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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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Quelle: commons
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Der seltsame Beweis!
Von A. v. K.

„Mary, was mag es an der Zeit sein?“ frug die hübsche Mathilde, das blonde Krausköpfchen von dem Fenster, an dem sie seit geraumer Zeit stand, zur Gefragten wendend, die am andern Fenster arbeitete.

„Bald drei!“ lautete die Antwort. Mathildens blaue Augen richteten sich wieder der Straße zu – und die rosigen Finger trommelten ungeduldig an der Scheibe. „Ueber zwei Stunden! …“ fügte Mary hinzu.

„Frage ich darnach?“ brauste Mathilde auf; „warum suchst Du in der gewöhnlichsten Frage eine Absicht, die nur in Deiner Einbildung lebt?“

„Um Vergebung, gnädige Frau, ich vergesse immer, daß wir Dienstboten“ – und sie betonte das Wort – „das nie errathen sollen, was man uns nicht anvertraut, wenn auch durch die wärmste, die innigste Theilnahme getrieben. Zwischen dem Herzen der Dienerin und dem ihrer „gnädigen Frau“ darf es einmal nichts Gemeinschaftliches geben.“

Mathilde wandte sich um, ging auf die Beleidigte zu, die jetzt ausschließlich mit ihrer Arbeit beschäftigt zu sein schien, stand eine Weile stumm vor ihr, – da plötzlich traten Thränen in die hübschen blauen Augen, und sie schlang die Arme um Mary’s Hals.

„Wie Du redest, Du böse Mary, wie kannst Du das Wort Dienstbote aussprechen? – Bist Du nicht von Kindesjahren meine Freundin gewesen, bist Du es nicht jetzt noch?“

„Gnädige Frau, was die Güte Ihrer Eltern an Ihrer Gespielin gethan, konnte diese als Kind nicht ermessen, – um so mehr aber jetzt die Gesellschafterin, – sie wird sich auch an den Gedanken gewöhnen, daß die Gleichheit, die zwischen den Kindern herrschte, jetzt nicht mehr an der Stelle ist.“

„Nicht so, nicht so, Mary,“ liebkoste Mathilde unter Küssen, „sei mir nicht böse. Habe ich Dich verletzt, so geschah es ohne Absicht, denn die treue Freundin weiß ich an Dir zu schätzen, – und daß ich Dich von Herzen liebe, weißt Du ja!“

„Von oben herab!“ fiel die Engländerin bitter ein.

„Mary!“ rief vorwurfsvoll Mathilde.

„Und wie bezeichnen denn Sie Wohlwollen ohne Vertrauen?“ entgegnete kalt die stolze Mary.

„Vertrauen? und wozu?“ rief Mathilde in Thräuen zerfließend, „was könnte ich Dir sagen, was Du nicht wüßtest? Wozu klagen … und worüber? … weiß ich doch selbst nicht, ob ich nicht ungerecht bin, – aber unglücklich bin ich, sehr – sehr unglücklich!“ …

Jetzt umschlang die Engländerin die feine, zierliche Gestalt, die sich zu ihr beugte, das Köpfchen an ihre Schulter lehnte und sich ausweinte wie ein Kind am Mutterherzen. Auch Mary’s schwarze Augen wurden feucht.

„Armes, armes Herz,“ sprach sie, die Betrübte an sich drückend, „wie schwach, wie schwankend. …“

„Was kann ich dafür, gute Mary, – ich weiß ja nichts, ja nicht einmal, warum wir plötzlich nach Paris gereist, – was wir hier sollen! …“

„Wie!“ rief Mary verwundert, „der Zweck der Reise …“

„Ist mir unbekannt. Leo frug mich, ob ich ihn nach Paris, wohin ihn Geschäfte riefen, begleiten, dort mit ihm eine unbestimmte Zeit verweilen wollte – konnte es meiner Liebe einfallen, mich freiwillig von ihm zu trennen? Wir reisten. – Das Uebrige weißt Du; seit acht Tagen bin ich hier in dieser hübschen Wohnung meistens allein, Leo vernachlässigt mich; auf meine Fragen antwortet er: er sei durch Verhältnisse in Anspruch genommen, denen ich noch eine Zeitlang fremd bleiben müsse. Er geht beständig ohne mich aus, dazu ist er besorgt, unruhig, traurig, und ich, die ich bis jetzt sein volles Vertrauen besaß, Leid und Freude mit ihm theilte, muß mich zufrieden stellen und es ruhig abwarten, bis er mir das Geheimnißvolle seines Benehmens erklärt. … O Mary, Mary, ich bin ihm nicht mehr, was ich ihm war, und Geheimnisse, die eine Frau nicht kennen darf, giebt es nur einer Art!“

„Um Himmelswillen,“ rief Mary, „schlagen Sie diesen gefährlichen Weg nicht ein, bedenken Sie, welche Qual Sie sich bereiten! …“

„Kann ich denn dafür? Nun ja, ich bekenne es, ich bin eifersüchtig und liebe Leo zu sehr, um es nicht zu sein, – sieh, Mary, ein Verrath von ihm wäre mein Tod! …“

„Aber, Mathilde, worauf gründen Sie solch einen Verdacht?“

„Auf nichts und doch auf Alles, – vor Allem aber auf’s unerträgliche Nagen meines Herzens, auf meine Unruhe, auf meine Verzweiflung, die ich nicht bewältigen kann … Siehst Du, Du bleibst stumm, – so sprich doch, so widerlege, so tröste, beruhige mich, wenn Du es kannst!“

„Mathilde,“ sprach Mary entschieden und ernst, „da Sie mich zum Sprechen auffordern, so will ich Ihnen meine Ansicht sagen: den Mann, den ich liebe und dem ich einst mein Vertrauen geschenkt, würde ich nie durch einen Verdacht verletzen, ja selbst Gerüchten würde ich mein Ohr schließen, wenn solche mich erreichten. Nur ein sicherer Beweis könnte mich treffen. …“

„Und wenn Du einen solchen hättest?“

„Da, freilich, wäre Alles aus – aber auch die Liebe todt,“ [290] erwiderte Mary finster, „bei Ihnen aber,“ fuhr sie in sanfterem Tone fort, „ist’s noch lange nicht so weit gekommen – Wollen Sie Ihr Gewissen mit einem vielleicht ungerechten, jedenfalls aber unbegründeten Verdachte belasten?“

„Wollte Gott, es wäre so, liebe Mary, gern möchte ich Abbitte – Buße thun,“ und die blonde Mathilde neigte das Köpfchen und verfiel in eine melancholische Träumerei. Mary überließ sie ihren Gedanken, schweigend saßen sich die Freundinnen eine Zeitlang gegenüber, – da plötzlich fuhr eine brillante Equipage geräuschvoll durch Rue Montorgueil und hielt an der Hausthür. Mary warf einen Blick hinaus.

„Der Vicomte!“ sprach sie, „er kommt wohl Sie zur täglichen Promenade abzuholen.“

„Wahrscheinlich; – gieb mir meinen Hut und Shawl, liebe Mary, frische Luft wird mich erquicken.“

Jetzt trat Vicomte de Joly in’s Zimmer, es war ein schöner, schlanker, junger Mann, mit der tadellosesten Eleganz des Gentlemans in Haltung und Anzug. Er verbeugte sich ehrerbietig gegen Mathilde.

„Leo hat mir die schöne Hoffnung gegeben, gnädige Frau, daß Sie mir heute abermals die Ehre erweisen werden, von meiner Equipage Gebrauch zu machen.“

„Recht gern, Vicomte, ich nehme Ihren Vorschlag mit Dank an.“

„Mit Dank? … o gnädige Frau, das nennt man bei uns in Frankreich den Liebreiz der Gabe; Sie, die Geberin, danken dem beglückten Empfänger!“

Mary, die eben mit Hut und Shawl eintrat, hörte diese Worte, und nichts weniger als wohlwollend war der Blick, den ihre schwarzen Augen dem Vicomte zuwarfen. Nach einer Weile saß dieser an Mathildens Seite in der offenen Kalesche, die, mit zwei Rappen pur sang bespannt, dem Bois de Boulogne zuflog.

Mathildens zartes, von dem eleganten Hut umrahmtes Gesichtchen war gedankenumflort, die sanften blauen Augen blickten gleichgültig auf die bunten Reihen der Equipagen und Fußgänger im Bois de Boulogne, diesem täglichen Rendezvous-Ort des müßigen Paris zwischen drei und fünf Uhr. Noch hatte sie kein Wort mit dem Vicomte gewechselt. Dieser betrachtete sie mit einem Blicke, in dem sich so mannigfaltige Gefühle spiegelten, daß der feinste Physiognomist kaum hätte enträthseln können, was zunächst der unverhohlenen Bewunderung für die niedliche Gefährtin im tiefsten Hintergrunde dieses Blickes steckte, was dieses bisweilige, kaum merkbare Lächeln der feinen Lippen für einen versteckten Sinn hatte. Endlich brach der Vicomte das lange Schweigen.

„Wie mir scheint, gnädige Frau, hat unser Paris bis jetzt noch nicht Ihre volle Gunst gewonnen?“

„Sie irren sich nicht, Viceomte, es ist aber nicht zu verwundern. Sie wissen, wie sehr Leo seit unserer Ankunft in Anspruch genommen, – und ist man mit wichtigen, ernsten Dingen beschäftigt, so bleibt wenig Sinn für Genüsse und Vergnügungen, so reizend sie auch sind!“

Leo’s wichtige Geschäfte können Sie doch unmöglich treffen, gnädige Frau, ich will nicht einmal hoffen, daß er die Barbarei gehabt, Sie in dieselben einzuweihen? …“

„Wie so, Vicomte? Halten Sie mich für unfähig, mich mit ernsten Dingen zu befassen?“

„Das nicht, gnädige Frau; ich halte aber Leo für unfähig, Ihnen … gewisse Dinge mitzutheilen.“

„Leo theilt mir Alles mit,“ unterbrach ihn Mathilde lebhaft.

„Alles? … auch seine jetzigen …“

„Gewiß! … Alles, auch seine jetzigen Geschäfte!“

Der Vicomte verbeugte sich.

„Dann, gnädige Frau, darf es mich freilich nicht mehr wundern, Sie bisweilen in Gedanken zu sehen, denn der Grund, der Leo nach Paris geführt …“

„Sie kennen also den Grund?“ rief Mathilde unvorsichtig.

„Wie sollte ich nicht – ich, Leo’s alter Universitätsfreund, gewiß weiß ich Alles,“ sprach er mit Nachdruck, sie scharf beobachtend, „und um so weniger begreife ich Ihre Mitwisserschaft!“

„Leo sagt mir Alles,“ wiederholte Mathilde merklich verlegen, „wir haben uns das gegenseitige Versprechen gegeben, immer und in Allem ganz offen gegen einander zu sein.“

„Dann beuge ich bewunderungsvoll das Knie vor Ihnen, gnädige Frau, wenn ich auch Ihre Selbstverleugnungsfähigkeit nicht fasse!“

Mathildens fragend unruhiger Blick bestärkte den erfahrenen Beobachter in seiner Vermuthung. „Recht getroffen,“ dachte er, „sie weiß Nichts und brennt zu wissen, genug für den Augenblick!“ und er leitete das Gespräch auf ein anderes Thema.

Mathilde war aber so verstimmt, so zerstreut, daß sie nur mit Mühe hier und da eine Antwort zu Wege bringen konnte. Der Vicomte wußte, was sie ignorirte, er konnte durch ein Wort das sie quälende Räthsel lösen, aber ihn befragen war unmöglich, und auf geschickte Weise das Erwünschte von ihm herauslocken, war keine Aufgabe für die schlichte, unerfahrene Mathilde, dem schlauen Weltmann gegenüber. Mathildens Zerstreutheit entging dem Vicomte nicht, ihm stand die ganze Qual dieses gepeinigten Herzens deutlich vor Augen, er wurde aber um so gesprächiger, um so liebenswürdiger, schien den ersten Gegenstand des Gespräches völlig vergessen zu haben, und da Mathilde alle Hoffnung verloren, ihn wieder auf dieses für sie so interessante Thema zu bringen, beklagte sie sich über die Kälte und bat den Vicomte sie nach Hause zu bringen. Sie hüllte sich in ihren Shawl, drückte sich in die Ecke der Kalesche, und schweigend fuhren nun Beide durch Champs Elyées über Place de la Concorde. Plötzlich that der Vicomte eine rasche Bewegung, die selbstverständlich Mathildens Aufmerksamkeit auf sich ziehen mußte, im nächsten Moment saß er wieder still und blickte ruhig vor sich hin, Mathilde aber hatte sich umgewandt und sah – Leo – in traulichem Gespräche mit einer Dame, die er am Arme führte. Ein dichter Schleier verbarg ihre Züge, die Gestalt aber war die einer jungen Frau, die Tracht elegant und geschmackvoll. Leo hatte sich zu ihr gebeugt, schien ihren Worten zuzuhören und lächelte dabei freundlich. Mathilde hatte einen dumpfen Ausruf nicht unterdrücken können, eine Todesblässe überzog ihr Gesicht, und als der Vicomte, scheinbar durch ihren Ausruf aufgeschreckt, sie besorgt um den Grund frug, stammelte sie kaum vernehmbar: „Nichts – es ist Nichts … ich glaubte … das eine Pferd …“

„O, gnädige Frau, meine Pferde sind zuverlässig,“ sagte der Vicomte, „beruhigen Sie sich. Arme, arme Frau!“ fügte er leise hinzu, ihre Hand fassend und sie leise drückend. Mathilde ließ es geschehen, ohne weiter darauf zu achten.

Als die Equipage in Rue Montorgueil hielt und der Vicomte Mathilden zum Aussteigen die Hand reichte, hielt er diese Hand in der seinen zurück, auf diese Art Mathilden zwingend, ihn anzusehen. Sie begegnete einem feuchten, liebevollen Blick.

„Gnädige Frau,“ sprach der Vicomte mit bewegter Stimme, „Mathilde,“ flüsterte er leise hinzu, „ich gäbe mein Leben darum, um das Gesehene ungesehen, das Geschehene ungeschehen machen zu können; leider liegt es nicht in meiner Macht. Sie aber sind ein Engel, dem ja Alles gelingen muß; kann noch Jemand etwas ändern, so können nur Sie es! Darum fassen Sie Muth,“ fuhr er fort, „bedürfen Sie aber des Beistandes eines treuen Freundes, so bin ich da, ich bin ein Ehrenmann und Ihnen ergeben auf Leben und Tod!“

Mathilde, außer Stande ein Wort zu erwidern, zog langsam ihre Hand zurück, legte dann zum Zeichen des Schweigens einen Finger auf ihre bebenden Lippen und eilte die Treppe hinauf.

Vicomte de Joly sah ihr eine Weile nach. Der Ausdruck seines Gesichts hatte sich geändert, die Milde der Züge sich in ein sinnliches Lächeln verwandelt, die feuchten Augen funkelten von dämonischer Freude belebt – – „Nicht übel,“ murmelte er, „den Zufall nenne ich günstig, on a de la chance ou l’on n’en a pas! Guter Anfang, guter Anfang, et vogue ma galère!“

Er sprang in seine Kalesche und verschwand.



Es ging auf sechs. Leo und Mathilde saßen bei’m Mittagsessen, die junge Frau bleich und verweint, Leo ernst, sorgenschwer. Es war ein schöner Mann, dieser Leo, seine edlen Züge trugen den Stempel männlicher Energie, verbunden mit Geist und Güte, sein ehrliches braunes Auge sah treuherzig vor sich hin, und dieser klare reine Blick allein hätte genügt, allen Verdacht von Falschheit oder Verstellung zu entfernen, hätte nicht in seinem ganzen Wesen etwas Sicheres und Offenes gelegen, das gleich bei’m ersten Anblick ein unwillkürliches Vertrauen einflößte. Das Ehepaar war in sich gekehrt, stumm. Mathilde berührte kaum die vorgesetzten Speisen, und nur mit Mühe drängte sie die Thränen zurück, die jeden Augenblick drohten auf’s Neue aus ihren Augen zu strömen. Leo mußte in der That durch sehr schwere Sorgen absorbirt sein, um die tiefe Verstimmung seines geliebten Weibes nicht zu bemerken. [291] merken. Endlich war die Mahlzeit zu Ende, der Diener trug ab, Leo erhob sich und ging auf Mathilde zu, die jetzt den nassen Blick emporrichtete. Erschrocken über die tiefe Trübsal, die er jetzt erst an ihr wahrnahm, trat er einen Schritt zurück. „Mathilde?“ fagte er sanft. „was ist Dir? Du hast geweint und bist bleich wie die Wand …“

Statt Antwort ließ Mathilde das Köpfchen in ihre Hände fallen und schluchzte von Neuem. Leo umfaßte sie, überhäufte sie mit Worten der Liebe, mit den zärtlichsten Benennungen. Mathilde aber befreite sich aus seiner Umarmung und brachte endlich unter Schluchzen die Worte hervor: „Leo, ich weiß Alles!“

Leo stieg das Blut in’s Gesicht. „Alles?“ rief er, „wer hat Dir sagen können …“

„Keiner, ich habe aber gesehen, mit eigenen Augen gesehen …“

„Was hast Du gesehen, Mathilde?“

„Dich mit …“

„Mit wem, um Himmels willen? …“

„Mit ihr, Place la Concorde!“

Leo antwortete nicht augenblicklich, er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, ging ein paar Mal nachdenkend im Zimmer auf und ab, stand dann vor Mathilde still und sah ihr in die Augen, mit seinem klaren, unwiderstehlichen Blicke.

