und ungarischen Glaubensgenossen hergeben muß, hier zu acclimatisiren. Er besitzt ein erstaunliches Sprachtalent, sowie er denn überhaupt weniger Individualität, als Gattungsbegriff ist und sich fremden Sitten und Vorurtheilen mit wunderbarer Leichtigkeit anbequemt. In Paris spricht er von allen Ausländern das beste Französisch und in London das beste Englisch, obgleich dieses dem süddeutschen Organ viel größere Schwierigkeiten entgegensetzt, als dem norddeutschen. Das charakteristische seiner Erscheinung liegt zwischen Banquier und Lotteriecollecteur. Hieraus entspringt eine gewisse Zweitheiligkeit des Bewußtseins, die jedoch der Einheit seines geschäftlichen Strebens keinen Abbruch thut. In beiden Eigenschaften verwendet er ängstliche Sorge auf seinen Anzug und besitzt eine consistente Vorliebe für dicke Uhrketten und Siegelringe, selbst wenn dieselben auch nur aus sorglich gebürstetem Messing bestehen sollten. Je nachdem das Lotteriecollectoren- oder Banquierbewußtsein bei ihm vorwaltet, ist er zuvorkommend höflich oder würdevoll herablassend, aber er ist nie zudringlich oder anmaßend, gleichviel, ob er von Dir einen Schilling zu verdienen beabsichtigt, oder ob er Dir eine Prise aus seiner mehr in den Händen als in der Tasche getragenen silbernen Tabaksdose offerirt. Er spricht immer von Geschäften, aber er bettelt nie. Im Gefühle seiner Lotteriecollectorennatur lebt er von „seines Nichts durchbohrendem Gefühle“ und erklärt sich mit bescheidener Resignation zu jedem Geschäfte bereit, das nur die entfernteste Beziehung mit Courstabellen, Preiscouranten und dem Bureaustyle hat. Wenn dagegen das Bewußtsein seines Banquierberufs in ihm vorwaltet, so pflegt er seine Unterhaltung mit hoher Politik zu würzen und die Chancen der verschiedenen großen und kleinen Mächte auf Procent zu berechnen; aber auch in dieser Rolle treibt er das Gefühl seiner Bedeutung nie bis zur Anmaßung, sondern begnügt sich damit, vor seinen Namen ein „von“ zu setzen und das etwas indiscrete „er“ am Schlusse verschwinden zu lassen, sodaß aus „Northeimer“ ein Herr von Northeim, aus „Erlanger“ ein Herr von Erlangen, aus „Buchheimer“ ein Herr von Buchheim wird.

Wenn der „Frankfurter Jude“ aus Wien oder Preßburg gebürtig ist, so wird diese Namensverzierung auch schon im Lotteriecollcetorenstadium vorgenommen. Seine Laufbahn in London beginnt er regelmäßig mit der Gründung eines Commissions- und Speditionsgeschäfts. Der verhängnißvolle Wendepunkt für ihn ist der Augenblick, wo der erste Brief ohne Lotterieloose und Ziehungstabellen in seinem verwaisten und unbezahlten „Office“ ankommt. Wenn sich derselbe auf irgend eine seiner vielseitigen Annoncen in der deutschen Presse bezieht und eine entfernte Hinweisung auf Spedition und Commission verräth, so wird Itzig u. Comp. eine großbritannische Wirklichkeit, rasirt sich den bisher noch rund getragenen Bart in der Mitte durch, stülpt sich die Vatermörder steif in die Luft und behauptet, kein Deutsch zu verstehen, wenn er auf der Straße von einem unbekannten Landsmann um den Weg gefragt wird. Läßt er sich in diesem entscheidenden Momente nicht vom Banquierbewußtsein übermannen und nicht verleiten, mit auf das Schicksal ausgestellten Wechseln das Reichwerden forciren zu wollen, als Smith u. Comp. ein zweites Bureau zu belegen und für die Solidität und Zahlungsfähigkeit dieses neuen Importgeschäftes die Reference des achtbaren und geachteten Hauses Itzig u. Comp. anzugeben, oder sich gar als Actiengesellschaft „zum Schutze continentaler Geschäftsleute“ zur Empfangnahme aller Art von Waaren, zu Vorschüssen auf selbige und zur Verabfolgung derselben an die Besteller, im Falle diese sich nach den schärfsten Erkundigungen als solid erweisen sollten, bereit zu erklären, – läßt er sich noch einige Zeit mit dem Lotteriecollectorenbewußtsein genügen, so braucht uns für ihn nicht bange zu sein. Er geht mit langsamen, aber sicheren Schritten dem Ziel seiner Wünsche entgegen, und wenn er auf seiner Reise auch gelegentlich im Schuldgefängniß von White Croß einsprechen sollte, den Criminalgerichtshof hält er sich zehn Schritt vom Leibe und bezieht schließlich einen Landsitz in Camberwell oder Brixton als Baron Rosenheim, Chef der Firma Rosenheim u. Sohn, Bankconto in der Bank of England, Cheques zahlbar bei Lloyd.

Wenn man jedoch den jüdischen Charakter von seiner besten Seite kennen lernen will, so muß man den „eigentlichen Juden“ in London beobachten. Er heißt der „eigentliche“, weil er nichts Anderes ist und sein will als Jude, und aus keinem andern Grunde nach England kommt, als um Geld zu verdienen. Dieser Entschluß steht bei ihm fest. Der einzige Plan, den er verfolgt, um zu diesem Zwecke zu gelangen, besteht in dem festen Willen, jede Gelegenheit und jeden Vortheil zu benutzen, der sich ihm darbietet. Die Vielseitigkeit und Energie des jüdischen Charakters, die rastlose Thätigkeit, Genügsamkeit, Ausdauer und Berechnung, die sich in jahrhundertelangen Verfolgungen bewährt und gestählt hat, sind das einzige Capital, mit dem er sich aus seiner polnischen, schlesischen oder mitteldeutschen Heimath entfernt, um sein Glück im reichen London zu versuchen. Er weiß sehr wohl, daß hier die Goldstücke nicht auf der Straße herumliegen, daß er als „eigentlicher Jude“ hier noch größere Vorurtheile zu überwinden hat, als daheim, daß es ihm viel Arbeit, Hunger und Elend, viel Demüthigung und Unterwerfung kosten wird, ehe er sich allmählich aus seinem Kaftan oder abgetragenen Familienrock zu wohlgekleideter Respectabilität und geschäftlicher Würde entwickelt. Aber eben weil er dieses weiß, ist er zu Allem entschlossen. Er unternimmt Alles, was er kann, und kann Alles, was er unternimmt. Er verliert oft die Früchte seiner jahrelangen Thätigkeit, aber nie seinen Muth. Gelingt es ihm, den Verlockungen der jüdischen Verbrechercolonie, die sich in den düsteren Höfen von Whitechapel angesiedelt hat und ihre Börse in Petticoat Lane besitzt, zu widerstehen, so macht er seinen Weg, und es ist ein Vergnügen, ihm auf diesem Wege mit all seinen Krümmungen und Haltpunkten zu folgen.

Wir bewohnen ein bescheidenes Haus in einer stillen Vorstadtstraße weit weg von dem Lärme des weltstädtischen Verkehrs. Die Straße ist eben der Natur abgerungen worden. Auf beiden Seiten uniforme, en gros gebaute Häuserreihen, nett, reinlich, hell und offen. Jedes der Häuschen hat sechs blank gescheuerte Stufen vor der Thür und einen kleinen, mit Immergrünsträuchen und Rosen besetzten Garten als cokettes Schürzchen vorgebunden. Nur an einem Punkte ist die Monotonie dieser zusammenhängenden langen Häuserreihe durch einen offenen Garten mit einer hinter Bäumen versteckten Villa unterbrochen. Diese Villa war lange unbewohnt und bot mit ihren verstaubten und zerschlagenen Fenstern und zerfallenden Dachgiebeln einen trostlos öden Anblick dar. Plötzlich wurde es in dem uns gerade gegenüber liegenden Hause lebendig, Arbeitsleute waren Tag und Nacht beschäftigt, um der todten Villa wohnliches Leben und dem mit Gras überwucherten Garten zierliche Ordnung zu geben. Die Vorbereitungen wurden in solcher Ausdehnung und Schnelligkeit getroffen, daß sie das Tagesgespräch der Nachbarschaft bildeten. Dann kamen die Möbelwagen, einer nach dem andern, und entuden ihre Schätze. In den umliegenden Häusern drängte sich die weibliche Neugier an den Fenstern. Mein eignes Weib konnte ihre Augen von den kostbaren Möbeln nicht abwenden und brach unwillkürlich in die Worte aus: „Wie glücklich müssen diese Leute sein!“ Dabei warf sie einen melancholischen Blick auf unser eigenes Meublement und seufzte so recht aus tiefstem Herzen. Weiber sind nun ein mal so. Sie mißgönnen einem Nachbar seinen kostbaren Spiegel und geben ihr letztes Geschmeide hin, um einem anderen Nachbarn aus der Noth zu helfen. Wer der Crösus eigentlich sei, der die Villa so reizend hergerichtet und so glänzend ausgestattet hatte, wußte Niemand zu sagen.

