Zwei fürstliche Geheimnisse neuerer Zeit

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Autor: Friedr. Hofmann
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Titel: Zwei fürstliche Geheimnisse neuerer Zeit
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aus: Die Gartenlaube, Heft 22 und 24, S. 345–348 und 375–379
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Mythen um Jakob Franck, Peter III. und die Dunkelgräfin
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Zwei fürstliche Geheimnisse neuerer Zeit.

I.


Der Gartenlaube sind im vorigen Jahre Mittheilungen über einen „geheimnißvollen Glaubensfürsten“ zugekommen, die sie im Artikel „der heilige Herr“ (1865, Nr. 33 und 34) abdruckte. In demselben wird uns das von ungeheurer, geradezu verschwenderischer Pracht umgebene, in seinem Kern dem Blick der Oeffentlichkeit stets fast ängstlich entzogene Leben eines angeblich jüdisch-christlichen Sectenhauptes geschildert, das, von zahlreichen Glaubensanhängern als gleichsam verkörperter Gott Israels mit sclavischer Unterwürfigkeit verehrt, bewacht und bedient und von den Anhängern der Secte mit Millionen freiwilliger Opfergaben ausgestattet, seine hohepriesterliche Hofhaltung neben der des Fürsten von Isenburg zu Offenbach und mit dessen auf ein Eingeweihtsein in das Geheimniß hindeutenden Genehmigung Jahre lang fortführt, bis es stirbt und die Seinen verschwinden, ohne daß der Schleier vor diesem Dunkel bis heute gelüftet worden wäre. Gegen diese Darstellung tritt nun ein Mann auf, der mit allerdings gewichtigen Gründen und Thatsachen die Vermuthung zu rechtfertigen sucht, daß mit diesem angeblichen Sectenhaupte und seiner Umgebung ein Geheimniß des russischen Kaiserhauses, das in seiner Geschichte manches unaufgelöste Räthsel enthält, in harmloserer Weise seine letzten Acte auf deutschem Boden ausgespielt habe. Die engen Beziehungen, in welchen die Großeltern und Eltern dieses Mannes, des Herrn A. G. Schenck-Rinck in Frankfurt am Main, zu den geheimnißvollen Fremdlingen gestanden, die Strenge, mit welcher er selbst in seiner Darstellung die Vermuthungen von den Thatsachen scheidet, und die Belege, mit welchen er alle seine Angaben ausrüstet, verpflichten uns, alles Wesentliche seiner Berichtigungen – der Abdruck des vollständigen Manuscripts würde einen zu großen Raum in Anspruch nehmen – unseren Lesern vorzulegen.

Als Vermuthung stellt Herr Schenck-Rinck das hin, was in Zusammenhang steht mit dem im russischen Volke seiner Zeit weit herrschenden Gerüchte, daß Peter der Dritte, welcher, 1728 geboren, bekanntlich sechs Monate nach seiner Thronbesteigung, im Jahre 1762, plötzlich von der Weltbühne schied, damit nicht zugleich aus dem Leben geschieden sei. Das russische Volk glaubte nicht an seinen Tod, und um so leichter fand die Fama Beifall, welche in einem Herrn von Franck, der zu Anfang der siebziger Jahre am Hoflager der Kaiserin Maria Theresia in Wien erschien und dort mit fürstlicher Pracht und Auszeichnung lebte, Peter den Dritten wieder erkennen wollte. Ihn begleiteten, außer seinen „drei Pflegekindern“ Eva, Roch und Joseph, nahe an hundert meist junge Männer als eine militärisch organisirte Leibwache. Die durch die kostbare orientalische Tracht noch gehobene bezaubernde Schönheit des Fräuleins Eva von Franck soll hier auf den jugendlichen Joseph den Zweiten einen so gewaltigen Eindruck gemacht haben, daß er um ihre Hand geworben, dadurch aber die rasche Entfernung der ganzen Familie aus Wien verschuldet habe. Sie siedelte nach Brünn über. Hier, in der kleineren Stadt, trat das Auffällige der geheimnißvollen Erscheinung, der strahlende Luxus und die fast mehr als fürstliche Verschwendung dieses Hofhalts erst recht allgemein in die Augen; der unnahbare Mittelpunkt desselben blieb Herr von Franck mit seinen Pflegekindern, aber die Zahl der Leibwachen und Dienerschaft, worunter man vielen jungen russischen und polnischen Adel erkennen wollte, wuchs immer mehr an, sodaß bald in diesen Gästen die Einwohner Brünns ihre reichlichste Erwerbsquelle verehrten und die Bedürftigen und Faulen dort allezeit glänzender Gaben der Wohlthätigkeit sicher waren. Trotz der großen Geldsendungen, welche stets unter eigener bewaffneter Bedeckung an den alten Franck ankamen, häufte sich in kurzer Zeit eine enorme Schuldenmasse an, und wenn auch immer neue Sendungen die ungeduldigsten Gläubiger beruhigten, so regte sich doch endlich eine allgemeine Besorgniß über die reißend anschwellende Schuldenlast, sodaß selbst die Gefahr gerichtlichen Einschreitens nahe rückte. Da bezahlte Franck plötzlich sämmtliche Schulden, ließ sich von der Behörde amtlich bescheinigen, daß er alle seine Gläubiger befriedigt habe (dieses Schriftstück befand sich später wirklich noch im Besitz der Familie), und verließ Brünn, dessen Bewohner zu spät und darum vergeblich von der Unerschöpflichkeit der Einnahmequelle dieses „Polakenfürsten“ überzeugt worden waren. Dies geschah zu Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts.

Der fürstlichen, von vielen russischen und polnischen Großen begleiteten Karawane ging eine Gesandtschaft voraus, die ihr einen neuen sichern Wohnsitz suchen sollte, – und mit dem feierlichen Aufzug derselben bei dem Fürsten Wolfgang Ernst dem Zweiten von Isenburg-Birstein vor dessen Residenz zu Offenbach tritt die Darstellung des Herrn Schenck-Rinck aus dem Gebiet der Vermuthungen und fremder Berichte auf das Feld des Thatsächlichen.

Der greise und humane Fürst stellte sofort dem Herrn von Franck eines seiner Schlösser in Offenbach zur Verfügung. Herr Schenck-Rinck ist der Ueberzeugung, daß der regierende Herr schwerlich aus blos finanziellen Rücksichten einem Haufen namenloser Abenteurer nicht nur einen fürstlichen Wohnsitz geöffnet, sondern sogar das Halten einer bewaffneten Leibgarde in seiner Residenz gestattet hätte; sondern er glaubt, daß nur genügende Aufklärung über den wahren Stand des „Polakenfürsten“ ihn zu solchem gastlichen Entgegenkommen bewogen habe.

Die Gesandtschaft war mit Empfehlungen an bedeutende Frankfurter Geschäftshäuser ausgerüstet, und darunter befand sich auch das des Großvaters des Herrn Schenck-Rinck, und da Franck bis zur angemessenen Herstellung des Offenbacher Wohnsitzes eine Interimswohnung suchte, so bot ihm K., der Großvater des Herrn Schenck-Rinck, dazu sein großes kaiserliches Freigut (jetzt „Frankfurter Hof“) in Oberrad, einem freundlichen Ort zwischen Frankfurt und Offenbach, an, während er selbst mit seiner Familie ein daneben liegendes, ihm ebenfalls zugehöriges Haus bezog.