„Mathilde,“ sprach er, „einst gelobtest Du mir unbegrenztes Vertrauen, nimmst Du dieses Versprechen zurück?“

„Nach dem, was ich gesehen!“

„Was Du gesehen, macht mich Deiner Liebe nicht unwürdig. Und ich frage Dich, Mathilde, liebst Du mich genug, um mir zu trauen, trotz dem Geschenen, genug, um ein Geheimniß zu ertragen, das ich Dir noch nicht enthüllen kann? Willst Du Geduld haben, nur noch kurze Zeit, oder willst Du durch Zweifel selbst unser Glück zerstören?“

„O sprich nicht von Glück,“ rief Mathilde verzweiflungsvoll, „mein Glück ist dahin!“

„Und warum, Mathilde?“

„Warum? kannst Du fragen? Sieh mich an, sieh was ich leide, wie könnte ich das Gesehene auf zweierlei Arten erklären?“

„Erkläre es gar nicht, Mathilde, denke nur: Leo kann kein Verräther sein, Leo lügt nie, Leo sagt: er liebt mich, ich will ihm trauen!“

„O wie gern möchte ich das!“ rief die junge Frau, unwillkürlich durch den Wahrheitshauch durchdrungen, der in Leo’s Worten lag.

„Nun, so thue es, meine brave Mathilde,“ fuhr dieser, sie an sich ziehend fort. „Entsage ein für allemal dieser Eifersucht, die Deiner unwürdig ist und leider schon so manche trübe Wolke über unser Glück gebracht hat. Sieh, Kind, es giebt keinen Anschein, der Dich mir verdächtigen könnte, und sollte jemals ein Zweifel in mein Herz dringen, ein Wort von Dir genügte, um ihn mir zu benehmen. Du aber, Du lässest die Möglichkeit zu, daß ich Dich mit einem Kusse verrathen könnte?“ und er drückte einen heißen Kuß auf ihre Lippen.

Mathilde bebte zusammen.

„Um Himmels willen, Leo,“ flehte sie, „löse das Räthsel, ich kann sonst leine Ruhe finden, sage mir, wer war es?“

„Ich liebe Dich, Mathilde,“ antwortete Leo mit einem Blicke, der diese Worte bestätigte.

„Du liebst mich und quälst mich, Leo, willst Du mir nicht sagen …“

„Ich kann nicht, Mathilde. Du aber, willst Du meine Bitte nicht erfüllen, nur noch kurze Zeit das Schwere tragen?“

„Und wenn ich es nicht wollte?“ rief die junge Frau trotzig.

Leo entfärbte sich.

„Dann,“ sprach er langsam, „dann wäre ich sehr unglücklich!“

„Wie – selbst dann würdest Du in Deinem Schweigen verharren?“

„Selbst dann, Mathilde, und daraus schließe, ob es mir möglich ist zu reden. Doch genug davon, eine Zeit wird kommen, wo Du selbst mir Recht geben wirst, jetzt aber, und es ist der größte Beweis von Liebe, den ich Dir geben kann, jetzt bitte ich Dich, bitte Dich flehentlichst, forsche nicht weiter, traue mir, denn sieh, Mathilde, wie ich hier vor Gott stehe, wiederhole ich: ich liebe Dich, Dich allein. Willst Du mir nun glauben?“

„Ich will es,“ sprach Mathilde nach einem kurzen Schweigen, das thränenbenetzte Gesicht an Leo’s Brust verbergend. Er drückte sie zärtlich an’s Herz, und somit war der Friede wieder hergestellt, wenn auch nur scheinbar. Denn hatte auch Leo’s Beredsamkeit den gewohnten Einfluß auf sie geübt, hatte er die Zweifelsucht momentan besiegt, war auch Mathilde Willens ihm zu trauen, so war doch der Stachel des Verdachtes in ihrem Herzen zurückgeblieben, und immer und immer wieder schwebte ihr Leo vor Augen, wie er mit der geheimnißvollen Unbekannten so traulich Arm in Arm dahinwandelte.

Am folgenden Tage saß Mathilde in ihrem keinen Salon. Leo war, seinen neuen Gewohnheiten treu, um zwölf ausgegangen, Mary war auswärts beschäftigt, Mathilde allein. Sie hielt ein Buch in der Hand, blickte auch bisweilen hinein, aber ihre Gedanken schweiften in die Weite und trugen sie in das Reich der Vermuthungen und Möglichkeiten, die leider alle nicht geeignet waren die geschlagene Wunde zu heilen.

Da trat der Diener in’s Zimmer und meldete: „Monsieur le Vicomte de Joly!“ Mathilde war schon im Begriffe ihn abweisen zu lassen, als ihr böser Genius ihr zuflüsterte: „Der weiß Alles! Ihn befragen, o nein, es wäre sündigen an Leo, aber –“ Der Diener stand noch harrend da. „Soll mir willkommen sein,“ sprach Mathilde, im nächsten Augenblicke diese Worte bereuend. Es war zu spät, der Vicomte war eingetreten. Verlegen wies ihm Mathilde einen Platz in ihrer Nähe an, und mit dem ersten Blick, den er auf sie warf, wußte der Vicomte, wie er es mit der Unerfahrenen zu halten hatte.

„Gnädige Frau,“ fing er an, „ich beschwöre Sie, meinen Besuch nicht als eine Indiscretion zu betrachten, der Zufall hat uns leider in eine peinlich falsche Situation gebracht, die wir nicht ändern können, das Beste ist also, mit Offenheit einander entgegen zu treten. Ich wiederhole, was ich gestern gesagt, Sie haben es mit einem Ehrenmanne zu thun, der bereit ist, Ihnen zu dienen, wo und soweit er kann, und deshalb hofft, daß Sie ihm die Mitwissenschaft vergeben werden.“

Nur zu gut fühlte Mathilde wie jedes Wort, das sie dem Vicomte in seinem Sinne antworte, so gut wie ein Schritt zu einer Coalition gegen Leo sein würde, sie raffte also die wenigen ihr zu Gebote stehenden Verstellungsmittel zusammen und sprach möglichst unbefangen, die dargebotene Hand mit ihren Fingerspitzen berührend.

„Ich danke Ihnen, Vicomte, ich schätze Ihre freundschaftlichen Gesinnungen und nehme Ihre Dienste für später an, falls ich ihrer einmal bedürfen sollte; für den Augenblick aber kann ich Sie nur bitten, das Gestrige zu vergessen. Ich war recht kindisch, aber einige Worte Leo’s genügten, um mich davon zu überzeugen, jetzt muß ich über mich selbst lachen und bin völlig beruhigt!“

Mathildens Stimme stand leider mit ihren Worten in so entschiedenem Widerspruche, daß sie Keinen hätten täuschen können. geschweige den schlauen Vicomte. Sie senkte erröthend die Augen, als sie seinem durchdringenden Blicke begegnete.

„Gnädige Frau,“ sprach er nach kurzem Schweigen, „ich sehe, daß Sie meine gute Absicht doch mißdeuten, ich kann also nur bedauern, dem Zurufe meines Herzens gefolgt zu sein, und trete zurück! – Fern sei es von mir, mich Ihnen aufzudringen … und doch,“ rief er, „haben Sie Unrecht, meine Freundschaft abzuweisen, ich schwöre es Ihnen!“

„Ich weise Ihre Frenndschaft nicht ab, Vicomte, nur Ihre Dienste, die für den Augenblick überflüssig.“

„Ist Alles berichtigt, desto besser, gnädige Frau,“ sprach er mit einem höhnischen Lächeln, „ich freue mich für Sie, komme aber einmal mehr in meinem Leben zur Erkenntniß, daß das einzige wahre Glück auf Erden Illusion ist!“

„Wie meinen Sie das, Vicomte?“

„Ich meine, daß ich die glückliche Fähigkeit besitzen möchte, mich von der ganzen Welt hintergehen, von meiner plastischen Ruhe einwiegen zu lassen, und sollte ein reiner Lichtstrahl durch das Miragegewebe, das mich umgiebt, durchschimmern, möchte ich hartnäckig das Auge zudrücken können, mich durch nichts aus dem labend betäubenden Taumel stören lassen! Es muß ein herrliches Gefühl sein, und die das können, denen ist gewiß die Hand auch nicht willkommen, die sie aus diesem süßen Schlafe zu wecken sucht, wenn gleich die treue Hand eines wahren Freundes!“

„Vicomte,“ rief Mathilde, „wie soll ich Ihre Worte auslegen?“

„Legen Sie sie gar nicht aus,“ antwortete der Vicomte sich [292] erhebend, „ich bereue sie ausgesprochen zu haben.“ Damit küßte er ihr leidenschaftlich die Hand und eilte der Thüre zu.

„Bleiben Sie, Vicomte,“ rief Mathilde angstvoll, „ist es recht von Ihnen, mir den Dolch in’s Herz zu stoßen und mich dann zu verlassen? – Reden Sie, seien Sie aufrichtig!“

„Aufrichtig, gnädige Frau, und wozu? – Wissen Sie nicht Alles so gut wie ich selbst? Aufrichtig! gehen Sie mir denn mit gutem Beispiel voran? Bin ich Ihr Freund oder bin ich es nicht? Nimmt man ein ernstes, ein heiliges Gefühl an, da wo man nichts dagegen bietet, nichts als das, was die Höflichkeit zur Pflicht macht?“

„Sie sind hart, Vicomte,“ entgegnete Mathilde, und Thränen stiegen in ihren Augen auf, „Sie sehen mich leiden, ja, Sie mehren meine Leiden und wollen dabei mein Freund heißen!“ …

Der Vicomte betrachtete sie eine Weile mit wehmüthigem Blicke.

„Sie thun mir leid, arme Frau,“ sprach er dann, „schon zu viel habe ich wohl gesagt, aber ich kann Lüge, ich kann Trug nicht ertragen, zumal einem reinen Wesen gegenüber, das die Welt nicht kennt. Jetzt, gnädige Frau, lassen Sie mich gehen, denn ich könnte leicht mehr sagen, und wozu sollte ich Sie aus Ihren glücklichen Illusionen wecken!“

„Illusionen sind kein Glück,“ rief Mathilde in der größten Aufregung, „solch ein Glück würde ich entschieden von mir stoßen!“

„Also doch – doch sind Sie die, die ich mir träumte,“ rief freudig der Vicomte, „das starke Herz in zarter Hülle – o, Mathilde, Sie sind anbetungswürdig! – Wie kann man einen solchen Schatz verkennen, ein solches Wesen vergessen?“

„Vicomte, reden Sie, zu viel haben Sie gesagt, um jetzt zu schweigen! Sind Sie wirklich mein Freund, so müssen Sie jetzt offen gegen mich sein! …“

„Ehe der Freund redet, muß er wissen, was Sie zu thun gedenken.“

„Eins sicher: gegen sichere Beweise entschieden handeln!“

„Sie sind jung und unerfahren, meine Freundin, zu jung und zu schön, um allein in der Welt zu stehen; wollen Sie mir versprechen, im ärgsten Falle mir zu vertrauen, sich auf mich zu stützen?“

„Und wenn ich das verspreche?“

„Wenn Sie das versprechen, werde ich suchen, Ihnen Beweise zu verschaffen, Beweise, nach denen freilich keine Rückkehr mehr möglich! Haben Sie den Muth, solche zu wünschen?“ …

„Ich habe den Muth, Vicomte!“

Wäre Mathilde nicht so aufgeregt gewesen, selbst ihrer Unerfahrenheit wäre des Vicomte’s triumphirende Freude nicht entgangen.

„Gut,“ sprach er nach einer Pause, „ich sehe Sie gern so. Alles lieber, als in den heiligsten Gefühlen hintergangen werden! Dieses Dulden ist eine Ihrer unwürdige Feigheit! Jetzt verlassen Sie sich auf mich: Sie geben mir acht Tage, während dieser Zeit werden Sie mich nicht sehen. Versprechen Sie mir auch Leo gegenüber die größte Ruhe; nach dieser Frist werde ich Ihnen mit Gewißheit sagen können: wir haben uns getäuscht, Sie sind geliebt! … oder – ich bringe Ihnen unwiderrufliche Beweise des Gegentheils. Ihre Hand, Mathilde!“

Mathilde legte ihre bebende Hand in die des Vicomte, der sie mit heißen Küssen bedeckte und mit den Worten: „in acht Tagen!“ aus dem Zimmer eilte.

– Acht Tage! wie schnell schwinden sie hin im glücklich einförmigen Schaffen und Treiben des alltäglichen Lebens, im ruhigen Glücke der Gewohnheiten, das unstreitig zu einem der größern im Leben zählen darf. Wie ewig lang erscheinen sie aber dem Herzen, das den Frieden mit sich selbst verloren und, durch Qualen aller Art gepeinigt, weder Tag noch Nacht Ruhe findet und nur dem ersehnten Augenblicke entgegenschlägt, der seine Pein vielleicht noch mehren soll! Seit der Stunde, da sie der Vicomte verlassen, lebte Mathilde in einer Aufregung, die nichts mildern konnte; – Leo’s Treiben hatte sich nicht geändert, er war oft abwesend, Mathilde zu oft allein, mit dem ganzen Heere ihrer Gedanken. In den Stunden des Beisammenseins zeigte ihr aber Leo eine so große Zärtlichkeit, daß oft, diesem treuherzigen Benehmen gegenüber, in dem das volle Vertrauen in ihr Versprechen, ihm unbedingt zu trauen, so deutlich lag, Mathilde sich selbst als eine Verbrecherin erschien. Mehrmals drängte es sie, ihm Alles zu beichten, ihr Mißtrauen, ihr Einverständniß mit dem Vicomte, da aber schwebte ihr wieder die Erscheinung auf der Place de la Concorde vor Augen, da tauchten des Vicomte Worte in ihrem Gedächtnisse auf, und die bessern Gefühle wichen dem Verlangen nach Beweisen, die sie in diesem oder jenem Sinne völlig überzeugen sollten!

So verging ein Tag nach dem andern, die festgesetzte Frist ging zu Ende, und eines schönen Abends erschien der Vicomte, als die jungen Ehelente beim Theetische saßen. Leo empfing ihn freundlich wie immer, frug nach dem Grunde seines langen Ausbleibens, der Vicomte antwortete: er habe in wichtigen Angelegenheiten eine kleine Reise machen müssen, die aber einen glücklichen Erfolg gehabt, da er sein Ziel erreicht. Mathilde fühlte bei diesen Worten ihr Blut stocken. Leo aber rief:

„Ach, da können Sie von Glück sagen; nun, mit Gottes Hülfe hoffe auch ich bald, recht bald so weit zu sein!“ Dabei warf er einen bedeutungsvollen Blick auf Mathilde, deren Augen aber unverwandt auf ihrer Arbeit hafteten.

Die Gesellschaft vermehrte sich durch das Erscheinen noch einiger Personen, und als das Gespräch allgemein wurde, benutzte der Vicomte einen günstigen Augenblick, um Mathilden zuzuflüstern: „Morgen, gegen eins!“ – Es war die Zeit, wo Leo nie zu Hause war, da er gewöhnlich um zwölf ausging und erst zur Zeit des Mittagsessens, d. h. gegen sechs zurückkehrte.

In der größten Seelenangst harrte Mathilde der festgesetzten Stunde, mit heftigem Herzpochen hörte sie einen Wagen vorfahren, sah den Vicomte aus der Miethkutsche steigen, entkräftet sank sie in einen Sessel und behielt kaum Kraft genug, dem Eintretenden die Hand zu reichen, die dieser ergriff und an seine Lippen drückte.

„Sie haben versprochen Muth zu haben, und wie treffe ich Sie, meine Freundin!“ sprach er vorwurfsvoll, „können Sie das Versprechen nicht halten, sagen Sie es, noch ist es Zeit!“

„Nein, nein,“ rief Mathilde, „ich kann, ich will Alles hören, reden Sie!“

„Reden? … was sind Worte! Kommen Sie, sehen Sie selbst. Haben Sie wirklich Muth, so überzeugen Sie sich mit eigenen Augen, wie grausam Sie hintergangen werden. Kommen Sie, folgen Sie mir!“

„Wohin soll ich Ihnen folgen, Vicomte?“

„Dahin, wo kein Auge Sie sehen soll, dafür ist gesorgt. Vertrauen Sie mir, Mathilde, Sie sollen sehen, ohne gesehen zu werden, ich habe Ihnen sichere Beweise versprochen – die sollen Sie haben!“

„Also doch, doch!“ rief Mathilde die Hände ringend, und raffte sich mühsam vom Sessel auf.

„Kommen Sie, Vicomte, ich folge Ihnen, je eher, je besser.“ Sie stürzte in ihr Zimmer und forderte Hut und Mantel; Mary, die sie bleich und in der größten Aufregung sah, wagte eine Frage.

„Gute Mary, Du hast gesagt: Nichts ohne Beweis – wenn ich aber einen sicheren Beweis habe, willst Du mir dann beistehen, kann ich auf Dich rechnen?“

„Gewiß, auf Leben und Tod!“

„Gut, ich danke Dir; ich bin bald wieder bei Dir.“

Mary folgte ihr in den Salon, den sie sofort in Begleitung des Vicomte verließ.

„Der Vicomte!“ rief Mary, den Davoneilenden finster nachsehend, „das hätte ich mir denken können! Arme Mathilde, was auch geschehen mag, von dem da muß sie befreit sein. Sie ist jung und unerfahren, und meine heiligste Pflicht ist es, sie dieser Gefahr um jeden Preis zu entziehen!“

(Schluß folgt.)





Das Seemannshaus in Hamburg.

Seit sehr langer Zeit schon ist Hamburg das größte und wichtigste Handelsemporium auf dem europäischen Continent. Keine der vielen andern großen Handelsstädte hat so weit ausgebreitete Verbindungen, welche den ganzen Erdball umspannen, und besitzt so viele Niederlassungen auf den mercantilisch wichtigsten Plätzen der Erde, wie Hamburg. Nur mit London, diesem Riesen unter [293] den Weltstädten, kann es sich in keiner Hinsicht vergleichen. In Folge seiner überaus glücklichen Lage an einer tiefen, den größten Seeschiffen leicht zugänglichen Wasserstraße, und vermöge der reichen Mittel, über die es zu verfügen hat, kann und wird es aller Wahrscheinlichkeit nach dereinst auf dem europäischen Continente eine ähnliche Rolle spielen, wie sie London so lange schon für das britische Inselreich zugefallen ist.