Endlich kam der geheimnißvolle Eigenthümer selbst in einem eleganten Brougham angefahren, – ein junger Mann mit verführerisch schwarzem Barte, sehr sorglich gekleidet, voll Bonhomie und vornehmer Gewandtheit. Während er so aus dem Wagen sprang, den Zügel einem kleinen Jockey zuwarf und seiner etwas zu auffallend gekleideten, aber reizenden Gattin aussteigen half, konnte Jeder auf den ersten Blick sehen, daß er zum vornehmen Leben geboren war, „ein Gentleman von Geburt und Erziehung“, wie die Phrase in England lautet. Uns selbst jedoch war die Erscheinung des jungen Mannes noch viel interessanter, als der befriedigten Nachbarschaft, denn er war ein alter Bekannter, ein gelungenes Specimen des „eigentlichen Juden“. Vor nun etwa 12 Jahren sprach uns ein zerlumpter, vor Kälte zitternder Judenknabe auf der Straße an und bat uns, einige Bücher, die wir unter dem Arm hatten, von ihm tragen zu lassen, da er sehr hungrig sei und noch nicht wisse, wie er einen Pfennig verdienen solle. Er war vor einigen Wochen mit seinem Vater aus Posen hier angekommen, dieser jedoch im Laufe dieser Zeit an den Pocken gestorben. Wir gaben ihm einige Kupferpence. Später verkaufte uns derselbe Knabe Seife [315] und Eau de Cologne auf der Straße. Einige Jahre später trafen wir ihn zufällig als Professor der deutschen und französischen Sprache und aller möglichen Wissenschaften in einem Pensionat, – noch ein paar Jahre später als Schiffsagenten in den London-Docks – noch ein paar Jahre später als Dandy in der italienischen Oper, wo er uns erzählte, daß er Unglück mit seiner Schiffsagentur gehabt und einige Monate im Schuldgefängniß gesessen habe, jetzt jedoch Cassirer in einem großen Handelshause und wohlauf sei. Der zerlumpte Knabe, Straßenverkäufer, Professor, Agent, Cassirer und beneidete Besitzer der reizenden Villa uns gegenüber sind ein und dieselbe Person. Vom Cassirer wurde er Schwiegersohn und Associé des hebräischen Handelsherrn und ist jetzt ein reicher und glücklicher Mann. Trotzdem versäumt er nie, die Synagoge zu besuchen und in seinem rührigen und bescheidenen Auftreten zu bekunden, daß er sich noch immer im Zusammenhange fühlt mit dem „deutschen Juden in London“.





Friedrich Rückert zum 16. Mai.



Mich zieht ein Blick, ein trauter,
Den ich im Geiste schau’,
Zum Garten an der Lauter
In meiner Heimathau.

5
Da ward zu allen Stunden

Mir Geist und Herz beglückt:
Da sei ein Kranz gewunden,
Da sei ein Haupt geschmückt!

Nur nieder will ich legen

10
Den Kranz am Blumenzaun,

Auf den verschlung’nen Wegen
Mich um im Garten schau’n,
Zum Fenster will ich schleichen,
Nur einen Blick hinein,

15
Das soll mein einzig Eigen

Vom Dichterfeste sein.

Doch zu der stillen Feier
Drängt sich ein Jubelklang
Für Deiner ehrnen Leier

20
Geharnischten Gesang:

Die Zeiten kommen wieder,
Wo einst auf wilder Spur
Das Klirren Deiner Lieder
In alle Herzen fuhr.

25
So sei es Dir zum Lohne

Verliehn für jene Zeit,
Der Du die Blüthenkrone
Der Jugendkraft geweiht,
Daß es Dein letztes Dichten,

30
Dein letztes Singen sei:

„Es kam der Herr, zu richten,
Und siehe, wir sind frei!“

Friedrich Hofmann



Süddeutsche Ausflüge.
Nr. 1. Am Königsee.


In Duft verklärt die ew’gen Berge stehen,
Im gold’nen Sonnenschein,
Und ihre ernsten Riesenhäupter sehen
Tief in den See hinein.

O wär’ mein Herz, von manchem Sturm ermüdet,
Der Woge Bild!
So unerschöpflich, doch so still umfriedet,
So ruhig, klar und mild!

M. Quednow.

Im südöstlichen Winkel der Provinz Oberbaiern streckt sich eine Gruppe gewaltiger Bergriesen weit in’s Salzburgische hinein. Sie überragen stolz die umliegenden Höhen und schauen trotzig in’s Nachbarland hinüber; es sind gar wetterfeste und unbezwingbare Recken, die dort die Grenze bewachen. An jenes Hochgebirg schmiegt sich ein reizendes, in seiner Art wohl einziges Ländchen, die ehemals gefürstete Propstei Berchtesgaden mit der Ramsau, welches Gebiet auf einem verhältnißmäßig kleinen Raume die großartigsten Partien deutscher Alpen in sich schließt. Himmelhohe Berge mit beeisten Häuptern, wildzerrissene Klüfte und schauerliche Felsöden, saftiggrüne Auen und dunkle Nadelwälder, smaragdne Seen und donnernde Wasserfälle, liebliche Thäler und freundliche Gehöfte sind hier in theils imposanter, theils anmuthiger Abwechselung vereinigt. Den Glanzpunkt dieser romantischen Gegend bildet unstreitig der Königsee, dessen tiefklares, grünes Wasserbecken, von 8000 bis 9000 Fuß hohen Felswänden eingeengt, sich über zwei Stunden weit in das mächtige Gebirge hineinzieht.

Es war ein prächtiger Herbstmorgen, als ich eines Tages von Berchtesgaden nach dem Königsee aufbrach. Die säuselnden Lüfte und rauschenden Wasser, die thauigen Wiesen und sonnigen Höhen, das melodische Geläute weidender Heerden und die fröhlichen Jauchzer ihrer Hirten – kurz, Alles was ich sah und hörte, erregte in mir ein selten empfundenes Gefühl von Lebenslust und Wanderdurst. Der tosende Albe entlang führte mich der Pfad bald im Schatten hoher Ahornbäume, bald durch finstern Tannenforst, dann wieder durch freies Feld; zuweilen begegneten mir geschäftige Landleute, die freundlich „Grüß Gott!“ boten; bald war’s ein rothwangiges Maidi, das schüchtern grüßend an mir vorüber eilte, bald ein stämmiger Bursche, der mit der Holzaxt oder mit Büchse und Eisstock nach der Höhe schritt.

Allmählich öffnete sich das Thal, und durch’s lichte Gehölz schimmerte schon von ferne der Spiegel des Sees. Eine Viertelstunde später war ich mit einem Sprunge in’s Boot und mit einem kräftigen Ruderschlage mitten auf den tiefen See hinausgekommen; ein alter Schiffer und sein schmuckes Töchterlein begleiteten mich als Ruderer. Noch einen scheidenden Blick werfen wir auf das traute Fischerdörfchen, das wir eben verlassen, dann umfahren wir rasch den aus dem See steigenden Falkenstein, und jetzt erst zeigt sich uns der Königsee in seiner ganzen Ausdehnung. Rechts erheben sich aus der dunklen Fluth die Vorläufer des Watzmann, dessen Gipfel hier nicht sichtbar sind, links treten die steilen Wände der Gotzenalp an’s Wasser, während im Hintergrunde das schneebedeckte Stuhlgebirg mit der 8400 Fuß hohen Schönfeldspitze thront. Am östlichen Ufer springt muthwillig der Königsbach in weitem Satze über den rothen Felsen herab; daneben gähnt uns ein Felsrachen entgegen, genannt das Kuchler-Loch, durch welches ein Theil des Sees abfließen und jenseits der Berge den Gollinger Wasserfall bilden soll.