Die Ankunft der geheimnißvollen Gäste wurde ein Festtag für die Neugierigen von Offenbach, Frankfurt, Sachsenhausen und der ganzen Umgegend. Tausende strömten nach Oberrad, um die Pracht zu sehen, von der das Gerücht so Unglaubliches verkündet hatte. Der Tag kam, der äußere Aufzug konnte allerdings Staunen genug erregen, von dem geharnischten Herold an bis zu der goldschimmernden Leibgarde und den vier- und zweispännigen, dichtverhängten Reise- und vielen hochgepackten Bagagewagen, – aber der lange Zug verschwand hinter dem Thor zu dem geräumigen Hof des K.’schen Freiguts und hinter dem letzten Reiter schlossen sich die Flügel. Kein Auge hatte den alten Herrn gesehen. Eine desto genauere Schilderung erhalten wir von der Scene, die sich nun innerhalb des Hofes abspann, denn ihr wohnte der Großvater des Herrn Schenck-Rinck mit seiner ganzen Familie bei, um die Gäste in seinem Hause zu empfangen und einzuführen. Herr Schenck-Rinck schreibt darüber: „Nachdem das Gefolge abgestiegen war, entleerten sich die mit Damen und Herren besetzten Wagen, Pagen eilten mit kostbaren Teppichen herbei, sie vor die vierspännigen, noch immer geschlossenen Reisewagen ausbreitend und bis zum Eingang in die Zimmer legend. Nun erst öffnete sich der erste Wagen, dem zwei Herren mit edlem Anstand entstiegen, welche dem alten Herrn, demüthig zu beiden Seiten tretend, aus dem Wagen halfen. Es war ein mittelgroßer Herr von gedrungener Gestalt, in rothem, bis zu den Knieen reichendem, mit Hermelin besetztem seidenen Leibrock und gleichverzierter hoher Pelzmütze, die mit schönen goldenen Schnüren behangen und mit weißem Reiherbusch geschmückt war, der von einer reich mit Brillanten besetzten Agraffe gehalten wurde. Auf der Brust spielte in tausend Farben ein großer Brillantstern, an goldener Kette um den Hals getragen. Das Gesicht Franck’s war häßlich und pockennarbig, aber aus ihm blitzten unter buschigen Augenbrauen zwei feurige Augen hervor. Das ganze Gesicht umrahmte ein langer, weißer Bart. Von dem Augenblick an, wo der alte Herr dem Wagen entstieg, lag das ganze Reisegefolge auf den Knieen. Auch die beiden Pflegesöhne, welche den Zug zu Pferde begleitet hatten, waren mittlerweile abgestiegen und stellten sich, in der Uniform höherer russischer Stabsofficiere und die Brust mit Orden geschmückt, ebenfalls entblößten Hauptes zu beiden Seiten des alten Herrn. Mit diesem hatte in Gesichtsform und Teint der ältere, Rochus, einige Aehnlichkeit, während der jüngere, Joseph, ein schöner Mann in der ersten Jugendblüthe, [346] mehr dem Fräulein Eva ähnelte. Auf den gebieterischen Wink des alten Herrn öffnete sich der zweite Wagen, welchem erst zwei Ehrendamen, dann in wunderbarer Grazie das von einem mit Gold durchwirkten und bis zu den Füßen reichenden Schleier umhüllte Fräulein Eva entstiegen. Bis zur Erde beugte sich der alte Herr und trat der Dame einige Schritte entgegen, leicht mit fürstlicher Courtoisie deren Hand berührend, um sie nach den geöffneten Zimmern zu geleiten. Erst jetzt erhob sich das Gefolge von den Knieen. Innerhalb der Zimmer, nachdem die Thüren geschlossen waren, entschleierte sich Eva von Franck; ein himmelblaues, seidenes, faltenreiches Gewand, umgürtet von einer Brillantenschnur, umschloß die edlen Formen der hohen Gestalt; aus der rabenschwarzen Lockenfülle strahlte das schönste Farbenspiel eines mit Perlen und Brillanten reich besetzten diademartigen Aufsatzes hervor. So trat sie, obwohl über die erste Jugendblüthe hinaus, doch immer noch von wunderbarer Schönheit, die ein reichgebildeter Geist und eine anspruchslose Liebenswürdigkeit noch erhöhten, meinem Großvater entgegen, ihn mit melodischer Stimme in deutscher Sprache anredend und die beiden russischen Officiere als ihre Brüder vorstellend. Mein Großvater, gewöhnt, sich in höheren Cirkeln zu bewegen, war überrascht von so bezaubernder Anmuth und blieb bis zu seinem Tode (1792) der eifrigste Verehrer der Dame.“

Der alte Herr sprach bei dieser Vorstellung kein Wort, und auch später pflegte er sich mit Herrn K. nur durch einen Dolmetscher zu unterhalten, als welcher gewöhnlich sein Geheimsecretär fungirte; sein lebhafter Blick und seine Mienen konnten jedoch ein Verständniß des deutsch Gesprochenen ahnen lassen. Dies war auch bei späteren Besuchen des Herrn K. und seiner Familie der Fall, die jedoch nie ohne ceremoniöse Anmeldung stattfanden. Der alte Herr saß dann stets in der Mitte des mit Teppichen belegten Zimmers, auf einer nach orientalischer Sitte am Boden liegenden Ottomane, mit kreuzweis übereinander gelegten Beinen und aus türkischer Pfeife rauchend, hinter ihm zwei Pagen, an der Thür zwei Diener in reichbordirter Livree. Dabei ist bemerkenswerth, daß der alte Herr, sobald die auch von ihm stets lebhaft geführte Unterhaltung von seinem Gaste auf das politische oder religiöse Gebiet hingelenkt wurde, sofort das Zeichen der Entlassung gab.

Während Fräulein Eva die Abgeschlossenheit des alten Herrn theilte und selbst ihre wahrhaft verschwenderische Wohlthätigkeit nur durch Vermittelung von Herren und Damen ihres Gefolges, niemals in eigener Person, ausübte, verkehrten die beiden Pflegesöhne frei und offen mit Jedermann. Das Gefolge, das in Oberrad nicht Platz finden konnte und theilweise in Offenbach untergebracht wurde, wuchs durch immer neue Zuzüge endlich bis auf sechshundert, ja später bis auf tausend Personen an. Trotzdem gingen alle Einrichtungen dieser so außerordentlich anspruchsvollen Hofhaltung und alle Dienstleistungen mit größter Ordnung und möglichster Geräuschlosigkeit vor sich, und Alle, wie viel sie auch mit Arbeits- und Geschäftsleuten in Berührung kommen mußten, bewahrten ihres Herrn und ihr Geheimniß. Einer Entdeckung desselben war zudem auch dadurch vorgebeugt, daß der alte Herr sich für seine auswärtigen Verbindungen nie der Post bediente; alle abgehenden und ankommenden Briefe und Pakete wurden durch reitende Boten aus dem Gefolge besorgt, die stationsweise bis nach Polen und Rußland ihre Posten hatten; Geldsendungen in Fässern langten unter bewaffneter Bedeckung an.

Schon von Oberrad aus fuhren der alte Herr und Fräulein Eva, Jedes – und überhaupt immer – im besonderen vierspännigen Wagen, an jedem Sonn- oder katholischen Feiertage, von der berittenen Leibgarde umringt, zur katholischen Kirche, zu unsrer lieben Frauen“ nach Frankfurt. War die Chaussee staubig, so ritt dem Zuge auf einem mit Schellen behangenen Rosse ein Reiter voraus, der einen vielfach um den ganzen Oberkörper und den Bauch des Pferdes gewundenen, mit Wasser gefüllten Schlauch führte, aus welchem er durch ein seiherförmiges Gießblech den Weg besprengte. Es war dies zwar für damalige Zeit in Frankfurt und weiter Umgegend wohl etwas außerordentlich Neues, aber eine religiöse Handlung war es nicht. Dieselbe Kirchfahrt geschah später auch von Offenbach aus nach Frankfurt, und dabei wurde, mit seltener Unterbrechung, in Oberrad auf dem Gute des Großvaters unsers Herrn Gewährsmanns Halt gemacht, bis der massenhafte Andrang der Neugierigen den alten Herrn bewog, sich zur Abhaltung des Gottesdienstes nach dem isenburgischen Orte Bürgel zu wenden. Und als auch dort der Zudrang der Gaffer allzulästig wurde, baute Herr von Franck am untern Theil der Baumallee in Offenbach sich selbst die noch heute stehende katholische Capelle, die er, nachdem er auch für die Dotation eines Geistlichen freigebig gesorgt, mit allen Einrichtungen und kostbaren Kirchengefäßen der damals kleinen katholischen Gemeinde Offenbachs zum Geschenk machte; nur hatte er sich und den Seinen den Privatgebrauch derselben vorbehalten, und zwar so, daß, während Familie und Gefolge ihre Andacht verrichteten, durchaus Niemandem der Zutritt gestattet war.

Ebensowenig wie das Begießen der staubigen Chaussee dienten die Fahrten nach dem Walde irgend einer religiösen Ceremonie, sondern ganz einfach dem Genuß der freien, schönen Natur. Die Veranlassung zu diesen Waldfahrten hatte der Großvater des Herrn Schenck-Rinck selbst gegeben; sie fanden schon von Oberrad aus statt, ebenso regelmäßig dann von Offenbach, und häufig kamen die beiden befreundeten Familien auf dem ihnen lieb gewordenen Plätzchen zusammen. Es ist leicht zu erklären, warum stets alle Zugänge dahin abgesperrt wurden; es geschah nur, um sich ein Ruheplätzchen im Freien ohne Zuschauermassen zu sichern. Teppiche wurden im Grünen unter dem Waldschatten ausgebreitet und der alte Herr rauchte sein Pfeifchen, während die Unterhaltung ihren heiteren Gang nahm. Der Pfeife wegen standen Bediente mit der brennenden Lunte da, und um den Rasenplatz schön grün zu erhalten, begoß ihn, wenn die Teppiche aufgehoben und die Herrschaften aufgebrochen waren, der Reiter mit dem Schlauch mit seinem Wasservorrathe.