Wie sehr die Bedeutung Hamburgs als Welthandelsstadt in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat, zeigt ein einziger Blick in die Tabellen, welche alljährlich mit großer Gewissenhaftigkeit von dem handelsstatistischen Bureau veröffentlicht werden. Da finden wir, daß im Jahre des verhängnißvollen großen Brandes, also 1842, die Hamburger Rhederei 214 eigene Seeschiffe zählte mit einer Tragfähigkeit von 17,000 Commerzlasten, immerhin eine

Das Seemannshaus.

stattliche Handelsflotte für eine kleine Republik von wenig über 200,000 Einwohnern. Zwanzig Jahre später, d. h. am Schlusse des Jahres 1862, war die Zahl der Hamburger Seeschiffe mit Inbegriff der Dampfschiffe auf 506 gestiegen, mit einer Tragfähigkeit von zusammen 69,000 Commerzlasten! Es giebt schwerlich eine zweite Stadt in Europa mit so geringem Territorium, die sich eines so gewaltigen Aufschwunges in Bezug auf eigene Verkehrsmittel in so kurzer Zeit rühmen kann.

Diese Marine bemannt Hamburg großenteils mit seinen eigenen Söhnen. Es ist wenigstens Thatsache, daß auf hamburgischen Schiffen an eingeborenen Kapitänen, Steuerleuten und Matrosen zusammen 6000 Personen dienen. Zu diesem stattlichen Contingent von eingeborenen Seeleuten kommen an fremden, welche mit nach Hamburg bestimmten Schiffen einlaufen, jährlich etwa noch 50.000 hinzu, von denen die Mehrzahl wochenlang daselbst lebt und während der Zeit ihres Aufenthaltes geeignetes Unterkommen beansprucht.

In früherer Zeit ergaben sich eine Menge Individuen dem Seemannsleben, die zu andern bürgerlichen Beschäftigungen keine rechte Lust hatten. Auf der See konnte man allerhand Abenteuer erleben, im unglücklichen Falle allerdings darin umkommen, im glücklichen aber auch nach einer Reihe unter Mühen und Strapazen aller Art verbrachten Jahren als gemachter und wohlhabender Mann zurückkommen. Damals bildete häufig die Praxis allein schon, verbunden mit tüchtigen Anlagen und gutem Willen, brauchbare Seeleute. Mit der fortschreitenden Bildung, welche von einem guten Schiffscapitain eine Menge gründlicher Kenntnisse verlangt, ist das anders geworden. Kein der Seefahrt Beflissener kann jetzt eine Stelle als Steuermann erhalten, ohne vorher eine Zeit lang die Navigationsschule besucht und seine Befähigung zur Uebernahme eines so schweren und wichtigen Postens im Steuermannsexamen erhärtet zu haben.

Mit dem erwähnten großen Aufschwunge der Hamburger Rhederei und dem damit nothwendig verbundenen größeren Bedarf an Seeleuten machte sich der Mangel eines Verkehrsmittelpunktes für dieselben, wenn sie kürzere oder längere Zeit am Lande verweilen mußten, immer fühlbarer. Die von Alters her bis auf den heutigen Tag den Seeleuten bequem gewordene Art sich einzulogiren zeigt mancherlei Schattenseiten, obwohl sie ohne Zweifel von der Mehrzahl der fremden Matrosen noch lange beibehalten werden dürfte. Für den Matrosen war und ist noch der Schlafbaas Herbergsvater, Speisewirth und Zahlmeister in einer Person, wenn es verlangt wird. Er sorgt wohl auch dafür, daß seine Einlogirer und Pfleglinge eine neue Heuer bekommen, wenn sie abgemustert worden sind. Kurz, ein erfahrener Schlafbaas ist sorgloser, leichtlebiger Seeleute unentbehrliches Factotum. Nur für die Vermehrung nautischer Kenntnisse seiner Einlogirer sorgt der Schlafbaas schwerlich, wie er sich auch kaum um das Treiben derselben bei Tag und Nacht viel kümmern wird.

Je mehr nun aber der Seeverkehr Hamburgs wuchs, je größer die Ansprüche wurden, die man an alle Seeleute machte und zu machen berechtigt ist, desto mehr war es geboten, daß man daran dachte, den hier weilenden Seeleuten Gelegenheit zu geben, sich gesellig zu einigen, cameradschaftlich unter einander zu verkehren [294] und sich für ihren Lebensberuf immer gründlicher auszubilden. Um diesen Zweck zu erreichen, faßten die Rheder Hamburgs den Entschluß, das Seemannshaus zu erbauen, ein Gebäude, das eine Zierde der Stadt geworden ist und dessen innere Einrichtung von allen Fremden, welche sich für Seehandel und Schifffahrt interessiren, in Augenschein genommen zu werden verdient.

Die Ufer der Niederelbe sind bekanntlich sehr flach. Nur auf einzelnen Punkten am rechten Ufer des Stromes steigen hie und da hügelartige Erhebungen empor, die einige Abwechselung in das so monotone Landschaftsbild der Stromniederung bringen. Zu einer fortgesetzten Reihe kleiner, zum Theil anmuthig bebuschter und selbst von lieblichen Thälern durchschnittener Hügel erhebt sich das rechtseitige Stromufer erst im Westen Hamburgs wieder und begleitet die immer breiter werdende Wasserstraße bis unterhalb Blankenese. Dicht vor dem Hafenthore springt eine früher als Befestigungswerk dienende Höhe, das Hornwerk genannt, bis hart an den Strom vor, nach allen Seiten hin eine weite und an Abwechselungen reiche Aussicht eröffnend. Hier überließ die Munificenz des Senates und der Bürgerschaft behufs Erbauung des Seemanns-Asyls ein umfangreiches Stück Land den Unternehmern gegen eine jährlich zu erlegende ganz winzige Grundheuer. Auf dieser Stelle nun erhebt sich jetzt das schmucke, aus rothen Backsteinen ausgeführte Gebäude, das elbaufwärts segelnden Schiffen schon unterhalb Altona in Sicht kommt.

Das zum Bau erforderliche sehr bedeutende Capital brachten die Rheder dadurch auf, daß sie von jedem Thaler, welchen sie Heuerlohn bezahlten, einen Schilling abgaben und noch jetzt einen halben Schilling fortzahlen. Ganz auf dieselbe Weise ward schon früher durch die Seeleute der jetzt bereits auf mehrere hunderttausend Thaler angewachsene Fonds zusammengebracht, welcher die Seemannswittwen, und die Pensionscasse für diejenigen bildet, welche 56 Monate zu Schiffe gedient haben.

Am 1. März dieses Jahres fand die Eröffnung des gewaltigen Gebäudes, das einen großen Winkel bildet, statt, eine Feierlichkeit, zu welcher alle in Hamburg anwesende Schiffscapitaine etc. besonders eingeladen waren, und welcher im Ganzen wohl gegen zweitausend Personen beigewohnt haben mögen. Macht das Gebäude von außen schon einen guten Eindruck, so überrascht das Innere durch die geräumigen Corridore, das prachtvolle Treppenhaus, das, von einfallendem Licht erhellt, bis zum Dache in doppelten Treppenwindungen hinaufsteigt, und durch die hohen und luftigen Säle und Zimmer, deren Fenster fast ohne Ausnahme einen Ausblick auf die mit Segeln stets belebte Elbe gewähren.

Das ganze Parterregeschoß ist, einen Raum für den Oekonomen des Hauses, der früher selbst längere Zeit als Capitain weite Seereisen machte, und die für den Portier bestimmte Loge abgerechnet, ausschließlich zu Zimmern für Steuerleute und Matrosen eingerichtet, zu denen noch ein Billardzimmer, verschiedene Speisesäle, ein besonderes Rauchzimmer und der große mit einem wahren Riesenbüffet verzierte Conversationssaal kommen. In der ersten Etage finden Schiffscapitaine besonders für sie eingerichtete comfortable Wohnräume, denen sich ein Lehrsaal und das vortrefflich gelegene Lesezimmer mit einem Balcon anschließt, welcher die schönste Rundschau über den Hafen, die verschiedenen großen Elbinseln und den Strom selbst, soweit das Auge ihn verfolgen kann, gestattet. Außerdem befinden sich noch 36 Schlafzimmer für Capitaine und Steuerleute daselbst, die so eingerichtet sind, daß jeder ein genugsamen Raum darbietendes Cabinet für sich hat, obwohl mehrere in einem und demselben geräumigen und luftigen Gemache die Nacht zubringen.

Im zweiten Stockwerke, dessen einzelne Zimmer übrigens eben so eingerichtet sind, wie die in der Bel-Etage gelegenen, können 92 Matrosen schlafen. Das Souterrain des Hauses enthält alle Vorratskammern, Räumlichkeiten für die sehr große Küche, Vorrichtungen zum Reinigen, Trocknen, Mangeln und Plätten der Wäsche, Schlafgemächer für das Dienstpersonal, und endlich die sieben Bacon’schen Oefen, durch deren Heizung im Winter das ganze Haus bis hinauf in die oberste Etage mittelst Wasserheizung gleichmäßig erwärmt wird.

Ein besonderer Eckflügel des Seemannshauses, nur zwei Stock hoch, ist als Krankenhaus für Seeleute so überaus splendid und zweckmäßig eingerichtet, daß der Leidende, welcher hier Quartier zu nehmen genöthigt ist, wohl vertrauensvoll ärztlicher Behandlung und Pflege sich unterwerfen kann. Diese Krankenstation, von dem Wohnhause der Gesunden völlig abgeschieden, hat einen besondern Eingang. Zur Einrichtung derselben überwies der Senat ein disponibel gewordenes Capital der ältesten Archangelfahrer-Gesellschaft im Betrage von 65,000 Mark Banco. Dadurch wurde es möglich, für die Ausstattung selbst Vortreffliches zu leisten und namentlich auch die neuesten zu Operationen erforderlichen Instrumente etc. in bester Qualität anzuschaffen. Badezimmer giebt es in beiden Etagen des Hospitales wie in den von Gesunden bewohnten Räumen. Endlich hat man auch im Seemannshause für Abhaltung eines regelmäßigen Gottesdienstes an Sonn- und Festtagen Sorge getragen, zu welchem Zwecke mehrere Damen eine niedliche Orgel geschenkt haben.

Es versteht sich von selbst, daß es jedem Seefahrer vollkommen überlassen bleibt, ob er von den mancherlei Bequemlichkeiten, Genüssen und sonstigen Vortheilen, welche das Seemannshaus bietet, Gebrauch machen will oder nicht. Die Erbauer desselben haben und hatten weder die Absicht, den in Hamburg weilenden Seeleuten irgend welchen Zwang aufzulegen, noch den Schlafbaasen, deren bereits gedacht wurde, ihren Verdienst zu schmälern. Es kann also nach wie vor jeder Matrose, Steuermann und Capitain, der es vorzieht, statt sich im hochgelegenen Seemannshause einzulogiren, eine Privatwohnung zu nehmen, um ganz nach seinem Belieben zu leben, dies gern thun. Viele werden sich wahrscheinlich noch lange von den so einladend ihnen zuwinkenden Fenstern und Zimmern desselben fern halten; denn die Gewohnheit übt auf die Mehrzahl der Menschen eine wahrhaft tyrannische Gewalt aus. Wer aber die stilleren Freuden geselligen Zusammenlebens, wer den freien Gedankenaustausch liebt, wer in Erzählung froher und trauriger Erlebnisse geistigen Genuß sucht und findet, wer sich belehren und auf alle Weise durch eigene Lectüre wie durch das anregende Wort Anderer, an Bildung und Wissen ihm selbst Ueberlegener, seine Kenntnisse erweitern will, der wird bald und wiederholt im Seemannshause einkehren, wo er stets eine Heimath und gewiß immer passende Gesellschaft findet.

Allerdings sind mit der Einkehr in dasselbe einige Beschränkungen verknüpft, die manchem Seefahrer, der am Lande kein anderes Gesetz kennt, als den eigenen Willen, bedenklich erscheinen mögen. Indeß sollten wir doch meinen, daß es Männern und Jünglingen, die an strenge Disciplin und unbedingte Subordination unter den Willen eines Einzigen durch den Schiffsdienst gewöhnt seien, nicht schwer fallen könnte, sich ihrer selbst wegen zu beherrschen und freiwillig auf eine schrankenlose Freiheit zu verzichten, die selten Gewinn bringt, wohl aber häufig allerhand Fatalitäten in ihrem Gefolge hat. –

In einem so großartigen Karawanserai, wie das Seemannshaus sie darstellt, muß das Leben einen geregelten Gang gehen, und wer daran Theil nehmen will, der hat sich ohne Widerrede den Anordnungen zu unterwerfen, die man zu erlassen für nöthig erachtete. Es kann demnach jeder Bewohner des Seemannshauses nur bis zu einer gewissen Stunde in der Nacht (Sommer und Winter bis 11 Uhr) Einlaß in dasselbe erhalten, während die Oeffnung in den Sommermonaten früh 5, im Winter früh 6 Uhr stattfindet. Streng untersagt ist jeder weibliche Besuch. Ferner haben diejenigen, welche sich vom Oekonomen des Hauses beköstigen lassen und an den gemeinschaftlichen Mahlzeiten in den betreffenden Speisesälen Theil nehmen wollen, der festgesetzten Zeiteintheilung sich zu fügen, d. h. zum Frühstück entweder 5½ oder 8 Uhr Morgens, zum Mittagessen 12½, zum Kaffee um 2 Uhr Nachmittags, und Abends 7 Uhr zum Abendbrod im Speisesaale gegenwärtig zu sein. Für volles Logis incl. der Beköstigung hat bis auf Weiteres jeder Matrose wöchentlich 9 Mark Hamburger Cour. (3 Thlr. 18 Sgr.) zu entrichten. Speisen und Getränke, welche besonders verlangt werden, desgl. Tabak oder Cigarren sind sogleich nach der im Speisesaale ausgehängten Taxe zu bezahlen.

Sparsame, welche ihren Verdienst nicht vergeuden wollen, wie dies leider nur zu häufig gerade bei jungen Matrosen vorzukommen pflegt, finden als Einlogirer des Seemannshauses jederzeit Gelegenheit, ihre Ersparnisse in eine besondere Sparcasse zu legen, die an jedem Werkeltage Vormittags zwischen 9 und 12 und Abends zwischen 6 und 7 Uhr behufs der Empfangnahme solcher Gelder geöffnet ist. Auch können dieselben Gelder und andere Werthsachen nicht nur während der Dauer ihres Aufenthaltes in Hamburg, sondern auch wenn sie wieder auf Reisen gehen, gegen einen vom Oekenom des Hauses auszustellenden Schein in wohlverschlossener, [295] mit ihrem Namen versehener Kiste zum Aufbewahren zurücklassen. Falls derartige Deposita innerhalb fünf Jahren von dem Eigenthümer nicht abgefordert worden, erfolgt deren Verkauf, und der Erlös daraus wird unter der Rubrik „Unabgefordertes Eigenthum“ gebucht.

Die Wohlthat der Aufnahme in das Seemannshospital hat jeder Seemann zu beanspruchen, falls er ohne eigenes Verschulden im Hause selbst erkrankt. Steht er noch in einem Schiffsdienste, so muß der Rheder für ihn zahlen, ist er dagegen außer Dienst, so wird er gegen Fortzahlung seines Kostgeldes behandelt und verpflegt.

Wer im Seemannshause Wohnung nimmt, dem steht es frei, die im Lesezimmer vorhandenen Zeitungen etc., ferner das Billard und sonstige der Unterhaltung dienende Einrichtungen zu benutzen. Auch kann er gegen Zahlung einer höchst unbedeutenden Vergütung an den gegebenen Unterrichtsstunden und den Vorträgen Theil nehmen, welche regelmäßig daselbst gehalten werden. Besuchern der Navigationsschule wird sogar, damit sie ihren Studien ungestört obliegen können, ein besonderes Arbeitszimmer eingeräumt.

Aus diesen wenigen Andeutungen geht hervor, daß die Erbauer des Seemannshauses nichts verabsäumt haben, um denen, welche sich der Schifffahrt widmen und zu tüchtigen Seeleuten sich ausbilden wollen, die entsprechenden Mittel zur Erreichung dieses Zieles zu schaffen. Die Gelegenheit, etwas Ordentliches zu lernen, ist im Seemannshause Jedem, auch den ungeschultesten Matrosen geboten. Und was der Lehre, dem Unterricht allein nicht möglich werden dürfte, das wird das Beispiel Anderer, der Umgang und die Unterhaltung mit Männern vollbringen, die in einem mühevollen Leben außer reichen Kenntnissen auch noch einen großen Schatz praktischer Lebenserfahrungen angesammelt haben, aus welchem Andere schöpfen können, ohne ihn dem Eigenthümer selbst zu schmälern.

E. W.




Zwei Mecklenburger Leidensgenossen.

2. Michael Baumgarten.

Wenn Verfolgungen und Leiden, wie sie der in Nr. 48 des vor. Jahrg. dieser Zeitschrift geschilderte Magister Joachim Slüter wegen seines Glaubens und seiner reformatorischen Bestrebungen zu erdulden hatte, im 16. Jahrhundert nichts Seltnes, ja kaum etwas Auffälliges waren, so ist die Amtsentsetzung des Professor und Doctor der Theologie Baumgarten in Rostock, die in unserm Jahrhunderte erfolgt ist, so sehr Gegenstand allgemeinster Theilnahme und Besprechung geworden, daß ein skizzirtes Charakterbild dieses hochbegabten Mannes, welches zu zeichnen ich auf Wunsch der Redaction der Gartenlaube gern unternommen habe, wohl geeignet zu einem Seitenstück für das des eben genannten mecklenburgischen Reformators ist.

Das vorliegende Lebensbild soll den Menschen schildern, wie er mir erscheint und erschienen ist, seit ich vor fünftehalb Jahren zuerst seine Bekanntschaft machte, und kann also nicht speciell auf die theologischen Streitfragen eingehen.