Etwas südlicher, ebenfalls am östlichen Gestade, lockt ein kleines grünes Vorland, gleich einer Oase in der Felsenwüste, an’s Ufer; das ist die Wallner-Insel. Dort ließ ich mich an’s Land setzen, um den aus enger Schlucht hervorbrechenden Kesselbachfall zu betrachten und alsdann das Gebirg zu erklimmen. Auf diesseitiger Felswand der Kluft ist eine merkwürdige Inschrift in den Stein gegraben. „Ewiger, dich spricht das Gestein, dich das Brausen der Gewässer, wann wird meine Seele dich schauen?“ Der Urheber dieser schönen Worte dürfte aber weder die Krimlerfälle im Pinzgau, noch den Gießbachfall im Berner Oberlande gesehen haben, sonst wäre er schwerlich durch den Anblick des zwar hübschen, doch an und für sich unbedeutenden Falles des Kesselbachs zu solch poetischer Begeisterung hingerissen worden.

Ohne Zweifel wird mir der freundliche Leser auf meiner Wanderung nach der Gotzenalp gern Gesellschaft leisten, und so wollen wir denn rüstig die Bergtour beginnen. Vom Kesselbachfall führt, an einer verfallenen Klause vorüber, ein ziemlich guter Reitweg in vielfachen Krümmungen zur Alp hinauf; König Max II. von Baiern hat diesen Weg erst vor wenigen Jahren wegen seiner Gemsjagden auf der Regenalm anlegen lassen. Beim Aufwärtssteigen fesselt uns öfters an den offenen Waldstellen ein entzückender Blick auf den unten glitzernden See und auf die drüben schroff

[316] abfallenden Berge. Je höher wir kommen, desto prächtiger wird die Aussicht, doch unbeschreiblich großartig ist das Panorama, das sich vor unsern Augen entrollt, sobald wir die Gotzenalp und zumal den noch ein wenig höher gelegenen Feuerpalfen (4000 Fuß ü. M.) nach dreistündigem Steigen glücklich erreicht haben. Von allen Seiten umstarren uns da die eisgepanzerten und wildzerklüfteten Bergkolosse von acht- bis neuntausend Fuß Höhe. Den Süden beherrscht die Gletscherwelt des steinernen Meeres, aus welchem die übergossene Alm, das Teufelshorn, die Schönfeldspitze und mehr nach vornan die Simetspitze in die Lüfte emporragen; an diese reiht sich im Westen, uns gerade gegenüber, der Watzmann mit seinen ausgezackten Hörnern. In nördlicher Richtung erblicken wir links den Dreisesselkopf und das Thal von Reichenhall, rechts den sagenreichen Untersberg und davor die malerischen Häusergruppen

Der Königssee.

von Berchtesgaden; östlich zwischen dem Untersberg und dem hohen Göll taucht über Hallein hinweg die Gegend von Salzburg mit dem Gaisberg auf. Am Dachstein vorbei zeigen sich weiter im Osten die dunklen Höhen des Hagengebirges, und dahinter, am äußersten Horizonte, verdämmern die Bergkuppen des Tännengebirgs. Tief unten am Fuße der jähen Felswand, auf der wir stehen, schimmert der ruhige, spiegelglatte See, und drüben auf der lieblichen Au prangt das einsame Forsthaus mit dem Wallfahrtskirchlein zu St. Barthelmä.

Welch mächtigen Eindruck übt so eine Bergwelt auf unser Gemüth! Sobald sich das Auge an dem unvergleichlichen Bilde gesättigt hat, überwältigt uns eine ernste, feierliche Stimmung. Wir glauben uns in solch großer, erhabener Natur dem Allmächtigen viel näher gerückt und bewundern mit Ehrfurcht diese kühnen Werke der Schöpfung, die Zeugen der Macht und Herrlichkeit Gottes. Doch fühlen wir uns bald verlassen in dieser schauerlich wilden Umgebung und sehnen uns zurück unter die Menschen und auf die Scholle Erde, an die wir so fest gekettet sind. Und so ging es auch mir, nachdem ich mich da oben eine Weile in stille Betrachtung vertieft hatte; eine unerklärliche Sehnsucht bemächtigte sich meiner und trieb mich wider Willen fort von jener Stelle, fort nach den Sennhütten der Gotzenalp zurück, die mich jetzt ganz anheimelten.

In dem Waser-Kaser, einer der größeren Hütten, hieß mich eine freundliche Sennerin willkommen und bewirthete mich reichlich mit dem Wenigen, was sie hatte, mit Roggenbrod, Butter und Käse. Das Maidi war zudem von recht sauberem Aussehen, und sein Feiertagsgewand – rothes Mieder mit weißem Vorhemd, kurzer, schwarzwollener Rock und grüngestickte Strümpfe – stand ihm ausnehmend gut. Sie hatte sich aber, wie es schien, nur ihrem „Bua“ zulieb so festlich aufgeputzt. Dieser, ein flotter Bursche, war heute zum Besuche aus dem Thale heraufgestiegen, um sich nach seinem „Deandl“[2] umzuschauen und ihm etwas von daheim zu erzählen. Resei[3] klagte dann über das einsame und langweilige Leben, das sie hier oben auf der Alm führe, worauf sie der Toni[4] mit der baldigen Heimkehr tröstete und wieder aufzuheitern versuchte, was ihm auch bald gelang. Mittlerweile ließ ich mir mein frugales Mahl wacker schmecken – denn die Bergluft würzt ungemein den Appetit – und betrachtete mit wahrem Vergnügen die beiden schlichten Naturkinder, welche sich im Uebermuthe der Jugend und der Liebe bald singend, bald scherzend neckten und kosten, und dabei in der armseligen Hütte glücklicher schienen, als manches Fürstenpaar im stolzen Palaste. Schade, daß ich kein Zeichner bin; das hätte eine prächtige Skizze für mein Reisetagebuch gegeben!

Nach einem freundlichen Abschiede von den muntern Leutchen machte ich mich wieder auf den Rückweg und fand, unten am See angelangt, gleich ein Boot, dessen Fährmann mich nach St. Barthelmä hinüber bringen mußte. St. Barthelmä wird das alte, 1732 erbaute Jagdschloß mit der dabei stehenden Wallfahrtskapelle genannt, die sich auf grüner Matte fast an das Gebirge lehnen. [317] Zum Feste des Sanct Bartholomäus (24. August) strömen hier Tausende von Wallfahrern aus den nachbarlichen Bergen herbei, und in der darauffolgenden Nacht leuchten auf allen Höhen jener Gegend lodernde Festfeuer. Der Sage nach stand schon 1134 auf dieser von aller Welt abgeschiedenen Halbinsel eine Kirche, wo manches Wunder vollbracht wurde.

Im Jagdschlößchen wohnt ein alter Förster, bei dem man gutes Bier und die berühmten Saiblinge, eine Art von Lachsforellen, findet. Ein paar hübsche, herzige Mädchen, vermuthlich seine Töchter, besorgen das Hauswesen und bedienen die Gäste, die von solch ungeahnten ländlichen Schönheiten auf’s Angenehmste überrascht werden. Leider konnte ich nur kurze Zeit im behaglichen Försterstübchen weilen, da die anrückende Nacht an baldigen Aufbruch mahnte. Zwei thüringische Maler, die mich als deutschen Landsmann beim schäumenden Glase begrüßt hatten, forderten mich auf, die Rückfahrt nach dem Dörfchen Königsee in ihrer Gesellschaft anzutreten, wozu ich mit Freuden einwilligte. Der Abend war entzückend schön, als unser Boot vom Lande abstieß und fast lautlos über die ruhige Fluth dahinglitt. Vom glühenden Roth der scheidenden Sonne übergossen, spiegelten sich prachtvoll noch einige der höchsten Bergspitzen in dem dunklen See ab, über den sich schon die Dämmerung zu lagern begann. Die beiden Maler schienen jedoch weniger von der magischen Beleuchtung der Landschaft gefesselt zu sein, als vielmehr von unserer Schifferin, einer schmucken Blondine, die mit ihrem Bruder gemeinsam und schweigend das Ruder führte. An der sogenannten „Schallwand“ feuerte der Bursche eine Pistole ab, da rollt ein langhaltendes Echo in starken Schlägen gleich Donner durch das ganze Gebirg, und nach einer Weile, als bereits Alles stille geworden, vernehmen wir aus der hintersten Ecke des Bergkessels noch einmal den Wiederhall des Schusses. Ein zweiter Schuß wird losgebrannt, wieder kracht und dröhnt es dumpf und hohl durch die Berge; ein dritter und letzter Schuß folgt, diesmal von einem freudigen Hurrah unsererseits erwidert. Nun erreichten wir in Kurzem das Ziel unserer Fahrt, den Ort Königsee. Im dortigen Wirthshause trafen wir eine lustige Gesellschaft von Malern aus den fernsten Gauen des weiland deutschen Reichs beisammen, die alle hierher gekommen waren, um die großartigen und imposanten Staffagen der Umgegend zu studiren und sie mit werthvollen Skizzen auszubeuten.