So einfach hier das erklärt wird, was im Artikel „Der heilige Herr“ (Gartenl. 1865, Nr. 34, S. 535) als eine unerklärliche religiöse Handlung bezeichnet ist, so entschieden spricht Herr Schenck-Rinck sich dagegen aus, in dem alten Herrn v. Franck das Haupt einer religiösen Secte jüdischer Abkunft und in den Gliedern seiner Familie wie in seinem Gefolge, den Begleitern, der Dienerschaft und der Leibwache, nur Anhänger seiner Secte und getaufte Juden erkennen zu wollen. Allerdings hätten die Großeltern und Eltern des Herrn Schenck-Rinck, bei ihrer hohen geschäftlichen Stellung und gerade in Frankfurt, wo ihnen das Judenthum mit seinen sämmtlichen Lebensäußerungen auf jeder Bildungsstufe so nahe stand, und bei ihren fast vertrauten Beziehungen zu dem Hause von Franck sicherlich sofort irgend etwas Jüdisches an demselben zuerst erkannt. Aber gerade sie behaupteten, daß sie nie das geringste Zeichen von einem eigenen Cultus gefunden; daß nichts im Hause und an den Menschen auf jüdische Abkunft hingedeutet; daß alle häuslichen Einrichtungen für ein deutsches Auge wohl fremdartig, aber keineswegs jüdischer Natur gewesen. Nach der eigenen Aussage des Fräuleins von Franck war der alte Herr nur ihr und ihrer Brüder Pflegevater, nie wurde von einer Frau desselben oder der Mutter der Kinder gesprochen; daß Fräulein Eva früher Rachel geheißen, steht völlig unbegründet da, am wenigsten zeugte dafür ihre Persönlichkeit, die eher auf fürstliche, als auf jüdische Abstammung schließen ließ. Ebenso sprach die sclavische Unterwürfigkeit der Leibwache eher dafür, daß sie aus Leibeigenen bestanden, als für einen freiwilligen Dienst aus religiöser Schwärmerei, zu dem sich junge polnische und andere Juden hergegeben haben sollen; würde doch für solche eine strenge militärische Disciplin eine so schwere Zumuthung gewesen sein, wie ein Leben ohne die geringste andere äußere Thätigkeit, als Exerciren und Dienen. Fräulein Eva bot sich selbst zur Taufpathe einer Schwester des Herrn Schenck-Rinck an, wohnte mit kleinem Gefolge dem Taufacte bei und ließ sich ins Kirchenbuch eintragen als: „Eva von Franck, katholischer Religion.“ Sprächen endlich auch nicht der Bau und die Verschenkung einer katholischen Kirche in Offenbach gegen die Annahme, daß Franck ein getaufter Jude und das Haupt einer jüdisch-christlichen Secte mit eigenem Cultus gewesen, so genügt gegen dieselbe schon die Frage: Welchen Zweck sollte eine solche religiöse Secte damit verfolgt haben, ihr für heilig und unsterblich gehaltenes Oberhaupt dreißig Jahre lang im fernen Lande, in einer kleinen Stadt, abgeschlossen von der Menschheit und folglich auch ohne alle Einwirkung auf sie, und doch unaufhörlich von den Späherblicken der Neugierde umringt, mit ungeheueren Summen zu einem Leben voll des unerhörtesten Luxus, voll geradezu unsinniger Verschwendung auszustatten? Wären aber so kolossale Mittel zu irgendwelcher Proselytenmacherei verwendet worden, – hätten sie dann, bei der Wichtigkeit des Zieles, nicht [347] das Auge von Europa auf sich lenken müssen? Hätten sie so geheim, so aller Welt unbekannt bleiben können; wie sie es in der That jetzt noch sind? Und wie wäre eine Secte, und hätte sie über hunderttausend und sämmtlich sehr reiche Mitglieder gezählt, – im Stande gewesen, dreißig Jahre lang die vielen Millionen aufzubringen, und zwar nur zu dem Zweck, damit dieselben in fremdem Lande hinter Schloß und Riegel vergeudet würden? Und gewesene Juden sollen das gethan haben für ein „heiliges Haupt“, das nicht das Geringste für die Ausbreitung der Secte that, das keinen einzigen Priester des neuen Glaubens bei sich hatte, ja, das sammt all’ den Seinen, von den Pflegekindern bis zum letzten Leibgardisten, offen dem katholischen Cultus huldigte und für ihn die großartigsten Opfer brachte?

Mit welch’ namenloser Verschwendung das Schloß des Herrn von Franck in Offenbach ausgestattet war, kann man schon daraus ermessen, daß man im Treppenhaus die Stufen mit dem feinsten und kostbarsten isabellfarbigen Tuch belegt sah, das zu beiden Seiten mit vierfingerbreiten echten Goldborden besetzt war. Der Glanz, den das Haus durch den Wohlthätigkeitsprunk um sich verbreitete, mochte zu seiner Sicherheit beitragen, übertrieben war er für jedes Einnahmeverhältniß. Wie paßt dies zu einem Sectenhaupte, das von den Gaben dieser Secte abhängig war? Zur nächsten Umgebung des Fräuleins Eva gehörte eine „russische Fürstin Lubomirska“. Diese kam noch zu Oberrad ins Kindbett; nach neun Tagen durften die Frauen von Oberrad sie und das Kind sehen, und jeder gab sie aus einer neben ihr stehenden Schatulle voll Gold ein reiches Geschenk. Konnte auch diese Ausgabe im Interesse einer Secte geschehen?

Der alte Herr starb am 10. December 1791 eines raschen Todes. Herr Schenck-Rinck sah damals selbst, daß der auf dem Paradebett stehende Sarg mit rothem Sammt ausgeschlagen und mit goldenen Sternen und einer Krone verziert war. Die Kosten der Bestattung sind auf zehntausend Gulden geschätzt worden. Auch bei dieser Gelegenheit hörte man von einigen Personen, welche Peter den Dritten gesehen hatten, die Meinung äußern, daß nach Alter, Angesicht und Gestalt der „Polakenfürst“ kein Anderer gewesen sein könne, als jener so plötzlich verschwundene Russenkaiser. Nicht weniger auffällig ist der genau ermittelte Umstand, daß die auswärtigen Geldsendungen an die Familie von Franck nicht mit dem Tode des alten Herrn, sondern erst mit dem Tode der Kaiserin Katharina (sie starb am 17. November 1796) aufhörten. Bis dahin war die Hofhaltung, an deren Spitze nun Fräulein Eva stand, in der bisherigen Weise forterhalten worden, nur daß die Familie das Schloß verlassen und ein Haus bezogen hatte, das schon früher von ihr angekauft und mit derselben verschwenderischen Pracht, wie das alte, ausgestattet worden war.

Auch als von dem genannten Zeitpunkt an die geheime Einnahmequelle versiechte, ward keine Einschränkung in dem fürstlichen Leben bemerkbar; nur verließ nach und nach ein großer Theil des Gefolges Offenbach, so daß nur noch etwa Vierhundert zurückblieben. Aber trotz kostspieliger Wechselgeschäfte und Verpfändung von Pretiosen, Silbergeschirr und sonstigen Kostbarkeiten wuchs die Schuldenmasse der Familie bis 1799 zu einer Million Gulden an, und endlich drohten die Hauptcreditoren mit gerichtlichem Einschreiten. Da wurden am 17. Januar 1800 die Bewohner von Offenbach, Frankfurt, Mainz und anderen Städten durch eine an vielen Straßenecken angeschlagene und in viele Familien vertheilte Proclamation überrascht, die in jeder Beziehung ein denkwürdiges Actenstück ist, das wir deshalb hier vollständig mittheilen:

„Auf die so lange mit Sehnsucht erwartete Befriedigung unserer Gläubiger ist uns die Allerhöchste günstigste Antwort von Seiner Russischen Kaiserlichen Majestät, Selbstherrscher aller Reußen, erfolgt; auf Allerhöchst Deren Einladung wird sich unser geliebter Bruder den 1. Julius nach St. Petersburg begeben und nach sechsmonatlichem Aufenthalt zurückkehren und unter militärischer Bedeckung einen solchen gehörigen Geldtransport mitbringen, welcher alle unsere Gläubiger sowohl hier in Offenbach als in Frankfurt und aller Orten, wo nur unsere Schulden vorhanden, befriedigen wird. Sofort werden alle unsere hiesigen als auch auswärtigen Gläubiger um Geduld gebeten, ausgenommen unsere Bäcker, Metzger und anderen brauchbaren Leute, welche nach und nach abbezahlt werden. Nach geschehener Zurückkunft werden unsere Creditores durch öffentliche Blätter und unter dem Schall der Trompeten eingeladen, ihre Zahlungen sammt kommenden Interessen, welche pünktlich bis auf den letzten Heller ausbezahlt werden, zu empfangen; diejenigen aber, welche ohne zu können unsern Namen einigen Schandfleck angethan, werden nach geschehener Auszahlung ihre gebührende Strafe öffentlich dafür erhalten.