Michael Baumgarten ist im Jahre 1812 zu Haseldorf in der holsteinischen Marsch geboren, wo sein Vater einen Bauerhof besaß. Ueber diesen Schauplatz seiner ersten Jugend wollen wir ihn selbst hören, wie er sich sowohl hierüber wie über seine ersten Jugendeindrücke in der Schrift „Protestantische Lehre und Warnung“ mit eben so rührender Pietät als Einfachheit ausspricht.

„Am Elbstrom liegt ein kleiner Erdstrich, von drei Seiten durch Wasser abgeschnitten und an der vierten durch den Geestrand begrenzt. Dieser kleine Erdfleck ist mein liebes Heimathsland. Hier wohnt ein Volk, welches seinen Boden der Gewalt des Meeres und des Stromes abgerungen hat, und fortwährend bemüht ist, mit rüstigem Arme und kluger Vorsicht das Erbe seiner Väter gegen die feindliche Macht des Elements zu schützen. Auf diesem Boden stand meine Wiege, in einem Bauerhause hart an dem Elbdeiche, mit dem Markzeichen eines Kreuzes im Herzen, und in der Hauspostille und Bibel sind die Geschicke unseres Geschlechts und unseres Landes, mit welchem charakteristischen Namen jener ganze Marschdistrict bezeichnet wird, über zwei Jahrhunderte hinaus aufgezeichnet.

Hier ist mein junges Leben von treuen Händen aufgenommen und verpflegt, und mit gottesfürchtigem Mund in die Welt eingeführt worden. In der Dorfschule habe ich strenge Zucht und Ordnung gelernt, und die feierlichen Gebete der lutherischen Vorzeit, die ich noch nirgends wiedergefunden habe, meinem Gedächtnisse unverlierbar eingeprägt, und die Betglocke, die ich oft mit eigner Hand gezogen habe, und das Sterbegeläute bei den Leichenpredigten, bei denen wir Knaben singen mußten, klingt noch in dieser Stunde in meiner Seele wieder.

Unser Kirchenstand mit dem Namen meines Urgroßvaters, zu welchem ich von früh an meinen Vater regelmäßig begleiten mußte, gilt mir für eine heilige Stätte, und wie oft segne ich ihn in der Erinnerung an die heiligen und seligen Ahnungen des ewigen Lebens, die dort in mir geweckt worden sind!

Noch lange könnte ich fortfahren diese Heiligthümer meiner Jugend aus dem wirklichen Leben in der Mitte einer lutherischen Gemeinde zu erzählen, wenn ich nicht fürchten müßte, Andre damit zu ermüden. Und diese Schätze sind mir nie abhanden gekommen, denn das stand mir unerschütterlich fest, daß es eine Andre Theologie gar nicht geben könne, als die, welche in einem ungekünstelten und unabweisbaren Zusammenhange mit diesen heiligen Gütern stehe.

Außerdem wachte auch mein seliger Vater, obwohl nur ein schlichter Landmann, strenge darüber, daß mir nichts als Wahrheit gelten durfte, als was in Uebereinstimmung mit dem Glauben stehe. Recht gut erinnere ich mich noch, wie einst, als ich während meiner Gymnasialzeit äußerte, „die buchstäbliche Wahrheit des mosaischen Schöpfungsberichtes scheine mir nicht nothwendig von unserm Glauben gefordert zu sein,“ mein Vater mich ernstlich verwarnte vor allen Meinungen und Lehren, die sich über den klaren und einfachen Sinn der Bibel erheben wollen.

So ist es mir möglich geworden, in allen Stadien meiner Entwickelung, als Gymnasiast, als Student, als Privatdocent, als Pastor, und als Professor, in lebendigem, nicht blos bewußtem, sondern tatsächlichem Zusammenhange und Verkehr mit dieser kirchlichen Atmosphäre meiner Geburtsstätte zu bleiben. Noch heute stehe ich in Gemeinschaft des Gebens und Empfangens mit den Genossen meiner Jugend, die mit mir auf den Bänken der Dorfschule gesessen haben, mit denen ich im Feld und am Deich gearbeitet habe. Ich unterhalte mich mit ihnen schriftlich und mündlich über kirchliche und theologische Dinge, und ich muß bekennen, daß ich mit diesen Bauern über das, was ich für wesentlich und nothwendig halte in unserer Kirche, mich weit besser verständigen kann als mit den meisten Pastoren.“

Unter solchen Umgebungen und Eindrücken wuchs also der mutmaßliche Hoferbe heran, bis zu seinem sechszehnten Jahre nichts Anderes denkend und glaubend, als daß er einst das uralte Eigenthum seiner Familie besitzen und verwalten würde. Stark und groß von Körper und lebhaften Geistes legte er schon frühzeitig mit Hand an bei den ländlichen Arbeiten, doch pflog er in den Mußestunden gern Umgang mit dem Sohne des Ortsgeistlichen, der sich mit ihm in ziemlich gleichem Alter befand, und dieses Verhältniß sollte von den wichtigsten Folgen für Michael werden.

Der Pfarrer, ein gelehrter und äußerst regsamer Mann, ertheilte seinen Kindern allen Unterricht ganz allein selbst, und dies geschah höchst regelmäßig. Michael fühlte daher bald zu seiner Beschämung, wie weit er noch im Wissen hinter seinem Spielgenossen zurückstand. Auf sein Bitten ertheilte ihm dieser dann halb im Spiel Unterricht in der lateinischen Sprache; der Pfarrer erfuhr dies ganz zufällig, prüfte nun, zuerst auch halb im Scherz, den Schüler seines Schülers, und erkannte dabei bald die außergewöhnlichen Geistesgaben des Ersteren.

[296] Auf seine Fürsprache und Michael’s Bitten gelang es um so leichter, den Vater zu dem ihm außerdem gewiß sehr schwer werdenden Opfer zu bewegen, seinen erstgeborenen Sohn studiren zu lassen, als er selbst in seiner Jugend den glühendsten Wunsch gehegt hatte, ein Gleiches zu thun, sein Vater aber durchaus nicht zu bewegen gewesen war, seine Einwilligung hierzu zu geben.

Der Pfarrer übernahm es nun, Michael auf das Gymnasium vorzubereiten, und ließ ihn an allen Stunden seines Sohnes theilnehmen, den jener sehr bald weit überholte. Mit dem vollendeten siebzehnten Jahre konnte Michael schon in die Selecta (erste Classe) des Gymnasiums zu Altona eintreten und in seinem zwanzigsten Jahre bezog er die Universität Kiel, von wo er drei Jahre später (1835) nach Berlin abging, um da unter Leitung von Twesten, Hengstenberg und Neander seine theologischen Studien zu beenden. Im Sommer 1837 gab er seine erste Druckschrift „die Echtheit der Pastoralbriefe“ heraus, für die ihm das erste Schleiermacher’sche Stipendium zu Theil ward. Bald darauf ging er in der Hoffnung nach Halle, dort als Privatdocent Aufnahme zu finden. Allein so wie er im Jahre 1858 in Rostock, wie Viele glauben, aus dem Grunde sein Lehramt verlor, weil er nicht strenggläubig genug sei, so erregte er zwanzig Jahre früher in dem damals noch sehr rational gesinnten Halle Mißfallen durch seine Orthodoxie; genug, er wurde nicht angestellt und kehrte nun nach Kiel zurück, wo er während der Jahre 1839–1846 als Privatdocent erfolgreich wirkte und wo unterdessen die schönste und edelste Blume auf seinem späterhin so dornenvollen Lebenspfade für ihn herangeblüht war: Ingeborg, die älteste Tochter des Etatsrath Falck.

Leider konnte selbst das hohe Glück, das diese Liebe Baumgarten gab, den Kampf nur erleichtern, aber nicht beenden helfen, den der wahrheitliebende, gewissenhafte Theologe noch immer mit den in ihm aufgestiegenen Zweifeln zu durchkämpfen hatte, und erst nachdem drei Jahre verflossen, seitdem er der Verlobte Ingeborg’s war, fühlte er sich endlich plötzlich befreit von dem Elend, das im Ganzen fast sieben Jahre auf ihm gelastet hatte. In dieser Zeit schrieb er seinen „theologischen Commentar zum Alten Testament“, 2 Theile, und „Liturgie und Predigt“, und erst als er sich nun wieder völlig fest in seinem religiösen Bekenntnisse fühlte, trat er 1846 das Amt eines Pastors der aus Stadt- und Landbewohnern gemischten 4000 Seelen starken Gemeinde zu St. Michaelis in der Stadt Schleswig an, und erst dann fand auch seine eheliche Verbindung mit der Geliebten statt, die zum wahren Gottessegen für ihn geworden ist.

Wären nicht die Kämpfe der Herzogthümer mit allen ihren Folgen dazwischen getreten, wer weiß, ob das Pfarrhaus zu St. Michaelis in Schleswig nicht noch das wäre, wozu es durch dies seltene Paar geweiht ward: ein Tempel häuslichen Glücks, in welchen bald noch zwei holde Kinder, eine Tochter und ein Sohn, noch beseligendere Freuden brachten; die Zuflucht aller Mühseligen und Beladenen; der gastliche Heerd, an welchem Alles willkommen geheißen ward, was auf Bildung, reine Sitten oder Theilnahme Anspruch erheben konnte.

Allein nicht nur als vielgeliebter und verehrter Seelsorger und Kanzelredner, als Gelehrter und Schriftsteller, als musterhafter Familienvater und liebenswürdiger Gesellschafter war Baumgarten in Stadt und Land bekannt, sondern auch als einer der eifrigsten Vertheidiger und kräftigsten Stützen der deutschen Sache in den Herzogthümern. Dreimal ergriff er die Gelegenheit, dies offen und öffentlich zu bezeugen, nachdem sich im Frühjahr 1848 der Kampf in den Herzogthümern Schleswig-Holstein entsponnen hatte: 1) in der Druckschrift „Die Gewissensfrage der schleswig-holsteinischen Beamten“, die noch während der dänischen Landesverwaltung erschien; 2) in „Verbotene Fürbitte“ und endlich 3) als er am 5. November 1849 von den in Kiel zusammengetretenen schleswig-holsteinischen Deputationen zum Sprecher erwählt ward.

Diesem ehrenvollen Rufe leistete er nicht nur bereitwillig Folge, sondern er brachte auch sofort durch die Schrift „Ueberweisung der schleswig-holsteinischen Adresse an die Landesversammlung“ seinen Antheil hieran zur öffentlichen und allgemeinen Kenntniß.

Wie immer, so auch hier wieder, hatte Michael Baumgarten sich stets als der rechtschaffene, wahrheitliebende Mann gezeigt und sich keinen Schritt weit von der Laufbahn eines biedern, ehrlichen Charakters entfernt. Sein Leben und Wirken, sein Denken und Empfinden lag klar da vor den Augen der Welt, und wie er nun eben war, was er dachte und glaubte, das Alles mußten auch diejenigen wissen und kennen, auf deren Veranlassung er zum Professor der Theologie nach Rostock berufen ward, noch bevor die dänische Acht auch über ihn erging. Freudig, voll der schönsten Hoffnungen, hier einen noch größeren Wirkungskreis für seine fast beispiellose Thätigkeit und Arbeitskraft zu finden, folgte er im Jahre 1850 diesem Rufe, der anfangs alle seine kühnsten Wünsche und Erwartungen zu erfüllen versprach.

Mit seinen Collegen trat er bald in ein freundliches Verhältniß, seine Berufsthätigkeit befriedigte ihn vollkommen, und die Studenten schaarten sich um ihn, nicht nur mit hoher Bewunderung für seine große Gelehrsamkeit und mit Enthusiasmus für seinen biedern Charakter, sondern auch mit der herzlichen Anhänglichkeit und dem Vertrauen, wie Söhne zu ihrem Vater hegen.

Doch bald gab Baumgarten nach oben hin Anstoß durch verschiedene theologische Schriften, unter denen „Nachtgesichte Sacharjas“ am öftersten genannt sind, und von dem Erscheinen dieser Schrift an datirt sich die Spannung, in die er nach und nach mit seinen theologischen Collegen gerieth. Doch gab er sich noch immer der irrigen Meinung hin, sie in den gelegentlichen Disputen, in die er öfters mit ihnen gerieth, besiegt zu haben, weil er dabei schließlich stets das letzte Wort gehabt und sie dann doch immer noch in ganz leidlichen Verhältnissen zu einander geblieben waren. – Endlich aber, im Jahre 1857 brach der erste wirkliche Schatten über Baumgarten’s Leben herein, der seitdem zur Verderben bringenden Gewitterwolke für ihn geworden ist, die sein und seiner Familie ganzes Lebensglück zerstört hat.

Als Mitglied der Prüfungscommission hatte Baumgarten einem Candidaten der Theologie ein mißliebiges Sujet zu einer ersten Prüfungsarbeit gegeben, und in seiner Beurtheilung der letzteren fand sich nach einem allgemein aufgefaßten Lobe eine Stelle, durch die er in den Verdacht gerieth, revolutionäre Ideen verbreiten zu wollen. Eine Anklage hierüber gelangte bis zur höchsten Landesbehörde, von der dann Baumgarten sich zu rechtfertigen aufgefordert ward. Seine Rechtfertigung ward aber nicht als solche angesehen, und er empfing seine Entlassung aus der Prüfungscommission.

Welchen Eindruck dieses Ereigniß auf ihn hervorgebracht, konnte man aus seinem Benehmen nicht gewahr werden, denn ruhig fuhr er auch nach demselben fort in seinem theologischen Wirken. Schon oftmals hatte er in einer der Rostocker Kirchen Predigten gehalten, und sowohl sein Vortrag, wie seine Persönlichkeit, zogen stets eine zahlreiche Zuhörerschaft herbei. Bei dieser ihm lieb gewordenen Thätigkeit blieb er auch nach jener Entlassung, und ich wünschte von ganzer Seele, Baumgarten wäre stets Kanzelredner und Seelsorger geblieben. Als Redner steht er auf hoher Stufe. Seine Sprache ist einfach, aber edel, sie fließt dahin wie ein voller krystallheller Strom. Sein Organ ist voll und metallisch, so daß auch in den entferntesten Winkeln eines großen Locales seinen Zuhörern kein Wort seiner Rede entgeht. Bei ihm giebt es kein Stocken, kein Besinnen, kein Versprechen, keine Wiederholungen; Alles, was er sagt, scheint unmittelbar aus dem Herzen hervorzuquellen, und so dringt es auch zum Herzen, ohne doch den Geist umnebeln zu wollen. Wenn man ihm zuhört, wird man niemals versucht, sich der Zerstreuung hinzugeben, von Anfang bis zu Ende seines Vortrages ist man dabei mit Aug’ und Ohr wie mit ganzer Seele. Ja auch mit den Augen, denn die seinigen sind der Spiegel seiner Seele. Groß und dunkel ist ihr Blick, in der Regel voll und ruhig, allein so wie er etwas sagt oder hört, das ihn mehr als gewöhnliches Reden interessirt, so belebt sich sofort sein Auge und oftmals bis zur wahren Strahlenglorie, wenn der Gegenstand es verdient, und so begleitet sein Blick seine Empfindung und erhöht dadurch noch um vieles die seiner Zuhörer.

Im Jahre 1857 traf das Unglück auch noch in anderer Gestalt das edle Baumgarten’sche Paar. Der einzige Sohn Theodor starb. Mit welcher Ergebung und Würde das fromme Elternpaar diesen größten Schmerz seines Lebens zu tragen wußte, davon wissen Alle zu erzählen, die ihm näher standen. Aber das Schicksal war nicht müde, den braven Mann noch mehr zu demüthigen. Wenige Monate später, im Jahre 1858 ward seine Amtsentsetzung ausgesprochen, angeblich: „weil er in seinen Schriften Lehren und Grundsätze vorgetragen habe, welche in den wichtigsten Punkten von den Lehren und Grundsätzen der symbolischen Bücher abgewichen, weil [297] er dadurch den Versuch gemacht, den Boden derselben und der mecklenburgischen Landeskirche auf das Tiefste zu erschüttern, und weil er auch politische Lehren der bedenklichsten Art mit seiner theologischen Ketzerei verbinde etc.“ Seine Besoldung (1200 Thaler) solle er jedoch so lange fortbeziehen, als er nicht „durch sein fernerweites Verhalten zur Einstellung dieser Zahlung veranlasse.“ – Worin bestand nun jene bedenkliche Politik Baumgarten’s? Wir werden nicht irren, wenn wir behaupten, daß sie schon darin bestand, daß Baumgarten es wagte: „die Studenten der Theologie, die allermeist nur knechtisch glaubten oder zu glauben vorgaben, was ihnen vorgesagt wurde, zu Freiheit, Selbstständigkeit, Muth und Freudigkeit anzufeuern.“ Natürlich hing einem solchen Manne die Jugend mit ganzem Herzen an, und das genügte, um mit dem Neid der frommen Collegen die Wurzel alles kommenden Uebels zu erzeugen. Es fragt sich sogar, ob jene Prüfungsaufgabe (sie forderte von dem betreffenden Candidaten die „Gewinnung einer Schriftlehre über die Berechtigung einer gewaltsamen Revolution“, ein Thema, das von der gesammten Prüfungscommission gebilligt war, weil „gerade jeder Theologe eine ganz bestimmte und entschiedene Stellung zu dem einmal in der Welt vorhandenen revolutionären Element gewinnen müsse“), oder ob bereits der Mann selbst so verdächtig war, denn ein ministerieller Verweis vom 23. Juni 1857 bringt wenigstens auffällig genug seine „jetzigen politischen Kundgebungen“ in Verbindung mit seiner „früheren Betheiligung an der schleswig-holsteinischen Revolution!“ – So nennt das großherzoglich mecklenburgische Ministerium im Jahre 1857 eine Volksbewegung, für welche im Jahre 1848 und 1849 die großherzoglich mecklenburgischen Truppen selbst in das meerumschlungene Land gezogen waren! –

Baumgarten remonstrirte gegen das ministerielle Einschreiten und bat um „kirchenordnungsmäßiges Verfahren“, und als auch dies ihm nur abschlägliche Antworten mit neuen Kränkungen eingetragen hatte, wandte er sich an die sechste Großmacht, die öffentliche Meinung, mit seiner Schrift: „Eine kirchliche Krisis in Mecklenburg“. Der Proceß, der wegen derselben über ihn verhängt wurde, endete erst im Juli 1859 mit einer Freisprechung von der Instanz.