Als ich später dem lärmenden Kreise entschlüpfte, um nochmals an den See hinauszugehen, stand der Vollmond hell und glänzend über den schwarzen, geisterhaften Bergen. Wie ganz anders war jetzt die Physiognomie der Landschaft! Welche Unterschiede zwischen den Eindrücken des heutigen Morgens, wo ich den Königsee zum ersten Male erblickte, und jenen der Abendfahrt, wo ich von ihm Abschied nahm! Und nun die warme, herrliche Nacht, und diese zaubervolle, fast märchenhafte Umgebung! –

Von etwas träumerischen Gedanken beschäftigt, hatte ich eine Zeitlang am Strande geruht, als ich plötzlich ein sonderbares Geräusch über den See zu vernehmen glaubte. Ich lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit, das Geräusch wird als ferne Ruderschläge hörbar, und es ertönt dazu ein sanfter, schöner Gesang. Immer lauter schallen die Lieder, immer näher plätschern die Ruder, und immer reger wird der Wasserspiegel. Ein Kahn nähert sich allmählich dem Ufer, und darin sitzen einige Mädchen vom Dorfe, welche die schöne Nacht noch so spät auf den See gelockt hatte. Jetzt halten sie unweit vom Gestade an und singen ein Alpenlied, das eine tiefergreifende, sehnsuchtsvolle Melodie hat. Sobald der Gesang beendigt war, landete das Boot; schäkernd und jodelnd hüpften die munteren Dirnen an’s Ufer, wo sie von den Dorfburschen jauchzend empfangen wurden.

Glücklich und beneidenswerth möchten uns diese schlichten Menschen in den Bergen dünken, wenn wir nicht wüßten, daß auch sie Leid mit Freud tragen müssen, wie ja Alle, die auf Erden wallen. Einen für das Leben kostbaren Schatz bewahren sie aber: es ist das ihre allgemeine Genügsamkeit und die daraus hervorgehende Zufriedenheit mit ihrem oft harten und entbehrungsvollen Dasein!




Die deutsche Strafrechtspflege sonst und jetzt.
Der Staat ohne Strafgewalt – Anklage vor dem Volksgericht – Bußsystem – Zweikampf und Eideshelfer – Gottesurtheil – Proceßverfahren im zehnten Jahrhundert.

Eine gute Gesetzgebung schützt heutzutage unser Leben, Gesundheit, Eigenthum und Ehre. Nicht leicht entrinnt ein Verbrecher seiner Strafe und verfällt ein Unschuldiger in solche. Die Leiden, die dem Missetäter zugefügt werden, sind seiner Schuld angemessen und arten namentlich nicht in Unmenschlichkeit aus. Aber wie Viele fragen darnach, ob es zu allen Zeiten so gewesen? Die Meisten begnügen sich mit dem Bewußtsein, daß unsere heutige Strafrechtspflege auf einer hohen Stufe ihrer Vervollkommnung steht, unbekümmert darum, daß es zweier Jahrtausende bedurft, ehe sie diese Höhe erreicht hat. Doch nur der kann den Segen der Gegenwart wahrhaft begreifen, der die Vergangenheit mit ihren oft traurigen Verirrungen kennt. Versuchen wir daher in großen Zügen ein Bild von dem Entwickelungsgang des deutschen Straf- und Strafproceß-Rechtes zu entwerfen.

In den ältesten Zeiten hatte die Volksgemeinde, der Staat an und für sich keine Strafgewalt. Der Staat war weder verpflichtet noch berechtigt, aus eigener Veranlassung, im öffentlichen Interesse ein Verbrechen zu bestrafen, weil, wie bei allen Völkern in ihrem Kindesalter, auch bei den Deutschen die staatliche Verbindung eine sehr lockere war. Die alten Deutschen faßten ihr gesammtes Rechtsverhältniß als ein Friedensverhältniß auf. Sache des Einzelnen war es, den durch ein Verbrechen gestörten Frieden eigenmächtig zu rächen, und die Gemeinde, wenn sie nicht besonders dazu aufgefordert wurde, mischte sich darein nicht. Es galt das Princip der Privatrache. Der Friedensbrecher wurde ein Feind, ein Blutsfeind des Verletzten. Dieser kündigte dem Verbrecher Privatkrieg, Fehde an und brauchte nicht eher zu ruhen, als bis er durch das Blut seines Feindes sich Genugthuung verschafft hatte. Doch waren deshalb unsere Vorfahren keineswegs solche Barbaren, als die wilden Indianer mit ihrer Blutrache noch heute sind. Der Indianer scheut sich nicht, aus einem Versteck heraus seinem Feind den vergifteten Pfeil durch die Brust zu jagen, ihm meuchlings den tödtlichen Streich zu versetzen; die Deutschen aber suchten im offenen Kampf, Mann gegen Mann den Friedensbrecher zu besiegen, und als feig und eines freien Mannes unwürdig galt es ihnen, einen wehrlosen Feind zu überfallen.

Ueberdies war es nicht immer auf das Blut des Uebelthäters abgesehen. In vielen Fällen konnte er die Fehde abkaufen, d. h. ein Sühnegeld, eine Buße zahlen, deren Höhe der Verletzte zu bestimmen hatte. Durch Erlegung der Buße war das Verbrechen gesühnt. Die Parteien gelobten sich von Neuem Frieden und bekräftigten diesen durch einen feierlichen Eid.

War der Verletzte ein Fehdeunfähiger oder gar getödtet, so trat seine Familie, d. h. die waffen- und fehdefähigen Verwandten vom Mannesstamme, für ihn ein. Durch ein Verbrechen war nicht nur der Friede des Einzelnen, sondern der Familienfriede gestört. Deshalb war es Pflicht der ganzen Familie, die den Deutschen als eine Schutz- und Trutzgenossenschaft galt, an dem Friedensbrecher Rache zu nehmen. Es entspann sich in solchen Fällen ein Familienrachekrieg, denn auch dem Befehdeten war dessen Familie zum Beistand verpflichtet, wenn sie ihn nicht als einen ihrer Unwürdigen aus der Genossenschaft ausstieß.

Die Fehde war indeß nicht das einzige Mittel zur Wiederherstellung des gestörten Friedens. Sonst hätte ja auch der Starke und der durch eine mächtige Familie Geschützte jedes Verbrechen begehen können, ohne die Rache des Verletzten fürchten zu müssen. Es gab einen zweiten Weg: die Anklage vor dem Volksgericht. Dasselbe wurde in den frühesten Zeiten in der Volksversammlung abgehalten, welche aus den waffenfähigen, freien Männern der einzelnen Familien eines Volksstammes bestand. jeder Friedensbrecher konnte vor das Volksgericht geladen werden. Hielt dieses den Angeklagten für schuldig, so verurtheilte es ihn zur Erlegung einer Sühne. Verstand sich aber der Angeklagte und seine Familie nicht dazu, auf diese Weise das Verbrechen zu sühnen, [318] so wurde er für friedlos erklärt, dies in der öffentlichen Versammlung laut verkündet, und Jeder konnte ihn ohne Weiteres tödten.

Diese Friedlosigkeit wurde aber nur bei schwereren Verbrechen verhängt, bei geringeren trat, wenn der Verurtheilte die Buße nicht bezahlen konnte, an deren Stelle körperliche Züchtigung.

Ein eigentliches Bußsystem gab es ursprünglich nicht. Das Volksgericht ordnete die Sühnen nach freiem Ermessen an, und nur allmählich bildete sich bei den einzelnen Völkerstämmen durch Gewohnheitsrecht, Volksrecht ein geregeltes Bußsystem aus. Im fünften, sechsten und siebenten Jahrhundert ließen die Könige der einzelnen Völkerschaften diese Gewohnheitsrechte nebst den von ihnen erlassenen Gesetzen aufzeichnen, und so entstanden die lex Salica, lex Saxonum, Thuringorum etc. Alle diese Sammlungen enthielten fast nur Bestimmungen über die Sühnen. Nach dem salischen Volksgesetz mußte z. B. derjenige, der einer ehrbaren Frau wider Willen die Hand drückte, 15 Schillinge Buße zahlen; auf Entführung eines Mädchens standen 60, auf Verführung 120 Schillinge. Brandstiftung wurde mit 62, Raub an begrabenen Todten mit 200 Schillingen bestraft. Diese Bußen konnten aber leicht den Wohlstand, ja die ganze Existenz des Verurtheilten zu Grunde richten, denn in jenen Zeiten galt in der Regel ein Schilling so viel wie eine Kuh.