So geschehen
Offenbach, den 17. Januar 1800.
(L. S.)

Eva von Franck.
Roch von Franck.
Joseph von Franck.“

Das landesherrliche Recht öffentlicher Proclamationen und Strafandrohungen, das sich die Familie mit diesem Actenstück herausnahm, und die Duldung desselben durch den regierenden Fürsten bestärkten die Bewohner der genannten Städte erst recht in der Annahme, daß man es mit nahen Verwandten des russischen Kaiserhauses zu thun habe.

Eine Reise des Fräuleins Eva nach Venedig sowie die so pomphaft angekündigte Geldfahrt Roch’s nach Petersburg verschlangen große Summen, blieben aber ohne den verheißenen Erfolg. Es trat nun wirklicher Mangel in der Hofhaltung ein; das noch zurückgebliebene Gefolge fing an, mit seiner Hände Arbeit, die Frauen durch Stickereien, die Männer durch Handel in Manufactur- und Goldwaaren, sich zu ernähren. Da starb plötzlich, ohne vorheriges Krankheitszeichen, der liebenswürdige Joseph von Franck und wurde mit großem Pomp auf dem Offenbacher Friedhof bestattet. Räthselhaft blieb freilich Allen das gar zu rasch abgespielte Ereigniß.

Neue Hoffnungen für die Geschwister von Franck wie für die Gläubiger brachte das Jahr 1815. Die drei verbündeten Monarchen hielten ihren Einzug in Frankfurt. Viele russische Große vom kaiserlichen Gefolge statteten dem Fräulein Eva ihre Besuche in Offenbach ab und sie selbst hatte eine Zusammenkunft mit dem Kaiser Alexander in Homburg vor der Höhe. Erfüllten sich auch nicht die Erwartungen der Gläubiger, so konnte doch von da an das Schuldenmachen aufhören; jeder Bedarf wurde sofort berichtigt, und schon dies erforderte nicht unbedeutende Mittel. Roch von Franck, der auch während der Anwesenheit des Kaisers in russischer Stabs-Officiersuniform in Frankfurt erschienen war und mit der kaiserlichen Umgebung in nahem Verkehr gestanden hatte, trat jetzt in activen Dienst der russischen Armee und war für Offenbach spurlos verschwunden.

Wie schon bemerkt, waren Großeltern und Eltern und mehrere nahe Verwandte der Familie des Herrn Schenck-Rinck an der Schuldenmasse Derer von Franck mit bedeutenden Summen betheiligt. Um eine gütliche Mahnung zu versuchen, begab sich, kurz nach dem Verschwinden Roch’s von Franck, die Mutter des Herrn Schenck-Rinck, ihn selbst mit sich führend, zu dem Fräulein Eva nach Offenbach. Herr Schenck-Rinck schreibt über diesen Besuch: „War schon die hier herrschende Pracht vollkommen geeignet, die kindliche Phantasie in die Märchenwelt zu führen, so verwischte sich mir nie der Eindruck, als sich die Portièren theilten und das Fräulein in noch immer wunderbarer Schönheit mit ihren glänzenden Augensternen, deren Feuer die Brillanten ihres Schmucks überstrahlte, auf meine Mutter mit herzlicher Begrüßung zutrat. Ich war damals ein Knabe von acht Jahren und blieb stumm und staunend im Anschauen der majestätischen Schönheit stehen; ja, ich gestehe offen, daß der Eindruck sich so tief dem kindlichen Gemüthe einprägte, daß ich noch jetzt, nach mehr als fünfzig Jahren, mich der feenhaften Erscheinung noch immer lebhaft erinnere. Das Fräulein konnte leicht den Zweck des Besuchs ahnen, und sie kam meiner Mutter mit Aufzählen von Aussichten und Hoffnungen zuvor; so groß war die Allmacht ihrer Schönheit und Liebenswürdigkeit, daß sie jeden Vorsatz einer ernsten Anforderung oder Drohung noch auf der Zunge entwaffnete.“

Das Jahr 1816 – das Hungerjahr – verlief ohne besonderes Ereigniß für Offenbach und seine geheimnißvollen Gäste; desto verhängnißvoller wurde das folgende Jahr. Eine Familie W. in Mainz, deren ganzes sehr bedeutendes Vermögen in den Säckel der von Franck’schen Hofhaltung geflossen und deren einst so geachtete Existenz dadurch vollständig gestört war, wandte sich endlich an den damaligen Gouverneur von Mainz, Erzherzog Carl, um Einschreiten. Sofort wurde über das Fräulein, die Kämmerlinge und die gesammte Dienerschaft Hausarrest verfügt; das geschah an einem Sonnabend, und am Montage wollte der Erzherzog selbst an Ort und Stelle die Erklärungen des Fräuleins [348] über deren wahren Stand und Namen entgegennehmen. – Da geschah in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag das Unglaublichste: auch Fräulein Eva war plötzlich gestorben.

Der Vater des Herrn Schenck-Rinck eilte sofort nach Offenbach, konnte nur mit Mühe den Eintritt in das Palais erlangen und verlangte die Leiche zu sehen; und siehe: kaum zwölf Stunden nach angeblich erfolgtem Tode der Verblichenen war der Sarg bereits geschlossen! Ein Arzt, welcher das Fräulein nie im Leben gesehen, hatte den Todesschein ausgestellt! Ohne besondres Gepränge wurde der Sarg mit weiß Gott welchem Inhalt zu Grab gebracht.

Erzherzog Carl kam nun nicht nach Offenbach; man begnügte sich damit, den Geheimsecretär und die dem Hofstaat attachirten Herren gefänglich einzuziehen und die übrige Dienerschaft gerichtlich zu vernehmen. Aller übereinstimmende Aussage lautete jedoch nur: „Wir wissen, daß das Fräulein unsere gütige angebetete Herrin und alleinige Gebieterin war“ – und: „Wir haben in dem Fräulein eine Romanowna gekannt und verehrt.“

Die Namen der damaligen höheren Beamten des Franck’schen Hofhalts waren: Johann und Michael Matuschewski, zwei Pawlowski, Piazewski und Saleski; Letzterer zeichnete sich später als Verfasser einer Geschichte seines Vaterlands Polen aus und ist erst 1864 gestorben, ohne den Schleier dieses Geheimnisses gelüftet zu haben.

An den Tod des Fräuleins Eva hat Niemand geglaubt, ja man nannte sogar damals offen einen fürstlich Isenburgischen hohen Staatsbeamten (v. G.) als Denjenigen, welcher dem Fräulein die Flucht ermöglicht habe.

Der Vorhang über das geheimnißvolle Geschlecht war somit gefallen, – um so offenbarer ging der vor den Schulden auf. Die Schuldenmasse betrug drei Millionen Gulden. Jetzt erst wurde Concurs über den Nachlaß des Fräuleins erkannt; der wenn auch nicht unbedeutende Erlös aus dem Verkauf der Mobilien und Immobilien minderte doch die Schuldsumme nur wenig, und so wurden den Creditoren gerichtlich alle Wechsel und Verschreibungen, die nach Beschluß nicht verjähren können, ausgeliefert, um später vielleicht einmal ihre Ansprüche geltend zu machen. – „Aber wohin sollten die Creditoren sich mit diesen Ansprüchen wenden?“ – so schließt Herr Schenck-Rinck. „Selbst das kaiserliche Haus Romanow, zu welchem die Franck’sche Familie vielleicht in nächster Beziehung stand, wird sie zurückweisen, – und so schlummern denn sämmtliche Wechsel und Briefe sammt jener merkwürdigen Proclamation in dem tiefsten Winkel unserer Familien-Erlebnisse.“ –




[375]
II.