Während nun von der gesammten mecklenburgischen Geistlichkeit 19 Pastoren in einem Vertrauensvotum dem Oberkirchenrath huldigten, sprachen der evangelische Kirchentag von Hamburg und die mecklenburgische Landesversammlung sich für Baumgarten aus. Vielleicht hätten auch von den Rostocker Geistlichen sich nicht wenige zu letzterer Meinung bekannt, wenn nicht der Oberkirchenrath noch zu rechter Zeit mit seinem mahnenden Donner dazwischen gefahren wäre. Von solchem oberpriesterlichen Zorngewitter ließen dagegen 600 Bürger der Rostocker Gemeinde sich nicht einschüchtern in ihrer offenen Erklärung für Baumgarten, und daß dafür eine Monstre-Untersuchung gegen sie angestrengt wurde, ist zwar nicht schön, aber wahr. Baumgarten verlangt schließlich kirchenordnungsmäßige Behandlung seiner Angelegenheit vor einer Synode. So schwebt die sehr traurige Sache noch immer, und die Lage des Mannes wird, trotz seines ehrenwerthen Kampfes, wegen des Kampfplatzes jeden Tag weniger beneidenswerth.

Daß die glaubensblinde Partei seiner Gegner und Verfolger durch ihr gehässiges, an die finstersten Zeiten des Religionsfanatismus erinnerndes Treiben sich selbst am meisten schadet, sieht sie freilich nicht ein, und es ist vielleicht Gottes Wille so, denn wen er verderben will, den schlägt er mit Blindheit. Der „kirchliche Sinn“ jedoch, dessen Mangel man so viel beklagt, wird durch solche lutherische Ketzerrichterei wahrlich am wenigsten gefördert.

In den letzten Wintern hat Professor Baumgarten Vorlesungen über verschiedene ethische und theologische Themata, namentlich am Mittwoch der Charwoche 1862 eine ganz ausgezeichnete über den Tod Jesu gehalten. Diese Vorlesungen waren ursprünglich nur für die geschlossene „Societät“ bestimmt, allein Hunderte von andern Zuhörern wußten sich durch Freunde und Bekannte Zutritt dazu zu verschaffen, und obgleich das Local, in welchem sie stattfanden, außerhalb der Stadt lag und das Winterwetter den Weg dorthin sehr mühevoll und schwierig machte, so war nichts destoweniger bei jeder einzelnen Vorlesung der Saal mit Zuhörern gänzlich angefüllt, ein Beweis, mit welcher ehrenden, ja rührenden Treue die Rostocker an dem Manne und seinem Worte festhalten.




Altbaiersches Volksthum.

1. Aberglaube im Bauernkalender.
Unschädlicher Aberglaube – Der alte Götterglaube – Der Bauernkalender – Was der Bauer in den vier Rauchnächten thut – Am Dreikönigstag – Das Wildfeuer und die Wassererneuerung – Die Verwendung des Salzsteines – Die zwölf Nächte – Wie Sanct Petrus mit dem Teufel getrunken und was daraus entstanden – Dreikönigskindel.

Wer es unternimmt, die aufgeklärten Leser einer aufgeklärten Zeitschrift heutzutage mit Dingen unterhalten zu wollen, welche die moderne Bildung als dunkles Ueberbleibsel dunkler Jahrhunderte zu verachten pflegt, dem steht es wohl an, einige Worte der Rechtfertigung und Erklärung voranzuschicken. Es ist wahr, wir befehden und verfolgen den Aberglauben, wo wir ihn finden: wie eine fleißige Hausfrau die Spinnweben, so tilgt die Neuzeit mit allen Besen der Schule, des Staates und der Kirche geschäftig jene phantastischen Vorstellungen, jene heimlichen Uebungen aus, welche, häufig ebenso unsittlich wie unwahr, aus einer kaum noch verständlichen Vergangenheit fremdartig in die Tage des Telegraphen und der Eisenbahn hereinragen. Und gewiß thun wir darin nicht unrecht, sondern recht, wenn wir den schädlichen Aberglauben austilgen!

Aber wie? ist denn nicht aller Aberglaube schädlich? Wenn er nicht die Sitten verdirbt, verfinstert er nicht den Verstand, und ist er nicht im besten Fall das werthlose Gespinnst müßiger Träumerei? Sachte, mein lieber Leser, auf daß Du nicht in Deinem Eifer mit dem Unrath des Aberglaubens auch das Gold uralter Volkssitte, die Perlen der Sage, die Edelsteine der Mythe, kurz den ganzen Schatz der Volkspoesie, der Culturpflege der Gensd’armerie ausantwortest.

Vor Allem ist nämlich zu bemerken, daß man in der Zeit bureaukratischer Vielregiererei und polizeilicher Volksbeglückung von oben, in welcher man jeden Versuch des Volkes, auf eigene Façon glücklich und lustig zu sein, mit nüchterner Bevormundung unterdrückte, viele Dinge als schädlichen Aberglauben bezeichnete und verfolgte, welche in der That sehr unschuldige und oft sehr schöne Aeußerungen volksthümlicher Naturanschauung und Naturfreude waren, wenn sich vielleicht auch abergläubische Vorstellungen damit verbanden. Es giebt also allerdings auch unschädliche Uebungen und Gebräuche dieser Art. In gar manchen abergläubischen Vorstellungen und Handlungen steckt das Herz und die Phantasie und ein großer Theil der Idealität des Volkslebens, ja die Blüthe seiner unbewußten Poesie. Endlich aber liegt im Aberglauben wie in der Sage des Volkes ein ehrwürdiger Hort der deutschen Urzeit vergraben, nichts Geringeres als der alte Götterglaube unserer heidnischen Väter, wie Jacob Grimm, der Großmeister deutscher Altertumsforschung, aus Ammensprüchen und Wetterregeln, aus Kinderspiel und Jägerlied so treffend nachgewiesen.

Als nämlich das Christenthum den widerstrebenden germanischen Stämmen mehr durch die Waffen der Franken, als durch die innere Macht der Ueberzeugung aufgezwungen ward, konnte es selbstverständlich nicht gelingen, den alten Glauben, welcher tief in dem Gemüth des Volkes wurzelte und alle Erscheinungen seines Lebens in Krieg und Friede, in Recht und Sitte und Kunst, in Ackerbau, Jagd und Viehzucht, in jeder Lust und jedem Leid des Familienlebens durchdrungen hatte, auf einmal durch neue Vorstellungen zu ersetzen. Vielmehr waren die Missionäre darauf angewiesen und darauf bedacht, soviel wie möglich von dem liebgewordenen Herkommen der Heiden zu schonen und zu erhalten, indem sie nur christliche Formen, kirchliche Namen mit den alten Gebräuchen verbanden. Bezeichnend für diese Methode, die in unzähligen Fällen angewendet wurde, ist, daß man die heidnischen Altäre, Opferstätten, heiligen Bäume etc. keineswegs zerstörte, sondern in christliche Kirchen und Capellen umwandelte auf daß die Deutschen, nach wie vor von der Gewohnheit an diese Stätten gezogen, nunmehr [298] an denselben ebenso eifrig Christus und den Heiligen, wie ehedem Wodan und seinen Asen dienen mochten; die Donars-Eiche zu Geismar ward von Bonifacius gefällt, aber nicht verbrannt, sondern daraus ein christliches Bethaus an derselben Stelle erbaut. So duldete die Kirche nach wie vor die alten Umzüge, Spiele, Feste, nur trat die Mutter Gottes an die Stelle der Liebesgöttin, Petrus an die Stelle des Schwertgotts, das Fest der auferstehenden Natur ward nun als das Fest der Auferstehung Christi gefeiert. So erhielten sich bei diesen ganz oder halb christianisirten Gebräuchen noch zahlreiche Spuren ihrer ursprünglichen heidnischen Bedeutung, und die alten Götter konnten um so weniger aus dem Gedächtniß der Deutschen schwinden, als ja die Kirche selbst keineswegs die Existenz und die Macht jener Gottheiten leugnete, sondern sie als dämonische teuflische Gewalten fürchtete und bekämpfte. So wurde aus Donar und Wodan der Teufel des Mittelalters, aus den lieblichen Waldgöttinnen (hage-disin) die häßlichen Hexen, und die ganze Walhalla mit ihren mächtigen, wohlthätigen, strahlenden Gestalten ward in christlicher Umgestaltung beibehalten, nur daß diese sich gefallen lassen mußten, je nach Umständen nunmehr als Heilige des Himmels oder als Dämonen der Hölle in den Gedanken der Menschen umzugehen. Daher rief man denn jetzt einen Heiligen oder, wenn man verwegen genug war, auch wohl einen Teufel in den Krankheiten, Nöthen und Gefahren an, in welchen man ehedem zu einem Gott gebetet und ihm geopfert hatte. Der heidnische Glaube barg sich unter christlichen Aberglauben, und es ist daher ganz begreiflich, daß heutzutage die deutsche Wissenschaft aus dem heiligen Florian und dem heiligen Ruprecht wieder die großen Götter Donar und Wodan herausschälen konnte.

Von den angegebenen Gesichtspunkten aus wollen wir eine Reihe der abergläubischen Meinungen und Gebräuche betrachten, welche sich in Ober- und Niederbaiern bis auf diesen Tag im Volke lebendig erhalten haben; wir werden viele unschädliche und schöne Auffassungen der Volkspoesie kennen lernen, welche in zahlreichen Fällen noch deutlich ihren Zusammenhang mit dem Götterglauben unserer Vorzeit erkennen lassen.

Vor Allem tritt uns als eine auffallende Erscheinung der sogenannte „Bauernkalender“ entgegen, d. h. ein Inbegriff von altherkömmlichen Regeln, welche jede wichtigere Vornahme des Bauernlebens, wie sie in dem Wechsel der Jahreszeiten wiederkehrt, an gewisse Tage bindet; nur wenn sie an dem von der Uebung geheiligten Tage vorgenommen werden, haben diese Handlungen Segen und Gedeihen zu erwarten. In sehr vielen Fällen liegen hier nicht mythologische Beziehungen, sondern einfache Natur-Beobachtungen zu Grunde, „Wetterregeln“, welche die Erfahrung scheinbar oder in der That, zufällig oder aus guten Gründen bestätigt hat. Dies gilt namentlich bei den wichtigsten Maßregeln und Unternehmungen des Ackerbaus und der Oekonomie: wenn z. B. für Klee, Weizen, Gerste, Roggen, Hafer bestimmte Saattage hergebracht sind, so beruht dies auf der Annahme, daß die fragliche Monatszeit für diese Fruchtarten die günstigste Witterung zu bringen pflegt. Zahlreiche andere Gewohnheiten aber sind nicht zu erklären aus rein physikalischen Wahrnehmungen; bei manchen liegt der mythologische Sinn klar vor Augen, bei sehr vielen aber entzieht sich der Grund ihrer Entstehung und die Bedeutung vollständig unserem Verständniß.

Wenden wir uns nun zu dem Detail dieses Bauernkalenders und schalten wir in diesen Rahmen auch jene Gebräuche und Gepflogenheiten ein, welche nicht gerade nothwendig nach „Tagwählerei“ bestimmt sind. –

Die Sylvesternacht gehört mit der Nacht des Thomastages (21. December), des Weihnachtvorabends und des Tages der heiligen drei Könige (6. Januar) zu den sogenannten „vier Rauchnächten“, welche nicht nur von oberdeutschen Stämmen, sondern auch von Sachsen und Franken, von Angeln in England, von Schweden und Norwegern gefeiert werden und unerachtet mancher Modificationen im Einzelnen aus einer gemeinsamen germanischen Uebung beruhen. In jenen Winternächten nämlich, welche erst nachträglich ihre kirchliche Bedeutung erhalten haben – es ist die Zeit der Wintersonnenwende – sind die Mächte des Lichtes und der Finsterniß, des Segens und des Verderbens, des Lebens und des Todes, des Frühlings und des winterlichen Erstarrens, um deren natürlichen und geistigen Gegensatz sich die Angel der deutschen Mythologie überhaupt bewegt, im lebhaftesten Kampf. Die Riesen der Kälte, der Finsterniß, des Winters bieten ihre letzten Kräfte auf, die Herrschaft zu behaupten und schädlichen Einfluß auf den verhaßten Menschen und sein Hauswesen und seine Kultur zu üben; es sind die kürzesten Tage, die Natur ruht in tiefer Todeserstarrung, Krankheit und Tod schweben über den Betten der Menschen, durch den Stall des Viehes. Deshalb müssen in dieser Zeit die schützenden, wohlthätigen Gewalten der lichten Götter angerufen werden. Der Bauer nimmt von dem Hauptbalken des Dachfirstes die an jenem geheiligten Ort das Jahr über wohl verwahrten geweihten Kräuterbüschel herab, die sogenannten „Sangen“, Gräser, Blumen, Halme, Blätter, Zweige von gewissen, den guten Göttern heiligen Pflanzen, welche mitten im Sommer, in der Zeit, da alle wohlthätigen Dinge am kräftigsten sind, in der vollen Herrschaft des Lichts, an einem Fest der Liebes- und Sommergöttin Freya waren mit symbolischen Handlungen gepflückt worden – die Kirche hat aus jenem Fest die Himmelfahrt Mariä gemacht – und streut die getrockneten Blätter mit anderm Räucherwerk, namentlich der tief in den Götterglauben und Göttercult verflochtenen Wachholder-Beere („Kranewit“) auf die eiserne Gluthpfanne mit Kohlen, welche er in der Linken trägt. Frau und Kinder schreiten, Licht, Schlüssel und, wo möglich, eine Hand voll Schnee tragend, vor ihm her, in der Rechten führt der Hausherr den Stock (ursprünglich vielleicht das Schwert), und nun durchwandert er betend und räuchernd alle Gelasse seines Hauses und namentlich auch den Stall und die Scheune; dadurch wird die Einwirkung aller schädlichen Gewalten, Krankheit, Hexerei, Schwinden von Menschen, Vieh und Vorräthen abgewendet.

Offenbar war diese Handlung ursprünglich ein Opfer und ein Anrufen der Segensgötter, ein Austreiben schädlicher Gewalten durch den Räucherduft der den guten Mächten geheiligten und sie herbeiziehenden Pflanzen.

Am Dreikönigstag werden überdies die Anfangsbuchstaben der Namen der heiligen drei Weisen aus Morgenland mit dazwischen geschriebenen Kreuzen an alle Thüren gezeichnet: C † M † B; es wäre sehr interessant, den Zusammenhang des Cultus dieser drei sonderbaren Heiligen (Caspar, Melchior, Balthasar) mit Gestalten des alten Heidenthums zu ergründen. Die Kreide, mit welcher diese Inschrift gezeichnet wird, ist am Vorabend des Festes in der Kirche geweiht worden, ebenso Salz und Wasser, aus welchen dann der segenreiche „Salzstein“ (viereckige Salzstücke) gebildet wird. Körnchen von diesem Salzstein wirft man erkranktem Vieh ins Futter, und auch der wegfertige Mann, der von Hause wandert, nimmt ein Paar Stücke des heimischen Salzes in der Wandertasche mit. Dieser sinnige Zug der Weihe der Elemente und der wichtigsten Nahrungsmittel kehrt in dem deutschen Heidenthum häufig wieder. Man glaubte, die wohlthätige Segenswirkung von Feuer, Wasser, Salz, Brod, Fleisch etc. nutze sich im Laufe des Jahres ab, bei Beginn eines neuen Jahres sollen auch ihre Kräfte erneuert werden. Deshalb müssen z. B. an bestimmten Tagen alle Feuer im Dorfe gelöscht werden, keine Hausfrau darf von dem Heerd der andern, wie sonst im Jahr, die Gluth übertragen, sondern in feierlichem Zug gehen die Nachbarn in den Wald, und dort wird mit vielfachem Ceremoniell und allerhand Symbolik ein sogenanntes „Nothfeuer“ oder „Wildfeuer“ gerieben, d. h. zwei Personen, häufig zwei reine Knaben oder auch ein Liebespaar, reiben unter geheimen Sprüchen und Liedern zwei trockene Hölzer so lange, bis sie in Brand gerathen. An dieser heiligen Flamme, welche also das Element frisch und unprofanirt aus dem geheimen Schooße der Natur gewährt hat, entzündet nun jeder Hausvater seinen Spahn und trägt so das neue Feuer für das neue Jahr nach Hause. Noch charakteristischer ist, daß in manchen Gegenden, wenn der Blitz einen Baum im Wald entzündet hat, alle Heerdfeuer gelöscht werden und man an jener unmittelbar von den Göttern gesendeten Flamme, dem echten Wildfeuer, die Spähne entzündet. Analog wird in manchen Thälern das Wasser erneuert: zu Johanni etwa oder am ersten Mai läuft die Dorfjugend durch alle Häuser, stürzt alle Wassereimer um und holt frisches Wasser von dem geweihten Quell im Walde. Freilich sind diese Gebräuche wie in ganz Deutschland auch in Baiern in starker Abnahme, und die Wasser-Erneuerung wird wohl überall nur noch erzählt, nicht mehr geübt.