Die Wahl, ob Fehde erhoben oder die Sache vor das Volksgericht gebracht werden sollte, stand dem Verletzten zu. Der Friedensbrecher konnte nicht durch sofortige Erlegung der Sühne ohne Weiteres die Fehde verhindern.

Die Privatrache durfte übrigens nur bei vorsätzlichen, nicht auch bei fahrlässigen Verbrechen erhoben werden, und nie war sie gestattet im Haus und Hof des Germanen, auf seinem Felde zur Zeit der Bestellung und Ernte, in der Volksversammlung. Auch der schwerste Verbrecher sollte an diesen Orten, die den Deutschen als besonders heilige und „befriedete“ galten, vor der Rache seiner Feinde gesichert sein. In einem nordischen Volksgesetz heißt es z. B.: „Wo ein Mann Haus und Heimath (Wohnung) hat, da hat er Frieden sechzig Faden von seinem Hause.“

Allmählich erwachte in den Deutschen der Gedanke, daß durch ein Verbrechen nicht allein der Friede des Einzelnen und seiner Familie, sondern auch der Friede des gesammten Volkes, die gesammte Rechtsorduung verletzt werde. Darin lag der erste Fortschritt in der Strafrechtspflege. Nach und nach kam nämlich die Gewohnheit auf, daß, wenn der Verletzte vor dem Volksgericht Anklage erhob, der Verurtheilte auch an das Gericht oder den König eine Sühne erlegen mußte. Sie hieß Friedensgeld und, wenn sie an den König bezahlt wurde, Bann.

Ein eigentliches Proceßverfahren konnte natürlich nur stattfinden, wenn von der Fehde abgesehen und vor dem Volksgericht Anklage erhoben worden war, und da das Gericht nur auf Anrufen des Verletzten einschritt, mußte die Form des Strafverfahrens die des Anklageprocesses sein, d. h. wo kein Kläger, da kein Richter. Den Schwerpunkt jeden Criminalprocesses bildet die Frage, wer den Beweis der Schuld oder Nichtschuld zu führen hat, ob das Gericht, der Ankläger oder der Bezichtigte. In dieser Beziehung befolgten nun unsere Vorfahren einen Grundsatz, der mit den obersten Principien unseres heutigen Strafproceßrechts im schroffsten Gegensatz steht. Was würde man heutzutage dazu sagen, wenn ein Strafgericht dem Angeschuldigten auferlegen wollte, seine Unschuld zu beweisen und, wenn er dies nicht vermöchte, ihn ohne seine Ueberführung verurtheilen würde? Dies war aber der Grundsatz des Strafverfahrens aller deutschen Völkerstämme. Gestand der Angeklagte sein Verbrechen, so war der Prozeß kurz. Er hatte „sich selbst gerichtet“ und wurde verurtheilt. Leugnete er aber die That, so war nicht der Ankläger verpflichtet, das Volksgericht von der Schuld des Angeklagten zu überzeugen, sondern dem Letzteren lag es ob, den Beweis seiner Unschuld zu führen.

Dieser Beweis konnte auf dreifache Weise geführt werden. Der Angeklagte konnte nämlich den Ankläger zum Zweikampf herausfordern. Trug er in diesem Streit, der sofort im Volksgericht ausgefochten wurde, den Sieg davon, so wurde er freigesprochen. Durch den Sieg hatte er sich von der Beschuldigung gereinigt, denn die Gottheit würde ihm, so dachten unsere Altvordern, nicht zum Siege verholfen haben, wenn er ein Friedensbrecher gewesen wäre.

Wagte der Angeschuldigte seinen Gegner zum Zweikampf nicht herauszufordern, dann konnte er seine Zuflucht zu dem Eid nehmen. Unter Anrufung der Gottheit mußte er seine Unschnld betheuern, und unterstützten dann seinen Eid noch eine Anzahl „Eideshelfer“, Mitschwörer, so sprach ihn das Gericht ebenfalls frei. Unumstößliche Gewißheit von der Unschuld des Angeklagten brauchten die Mitschwörenden nicht zu haben, es genügte, wenn sie an seine Unschuld glaubten. Sie beteuerten nur, daß nach ihrer Ueberzeugung der Eid des Angeklagten ein reiner und kein Meineid sei. Die Zahl der Eideshelfer richtete sich nach der Schwere des Verbrechens und war bei den verschiedenen Volksstämmen verschieden. So mußten z. B. nach dem salischen Gesetz bei leichteren Vergehen mit dem Angeklagten sechs Eideshelfer schwören, wogegen bei den schwersten deren Zahl bis auf zweiundsiebzig anstieg.

Die Eideshelfer waren aus der Familie des Angeklagten zu nehmen. Dieser unseren heutigen Anschauungen auffällig erscheinende Grundsatz beruhte auf der Idee der Fehde. Denn wie in dieser die Familie zum Beistand verpflichtet war, so auch wenn ein Angehöriger vor dem Volksgericht als Angeklagter stand. Man denke aber nicht, daß die Eideshülfe förmlicher Zwang gewesen wäre. Wer von der Schuld des Angeklagten überzeugt war, mußte seine Eideshülfe verweigern, und unsere Vorfahren fürchteten nicht, daß Jemand aus Liebe zu dem Verwandten einen Meineid schwören werde, weil sie streng auf die Ehre der Familie hielten und ehrlose Mitglieder verachteten. Die Eideshülfe, das beschworene Vertrauen der Verwandten des Angeschuldigten galt als die sicherste Bürgschaft seiner Unschuld, und wer unter seinen Angehörigen diese Hülfe nicht fand, durfte sie bei Fremden in der Regel gar nicht suchen.

Die dritte Form endlich, in welcher der Angeklagte seine Unschuld beweisen konnte, bestand in den Gottesurtheilen, Ordalien. Die Germanen glaubten an eine unmittelbare Einwirkung der Gottheit auf die menschlichen Angelegenheiten. Daher zweifelten sie auch nicht, daß dieselbe durch irgend ein Wunder die Schuld oder Unschuld eines Angeklagten offenbaren werde. Wollte der Beschuldigte also zum Zweikampf nicht herausfordern, konnte aber die erforderliche Anzahl Eideshelfer nicht erlangen, so blieb ihm nur übrig, sich einem Gottesurtheil zu unterwerfen. Der Beklagte mußte z. B. mit bloßen Füßen über glühende Kohlen gehen, oder ein glühendes Stück Eisen mit den Händen einige Schritte weit tragen (die sogenantne Feuerprobe), oder aus einem Kessel siedenden Wassers einen Stein herausnehmen (der sogenannte Kesselfang) u. dergl. m. Bestand er diese Proben ohne eine Verletzung, dann galt er für schuldlos. Mit der Zeit, namentlich seit Verbreitung des Christentums, kamen übrigens auch mindergefährliche Ordalien auf, z. B. die Probe des „geweihten Bissens“. Man legte dem Angeklagten unter Flüchen und Verwünschungen eine Hostie in den Mund; verschluckte er dieselbe ohne Mühe, wurde auch dann nicht von einer schweren Krankheit heimgesucht, so hatte sich Gott für seine Unschuld ausgesprochen.

Von dem Grundsatz, daß der Angeklagte den Beweis seiner Unschuld zu führen habe, gab es in einzelnen Fällen eine Ausnahme. Beging nämlich Jemand vor versammeltem Volke ein Verbrechen und wurde bei oder unmittelbar nach der That, auf „handhafte That“ betroffen, so machte man ihm sofort den Proceß, und er wurde ohne Weiteres verurtheilt.

Ein wesentlicher Fortschritt geschah zur Zeit des fränkischen Reichs. Zwar wagten die Könige nicht, das Fehderecht gänzlich aufzuheben, da es zu sehr im Fleisch und Blut der Germanen wurzelte, allein sie suchten es möglichst zu beschränken. Zunächst untersagten sie die Fehde für gewisse Zeiten, namentlich während religiöser Feste. Ferner gestatteten sie dieselbe nur bei den schweren Verbrechen und räumten sich das Befugniß ein, jeden Verbrecher durch Ertheilung des sogenannten Königsfriedens gegen die ihm drohende Fehde zu schützen. Wen „der König in seinen Frieden genommen“, gegen den mußte alle eigenmächtige Gewalt ruhen, und er konnte nur vor Gericht zur Verantwortung gezogen werden.