Im Jahrgang 1863 der Gartenlaube (Nr. 19 u. 20) führten wir unsere Leser vor „ein geheimnißvolles Grab“ auf dem Stadtberge bei Hildburghausen. Wir erzählten ihnen von einem von aller Welt abgeschlossenen Menschenpaar, das um das Jahr 1807 mit nicht gewöhnlichem äußeren Glanz in Hildburghausen angefahren kam, mit großen Ansprüchen, aber in äußerster Zurückgezogenheit, erst in einem Gasthofe, dann in Privatwohnungen lebte, bis es etwa drei Jahre später nach dem anderthalb Stunden von Hildburghausen an der Straße von da nach Coburg gelegenen Dorfe Eishausen übersiedelte und dort das geräumige Schloß des herzoglichen Domainengutes bezog. Wir schilderten ferner, mit welch’ augenscheinlicher Aengstlichkeit der Herr, welcher Graf Vavel de Versay genannt wurde, die Dame, die man, weil man sie für seine Gemahlin hielt, als „die Gräfin“ bezeichnete, jedem Auge, selbst noch in der Dorfeinsamkeit, entzog; wie diese Dame mehr und mehr als die Hauptperson, als die Ursache des so streng bewachten Geheimnisses erschien; wie ihr stets die neuesten Pariser Moden zu Gebote standen; wie selbst der „Graf“ stets in äußerster Ehrerbietung vor ihr erschien, während man ihre geistige Bildung nach Allem, was über ihren tagtäglichen Zeitvertreib verlautete, absichtlich niedergehalten haben mußte, und wie das schöne Weib im Jahre 1837 starb, ohne daß der Schleier des Geheimnisses gelüftet worden wäre. Selbst der Tod der „Gräfin“ vermochte nunmehr nichts an den Gewohnheiten des „gnädigen Herrn“ zu ändern: er blieb der Abgeschlossene von der Menschheit, aber im Geist, im wiederholten Studium der „Classiker von vier Nationen“, und durch die Tagesblätter desto reger mit ihr fortlebend, bis auch ihn 1845 der Hügel deckte.

Wir haben als Hauptquelle zu jenem Artikel von 1863 außer eigenen Forschungen (d. V. wohnte Jahre lang in Hildburghausen und längere Zeit sogar in nächster Nähe des „geheimnißvollen Grabes“, das noch von den Nachkommen der letzten Diener „des Grafen“ gepflegt wird) den ausführlichen Bericht in Bülau’s „Geheimen Geschichten und räthselhaften Menschen“ benutzt, als dessen Verfasser uns der Director der Musterschule zu Frankfurt a. M., Dr. Kühner, genannt ist. Seine Darstellung ist so pietätvoll gehalten, daß sie gern jeden unwürdigen Verdacht gegen die Stellung des Geheimnißvollen zurückweist, und seine Behauptungen sind so entschieden und allezeit so gut belegt, daß man kaum einen Zweifel dagegen hegen kann. Da wir nun in jenem frühern Artikel vieles, die Möglichkeit einer dereinstigen Aufdeckung des Schleiers Andeutende aus Mangel an Raum zurücklegen mußten, so fühlen wir uns, durch einzelne neuere Winke angeregt, nunmehr verpflichtet, das damals gegebene Versprechen, „in einem nachträglichen Artikel alles bis jetzt über dieses unheimliche Geheimniß Ermittelte treulich zu berichten“, nach Möglichkeit zu erfüllen.

Lange ehe in Folge des Todes des Grafen und der dadurch in der Tagespresse wiedererweckten Fama über das allgemeine Theilnahme erregende Geheimniß ein Blick in die Vergangenheit der beiden Hauptpersonen eröffnet worden war, hatten einzelne Anzeichen und Angaben den Ursprung desselben nach Frankreich verwiesen. [376] Nach diesen Anzeichen mußte es von nicht geringem Interesse sein, denselben geheimnißvollen Kreis von eigentlich drei Personen, – denn neben dem Grafen und der Gräfin gehört auch der Kammerdiener, der zugleich zu gewissen Zeiten auch als Kutscher fungirte, zu den bis an ihr Ende vor der Welt im Dunkel Gebliebenen – wenige Jahre vor dessen Erscheinen in Hildburghausen ganz in derselben äußern Gestalt und zurückgezogenen Haltung in Ingelfingen zu finden.

Um das Jahr 1803 oder 1804, erzählt Dr. Kühner, erschien in dem Städtchen Ingelfingen im Würtembergischen ein Unbekannter, der sich Graf oder Baron nannte, und lebte daselbst einige Zeit in räthselhafter Dunkelheit. Er hatte eine Miethwohnung bezogen, zugleich mit einer Dame, die er selbst seine Gemahlin genannt haben soll, oder die man wenigstens allgemein dafür hielt. Die vornehme Einfachheit seiner Lebensweise ließ den hohen Rang, seine Zurückgezogenheit von der Welt ließ reiche Welterfahrung durchblicken. Er hatte eigene Equipage; sein einziger Diener, der zugleich Kutscher war, theilte die Abgeschiedenheit seines Herrn und zeigte in seiner noblen Haltung eine weit über seinen Stand gehende Bildung. Eine weibliche Dienerin war unter der Verpflichtung der Verschwiegenheit angenommen worden; sie durfte nur zu gewissen Stunden die Wohnung der Fremden betreten. In die Nähe der Dame aber ist selbst diese Dienerin nie gekommen. Der Graf war das einzige menschliche Wesen, mit welchem die Unbekannte in Berührung kam. Niemand in Ingelfingen hat sie gesprochen, oder auch nur sprechen hören. Wenn sie Tritte auf der Treppe hörte, flüchtete sie in ihr innerstes Gemach, das sie hinter sich verschloß. Sie soll viel geweint haben. Wenn sie am Arme ihres Gemahls spazieren ging, oder wenn sie mit ihm ausfuhr, war sie verschleiert, oder trug eine grüne Brille; doch wollten damals Personen, die sie sahen, behaupten, daß sie eine auffallende Aehnlichkeit mit der Tochter Ludwig’s des Sechszehnten zeige.

Der Graf mied nicht allen Umgang. Er kam z. B. öfters zu dem Apotheker, in dessen Hause er wohnte, interessirte sich für dessen chemische Arbeiten und sprach mit ihm einsichtsvoll über medicinische Gegenstände. Die Wenigen, die mit dem Grafen in nähere Berührung kamen, priesen mit Entzücken die Liebenswürdigkeit seines Charakters, sein edles, gemüthvolles Wesen, seine wissenschaftliche Bildung, seine tiefen Kenntnisse politischer Verhältnisse und bedeutender Personen.

Man erinnerte sich, daß er einst auf die Frage, ob er Kinder habe, mit tiefer Wehmuth antwortete: „Wenn ich so glücklich wäre!“ – Und doch war damals der Graf ein blühender Mann, höchstens ein Vierziger, und die Dame, die er begleitete, stand in der ersten Jugendblüthe!

Der Graf interessirte sich sehr für die politischen Gesinnungen der Vornehmen in Ingelfingen; er selbst zeigte Sympathie für die rechtmäßige Dynastie in Frankreich. Zeitungen in verschiedenen Sprachen hielt er für seine Person; von fernen Posten kamen häufige Briefe an ihn. Zu Ingelfingen war man allgemein der Meinung, daß er ein französischer Prinz sei; Viele hielten ihn für den Herzog von Angoulême selbst.

Eines Morgens waren die Unbekannten plötzlich verschwunden; für einige Bekannte hatte der Graf werthvolle Geschenke zurückgelassen. Gleich darauf kam die Nachricht, daß der Herzog von Enghien auf badischem Gebiet aufgegriffen und nach Paris abgeführt worden sei (März 1804). Man war in Ingelfingen allgemein der Meinung, daß der Graf, von diesem Vorfall zeitig benachrichtigt, sich einem ähnlichen Schicksale durch die Flucht habe entziehen wollen. Einige Monate später aber las man im Schwäbischen Mercur die Nachricht von dem Tode eines französischen Emigranten von Bedeutung, der sich einige Zeit in Ingelfingen aufgehalten habe.

Die Beschreibung des angeblich Verstorbenen paßte Zug für Zug auf den Grafen Vavel. Die Ingelfinger hielten jedoch ihren Unbekannten für todt, und er war fast vergessen, als im Jahre 1845 die öffentlichen Nachrichten über den Geheimnißvollen in Eishausen in den wenigen noch Lebenden die Erinnerung an ihn wieder weckten.

So weit die Mittheilung aus Ingelfingen.

Dr. Kühner findet nun die Vermuthung naheliegend, daß der Zeitungsartikel von dem Tode des Emigranten fingirt war und die Absicht hatte, die Spur des Unbekannten von der Erde zu verwischen. Außer allem Zweifel findet er es, daß dasselbe Geheimniß, welches den Augen der Ingelfinger entschwunden war, drei oder vier Jahre später von einem Grafen Vavel de Versay in Hildburghausen eingeführt wurde. Es ist dieselbe einsiedlerische Dame mit Schleier und grüner Brille, es ist derselbe seltsame Diener, der zugleich Kutscher war, und der Graf Vavel scheint nach Allem der aus dem Grabe erstandene Mann von Ingelfingen; die Beschreibung seiner äußeren Erscheinung und seiner Lebensweise, wie wir sie von Ingelfingen erhielten, spricht für die Identität der Person.

War der Geheimnißvolle von Ingelfingen wirklich gestorben, – so schließt Dr. Kühner diese Ingelfinger Episode seiner Mittheilung – so war es ein Mann, der die Rolle jenes Geheimnißvollen in demselben Augenblick aufnahm, als sie dem Sterbenden aus der Hand fiel, und sie bis zu seinem eigenen Tode fortspielte.