Auch jene Verwendung des geweihten Salzsteines beim Wandern in die Fremde hat manche Analogien: wie der Wanderer, der im Ausland von Krankheit oder auch von Heimweh befallen wird, ein Paar Körner des mitgenommenen Salzes genießt, so schabt er [299] wohl auch vor dem Abschied etwas Kalk von der heimischen Heerdmauer oder bewahrt eine Rinde des letzten Stückes Brod, das ihm die Hausfrau geschnitten, jahrelang im Ranzen und kaut daran, wenn er im fremden Lande mehr Hunger als Geld hat; ein Krümchen des Heimbrodes stillt den Hunger besser als sieben fremde Braten. Wer möchte so rührend tiefe gemüthinnige Züge in der Empfindung unsres Volkes missen? Die Zeit von Weihnachten bis zum Dreikönigstag heißt die Zwölften, „die zwölf Nächte“, auch die „Klöpfels“-, „Anroller“-, „Geb-Nächte“, in diesen Tagen ist aller Geisterspuk entfesselt, alle bösen, guten, muthwillig-neckenden und indifferenten Götter, Riesen, Elben, Kobolde, Wichtel, Gespenster, Hexen, Truden, Teufel haben jetzt gleichsam Carneval oder Freinacht, nach Herzenslust auf Erden ihr Spiel zu treiben; in dieser Zeit sind sie sogar den profanen Augen von Nicht-Sonntags-Kindern sichtbar. Es erklärt sich die besondere mythologische Bedeutung dieser Tage leicht daraus, daß die Heiden zu dieser Zeit das Hauptfest des Jahres, die Winter-Sonnenwende (im Norden „Jul“ genannt) feierten mit großen Opferschmäußen, welche sieben Tage währten und alle Nachbargemeinden an der heiligen Ding- und Opfer-Stätte zu Gericht, Berathung, Andacht und Spiel vereinten. An jenen Tagen hielten denn auch alle großen Götter des Landes Umzug durch die Marken des Gaus, verkehrten mit den Sterblichen, kehrten ein an deren Heerd, vertheilten Lohn und Strafen an fleißiges und faules Gesinde etc. Erst jüngern Datums ist die drollige christliche Legende, welche, nachdem man den ursprünglichen Grund der besondern Geisterwirthschaft jener Tage vergessen hatte oder nicht mehr erwähnen durfte, eine kirchliche Erklärung dieser Erscheinung zu geben suchte.

Sanct Petrus war nämlich einst von dem lieben Gott auf die Erde gesendet worden, ausgerüstet mit den Gaben des heiligen Geistes und begleitet von einem stattlichen Corps handfester Engel, um dem unverschämten Treiben der Teufel aller Art auf Erden ein gründliches Ende zu machen und Lucifer selbst sammt all seinem Schwarm von Unholden in die Hölle zu sperren auf Nimmerwiederkehr. Sanct Peter machte seine Sache gut, die Dämonen flohen vor seinen himmlischen Heerschaaren von einem Land zum andern bis ans „Ende der Welt“, welches bekanntlich in Tirol bei dem Paß Finstermünz zwischen Vintschgau und dem Innthal ist, und warfen sich dort mit großem Geheul durch einen tiefen See in die Hölle hinunter. Sanct Peter war nicht faul, schickte die Engel mit einem etwas renommistischen Schlachtbericht nach Hause in die himmlische Garnison und ließ dem lieben Gott sagen, er, Petrus, sei in die Hölle hinabgestiegen und werde die Sache mit dem Gesindel da unten allein fertig machen. Petrus machte die Höllenthür sorglich hinter sich zu und steckte den Schlüssel in sein Wamms unter ein wunderthätiges Bild der Muttergottes von Einsiedeln, „denn,“ sagte er zu sich, „der Teufel ist schlau, aber ich bin schlauer.“ Er suchte sofort Lucifer auf, der sehr kläglich und demüthig that, die Heldenthaten seines Ueberwinders bewunderte und ihn bat, sich doch im Himmel, wo sein Einfluß jetzt ja größer sein müsse als je, für ihn zu verwenden, daß es mit der einfachen Einsperrung in der Hölle abgethan sei und er nicht wieder wie bei früheren Vergehen die beiden furchtbarsten Strafen durchmachen müsse, nämlich: „Nonnen hüten“ und „Bauern laufen“. St. Petrus fühlte sich sehr geschmeichelt und versprach das Beste. Da wurde der Teufel froh und bat den Apostel mit vielem Lob und Dank, doch ein halb Dutzend Flaschen alten Klosterweins mit ihm zu trinken, den ihm die Herrn Benedictiner von Benedictbeuren aus ihrem Keller verehrt hatten. St. Petrus ließ sich das nicht zweimal sagen, und der Sieger und der Besiegte fingen an zu poculiren.

Das war gerade am Weihnachtsabend, und deutlich hörte man, als sie anfingen zu trinken, die Vesper läuten in dem Kloster zu Stamms, denn die Glocke Claudia daselbst hat so hellen Ton, daß er bis in des Teufels Keller vernommen wird. Sie fingen also an zu pochen, und ich weiß nicht, ging es mit rechten Dingen zu, war der Klosterwein zu stark oder hat der Wirth etwas aus seiner Hausapotheke hineingeworfen, kurz der fromme Gast schwur bei der ersten Flasche, solches Gewächs habe er nie, weder zu Jerusalem, noch bei der Hochzeit zu Kana, noch zu Rom, noch im Himmelreich getrunken, bei der zweiten rief er, der Teufel sei gar nicht so schwarz, als man ihn male, und bei der vierten versprach und gelobte er, zum Lohn für diesen Trank solle der Teufel und seine Schaaren jährlich so lange Freinacht haben auf Erden, als sie beide brauchen würden, den Klosterwein zu vertrinken und zu verschlafen, und als Lucifer zweifelte, ob der liebe Gott darauf eingehen werde, rief der Gast: „Das wollen wir schon sehen, ich habe Generalvollmacht mit Dir abzuschließen, wie ich will, und wenn mein Wort im Himmel nicht gilt, komme ich wieder herunter und bleibe als Geisel bei Dir.“ Da schenkte ihm der Teufel das letzte Glas ein, und alsbald fiel St. Petrus in tiefen Schlaf. Endlich wachte er, mit etwas Kopfweh, wieder auf, es weckte ihn die Glocke von Stamms. „Teufel,“ sagte Petrus, „was läutet’s da?“ „Die Hora,“ sagte Lucifer, der eben auch zu erwachen schien. „So muß ich fort,“ sagte Petrus und stand auf und griff nach dem Höllenschlüssel in seinem Wamms: zum Glück hatte das Amulet nicht auch geschlafen, und der Schlüssel war noch da. „Und was ist mit unsrem Pact?“ fragte Lucifer. „Der gilt,“ rief Petrus, „von der Vesper bis zur Hora! B’hüt’ Dich Gott, Teufel.“

Und Petrus fuhr hinauf in den Himmel. Da begegneten ihm an der Thüre die heiligen drei Könige und sagten: „Das ist schön, Petrus, daß Du gerade recht kommst, noch unsern Tag mit zu feiern. Mach’ nur, es geht schon an’s Kuchen schneiden, leicht wirst Du Bohnenkönig.“ „Dummes Zeug,“ sagte Petrus erschrocken, „heut’ ist ja Christtag.“ „Nein,“ sagten die drei Weisen aus Morgenland, „heut’ ist Dreikönigstag, das müssen wir doch besser wissen.“ „Gott steh mir bei,“ rief Petrus, „so hab ich getrunken und geschlafen von der Weihnacht-Vesper zur Dreikönigshora, macht zwölf Tage und zwölf Nächte, daß der Teufel wieder Gewalt hat über die Erde. Das macht der verfluchte Klosterwein.“ Und man sagt, daß Petrns diesmal keinen Orden bekam für seine diplomatische Mission und daß der liebe Gott nicht übel Willens war, den Gesandten lieber als Geisel in die Hölle zu schicken, als den Pact anzuerkennen, und nur zu Achtung der heiligen drei Könige, welche an ihrem Ehrentag für ihn baten, gab er nach. St. Peter trinkt seitdem nie mehr Klosterwein, aber wir Menschen müssen’s alle Jahre zwölf Tage büßen, daß er damals dessen getrunken hat. –

Wenn diese schnurrige Legende ziemlich keck mit dem Fürsten der Apostel umspringt und ihn in der wenig ehrenvollen Rolle eines „Uebertrunkenen“, d. h. durch Trunk Ueberlisteten und einigermaßen auch als Renommisten darstellt, so ist dies vielleicht für Protestanten eher befremdlich oder ein Aergerniß, als für Katholiken, welche den Styl der Legende kennen, nach welchem auch die Heiligen harmlosen Spaß verstehen müssen. Uebrigens lehnt sich eine ganze Gruppe solcher Legenden, welche Christus in Begleitung einiger Apostel auf Erden wandern, bei den Menschen ansprechen und die heilige Natur des Gottes ebenso schön als die menschliche Schwäche der Begleiter humoristisch hervortreten lassen, ebenfalls an Grundzüge heidnischer Göttersage. Denn nicht nur die Lieder der Edda berichten wiederholt von solchen in Verkleidung wandernden Göttern, meist in der Dreizahl, wie Christus, Petrus und Johannes meist mit einander wandern, wir wissen auch sonst, daß Umzüge des Wodan, des Donar, der Berahta (Berchta) im deutschen Alterthum mit Liedern und mimischen Darstellungen gefeiert wurden, und in denselben Tagen, da man die Götter in Bildern oder auch nur auf verhülltem Wagen unsichtbar um die Marken der Landschaften führte, traten sie in unscheinbarem Gewand strafend und lohnend in die Häuser der Sterblichen ein. Reminiscenzen an diese heidnischen Götterumzüge stecken in vielen Gebräuchen der Kinder, ja selbst in manchen Zügen, Wallfahrten, Processionen, Bittgängen der Erwachsenen, welche die Kirche mit anderer Bedeutung erfüllt hat.

So finden in ganz Alt-Baiern, Schwaben und einem großen Theil von Deutsch-Oesterreich zu Weihnachten, Neujahr und Drei König mehr oder weniger complicirte Umzüge von Kindern, Armen, jungen Burschen in scherzhaften Vermummungen statt, dabei wird gesungen, es werden Sprüche recitirt und kleine Dramen improvisirt. Insbesondere in Giemgau, an den schönen Ufern der Alz, der Traun, der Mangfall singen die Kinder noch heute uralte Hirten- oder Sternlieder an den bezeichneten Tagen, Lieder von rührender Einfalt und echtester Volkspoesie, sie ziehen von Haus zu Haus und ersingen sich kleine Gaben von Obst, Nüssen, Kücheln u. dgl., der Stern der heiligen drei Könige wird sehr naiv dargestellt: ein Knabe trägt eine von Papier geschnittene Sonne an einem Stabe der Schaar voran, und obwohl das alte Fest zu diesen ärmlichen Resten herabgesunken ist, hat sich doch die Erinnerung seiner alten Heiligkeit in dem Glauben erhalten, daß die Hand, welche ein solches „Dreikönigskindel“ während seines Singens schlägt, dereinst aus dem Grabe herauswächst.


[300]
Ein geheimnißvolles Grab.
Von Friedrich Hofmann.

Wer vom schönen Thüringerwald in das Werrathal bei Hildburghausen hinabsteigt, sieht jenseits des Thales zunächst der Stadt zwei Berge sich erheben, in deren Einsattelung eine mit stattlichen Bäumen besetzte Kunststraße zu dem gemeinsamen Rücken beider sich emporwindet. Das ist die Straße nach Coburg. Der Berg zur Rechten derselben heißt der Stadtberg. Ihn kennzeichnet am besten gegenwärtig das Thürmchen, das Joseph Meyer, der Pionier der Zukunft, wie die Gartenlaube ihn genannt, nahe an der Koppe desselben auf der höchsten Stelle seines nur in’s Werrathal schauenden Gartens aus Felsbrocken aufgebaut hat, um von dieser Thurmzinne sich des Blickes auch auf die Herrlichkeiten Frankens jenseits des Berges erfreuen zu können.

Kaum hundert Fuß von der Meyers-Warte abwärts finden wir einen andern Steinbau. Halb aus der Bergwand hervor tritt die steinerne Umfassung eines Grabes. Hohe Kastanien- und Tannenbäume und allerlei Strauch- und Buschwerk beschatten es. Es ist eine verlassene traurige Stelle, obwohl nur wenige Schritte tiefer ein wohnliches großes Gartenhaus vor lebensfrohen Augen das reizendste Bild des schönen Thales und seiner waldigen Umrahmung und winkenden Ferne ausbreitet. – Die pflegende Hand fehlt dem Grabe nicht; sein Blumenbeetchen ist nicht ohne den Schmuck der Jahreszeit. – Wer ruht unter diesem einsamen Hügel?

Diese Frage ist schon von Tausenden gethan, aber die Antwort gab noch Niemand. Und doch stehen wir nicht etwa vor einem Grabe aus weiter Vergangenheit: es ist noch kein Menschenalter, es sind erst sechsundzwanzig Jahre vergangen, seit man es grub. Und viele Menschen standen in jener Herbst-Mitternacht im Scheine der Fackeln um den Sarg, den man vor seiner Versenkung öffnete, und sahen das Frauenbild von rührender Schönheit im weißen Atlaskleide, das hier der Erde übergeben wurde.

Wer war das schöne Weib? Niemand weiß es. Dreißig Jahre lang wohnte es in nächster Nähe, und nur wenige Augen sahen es, gesprochen mit ihm hat kein einziger Mensch des Landes je ein Wort! Auf eine einzige Menschenseele beschränke sich der Umgang dieses ganzen Lebens, dem doch die Mittel zu Gebote standen, in dieser äußersten Abgeschlossenheit mit den glänzendsten Moden von Paris fortzugehen. Wer war diese Dame? Hier ruht ein Geheimniß von so schauerlicher Tiefe, daß man unwillkürlich das Auge zu den Nachtseiten der Throne hinrichtet, um dort die Enthüllung zu suchen, die Alles, was als Thatsächliches aus diesem dunkeln Treiben aufgestellt wurde, bis jetzt nicht zu geben vermochte.

Es war im Jahre 1807, Monat und Tag sind mir nicht bekannt, als nach Hildburghausen, das damals noch Residenz eines herzoglichen Hauses war, ein Reisewagen offenbar vornehme Gäste brachte. Der reichbetreßte Kutscher hielt mit seinen stattlichen Schimmeln vor dem Gasthaus zum Englischen Hofe. Aus dem Wagen stieg zuerst ein rüstiger, eleganter Mann, der dann einer tiefverschleierten Dame den Arm zum Aussteigen bot. Beide blieben Wochen und Monate lang in diesem Gasthofe. Ihre Ansprüche waren nicht gering, aber die Bezahlung ihnen entsprechend. Verbindungen knüpften sie mit Niemandem an, Niemand störte sie in ihrer Zurückgezogenheit.

Solche Erscheinungen erregten zu jener Zeit kein besonderes Aufsehen. Man war an den Anblick von Flüchtlingen aus den höchsten Ständen seit dem Beginn der französischen Emigration so gewöhnt, daß man selbst für ihre strenge Abschließung vom öffentlichen Leben die Ursachen in ihrem traurigen Schicksal suchte. Man achtete das Unglück, und sogar die Polizei scheute sich, solchem hocharistokratischen Elend gegenüber ihre störenden Fragen nach Paß und Legitimation zu erheben.

So blieben auch unsere Fremden in ihrem stillen Leben unbelästigt, und man hat selbst dann nicht davon gehört, daß man über die Verhältnisse und Beziehungen derselben obrigkeitlich nachgeforscht, als sie aus dem Gasthofe in eine Privatwohnung zogen und damit die Absicht eines längeren Verweilens andeuteten. Sie wohnten erst in der dritten Etage eines Hauses (des später sogenannten Regierungsgebäudes) am Markte, siedelten aber, als im Parterre, einem Druckereilocale, einmal ein kleiner Feuerlärm entstand, sofort in die freundlichste Vorstadt von Hildburghausen, die Neustadt, über, und zwar in die zweite Etage eines ganz freistehenden Hauses.

Während dieser Zeit, und hauptsächlich seit dem Aufenthalt in der Neustadt, verbreitete sich etwas mehr Licht über das vornehme Paar. Es war nunmehr bekannt geworden, daß der Fremde ein Baron oder Graf Vavel de Verday sei. Der „Kammerdiener“, der erst als Kutscher erschienen war und später sich als ein über seinen angeblichen Stand gebildeter Mann zeigte, hat nie den Namen des Fremden ausgesprochen; er nannte ihn stets nur „der gnädige Herr“. Im Publicum hielt man an der höheren Bezeichnung „Graf“ fest, und weil die Dame für die Gemahlin galt, so hieß sie die „Gräfin“. Die Landleute um Hildburghausen und hauptsächlich später in und um Eishausen machten sich aus dem ihrem Ohre zu fremd klingenden „Vavel“ einen neuen Namen für den Mann zurecht, für sie hieß er „der Pfaffel“. Wir wollen für das Folgende die landüblich gewordenen Bezeichnungen „Graf“ und „Gräfin“ beibehalten.

In dem Hause der Neustadt, das einer verwittweten Geheime-Assistenzräthin Radefeld gehörte, entfaltete das Leben Beider bald des Verwunderlichen so viel, daß allerdings nunmehr die Neugierde der ganzen Stadt in steigende Bewegung gerieth. Der Graf bezahlte auch hier splendid, machte dagegen ungewöhnliche Ansprüche. Im ganzen Hause mußte fortan die tiefste Klosterstille herrschen, keine Thür durfte mit Geräusch gehandhabt werden, kein fröhliches Kinderspiel, kein lautes Lachen, kein fester Fußtritt im Innern sich hören lassen. Durch Verschläge von Latten an Treppe und Vorplatz wurde die gräfliche Wohnung vom übrigen Hausraum abgesperrt und stets sorgfältig verschlossen gehalten. Alle Fenster waren Tag und Nacht dicht verhängt. Außer dem Kammerdiener bewohnte kein menschliches Wesen diese Etage mit; eine Köchin und eine Aufwärterin, die noch in Dienst genommen waren, wohnten außerhalb des Hauses. Diese Personen sowie die Hausbesitzerin, eine sehr würdige Matrone, ein Kaufmann und Rathsherr A., der zum Geschäftsführer angenommen, aber nur mit Geldgeschäften betraut wurde, und einige schlichte Handwerker, die im Hause gearbeitet hatten – sie waren die einzigen Menschen, die während des ganzen Aufenthaltes des Grafen zu Hildburghausen, also während der Zeit von ungefähr drei Jahren, mit ihm gesprochen haben.