Das Proceßverfahren blieb in den ersten Zeiten des fränkischen Reiches dasselbe, nur die Gerichtsverfassung wurde eine andere. Nicht mehr in dem Volksgericht wurde der Proceß geführt, sondern in den Gerichten der „Grafen“, d. h. derjenigen Beamten, welche an die Spitze eines größeren Länderbezirks, „Grafschaft“, gestellt wurden. Diese Gerichte bestanden aus einer Anzahl freier, ansässiger Männer, die ursprünglich für jeden einzelnen Fall aus [319] der Volksversammlung gewählt, später aber ein für allemal als solche bestellt wurden und nunmehr den Namen „Schöffen“ erhielten. Das Gericht wurde zu bestimmten Zeiten und all bestimmten Gerichtsplätzen abgehalten. Es hieß das ungebotene Gericht, „ungebotene, echte Dinge“, im Gegensatz der „gebotenen“, die bei außerordentlichen Gelegenheiten abgehalten wurden.

Erst vom zehnten Jahrhundert an trat in dem Proceßverfahren insofern eine Aenderung ein, als der Begriff der handhaften That ein weiterer wurde. Ein Verbrecher, der jetzt auch nur von einem Einzelnen bei der That oder auf der Flucht oder überhaupt auf eine Weise betroffen wurde, die es zweifellos erscheinen ließ, daß er der Schuldige sei, konnte sofort auf handhafte That processirt werden, wenn nur für die Ergreifung desselben und die erforderlichen Zeugen gesorgt war. Letzteres war aber leicht zu bewirken. Wer den Verbrecher betraf und gegen ihn als Ankläger vor Gericht auftreten wollte, brauchte ihn nur zu verfolgen und dabei einen bestimmten Hülferuf auszustoßen, wie: Zetter, Jo dute, oder Mord jo dute, Zetter mordjo, Dieb jo dute! Wer diesen Hülferuf hörte, mußte bei schwerer Buße zu jeder Zeit, bei Tag und bei Nacht, der Nacheile sich anschließen. Wurde der so verfolgte Verbrecher ergriffen, noch an demselben Tag oder wenigstens dem folgenden, bis wohin ihn der Ankläger bei sich in Haft behalten konnte, vor Gericht gebracht, so wurde nun der Proceß auf handhafte That geführt. Der Kläger mußte die Schuld des Angeklagten beweisen, und zwar durch seinen und der „Schreileute“ Eid, d. h. derjenigen, welche der Nacheile sich angeschlossen hatten. In der Regel waren sechs solcher Schreileute zur Verurtheilung des Angeklagten erforderlich.

Im Uebrigen, d. h. bei nicht handhafter, der „übernächtigen“ That, blieb das alte Proceßverfahren. Nur hie und da traten einige Modificationen ein. So konnte z. B. im südlichen Deutschland der Angeklagte durch einen alleinigen Eid sich reinigen, nach anderen Rechten bedurfte er sechs Eideshelfer, mußte sich „selbstsiebent“ losschwören.

Die Gestellung des Angeklagten vor Gericht hatte der Ankläger zu bewirken. Die von letzterem ausgegangene Vorladung hieß Mannitio, und leistete der Angeklagte dieser wiederholt keine Folge, so konnte er mit Gewalt vor Gericht geführt werden. Später sorgte der Richter selbst für die Vorladung. Sie hieß Bannitio, und erschien der Angeklagte auf diese nicht, so wurde auch in seiner Abwesenheit der Proceß geführt. Er wurde in die Acht, „Verfestung“, erklärt. Der Verfestete durfte innerhalb des Gerichtsbezirks von Niemandem beherbergt werden, und der Ankläger oder dessen Angehörige konnten ihn im Betretungsfalle ergreifen und gewaltsam vor Gericht führen. Aus dieser Acht konnte er sich aber wieder „ausziehen“, wenn er innerhalb eines Jahres freiwillig vor Gericht sich stellte. In diesem Fall trat das gewöhnliche Verfahren ein. Erschien er nicht, so verfiel er in die „Reichsacht“, die sich über das ganze Reich erstreckte. Zog sich der Verbrecher durch freiwilliges Erscheinen innerhalb eines Jahres auch aus dieser nicht, so wurde die „Oberacht“ über ihn verhängt, d. h. er wurde friedlos (vogelfrei), und Jeder konnte ihn ungestraft tödten.

Mit dem Erlöschen der carolingischen Könige war endlich das altdeutsche Fehderecht, welches immer weiteren Beschränkungen unterworfen worden war, vollständig verdrängt, und der Grundsatz, daß durch ein Verbrechen die gesammte Rechtsordnung verletzt werde, zur vollen Geltung gekommen. Das alte Bußsystem kam allmählich außer Anwendung, und wenn auch einzelne Verbrechen, namentlich Tödtungen, noch geraume Zeit mit Geld gebüßt werden konnten, so geschah dies doch nur ausnahmsweise. In der Regel wurden öffentliche, und zwar meist Leibes- und Lebensstrafen verhängt. Wenn sich jetzt die Landesherren oder das Reich nur einigermaßen der Strafrechtspflege angenommen hätten, so würde diese nicht auf so traurige Abwege geraten sein, auf die sie nunmehr gerieth, und vielleicht wüßten wir nichts von einem mittelalterlichen Fehderecht.

Die alten Gesetzbücher wurden von einem in den verschiedenen deutschen Landen sehr verschiedenen und schwankenden „Gewohnheitsrecht“ verdrängt, und kaum ein Jahrhundert nach Beseitigung des alten Fehderechts tauchte ein neues auf, welches vier, ja fünf Jahrhunderte hindurch die rohe Gewalt an Stelle des Rechts setzte.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Berühmte Abenteurer. Jeder, der Herrn Kinglake’s „Geschichte des Krimkrieges“ gelesen hat, wird sich erinnern, wie meisterhaft er die „Kleine Gesellschaft von Abenteurern“ schildert, die sich gegen Ende des Jahres 1848 in Paris zusammengethan hatten, um ihr Glück zu machen. Keiner von ihnen hatte etwas zu verlieren, nicht einmal einen Namen; denn von den sieben Männern hatten drei sich euphonistische Namen beigelegt (St. Armand – de Persigny – de Maupas), und das Recht, welches die Uebrigen auf ihre Namen hatten, war nicht in allen Fällen unbestritten. Die Charakteristik der einzelnen Persönlichkeiten, die Mittel und Intriguen, durch die sie Schritt für Schritt zu dem Punkte geführt wurden, wo sie Alles gewinnen oder Alles verlieren mußten, die Kühnheit der Verzweiflung, womit sie endlich Vabanque! spielten und Frankreich gewannen – alles das ist von Herrn Kinglake in die Geschichtsannalen der Welt eingetragen worden und zwar mit einer graphischen Meisierschaft, die dauernder sein wird, als die erstaunlichen Erfolge seiner „sieben Abenteurer“. Diese Erfolge aber sind erstaunlich und stehen in Bezug auf Großartigkeit einzig da in der Geschichte des Abenteurerthums aller Zeiten. Einer der Sieben ist bekanntlich mehr oder weniger anerkannter Schiedsrichter von Europa. Der Schreiber dieser Zeilen erinnert sich aus eigener Erfahrung einer Zeit, wo Herr Morny Schwierigkeiten gehabt haben würde, in Paris nur zehn Francs aufzutreiben, während der Herzog von Morny in diesem Augenblicke wahrscheinlich der reichste Privatmann des Continents ist. Die Großartigkeit und Vollständigkeit dieses Erfolges hat eine förmliche Revolution im Bewußtsein unserer Zeit hervorgerufen und unsere ersten Schulbegriffe auf den Kopf gestellt. Wir wurden irre an der Weltgeschichte, die – wie man uns gelehrt hatte – sich nach sittlichen Principien bewegen und mit all ihren Kämpfen, Siegen und Niederlagen, Actionen und Reactionen der Verwirklichung großer Fortschrittsideen entgegen streben sollte. Wenn nun „sieben Abenteurer“ durch einen extemporirten Handstreich im Stande waren, die Weltgeschichte so vollständig in die Tasche zu stecken, daß auch das geübteste Auge nicht mehr von jenen Principien und Ideen zu entdecken vermochte, – wenn sie ihre eigenen Persönlichkeiten an die Stelle der confiscirten Weltgeschichte setzen konnten: so gab es keine historische Entwickelung in dem Sinne, wie wir sie verstanden und zur Grundlage unserer politischen Bildung, Arbeit und Hoffnung gemacht hatten.