Diese Frage der Identität, die hier ziemlich müßig erscheinen mag, wird sich noch von hoher Bedeutung zeigen.

Der dichteste Schleier des Eishäuser Geheimnisses lag auf der Geldquelle. Nach der Angabe der Post betrug die jährliche Einnahme des Grafen etwa zwölftausend Gulden. Nach den Ermittelungen der Behörden (nach seinem Tode) soll sie nur siebentausend Gulden betragen haben. Jedenfalls standen ihm die Mittel nach seinem Bedürfniß zu Gebote, das nicht immer ein gleiches sein konnte. Wie sehr er selbst auf die Verheimlichung dieser Geldquelle bedacht war, dafür zeugt der wichtige Umstand, daß er die letzte ihm angemeldete Geldsendung, im Vorgefühl seines nahen Todes, zurückschrieb. Wäre nach seinem Tode noch eine solche Sendung angelangt, so würde sie in die Hände des Gerichts gekommen sein. Mit solch’ eiserner Consequenz bewahrte der Greis sein Geheimniß.

Und in die Hand eines solchen Mannes war das Schicksal eines hülflosen weiblichen Wesens gelegt. Als die „Gräfin“ (1810) nach Eishausen kam, schätzten die wenigen Menschen, die sie einmal im Freien an des Grafen Seite oder am Fenster des Schlosses sahen, sie auf ungefähr achtzehn Jahre. Indeß war eine Täuschung in dieser Beziehung leicht möglich, da die Gräfin nur von wenigen Personen und zwar nur aus ziemlicher Entfernung, oder im raschen Vorbeifahren im Wagen oder tief verschleiert gesehen worden ist.

Der sicherste Beweis gegen alle Hypothesen, welche eine geheime, wohl mit Entführung und schwereren Verbrechen verbundene Liebesgeschichte aus diesem Dunkel herauserklären wollten, ist der eine Umstand, daß der hochgebildete Graf es vermochte, das arme Weib in der tiefsten Unwissenheit neben sich geistig vegetiren zu lassen. Und wäre die Selbstsucht in dem Manne bis zum äußersten Grade ausgebildet gewesen, um des eigenen Genusses am geliebten Wesen willen würde er dafür gesorgt haben, der schönen Blume den höheren Reiz geistigen Duftes zu verleihen.

Nein! Die „Gräfin“ war eine Gefangene. Daraus erklärt sich ihre ganze Behandlung oder vielmehr Mißhandlung. Von sichtbaren Spuren dieser Gefangenschaft erzählt man sich dort noch heute. In dem Garten, hoch am Stadtberg bei Hildburghausen, in welchem das arme Weib begraben liegt, steht ein freundliches, großes Garten- oder kleines Wohnhaus. Der Graf hatte das Grundstück gekauft und verbrachte im Sommer bisweilen einige Tage dort. Der prächtige Blick in’s farbenreiche Thal mit den buschigen Werrakrümmungen, der freundlichen Stadt, den Dörfern und ihren Fluren und dem Thüringer Waldkranz am fernen Himmelsrand mochte der immer hinter hohe Gartenzäune oder die Vorhänge ihres einsamen Schloßfensters Verbannten wohlthun, und darum bat sie, auf dem Fleckchen Erde, wo sie einige Male glücklich war, begraben zu werden. In diesem Hause, wie auch in Eishausen, sollen die Riegel an der Schlafkammer der „Gräfin“ von außen angebracht gewesen sein. Auch der Zaun um den Garten in Eishausen – oder vielmehr das umzäunte Stück Wiese, weiter war es nichts – spricht dafür, denn um jede Annäherung an die acht Fuß hohe Breterwand von innen unmöglich zu machen, war dieselbe ringsum mehrere Fuß dick mit Dornenwerk aller Art verwahrt. Gegen jede Annäherung von außen wachte der Graf selbst, der das Fenster im Schloß nicht eher verließ, bis die Gefangene in das Haus zurückgeleitet worden war. Der Graf war für alle Fälle auch mit Schießwaffen versehen.

Und dieser Garten! Wer für ein geliebtes Wesen ein [377] Stückchen Land zur Lust im Freien pflegt, wird es so anmuthig wie möglich herrichten. In diesem sogenannten Garten war nichts zu finden, als zwischen der hohen, öden Dornenhecke die alte Wiesenfläche mit einem schnurgeraden Wege vom verschlossenen Eingang bis zu einer durchsichtigen Laube in der Mitte des Wiesenstücks. Kein Blumenbeet, kein lauschiges Plätzchen, – nichts, als der schnurgerade Kiesweg zum Auf- und Abwandeln, ausschließlich dem gesundheitsgemäßen Athmen frischer Luft gewidmet und doppelt bewacht, durch die Dienerin – die beim Auf- und Zusperren der Garten- und der Schloßthür der Gräfin den Rücken zukehren mußte, um sie nicht zu sehen! – vor der Thür und den Grafen am Fenster.

„Nicht ein einziges Mal durfte das arme Geschöpf frei und allein die Treppe herunter und in den nur etwa vierzig Schritt vom Schloß entfernten Garten gehen, nicht ein einziges Mal frei und allein mit irgend einem Menschen sprechen, nicht ein einziges Mal allein spazieren fahren, – Tag und Nacht ließ der eine, der einzige Mann, an den ihr ganzes Leben gekettet war, sie nicht aus den Augen; er allein bediente sie sogar beim Essen, und er allein hat den letzten Seufzer der Sterbenden belauscht!

Und wie das schwache Weib mit Gewalt, so war auch der alte Kammerdiener und Kutscher an die Person des Grafen gefesselt, – und dies muß unsere Verwunderung um so mehr erregen, als dieser, wenn er aus dem unnatürlichen Zwang sich befreien wollte, ja jeden Augenblick hätte entfliehen können. Was band oder bannte ihn so fest an den Grafen? Sollte es nur die lange Gewohnheit und die, was Lebensbedürfnisse betrifft, angenehme dienstliche Stellung gewesen sein – oder war es eine Mitschuld, ein schwer zu verantwortendes Mitwissen eines gefährlichen Geheimnisses? Wir wissen wenigstens, daß er viel an Gewissensunruhe litt. Er bat einst den Pfarrer, ihm heimlich beichten und von ihm das heil. Abendmahl empfangen zu dürfen; der Pfarrer stieß sich an die Verheimlichung dieses Acts und wies ihn ab. Auf dem Sterbebette flehte er um geistlichen Zuspruch – aber nun stand der Graf zwischen ihm und seinem letzten Wunsch – er mußte einsam sterben und seine Gewissenslast mit in das Grab nehmen.

Das Geheimniß war abermals gerettet. Man hat Zweifel gegen das Gefangenschaftsverhältniß der Dame erhoben, indem man annahm, daß sie, wenn sie wirklich gewollt, doch irgend einmal Gelegenheit zur Flucht oder zum Hülferuf hätte finden können. Dem gegenüber steht die totale Hülflosigkeit derselben, der ungepflegte Geist, die körperliche Zartheit und Unbehülflichkeit und – die lange, lange Gewohnheit, abgesehen von der strengen und entschlossenen Männlichkeit des Grafen, die sie mit Furcht erfüllen mußte, mit Zittern und Zagen, schon bei dem Gedanken an eine Flucht. Und wohin sollte sie fliehen, die im fremden Lande keine Seele kannte, vielleicht seit ihrer Kindheit frei mit keinem Menschen gesprochen hatte, von den Verhältnissen der Welt sicherlich gerade nur so weit unterrichtet war, als es für die Sicherheit des Wächters zuträglich erschien?

Dazu darf man nicht vergessen, daß bis zum Tode der Gräfin ein Verdacht gegen den Grafen, daß er der Wächter eines Geheimnisses sei, durchaus nicht gehegt wurde. Die Dame galt für seine Gemahlin, von der ängstlichen Bewachung derselben war noch keine Kunde aus dem Schloß herausgetragen worden, alle Diener hielten das tiefste Schweigen und waren nur voll Lobes über den gegen alle der Hülfe würdigen Personen, Anstalten etc. glänzend wohlthätigen Herrn. Allerdings zerbrach sich das Volk den Kopf über die Zurückgezogenheit der Frau Gräfin, aber man nahm lieber zu dem Wunderlichsten seine Zuflucht, um einen Erklärungsgrund für diese seltsame Geschichte zu finden, als daß man sich zu einem Zweifel in die rechtliche Stellung beider Personen erkühnt hätte. Man erzählte sich nämlich, daß das Gesicht der Dame durch einen Schweinsrüssel entstellt sei. Ein Coburger Friseur wollte die verschleierte Dame einmal frisirt und, als zufällig dabei sich der Schleier verschob, das Ungeheuerliche mit seinen eigenen Augen gesehen haben. Das schöne Gesicht der Gräfin, das Andere mit derselben Bestimmtheit gesehen haben wollten, wurde für eine Maske erklärt, wie man denn sogar nicht einmal an ihren Tod glauben wollte, sondern behauptete, es habe eine Wachsfigur im Sarge gelegen, während sie selbst nächtlicherweile vom Schlosse fortgeschafft worden sei.