Den häufigsten Verkehr unterhielt der Graf mit der Hausbesitzerin. So oft sie aber zu ihm gerufen ward, verschloß der Graf auch hinter ihr sorgfältig die Thür. Seine Unterhaltung war lebhaft, seine vielen Fragen mußten jedoch der Matrone eine fast kleinliche Neugierde verrathen, so sehr bezogen sie sich auf alle Persönlichkeiten, die in und um Hildbrghausen von einiger Bedeutung waren, ja selbst auf die Fremden, die in der Stadt häufiger einkehrten. Offenbar lag diesen Fragen eine tiefere Absicht zu Grunde, die mit der Sicherheit seines Aufenthaltes in Beziehung stand.

Bei all diesen Besuchen war niemals die fremde Dame zugegen. Drei Jahre wohnte die Frau Assistenzräthin mit der Gräfin unter Einem Dache, und nie hat sie ein Wort mit ihr gesprochen, ja sie nur einige Male flüchtig und zufällig, ja wider Willen im Vorbeigehen erblickt und dabei nur bemerkt, daß sie jung und sehr schön gewesen. Es war nämlich im Hause Jedermann streng untersagt, zuzusehen, wenn der Graf mit der Dame seine Etage verließ, um mit ihr spazieren zu gehen oder zu fahren. Geschah Ersteres, so war die Gräfin so dicht verschleiert, daß ihr Antlitz für nicht ganz nahe Späheraugen unkenntlich blieb. Es war aber nach und nach im Volk zur Sitte geworden, jede absichtliche Annäberung an das seltsame Menschenpaar zu vermeiden. Die Spazierfahrten geschahen im eigenen Wagen, aber mit Postpferden, denn der Graf hatte die eigenen Pferde bei der Uebersiedelung in die Neustadt verkauft. Die Herrschaften stiegen stets im verschlossenen Hofraume ein, und auch dem Postillon war es verboten, sich nach den Einsteigenden umzuschauen. Indeß ist doch wenigstens so viel erlauscht worden, daß bei solchen Ausfahrten der Graf, der stets in feinster Kleidung, in Frack und Seidenstrümpfen erschien, die tiefverschleierte Dame, den Hut in der Hand, zum Wagen führte, nach einer Verbeugung ihr den Arm zum Einsteigen bot und dann neben ihr Platz nahm. Der Wagen war nie zurückgeschlagen und, so lange [301] er auf belebten Straßen fuhr, oft auch noch verhängt. – Ebenso vorsichtig verfuhr man beim Aussteigen. Selbst der Köchin, die von früh bis Nachts in der oberen Etage verkehrte, war es nie vergönnt, die Gräfin zu sehen.

Es wird nach dem Erzählten sich Niemand wundern, daß der Eintritt in die oberen Räume sogar dem Briefträger verboten war, obwohl fortwährend zahlreiche Postsendungen unter der Adresse „Vavel“ oder „Vavel de Versay“ an den Grafen ankamen. Briefe und Packete nahm die Hausbesitzerin in Empfang, legte sie in einen Korb, der zu diesem Zweck an der Treppe hing und, nach einem Zeichen mit einer Klingel, an einer Schnur in die Höhe gezogen wurde. – Die vielen Zeitungen, die der Graf bezog, besorgte der Kammerdiener. Man hörte oft noch spät in der Nacht mit starker Stimme vorlesen; sonst herrschte oben stets Todtenstille.

Das Grab auf dem Stadtberg bei Hildburghausen.
Nach einer Originalzeichnung von Plato Ahrens in Hildburghausen.

Während des Aufenthaltes zu Hildburghausen unternahm der Graf mit der Dame oft Reisen, die sie mehrere Tage abwesend hielten, – wohin? weiß Niemand. Der Kammerdiener war der einzige Begleiter. – Plötzlich kündigte der Graf die Wohnung in der Neustadt, man sagt, weil die Hausbesitzerin, gegen ihre Zusage, sich ohne sein Vorwissen auf Anerbietungen zum Verkauf ihres Hauses eingelassen. Ob dies der wahre Grund gewesen, oder ob der Graf – es war im Jahre 1810 – mehr Sicherheit abseits einer Stadt zu finden geglaubt – wer weiß es? Er wählte zu seinem fernern Aufenthalt das herrschaftliche Schloß aus dem Domainengut zu Eishausen, einem Dorfe, das anderthalb Stunden von Hildburghausen an der Straße nach Coburg liegt. Hier zog er mit der Gräfin und dem Kammerdiener am 30. September ein.

Im Schlosse zu Eishausen fand der Graf anfangs nicht Alles nach Wunsch. Das Erdgeschoß bewohnte noch ein bejahrter Verwalter, und die großen Böden benutzte der Kammergutspachter als Fruchträume. Wie ruhig nun auch der Verwalter und seine gleich alte Frau sich verhalten und wie leise die Pachtersknechte die schweren Getreidesäcke auf den Strümpfen die Treppen auf- und abtragen mochten, der Graf schien seiner Wohnung in der zweiten und dritten Etage nicht eher froh zu werden, bis dem Verwalter eine gute Unterkunft im Dorfe bereitet war und eine neue Pachterwohnung auch den Boden im Schlosse frei machte. Wie der Graf im Geldpunkte sich stets im höchsten Grade anständig zeigte, so hatte er auch für diese Vergünstigungen bedeutende Opfer gebracht.

Trotz alledem schien ein dauernder Aufenthalt auch hier nicht in des Grafen Plane zu liegen. So wurden z. B. die vielen Möbel, die zur Wohnlichmachung der großen Schloßräume nöthig waren, gemiethet. Und wenn er sich wieder Pferde anschaffte, so konnten füglich diese auch dazu dienen, ihm eine Abreise in jedem Augenblick möglich zu machen. Das häusliche Dienstpersonal wurde nur um eine Köchin vermehrt, die jedoch das Schloß niemals verlassen durfte! So hielt sie es viele Jahre aus, bis sie endlich das Gehen auf bloßer Erde ganz verlernt hatte. Die Vermittlung mit der Außenwelt besorgten drei Personen, ein gewisser Schmidt [302] (ein geborener Böhme, der mit einem österreichischen Werbecommando nach Thüringen kam und da zurück blieb) und dessen Frau, die als Bote und Bötin in Dienst genommen wurden, aber in Hildburghausen wohnten und von da täglich nach Eishausen gingen. Auch sie mußten jeden vertrauten Verkehr mit den Menschen möglichst meiden, und sie thaten dies mit unerschütterlicher Treue und mit fast abergläubischer Verehrung gegen den Grafen, weil eine Zigeunerin ihnen einst geweissagt, es werde ein Fremder aus fernen Landen kommen und sie glücklich machen. – Die dritte Person war eine Aufwärterin, ein Mädchen, das im Dorfe wohnte und das Schloß nie betreten durfte, sondern jeden Morgen die Milch durch ein Fenster an die Köchin abgab und auf demselben Wege ihre sonstigen Auftrage erhielt.

So lebten nun diese vier Menschen allein und vor jedem Zutritt von außen verriegelt in dem Schlosse, der Graf und die Gräfin meist im zweiten Stock, der Kammerdiener und die Köchin in der Bel-Etage. Wenn wir nun erfahren, daß selbst diese in das Schloß gleichsam lebendig eingemauerte Köchin das Antlitz der Gräfin binnen sechsundzwanzig Jahren nur zwei Mal sah, ja, daß sogar der anscheinlich in so hohem Vertrauen stehende Kammerdiener niemals selbst die Gräfin in ihrem Zimmer bediente, sondern daß er z. B. die Speisen nur in das Vorzimmer trug, wo der Graf sie in Empfang nahm, so werden wir, trotz aller vom Grafen allein ausgehenden Befehle, doch bald in der Gräfin die Hauptperson zu erkennen haben, um deren Schicksal das Geheimniß sich lagert, das so außerordentliche Vorsichtsmaßregeln gegen seine Enthüllung in Anspruch nimmt.

Ehe wir zur Betrachtung der in vieler Beziehung sehr bedeutenden Persönlichkeit des Grafen und zu der schier märchenhaften der Gräfin übergehen, wollen wir ein für allemal die streng regelmäßige Ordnung und Gewohnheit des täglichen Lebens im Schlosse angeben. Früh zwischen 4 und 5 Uhr klopfte die „Aufwärterin“ die Köchin auf und brachte die Milch. Um 9 Uhr kam die „Bötin“ aus der Stadt mit den bestellten Nahrungsmitteln und den Briefen und Zeitungen der Morgenpost und besorgte die Reinigung der Zimmer, während der „Bote“ den Dienst Nachmittags hatte. Um 10 Uhr hielt der Wagen vor der Schloßthür. Der Kammerdiener thronte wieder, in dreieckigem Hut und silberstrotzender Livree, als Kutscher auf dem Bocke, wie denn auch die Wartung der Pferde sein Amt mit war. Die Fahrt ging Tag für Tag bis in die Nähe des coburgischen Landstädtchens Rodach.

Hierher gehört eine Bemerkung, die das Dunkel dieser Geschichte noch verstärkt und auf die ebenfalls bis heute noch kein Strahl Aufklärung gefallen ist. Auch in der Dorfeinsamkeit wurden die uns bereits bekannten Vorsichtsmaßregeln beim Ein- und Aussteigen der Gräfin beibehalten. Keine Seele durfte sich in den Gängen, auf den Treppen, hinter den Thüren oder Fenstern zeigen, wo die tiefverschleierte Dame ging. Auf der freien Landstraße fiel der Schleier und öffneten sich oft auch die Fenster des Wagens. Und da will ein alter Chausseewärter, der ein nüchterner, zuverlässiger Mann genannt wird, mit seinen guten Augen deutlich gesehen haben, daß bald eine ältere, bald eine jüngere Dame beim Grafen im Wagen war. Mit voller Bestimmtheit sagte er: „Heute ist die Alte mit ihm ausgefahren,“ oder: „Heute hat die Junge bei ihm gesessen.“

Wo ist diese „ältere“ Frau her-, wo ist sie hingekommen? Der Graf hat bis zu seinem Tode Eishausen nie eine Nacht verlassen, das Schloß verrieth von der Lebenden keine Spur, und die Todte hier in unserm Berggrabe kann nur die damals „jüngere“ gewesen sein.

Und doch ist es unmöglich, in dem Charakter des Grafen, wie er aus vielen einzelnen Andeutungen zu erkennen ist, wie er in der Freude am Wohlthun und wie er in dem energischen Auftreten gegen jede obrigkeitliche Nachforschung, wie er in der Art seiner classischen Studien und in geistreich humoristischen Briefnotizen sich aussprach, die Flecken zu finden, die ihm unverkennbar anhaften mußten, wenn ein schweres Verbrechen auf seiner Seele gelastet hätte.

Als Graf Vavel nach Eishausen zog, schätzte man ihn für einen angehenden Vierziger. Er wird geschildert als ein hoher kräftiger Mann, der, wo er sich allein, auf den sehr seltenen einsamen Spaziergängen zeigte, stets in uraltem Filzhut, langem dunklem Rock und weißen Strümpfen erschien; „sein kräftiges, scharfgezeichnetes Gesicht, die frische dunkle Farbe, beschattet von rabenschwarzem Haar und starkem Backenbart, die blitzenden Augen, der entschiedene rasche Gang“ blieben Jedem, der sie einmal gesehen, unvergeßlich.

Auch die Dame wurde in der ersten Zeit des neuen ländlichen Aufenthalts aus der Ferne beobachtet. Sie ging mit dem Grafen auf der Wiese beim Schloß einige Male spazieren. Die wenigen Leute aus Eishausen, die sie sahen, erzählten mit Bewunderung von der schlanken Figur, dem zierlichen Gang und den lebendigen Bewegungen der Gräfin und fügten die den richtigen Takt des Volkes verrathende Bemerkung hinzu: man habe es an Allem gesehen, daß sie die Vornehmere sei; der „gnädige Herr“ habe ordentlich wie ihr Untergebener ausgesehen.

Einer der treuesten Berichterstatter über diese „Geheimnisvollen im Schlosse zu Eishausen“, der lange Zeit in dem Dorfe wohnte, hat ein einziges Mal Gelegenheit gehabt, die Dame in nicht zu großer Entfernung und mittelst eines Glases zu beobachten. Er erzählt: „Die Gräfin stand am offenen Fenster und fütterte mit Backwerk eine Katze, die unter dem Fenster war. Sie erschien mir wunderschön; sie war brünett; ihre Züge waren ausnehmend fein; eine leise Schwermuth schien mir eine ursprünglich lebensfrische Natur zu umhüllen; in dem Augenblicke, wo ich sie sah, lehnte sie in schöner Unbefangenheit im Fenster, den feinen Shawl halb zurückgeschlagen, wie ein Kind mit dem Thiere unter sich beschäftigt. Ich sehe noch, mit welcher Grazie die schöne Gräfin das Backwerk zerbröckelte und die Fingerspitzen am Taschentuche abwischte.“ – Diese Beobachtung datirt vom Jahre 1818. Als die Dame im Jahre 1810 nach Eishausen kam, hatte man ihr Alter auf höchstens 18 Jahre geschätzt.


(Schluß folgt.)


Blätter und Blüthen.

Gerstäcker über die peruanische Auswanderungsangelegenheit. Nachstehende Briefe, die ich schon vor einiger Zeit aus Südamerika erhielt, bringen so manches Interessante, daß ich Ihnen, lieber Keil, wenigstens im Auszuge für die Gartenlaube mittheilen möchte. Sie sind von dem seiner Zeit noch angegriffenen und verleumdeten Demian v. Schütz, der jene Colonisten nach Peru schaffte und die dortige deutsche Colonie am Pozuzu gründete.

D. v. Schütz hatte dadurch allerdings einen großen Fehler begangen, daß er den Versprechungen, ja selbst dem Contract einer peruanischen Regierung glaubte. Er selber handelte aber stets als ehrlicher und braver Mann, und die Colonisten selber bestätigten mir damals an Ort und Stelle, daß er sein letztes eigenes Geld ausgegeben, ja in Cerro de Pasco sogar seine Uhr versetzt habe, um den Einwanderern das Nöthigste zu verschaffen, was er, trotz aller Versprechungen und Zusicherungen, von den Beamten nicht erlangen konnte. Die Sache ist zu verwickelt, um sie hier noch einmal zu erwähnen; nur so viel sei wiederholt, daß sich die peruanische Regierung damals verbindlich gemacht hatte, einen Weg bis zu jener Stelle bauen zu lassen, wohin die deutsche Colonie gelegt werden sollte, indessen D. v. Schütz die Colonisten von Europa holte. Als er aber mit ihnen ankam, hatte die Regierung das Geld für den Weg allerdings an die Präfecten auszahlen lassen, diese aber dasselbe in anderer Weise verwandt und mit der Straße kaum begonnen. Ihm selber wurde später ebensowenig gehalten, was ihm zugesagt worden, und nachdem er sich in Lima eine Zeit lang kümmerlich mit Unterrichtgeben durchgebracht, verließ er das Land wieder. Eben darüber schreibt er in den beiden Briefen.

Der erste von diesen enthielt nur die besonders für mich interessante Nachricht, daß mein Besuch bei dem Präsidenten Castilla doch etwas genützt habe, indem dieser auf alle meine Vorschläge eingegangen war. Für den Wegbau nach der Colonie war eine bedeutende Summe monatlich bewilligt worden, und zum Weg-Inspector der einzige mögliche Mann, der wirklich etwas vom Wegbau verstand, und die Wälder und Berge dort so genau wie seine Cocatasche kannte, ernannt und entsprechend besoldet worden. Es war derselbe, den ich damals dem Präsidenten vorgeschlagen. Bis dahin war ein verunglückter Minenspeculant mit monatlich 50 Dollar dazu angestellt gewesen, der seinen Gehalt ruhig verzehrte und klug genug war, sich um etwas gar nicht zu bekümmern, was er doch nicht verstand. Natürlich bekamen die Colonisten aber auch dadurch keinen Weg. Der arme Teufel, der zugleich als Gobernador oder oberste Polizeiperson in der Colonie fungirte, nahm aber ein trauriges Ende, denn beim Urbarmachen seines eigenen Landes erschlug ihn ein stürzender Baum, und der Indianer Leon Cartagena konnte ohne Weiteres sein Amt als Weginspector antreten. So weit schien Alles gut zu gehen, und wenn die Colonisten über Huancabamba den directen Weg nach Cerro de Pasco gebaut bekamen, so durften sie hoffen, ihre Producte weit besser verwerthen zu können, als dies jetzt bei dem bedeutenden Umwege über Huanaco der Fall war. Präsident Castilla hielt auch darin wirklich Wort, denn der Betrag für den Weg zeigte sich doch noch immer als ein sehr kleiner Posten gegen die ungeheueren Einnahmen des Landes, die nach Millionen zählten, und er nahm in der That Interesse an der deutschen Colonie, wie überhaupt an allen Fremden.