Man braucht nicht gerade deutscher Idealist zu sein, um von einer solchen „Logik der Thatsachen“ schmerzlich berührt zu werden. Ein soeben hier unter dem Titel: „Bemerkenswerthe Abenteurer von Lascelles Wraxall“ erschienenes Buch verdient daher aus mehr als einem Grunde unsere Beachtung: nicht nur weil es in sehr amusanter Weise einen Gegenstand behandelt, der so tief in unsere Zeitbewegung eingreift, sondern auch weil es eine Moral predigt, die uns für manche schmerzliche Erfahrung zu trösten vermag. Aus den interessanten Lebensbeschreibungen berühmter Abenteurer aller Zeiten und Nationen, welche das Buch füllen, geht unwiderlegbar hervor, daß das Höchste, was Kühnheit, Talent und Energie ohne Tugend und Grundsätze zu erreichen vermögen, temporärer Erfolg ist. Nur auf sittliche Grundlagen läßt sich dauernde Macht oder dauernder Wohlstand gründen. Die tiefangelegtesten Pläne schlagen am Ende fehl, wenn ihnen keine andere Hülfsquellen zu Gebote stehen, als Charlatanerie, Humbug und Handstreich. Freilich können wir uns auch beim Durchlesen dieses Buches der niederschlagenden Ueberzeugung nicht erwehren, daß die menschliche Dummheit und Leichtgläubigkeit eine Macht ist, die dem kühnen Betrüger das weiteste und dankbarste Feld eröffnet, wenn auch sein Erfolg nur von kurzer Dauer ist. Ein schlagendes Beispiel liefert die bekannte Geschichte des Königs Theodor von Corsica. Freilich verbrachte er das Ende seines Lebens im Schuldgefängnisse und war ein Gegenstand öffentlicher Mildthätigkeit, als er starb; aber seine Königswürde war gleichwohl kein leerer Titel, sondern eine wohlbegründete Wirklichkeit. Ein tapferes Volk, welches für seine Freiheit kämpfte, hatte ihm die Krone gegeben, und, fügt Herr Wraxall hinzu, „der westphälische Abenteurer war mindestens mit ebenso vielem Rechte König von Corsica, als ein corsicanischer Abenteurer 50 Jahre später König von Westphalen war.“

Mit Recht macht der Verfasser darauf aufmerksam, daß die kleinen deutschen Höfe, welche sich durch ihre Kleinheit der öffentlichen Meinung Europa’s entzogen und im eigenen Lande keine öffentliche Meinung hatten, von jeher eine leichte Beute des Abenteurerthums gewesen seien. Von den vielen Abenteurern, die der Verfasser der complicirten Geschichte unserer zahllosen Höfe und Höfchen im 18. Jahrhundert verdankt, verdient wohl keiner mehr unsere Beachtung, als der Jude Süß, der unter dem Herzog Carl Alexander in unglaublicher Schnelligkeit Herr von Würtemberg wurde. Er war der Sohn eines jüdischen Hausirers und hielt ursprünglich einen kleinen Barbierladen. Im Jahre 1732 dem Herzog von einem andern Juden empfohlen, wurde er kurz darauf sein Kanzler und erster Minister. „Mit großem Geschick,“ heißt es in unserem Buche, „aber zugleich mit noch viel größerer Gewissenlosigkeit, wußte er alle Wünsche und Pläne des Herzogs auszuführen, die Opposition niederzuschlagen, Fonds zur Erhaltung der Armee aufzutreiben und seinen Herrn über den wirklichen Stand der Angelegenheiten zu täuschen. Die Mittel, welche er anwandte, bestanden hauptsächlich in Bestechung und Einschüchterung. Binnen kurzem war der Jude Süß der eigentliche Beherrscher des Landes; alle Aemter befanden sich in den Händen seiner Creaturen; er betrug sich wie ein Pascha; [320] und die Juden hatten unter seiner schützenden Hand ungestörte Freiheit, die unglücklichen Würtemberger zu schinden und auszubeuten. Alles war unter der Judenregierung käuflich; Titel, Aemter und Rang wurden öffentlich versteigert; auf alle Gewerbszweige wurden Steuern gelegt, selbst auf das Geschäft der Schornsteinfeger. Alle Processe kamen vor den Fiscalgerichtshof, dessen Präsident er war. So versank das Land allmählich in eine Tiefe des Elends, von der man sich heutzutage kaum eine Vorstellung machen kann. Wir wissen in der That nicht, worüber wir am meisten staunen sollen – über den im Grunde edlen Fürsten, der sich so von einem Schurken betrügen lassen konnte, oder über das Volk, das Alles dies ertrug und sich durch seine ekelhafte Kriecherei gewissermaßen zum Mitschuldigen machte.“

Seinem jüdischen Charakter getreu, fuhr er fort in Gold, Juwelen und Silber zu handeln und gewann durch seine geschickte Behandlung der Finanzen des Herzogthums große Summen. Seine Verschwendung in Equipagen, Dienerschaft, Maitressen und Luxus aller Art war ungeheuer; gleichwohl wurden alle seine Excesse geduldig ertragen bis zum Tod des Herzogs 1737. Dann trat die Kehrseite seines Schicksals hervor. „Alle Juden wurden jetzt arretirt, verhört, durchgepeitscht und dann vom Pöbel durch die Straßen gehetzt. Der Jude Süß selbst konnte nur mit den größten Schwierigkeiten der Wuth der Bevölkerung entzogen und als Gefangener auf den Hohenasperg gebracht werden. Anfangs war er unverschämt und nahm einen hohen Ton an, aber seine Kühnheit verließ ihn bald und er machte verschiedene Male Selbstmordversuche. In der Hoffnung, seine Lage zu verbessern, gestand er endlich, daß er das Vertrauen seines Herrn mißbraucht, die Gerechtigkeit gefälscht, Betrug und Erpressung begangen habe, und bot sein Vermögen, das von ihm selbst auf 400,000 Gulden geschätzt wurde, sich aber in der That weit höher belief, als Entschädigung an. Als er bemerkte, daß seine Richter sehr aufgebracht gegen den verstorbenen Herzog und die Herzogin waren, bemühte er sich niederträchtiger Weise, die Schärfe der Anklage auf seine Beschützer fallen zu lassen. Die ganze Untersuchung wurde übrigens mehr im Geiste des siegreichen Parteiübermuths als der unparteiischen Gerechtigkeit geführt. So z. B. wurde Süß gezwungen, die Namen aller der Damen zu nennen, welche sich zu gütig gegen ihn bewiesen hatten; und die Zahl dieser schwachen Schönen war so groß, daß der Gerichtshof in Anbetracht der Unmöglichkeit, Alle zu bestrafen, beschloß, sich mit einem Opfer zufrieden zu geben.“ Nach welchem Grundsatze dies eine Opfer ausersehen wurde, oder ob vielleicht die schwachen Schönen genöthigt waren, das Loos zu ziehen, wird leider nicht mitgetheilt. Wegen Unterschlagung, Fälschung und Hochverraths wurde er zum Tode verurtheilt. In der kurzen Zwischenzeit zwischen Urtheilsspruch und Execution stritten sich ein katholischer und ein lutherischer Priester um seine Seele; er wurde unablässig mit dem Taufbecken verfolgt, obgleich er auf den Knieen darum bat, ihm diese beleidigende Verfolgung zu ersparen. Zu seiner letzten Mahlzeit erhielt er Speisen, deren Genuß ihm von seiner Religion versagt war. Auf dem Schaffot leistete er einen so gewaltsamen Widerstand, daß es nöthig war, ihn zu binden. In ein reichgesticktes Scharlachgewand gekleidet, wurde er an einen 50 Fuß hohen eisernen Galgen gehängt, – denselben, an welchem eine andere Berühmtheit unseres Werkes, der Geldmacher Honauer, im Jahre 1597 seinen Tod gefunden hatte. Der Volksunwille hatte jedoch schon vor seinem Tode eine Wandlung erlitten und wurde durch die Strenge der Strafe vollends besänftigt. Von seinen eigenen Glaubensgenossen wurde er als Märtyrer betrachtet; die große Synagoge von Fürth erklärte ihn für einen Heiligen, dessen Todestag zu allen Zeiten gefeiert werden müßte. „So“ – schließt der Verfasser – „machte der blinde Haß der Stände einen Heiligen in Israel aus einem frivolen, sinnlichen, betrügerischen Abenteurer, welcher der Fluch Würtembergs gewesen war.“

Wir empfehlen das Studium dieser und ähnlicher Beispiele des Abenteurerthums, von denen sich in Hrn. Wraxall’s Buche eine große Auswahl findet, allen denjenigen, welche die Kleinstaaterei als ein wünschenswerthes und unantastbares Resultat der „geschichtlichen Entwickelung“, der deutschen Eigenthümlichkeit und des deutschen Geistes hinzustellen pflegen. Auch Johann Kalb und die Scene in „Kabale und Liebe“, welche Schiller seinen Memoiren entnommen zu haben scheint, wird vom Verfasser in seinem Panorama berühmter Abenteurer vorgeführt. Wir meinen selbstverständlich die Scene, in welcher Lady Milford erfährt, daß die Juwelen, welche ihr fürstlicher Liebhaber ihr zum Geschenk macht, mit Blutgeld gekauft worden seien. Der Prinz war der Markgraf von Ansbach-Baireuth und die Dame Lady Craven, welche später Markgräfin wurde. Die Welt hat längst ihr Urtheil über diesen Seelenhandel gefällt, der von dem Genius Schiller’s in so ergreifender Weise für alle Zeiten geächtet worden ist. Daher ist es ziemlich auffallend, daß ein Potentat, der so ängstlich bemüht zu sein scheint, sich einen Charakter zu gründen, wie Louis Napoleon, neuerdings ein ähnliches Geschäft entrirt haben sollte. Das schwarze Contingent, welches der Pascha von Aegypten für den mexicanischen Krieg geliefert hat, wurde wie eine Viehheerde verkauft und gegen den Willen der überrumpelten Schwarzen eingeschifft und zur Schlachtbank geführt.