Erst als nach dem Tode der Dame der Graf dem Ortsgeistlichen und dem Gericht erklärte, daß sie nicht seine Gemahlin, sondern nur „seine Lebensgefährtin“ gewesen und Sophie Botta geheißen, aus Westphalen gebürtig, ledigen und bürgerlichen Standes und achtundfünfzig (man schätzte sie höchstens auf fünfundvierzig) Jahre alt gewesen, wurde die Fama lebendig. Dennoch war die Achtung vor dem „Wohlthäter des Landes“ so groß, daß sie erst laut wurde, als er gestorben war.

Wie dann das Volk sich die Geschichte zurecht legte, ist wohl erzählenswerth. Es hieß: Der sogenannte Herr Graf sei eigentlich ein Arzt oder Chirurg, in den sich eine französische Königstochter verliebt habe. Beide seien aus Frankreich entflohen und der Mann habe seine Frau unter vielen Entbehrungen an verschiedenen Orten Deutschlands als Chirurg ernährt; zwei Kinder, die sie gehabt, wären rasch nacheinander gestorben. Auch in Neuseß bei Coburg hätten sie einige Zeit gewohnt. Da sei einmal der König von Frankreich durch Coburg gereist und habe seine Tochter zu sich in den Gasthof kommen lassen, und dabei sei eine Versöhnung zwischen Vater und Tochter zu Stande gekommen und auch dem Mann habe er seinen Fehltritt verziehen. Er habe die Ehe nicht getrennt, auch versprochen, Beide heimlich zu unterstützen, damit sie ein standesmäßiges Leben führen könnten, nur müßten sie in aller Heimlichkeit miteinander leben und Niemand auf der Welt dürfe erfahren, wer ihr Vater sei.

Es sieht recht wunderlich aus, was das Volk sich zusammengedichtet, und doch liegt’s vielleicht näher an der Wahrheit als manche andere Hypothese, welche gelehrter Scharfsinn über dem Dunkel aufgebaut.

Daß des „Grafen“ Abgeschlossenheit keine freiwillige war, hat er selbst später offen ausgesprochen.[1] „Meine Zurückgezogenheit war lange eine gezwungene, in letzter Zeit aber war sie freiwillig.“ – „Wenn ein Mann etwas früher gestorben wäre, so würde ich in die Welt zurückgekehrt sein.“ – Ueber seine Lebensgefährtin äußerte er: „Sie war eine arme Waise, die Alles, was sie besaß, mir verdankte, aber mir das tausendfach vergolten hat.“ – „Meine Verbindung mit ihr hatte etwas Romantisches, einer Entführung Aehnliches.“ – Und der Kammerdiener sagte einmal: „Sie hat kein Vermögen, aber – sie ist die Herrin über Alles.“

Wie stimmt aber dazu folgende Aeußerung des Grafen nach der gerichtlichen Versiegelung ihres Nachlasses: „Sie hat seit dreißig Jahren keinen Heller auszugeben Gelegenheit gehabt, zeichnete ihre Wäsche nur mit Bleistift auf, konnte auch an Niemand schreiben, da sie keine Bekannten hatte. … Ich habe immer, wie mit religiöser Scheu, ihre vielen Kommoden betrachtet, nie sie berührt; ich wußte nicht, wie viel schöne, ihr aufgedrungene Sachen sie enthielten.

Hier artet denn doch der Widerspruch bis zur offenbaren Unwahrheit aus! Sie hat seit dreißig Jahren an Niemanden geschrieben, weil sie Niemanden hat – und doch werden ihr schöne Sachen aufgedrungen, und zwar weiß der Graf nicht einmal, wie viel, er, der über jeden Athemzug der armen Eingesperrten wacht!

Nach dieser Probe von Rechtfertigung verdient nun auch Das behandelt zu werden, was er als Nachlaß in die Hände des Gerichts fallen und dadurch der Oeffentlichkeit zukommen ließ; – vielleicht weniger jedoch das, was er in einer Unterredung dem als Arzt und Schriftsteller berühmten Obermedicinalrath Carl Hohnbaum in Hildburghausen mittheilte. Der damals fast siebzigjährige Einsiedler war von Tod und Nachlaßversiegelung seiner Lebensgefährtin so angegriffen, daß er gerade diesen Arzt holen ließ, nicht um ärztlichen, sondern um menschlichen Rath zu empfangen. Aus dieser Unterredung sind folgende Bemerkungen des Grafen von Gewicht. Es entfielen ihm Andeutungen, daß er die Glieder der Bourbonischen Familie genau gekannt, daß er bei einer Gesandtschaft in Paris und auch in London gewesen sei, daß er in Paris mit Lafayette und Benjamin Constant verkehrt habe, am Hofe in Weimar mit Livländern und Kurländern zusammengetroffen, in Jena zur Zeit Schiller’s gewesen und dort Loder genau gekannt habe. Auch einer Reise nach Wien zum Kaiser Alexander erwähnte er: „Denken Sie, damals war die Dame schon bei mir; ich mußte unaufhaltsam mit Courierpferden reisen; [378] die Dame konnte ich nicht verlassen, sie mußte mich begleiten, und Niemand durfte ihr Dasein ahnen.“ Ferner: „Ich wollte für die Kranke Sie als Arzt rufen lassen, doch sie wollte das nicht; auch hätte sie Opfer von Ihnen verlangt“ – „Sie wissen gar nicht, welche Verantwortung Sie auf sich genommen hätten, wenn ich Sie zu dieser Dame geführt hätte!“ – – Und in welchem Zustand traf Hohnbaum den seit mehr als dreißig Jahren von der Welt Geschiedenen? Er fand ihn zwar zu Bette liegend, „aber mit ungebrochener Willenskraft, das Aeußerste zu wagen für die Bewahrung seines Geheimnisses, und den geistigen Blick so frei und beweglich, wie der eines Mannes, der eben erst von dem dichtesten Marktgewühl des politischen und wissenschaftlichen Lebens heimkommt.“ –

Wir eilen dem Schlusse zu und müssen gestehen, daß hier das Schicksal einen glücklichen Griff gethan, als es einen so hochbegabten und eisernen Geist zum Wächter eines großen politischen Geheimnisses setzte. Etwas Anderes ist nicht anzunehmen, und Alles, was der Graf in seinem Nachlaß finden ließ, gehört, wie sicherlich auch Vieles, was er im Leben brieflich und mündlich in wohl oft traulichster Form hingab, zu seinem Apparat absichtlicher Täuschung und kluger Abführung von der wahren Spur.

Unter den nachgelassenen Papieren des Grafen befand sich nämlich ein Reisepaß, der auf den Namen Leonardus Cornelius van der Valck lautete, und ein Taufzeugniß mit demselben Namen. Auf die öffentliche Aufforderung des Hildburghäuser Kreisgerichts an die unbekannten Verwandten des Verstorbenen, die Hinterlassenschaft desselben, die an Immobilien (Häuser und Gärten bei Hildburghausen), Mobilien und baarem Gelde fünfzehntausendeinhundert Gulden betrug, in Empfang zu nehmen, wußte sich ein Herr van der Valck aus Holland als Verwandter zu legitimiren und erhielt, allerdings angeblich erst mit Hülfe diplomatischer Vermittelung der holländischen Gesandtschaft bei dem Gouvernement in Meiningen, die Erbschaft ausgehändigt.

War aber wirklich der Mann, welcher vierzig Jahre lang als Vavel de Versay lebte, jener van der Valck? Hat der Mann nicht etwa mit beiden Namen die Welt irre geführt? Wird er doch in einem Briefe der Gräfin an ihn, dem einzigen Schriftstück, das von ihr existirte und das er selbst für authentisch erklärt, Ludwig genannt, nicht Cornelius oder Leonardus. – Zwar schien aus einer Reihe von Briefen hervorzugehen, daß die Verwandten des Herrn van der Valck von Holland her mit dem Geheimnißvollen im Schloß bis zu seinem Tode in Correspondenz gestanden, – sie selbst hielten ihn wohl für diesen van der Valck, aber ob er es auch war? Gesehen hat ihn im Leben keiner seiner Verwandten, ja sie wußten nicht einmal etwas von der Existenz einer Dame im Schloß. – Oder sollte, als der Emigrirte von Ingelfingen todt gesagt wurde, ebenderselbe sich die Papiere eines Leonardus Cornelius van der Valck zu verschaffen gewußt und, mit den Verhältnissen desselben bekannt, den Verwandten in Holland geschrieben haben, daß er fortan als Vavel de Versay in tiefster Verborgenheit fortleben wolle? – Sollte Das den schweren Druck auf dem Gewissen des Kammerdieners verschuldet haben? –

Dr. Kühner, dem wir leider in dem Abschnitte seiner Mittheilungen, welcher „die gerichtlichen Erörterungen und den Versuch einer Kritik derselben“ enthält, hier nicht in’s Einzelne folgen können, weshalb wir diejenigen Leser, welche von diesem Geheimniß sich besonders angezogen fühlen, auf diese geistreiche und warme Arbeit selbst hinverweisen, Dr. Kühner nimmt für jeden Fall, ob wir den Gesandtschaftssecretär von der Valck oder einen Unbekannten vor uns haben, an, daß er nicht der Held des unentwickelten Dramas gewesen sei, sondern nur der Diener.

Wer war aber die Hauptperson dieses Dramas, die Dame? Auch für sie bringt der Nachlaß einen neuen Schleier: eine Anzahl 1798 und 1799 geschriebener Briefe einer Frau Angés Berthelmy geborene Daniels aus Mans, in der man die „Lebensgefährtin“ des Grafen wieder finden wollte. Wohin kommen wir nun aber mit dem vom Grafen für sie angegebenen Namen Sophie Botta? – Nach einer damals in der Augsburger Allgemeinen Zeitung veröffentlichten Correspondenz aus Heidelberg lebte allerdings Ausgangs der neunziger Jahre eine geborne Daniels, verehelichte Berthelmy in Frankreich, die, aus Köln stammend und mit einer gräflichen Familie Foy in Paris verwandt, längere Zeit in Rheinbaiern wohnte, wo eine Tochter derselben noch jetzt leben soll. Berthelmy soll ein französischer General gewesen sein. Aber was fangen wir wieder damit an? Die Verschleierung des Ganzen wird dadurch eine immer verwickeltere.

Gehen wir zu der, nach Dr. Kühner’s Ansicht, statthaftesten Annahme zurück, daß der Unbekannte die Gefangenschaft einer Dame von großer politischer Bedeutung bewacht habe, so finden wir das doppelte Opfer nicht nur so bedeutender Summen, sondern auch eines ganzen Manneslebens erklärlich. Wie wir aber oben bei der Frage stehen blieben: Wer war der Mann? – so bleibt uns hier die Frage unbeantwortet: Wer war die Dame?

Sicherlich ist es ein beachtenswerthes Zusammenstimmen, daß schon 1803 oder 1804 in Ingelfingen im Antlitz der Dame Aehnlichkeit mit der Tochter Ludwig’s des Sechszehnten herausgefunden wurde, daß, wohl zwanzig Jahre später, ein Meininger Geheimrath (der früher genannte Herr v. B.) dieselbe Aehnlichkeit entdeckte, daß, ohne von Beidem das Geringste zu wissen, der Pfarrer zu Eishausen durch das Lilien-Siegel auf dieselbe Vermuthung geleitet wird und daß später, nach der Dame Tod, dasselbe Siegel häufiger, also unbesorgter, auf den Briefen an die Wittwe des Pfarrers erscheint. Nehmen wir hierzu das Lilienzeichen auf mehreren Hemden der „Gräfin“ und die Aeußerung des Grafen: „Ich würde den ganzen Nachlaß der Dame zum Besten der Armen überlassen haben, mit Ausnahme von einigen Hemden und Roben“, – so finden wir nicht nur das respectvolle Benehmen des Herrn vor der Dame, sondern auch die Wichtigkeit erklärt, die er auf die Wahrung seines Geheimnisses durch volle vierzig Jahre gelegt. Dazu kommt noch, daß im Jahre 1824 oder 1825 eine französische Zeitung (sie wurde Dr. Kühner von einem zuverlässigen Manne mitgetheilt, der sich damals in Geschäften des Königs von Würtemberg in Paris befand) die mysteriöse Notiz enthielt: man habe in einem verborgenen Winkel von Thüringen die Spur einer längst verschwundenen französischen Prinzessin entdeckt, möge aber wohl Grund haben, diese Spur nicht zu verfolgen. Uebrigens würde auch das Alter der Dame, wie der Graf es angab (58 Jahre bei ihrem Tode 1837), mit dem der Tochter Ludwig’s des Sechszehnten zusammenstimmen.

Wenn auch Dr. Kühner die Nüchternheit seiner Kritik durch diese Verfolgung von Spuren bis zu einem Königsthron für gefährdet hält, so giebt ihm die geheime Geschichte der Höfe das beste Recht dazu. Es wäre gar nicht so romanhaft, eine echte Königstochter von der Revolution zur Seite geschleudert und später durch eine untergeschobene Herzogin von Angoulême ersetzt zu sehen. Auch für die Annahme einer Prinzessin Condé könnten einige Aeußerungen des Grafen sprechen; dagegen steht der Angabe in einem historischen Romane von Georg Hesekiel („Graf d’Anethan d’Entragues“, 3. Bd., 5. Capitel), daß die Unbekannte eine Tochter des Herzogs von Enghien gewesen sei, die Zeit entgegen, denn das unglückliche Opfer Napoleonischer Rache vermählte sich erst 1802 mit der Prinzessin Charlotte von Rohan-Rochefort, während die Gefangene von Eishausen damals schon zehn bis fünfzehn, oder gar zwanzig Jahre alt sein mußte.

Wird je Licht in dieses Dunkel kommen? Man möchte daran zweifeln, nachdem so oft die Herrschergeschlechter auf Frankreichs Thron gewechselt, die Macht der Bourbonen gebrochen, Furcht und Scheu vor ihnen geschwunden und doch noch kein Bekenntniß an den Tag gekommen ist. Nahe liegt allerdings der Gedanke Dr. Kühner’s, daß der Unbekannte in seinem langen Leben in dem stets unzugänglichen Schlosse zu Eishausen es wohl nicht versäumt habe, über oder unter der Erde, in Wänden oder unter den Dielen, verborgene Behälter anzulegen, in welchen auch für den Fall einer plötzlichen Ueberrumpelung, und selbst für den Fall seines plötzlichen Todes die Documente seines Geheimnisses (Briefe, Petschafte, bezeichnende Schmucksachen etc.) vollkommen gesichert sein konnten.

Bis jetzt ist dort keinerlei Nachforschung geschehen; das Schloß dient in allen Räumen zur Aufbewahrung von Getreide, so daß nicht einmal das Beschreiten der Zimmer möglich ist.

Aber auch die Möglichkeit eines anderen Schlüssels zu dem Geheimniß ist noch der Bemerkung und einer Nachforschung werth. Dr. Kühner verwirft zwar mit aller Entschiedenheit die Annahme, daß der Graf, um sich den ruhigen Aufenthalt im Hildburghäuser Lande zu sichern, der Herzogin Charlotte (der Leser kennt sie aus unserm Artikel über die „Bettenburg“) sein Geheimniß anvertraut oder wenigstens erklärende Papiere mitgetheilt habe. Aus Hildburghausen, und zwar von ebenfalls sehr glaubwürdigem Munde,

[379] wird mir aber ebenso entschieden versichert, daß dies dennoch geschehen sei. Darüber ließe sich Gewißheit erlangen, und zwar in Altenburg. Es ist nämlich anzunehmen, daß die geistreiche Fürstin, wenn ihr überhaupt eine solche Mittheilung gemacht worden ist, allerdings wohl Verschwiegenheit genug hatte, um das Geheimniß weder mündlich noch brieflich weiter zu tragen, aber das ist psychologisch anzunehmen, daß sie ihrem Tagebuch wenigstens eine Notiz darüber anvertraut habe. Die edle Fürstin schlummert unter ihrer hohen Grabsäule auf dem Friedhof zu Hildburghausen, ihre Nachkommen sind nach Altenburg gezogen, wohin auch das fürstliche Privatarchiv und sonstige Familienpapiere mit ausgewandert sind. Es wird also dort Sache der betreffenden Personen sein, sich der Mühe des Nachforschens nach dem Schlüssel zu einem solchen Geheimniß zu unterziehen, aber auch das Resultat dann der Oeffentlichkeit mitzutheilen.
Friedr. Hofmann.




  1. Wir haben im Artikel von 1863 von dem seltsamen Briefwechsel erzählt, welchen der Graf mit dem ehrwürdigen Pfarrer von Eishausen anknüpfte und den er nach dessen Tode mit der Wittwe des Pfarrers, die nach Hildburghausen gezogen war, fortsetzte. Diesem Briefwechsel verdankt man die meisten der hier mitgetheilten Selbstgeständnisse des Unbekannten.