Es fehlt uns an Raum, um weitere Auszüge aus dem reichen Inhalte dieses interessanten, auf einem ausgedehnten Quellenstudium beruhenden Werkes zu geben. Wir wollen daher zum Schluß die bereits oben angedeutete Moral, die von all den mitgetheilten Abenteurerbiographien bestätigt wird, nochmals kurz zusammenfassen. Sie läßt sich auf folgende Punkte reduciren: 1) der glänzendste und scheinbar vollständigste Erfolg des Abenteurers ist von kurzer Dauer, und die sittlichen Grundlagen der Weltgeschichte werden nie ungestraft verletzt; – 2) die Welt ist viel dümmer, als man gewöhnlich glaubt, und „je gröber das Stück, desto größer das Glück“; – 3) die Abenteurer aller Zeiten und Nationen gleichen sich, wie ein Tropfen Wasser dem andern, nicht nur in Charakter und Beweggründen, sondern auch in der Wahl der Mittel, die sie benutzen, „um ihr Glück zu machen“, wie Herr Kinglake sagt.





Uhlandslinde. In der Frühe des ersten Mai hat auf Anregen des Verschönerungsvereins in Stuttgart die Einweihung einer zu Uhland’s Andenken gepflanzten Linde; die, wie die Höhe, auf der sie steht, des Dichters Namen trägt, stattgefunden. Der Liederkranz sang drei Uhland’sche Lieder, ein Gedicht von C. Schönhardt wurde gesprochen, und J. G. Fischer sprach folgende Einweihungsworte:

„Zwischen die Blüthen dieses und des vorigen Frühlings fällt der Schatten eines theuren Grabes. Heute vor einem Jahr klang es durchs ganze deutsche Land von Liedern und Segenswünschen und flatterte von Ruhmeskränzen um das Haupt des geliebten Dichters, der sein fünfundsiebzigstes Wiegenfest beging. Diese Jubelrufe waren nicht ohne Trübung, denn die Sorge durchkreuzte sie, dieses Wiegenfest könnte das letzte sein, das der Gefeierte beging. Das Geschick hat die Sorge wahr gemacht, und wir haben, eben als die Blätter jenes Frühlings herbstlich dahin sanken, Ludwig Uhland in die Erde gelegt. Was Jedem einmal beschieden ist, den schwersten Gang hat die allgemeine Trauer ihn gehen sehen müssen.

Aber auch das, was nur Wenigen, was nur den Auserwähltesten zu Theil wird, ist ihm geworden, die Liebe und die Bewunderung der ganzen Nation. Heute schon zieht die Geschichte eine große Summe von Beweisen, wie er eingedrungen, wie er wirkt, und der erste Frühling nach Uhland’s Tode giebt lautes Zeugniß, welch lebendiger Organismus ihn mit seinem Volk verbindet.

Ja, das Volk, das deutsche Volk ist der Grund und Boden, durch welchen Uhland’s Seele ihr starkes Wurzelwerk schlingt und treibt. Ist er doch recht ein Vorläufer und Bahnbrecher des Gedankens gewesen, dem Hochflug unserer Classiker den schönsten und natürlichsten Canal in’s Volk herab zu öffnen dadurch, daß er, wie selten einer vor ihm, mit dem Auge des Volkes sah, mit dem Munde des Volkes sang, seine Wander- und Frühlingslieder, seine glockenhellen Balladen, sind sie nicht Gewächse, ganz und voll nur aus einem Herzen gezeugt, das an der Lust und Sonne des Volkes großgewachsen? Darum sind sie auch die ganz eigenthümliche, seelenerfrischende, duft- und safthaltige Volksnahrung, darum singt sie das Volk und singt sie wieder, so reich und vielgestaltig der Hall und Schall von andern Vögeln dazwischen klingt; und von Uhland’s Muse selbst könnte der Mund des Dorfes singen: „Ich hatt’ einen Cameraden, einen bessern find’st Du nit!“ Darin liegt es eben, warum Uhland so ganz verstanden ist und bleibt, daß er sich nicht verführen ließ von dem Schallen und Knallen, darnach überreizte und übersättigte Ohren begehren mögen, daß er mit weiser Selbstbeschränkung sein klargegossenes heimathliches Lerchenlied anhub und aufhörte, unbeirrt von dem exotischen Grazioso und Maestoso, das die Salonschläger schwülerer Zonen in die Mode brachten. Diese charaktervolle Selbstbeschränkung ist es, wodurch er groß ist; dieses Insichselbsthineinknieen und Insichselbsthineinhorchen hat ihm seine Wirkung gesichert, von der man tausend Anderen gegenüber sagen kann:

Sie suchen und suchen ohne Ruh’,
Doch der Wahrheit fällt es von selber zu.

Und darum kamen wir heraus, um ihn, der nur die Natur zum Meister genommen, mitten in der Natur zu feiern, die auf ungesuchte Weise, wie er, blühend und herrlich ist. Diesen Baum hat die Dankbarkeit und Liebe seiner Ehre und seinem Namen gesetzt.

Es ist ein echt altdeutscher Baum, der gepflanzt zu werden pflegt am Eingange der Dörfer und Städte, wo die Straßen hineinführen zu Haus und Hütte der Einzelnen und heraus in alles weite Vaterland. So soll Uhland’s Name uns stehen als ein Merkzeichen unlösbarer Verknüpfung aller deutschen Herzen zu einem ganzen und starken Volke.

Einst, wenn unsere Urenkel herauspilgern werden zu diesem Baume, wenn die Vögel und Bienen ihn durchschwärmen, werden sie noch wie wir Uhland’s Lieder singen, werden seinen Namen preisen wie den Walther’s von der Vogelweide – und noch mehr, sie werden sagen: er war ein echter, er war im unbeugsamsten Sinne des Wortes ein ganzer deutscher Mann!

Dieser Zukunft treibe in Stamm und Aesten zu, aufgrünendes Gewächs, eingeweiht von Uhland’s eigenen Worten:

Gesegnet seist du allezeit
Von der Wurzel bis zum Gipfel.“


  1. Dieser Brief lautet wörtlich, nur mit berichtigter Orthographie, so:
    „Lieber, guter Ludwig!

    Ich wünsche Dir zu Deinem Geburtstage viel Glück und Segen! Der Himmel erhalte Dich gesund bis in das späteste Alter. Ach, lieber Ludwig, es sind schon viele Geburtstage, die ich bei Dir erlebe, und der Himmel segne Dich für Alles, was Du schon an mir gethan hast und an mir noch thust!

    Ach, lieber, guter Ludwig, es thut mir leid, daß ich Dir zu Deinem Geburtstag keine bessere Freude machen kann. Ich habe hier eine Kleinigkeit für Dich gestickt, ich schäme mich, daß sie nicht besser ist. Aber gewiß wirst Du, lieber guter Ludwig, es doch von Deiner armen Sophie annehmen als einen Beweis meiner Liebe und Dankbarkeit. Ach, verzeihe mir, mein guter Ludwig, wenn ich bisweilen fehle! Ich bitte den Himmel, daß er mich lehre, meinen Fehler zu verbessern. Möchtest Du doch mit mir zufrieden sein, ich aber im Stande, Dir Alles nach Wunsch zu thun, Alles Dir angenehm zu machen. Ach, lieber guter Ludwig, ich weiß, daß meine Lage schrecklich war, und ich danke Dir nochmals! Der Himmel segne Dich für Alles! Behalte mich lieb, lieber Ludwig! Ich bleibe im Schutze Marias und dem Deinen

              Deine arme Sophie bis in’s Grab.

    Den 28. September 1808.“

  2. Deandl; baierisch statt Mädchen.
  3. Resei s. v. a. Therese.
  4. Toni s. v. a. Anton.