[303] Vom November 1861 schreibt mir nun D. v. Schütz:

„Sie werden wünschen, einige Nachrichten aus der Colonie vom Pozuzu zu erhalten. Die neuesten, die ich habe, sind vom September. Der Weg über Huanaco war damals schon fast fertig. Es fehlten noch zwei Leguas zwischen Muna und Pozuzu und 80 Indianer arbeiteten beständig daran, so daß er jetzt schon beendet sein muß. Die Brücke über den Huallaya bei Muna war fertig. Nur dem Eifer der Bewohner von Huanaco ist es zu verdanken, daß dieser Weg vollendet wurde, und daß jetzt schon an dem Wege vom Pozuzu nach Mairo[1] gearbeitet wird. Der Missionair Pater Calvo war wieder vom Amazonenstrom und Ucayali am Pozuzu angelangt. Gegenwärtig werden in London vier Dampfschiffe für den Amazonenstrom und seine peruanischen Nebenflüsse gebaut, von denen zwei kleine von 60 Tons bis zum Mairo hinaufgehen sollen. Für den andern Wegbau nach Huancabamba schickt die Regierung jeden Monat regelmäßig 500 Dollar nach Cerro, die aber der dortige Präfect ebenso regelmäßig in die Tasche steckt, weil Niemand die Sache betreibt. Mit dem Wegbau nach Huanaco wäre dasselbe der Fall gewesen, wenn die Bewohner dieser Stadt nicht selber so großes Interesse an demselben genommen hätten, indem die Vollendung dieser Straße ihre Stadt ja direct mit dem Amazonenstrom in Verbindung bringt.[2] Im nächsten Jahr werden die Colonisten schon eine volle Kaffeeernte haben (dies Jahr selbst bauen sie schon hinreichend für den eigenen Bedarf) und können dann recht gut 8–10 Dollar pro Centner an Ort und Stelle erhalten. Diese vorzügliche Art Kaffee gilt jetzt in Huanaco 25 Dollar und in Lima 40 Dollar pro Zentner. In Lima fällt dieser Kaffee nie unter 30 Dollar, wenn der von Central-Amerika nur 20 gilt. Jetzt endlich verstehen die Colonisten die Bereitung des Tabaks, was ebenfalls ein guter Erwerbszweig werden wird.“

Soweit der Brief über die Colonie, wonach D. v. Schütz sich noch, und wohl mit Recht, bitter über die vielen Ungerechtigkeiten beklagt, die seiner Zeit gegen ihn ausgeübt wurden. Am meisten hat ihn damals die Allgemeine Zeitung gekränkt, die selbst persönliche Angriffe gegen ihn aufnahm, ihn selber aber stets mit seiner Entgegnung unter die Inserate setzte und schwer dafür zahlen ließ. Er mußte für drei Entgegnungen 104 fl. entrichten.

In dem ersten Brief sagt nun D. v. Schütz noch:

„Was mich betrifft, so ist mir der Antrag gestellt worden, der Leiter eines Unternehmens zu werden, welches die Verschiffung von Häuten und getrocknetem Fleisch, sowie den Anbau von Baumwolle auf den Galopagos-Inseln bezweckt. Eine dieser Inseln, St. Charles oder Floreana genannt, ward vor 30 Jahren von der Regierung von Ecuador einem gewissen General Villamil in Besitz gegeben, welcher damals 60 Kühe nebst ein paar Stieren, wie viele Ziegen und Schweine dahin brachte. Diese Thiere haben sich nun erstaunlich vermehrt und jetzt sollen sich über 10,000 Stück Rindvieh, 20,000 Ziegen und viele Schweine im Zustand der Wildheit auf der Insel befinden. Dies will jener Villamil nun nutzbar machen und einen Contract mit ein paar Engländern abschließen, welche beabsichtigen, das nöthige Capital zu dem Unternehmen herzugeben.

Ich selber soll mit einer Partie Cholos (peruanische Abkömmlinge von Weißen und Indianern) und einigen Yankees dahin abgehen und die Sache in’s Werk setzen. Ein Antheil an dem Geschäft ist mir versprochen. Das Leben dort wird freilich ein trauriges sein, denn die Insel ist ganzlich unbewohnt, aber das Klima prachtvoll.“

In seinem zweiten Briefe hat D. v. Schütz die Reise wirklich angetreten und schreibt darüber:

„Seit Ihrer Abreise von Lima bin ich selber wieder viel gereist und habe Peru am Ende für immer verlassen. Eine englische Gesellschaft, welche die Galopagos-Inseln ausbeuten will, beauftragte mich, jene Inseln zu untersuchen, und demgemäß fuhr ich in Gesellschaft jenes columbianischen Generals, der schon mehrere Jahre auf den Inseln zugebracht, und in Begleitung von einigen Nordamerikanern und peruanischen Eingebornen von Callao ab. Wenige Tage nach unserer Abfahrt bekam das Fahrzeug einen Leck, was die Mannschaft Tag und Nacht an die Pumpen zwang, und zuletzt waren wir genöthigt, Guayaquil anzulaufen. Dort verkaufte ich das Schiff und miethete ein anderes, mit dem wir unsere Reise fortsetzten und die Inseln acht Tage nach unserem Abgang von Guayaquil erreichten. Ich besuchte nur zwei derselben, die Floreana (St. Charles) und die Chatam, auf denen allein wildes Vieh in großer Anzahl angetroffen wird. Derselbe alte General, der die Reise mit mir machte, hatte nämlich im Jahre 1830 sechzig Kühe mit ein paar Bullen, Schweine, Ziegen, Pferde, Esel, Hunde und Katzen nach den Inseln gebracht, welche sich seit der Zeit zum Theil bedeutend vermehrt haben und jetzt gänzlich verwildert sind. Gegenwärtig mögen auf beiden Inseln 15,000 Stück Rindvieh vorhanden sein, nebst vielen Schweinen und Ziegen. Pferde und Esel haben sich nicht stark vermehrt, noch weniger die Hunde und Katzen. Kühe, Ziegen, Pferde und Esel sind, Dank der guten Weide, in vortrefflichem Zustand.

Einige Jahre lang wurden diese Inseln als Strafcolonie für Ecuador benutzt, was jedoch längst wieder aufgegeben ist. Den Sträflingen war es übrigens nicht gestattet, das Vieh zu tödten. Vor der Einführung dieses Viehes gab es nur wenig Thiere auf den Inseln – vierfüßige gar keine; einige Arten von Vögeln, von Amphibien schwarze Iguanas und nur sehr viele Land- und Seeschildkröten, von denen die Inseln auch ihren Namen haben (Galopago ist eine Landschildkröte). Auf den Inseln jedoch, auf denen Schweine ausgesetzt wurden, haben diese die Schildkröten gänzlich vertilgt. Sonst sind sehr große Landschildkröten auf den Inseln vorhanden, und man findet deren bis zu 12 Centner. Sie geben vortreffliches Fleisch und Oel. Der Fischfang ist ebenfalls sehr reich und wird ein bedeutender Industriezweig werden. Namentlich ist eine Art von Stockfisch sehr häufig.

Die Inseln sind neuen vulcanischen Ursprungs, einer Trachytformation angehörend, mit vielen erloschenen Kratern. Die Gruppe besteht aus sechs größeren und vielen kleineren Eilanden. Die Vegetation ist gar nicht tropisch, obgleich die Inseln unter dem Aequator liegen, vielmehr dem Norden von Mexico ähnlich. Sie enthalten viele natürliche Weideplätze und gar keine Palmen. Die baumartigen Pflanzen sind fast sämmtlich Mimosen. Außerdem giebt es viele baumartige Cactus, darunter einige von drei Fuß im Durchmesser. Diese dienen dem Vieh in dürren Jahren als Aushülfe für Speise und Trank, denn sie enthalten sehr viel Wasser. Es ist ein sonderbarer Anblick, mehrere Stück Rindvieh gemeinschaftlich einen solchen Cactusbaum mit den Hörnern fällen zu sehen. Des Klima ist sehr gemäßigt. Dieselbe kalte Südströmung und derselbe Südwind, welche das Klima der peruanischen Küste abkühlen, drehen sich bei Paita (4 Gr. südl. Br.) westlich und passiren die Galopagos-Inseln. Daher ist das Klima dem von Peru ähnlich; im Innern von Floreana und Chatam, 1000 Fuß über der Meeresfläche, nie unter 10° und nie über 26° R. Doch regnet es hier, während es bekanntlich an der peruanischen Küste nie regnet.

Ich ließ einige Nordamerikaner und Eingeborene von Ecuador dort, um für die nachfolgende Expedition Vorbereitungen zu treffen. Auf der Chatam-Insel fand ich zwei Robinsons, einen Dänen und einen Nordamerikaner, die dort Kartoffeln, Gemüse, Melonen etc. für den Gebrauch der Wallfischfänger bauten, für welche diese Inseln ein Hauptlandungsplatz sind. In dem Garten dieser Leute sah ich, wie der fruchtbare Boden hier fast Alles hervorbringt, Salat und Bananen, Kartoffeln und Bataten, Zwiebeln und Zuckerrohr, Kohl und Ananas etc. etc. Nach meiner Rückkehr und Abstattung meines Berichtes beschloß die Gesellschaft, die Sache in Angriff zu nehmen. Die Inseln liegen 500 Miles vom Festlande, gerade im Course der Schiffe, welche nach Californien, englisch Columbien und der Westküste von Mexico bestimmt sind. Außerdem werden sie die Wallfischfänger zu ihrem steten Landungsplatz machen, wenn sie dort sicher Lebensmittel und Wasser vorfinden, und im südlichen stillen Meere kreuzen durchschnittlich in den bestimmten Jahreszeiten 500 derselben. Dann sollen die Galopagos-Inseln auch noch Stationsplatz für die neue Dampferlinie zwischen Panama und Australien werden. Die Gesellschaft will außerdem vorzüglich Baumwolle bauen, wozu der Boden besonders geeignet ist, und die Fischerei im Großen betreiben.

Die zweite Expedition ist nun schon wieder im Gange. Hier (der Brief ist von Guayaquil, November 1861 datirt) nehmen wir eine Anzahl Eingeborener mit ihren Pferden ein, Leute, die mit dem Viehtreiben und Lassowerfen umzugehen verstehen, und außerdem haben wir einige Nordamerikaner engagirt, die ich für Unternehmungen dieser Art allen Anderen vorziehe. Sie sind intelligent und praktisch und erfüllen das, was sie versprochen haben zu thun, so lange der andere Theil auch seine eingegangenen Verpflichtungen hält. Namentlich kömmt bei ihnen das ewige Geklatsche und Gemurre nicht vor, wodurch die „grünen“ Deutschen sich so unausstehlich machen. Nordamerikaner kann und muß man auch als Seinesgleichen behandeln, was bei Deutschen der unteren Classen unmöglich ist. Diesen Fehler hatte ich bei der Colonisation in Peru begangen. Ich war früher fast mit keinem anderen Arbeiter zusammengekommen, als mit amerikanischen, und glaubte, die neuen deutschen Einwanderer auch ebenso behandeln zu können, nämlich als freie, unabhängige Leute, die ihre Vorgesetzten selber zu wählen hätten und sich selbst regierten. Die Folge davon war, daß sie allen Respect verloren und namentlich durch Schimpfen ihre Unabhängigkeit beweisen zu müssen glaubten – –“

Einen kurzen Satz über das Consularwesen will ich aus dem Briefe noch folgen lassen, der zwar leider nur Allbekanntes bringt, aber nicht oft genug wiederholt werden kann.

– „Eine Aenderung des Consularwesen ist vor allen Dingen nöthig: die, daß man sich für überseeische Plätze in Deutschland wenigstens in soweit einige, um nur Consuln oder Geschäftsträger herüber zu senden, die ganz Deutschland zu vertreten hätten. (Schöner Traum!) Die Kaufleute sind ganz gut, um für die commerciellen Interessen an Handelsplätzen einzustehen, allein für diplomatische Geschäfte passen sie ganz und gar nicht. So wurde neulich einem deutschen Büchsenmacher in Lima bei den Wahlen der Laden ausgeplündert. Er wendete sich als Preuße gleich an den preußischen Consul, der ihm erwiderte: „Officiell kann ich für Sie gar nichts thun, vielleicht kann ich durch den Einfluß einiger meiner Freunde etwas erlangen.“

Der Consul hatte vollkommen Recht, denn in diesen Ländern werden die Consuln der verschiedenen deutschen Staaten, deren Machtlosigkeit man gut genug kennt, nicht im Geringsten respectirt. Dann können Kaufleute selten energisch auftreten, weil sie fürchten müssen, ihren eigenen Handelsinteressen dadurch zu schaden. Einen ebenso großen Fehler würde man begehen, wenn man, was von Deutschland aus sehr zu fürchten ist, im Actenwust ergraute Staatshämorrhoidarien hierzu verwenden wollte. Für die unwissenden und oberflächlichen, Alles nach dem Scheine beurtheilenden Staatsmänner der hiesigen Cabinete wäre ein flotter Husarenofficier mit fürchterlichem Schnurrbart am passendsten, vorausgesetzt, daß er eine gute Dosis Grobheit und gesunden Menschenverstand besäße. Gegenwärtig sind die Deutschen hier so gut wie schutzlos.“

Soweit der Brief. D. von Schütz ist nach den Galopagos-Inseln abgegangen, und wir dürfen hoffen, jetzt bald einmal wieder Nachricht von ihm über die dortigen Verhältnisse zu bekommen. Recht von Herzen aber will ich wünschen, daß er sein Unternehmen dort glücklich zu Stande bringe, wie ich auch überzeugt bin, daß die Compagnie keinen passenderen Mann zu der Leitung desselben hätte wählen können. So ehrlich und wacker er sich, trotz aller Anfeindungen, in Peru gegen seine deutschen Landsleute, die Colonisten benommen, so wacker wird er auch dies – und jetzt zwar mit den früher gemachten Erfahrungen bereichert und gewitzigt – zu Ende führen, und wieder haben wir den Beweis, daß fremde Nationen sich immer nach Deutschen umsehen, wenn sie eine Vertrauensstelle mit irgend wem besetzen wollen. Und der Deutsche? – arbeitet in fremden Ländern [304] – Dank unseren weisen und umsichtigen heimischen Regierungen – nur für den Fremden – schafft erst, bevölkert dann und hebt dessen Colonien und wird von Deutschland aus – etwa unterstützt? – nein, höchstens steckbrieflich verfolgt, weil er sich seiner Militärpflicht entzogen hat.

Friedrich Gerstäcker.


Französisches Familienleben. Vor kurzer Zeit ereignete es sich in Paris, daß ein junges Mädchen auf die Frage des Maire: ob sie ihren Bräutigam zum Ehemanne nehmen wolle? erwiderte: „Sie, Herr Maire, sind der Erste, der mich darnach fragt, und ich antworte ein entschiedenes Nein!“ Alle Versuche der Eltern, den Sinn der Tochter zu ändern, waren vergeblich, und die Hochzeitsgäste kehrten unverrichteter Sache nach Hause zurück. Ein derartiger Widerstand, welcher in Frankreich nur zu oft berechtigt wäre, tritt allein deshalb selten ein, weil die jungen Mädchen in der Ueberzeugung aufwachsen, daß bei der Wahl des Ehegatten nicht ihr Herz, sondern allein der Wille der Eltern oder Vormünder zu entscheiden habe. Der Code civil giebt keine Definition von der Ehe; die Praxis des Lebens hat daraus in den meisten Fällen nur eine vermögensrechtliche Vereinigung von Mann und Frau gemacht; die Gleichmäßigkeit äußerer Verhältnisse und vorzüglich der Besitzthümer findet größere Berücksichtigung als die Frage, ob sich das Herz zum Herzen findet. Ist es hiernach zu verwundern, wenn ein Familienleben, wie es in Deutschland und England heimisch ist, in Frankeich selten angetroffen wird? Die Freiheit, welche die Mädchen in jenen Landern genießen, kennt die junge Französin nicht; sie wird möglichst streng von der Welt abgeschlossen, bis über ihre Hand disponiert ist. Ist der Bräutigam gefunden, wobei die Vermittlung der Notare sehr gewöhnlich ist, so wird von den beiderseitigen Eltern der Ehecontract mit genauer Berücksichtigung aller Chancen für Leben und Tod festgestellt; erst wenn dies gelungen, dürfen die Verlobten mit einander verkehren; oft beschränkt man dieselben auch hierin auf die engsten Grenzen, damit etwa vorhandene Disharmonien nicht schon vor der Ehe hervortreten und die Ausführung des Contractes in Frage stellen; die Wahl der Brautgeschenke, des sogenannten Hochzeitskorbes, füllt die kurze Zeit zwischen der Verlobung und Verheirathung angenehm aus. Oft tritt ein Mädchen unmittelbar aus dem Pensionat oder Kloster mit einem Manne zum Traualtare, den sie kaum äußerlich kennen gelernt hat; das Leben der verheiratheten Frauen, die gesellschaftlichen Rechte und Freiheiten derselben sind so verschieden von der zurückgezogenen Lebensweise der jungen Mädchen, daß diese den Ehecontract mindestens als ihren Freiheitsbrief aus der häuslichen Sclaverei mit Freude entgegennehmen. Die Ehe erschließt ihnen eine neue Existenz und giebt dem Drange ihres Herzens nach gegenseitigem Mitempfinden ein erlaubtes Ziel; noch schlafen freilich die zartesten Keime des Gefühls und harren der Pflege der Liebe, um sich zu entfalten.

Wird diese Erweckung erfolgen, oder werden jene Keime, ohne Blüthe zu treiben, verdorren? diese Frage berührt der Contract nicht, nur wenige Ehemänner haben Zeit und Lust, das lebendige Naturräthsel, welches der Lösung durch sie harrt, zu studiren und sich geistig wie physisch zu assimiliren; sie haben ja nicht so sehr die Frau wie die Mitgift gesucht! Das allgemeine Streben nach schnellem Vermögenserwerbe oder einflußreicher Stellung im Staate läßt keine Zeit übrig für eine Liebe, wie sie ein jugendliches, weibliches Herz in den ersten Jahren des Zusammenlebens von dem Manne fordert; die Ehe hatte für diesen ja nur den Zweck, seine geschäftlichen Interessen zu fördern und die Erfolge seines Schaffens durch Nachkommenschaft sicher zu stellen. Welche Freude daher bei der Geburt des ersten Sohnes! Welch Gefühl der Sicherheit gewährt ein zweites und drittes Kind! Aber sobald nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit die Dauer des Namens gesichert, liegt ein fernerer Zuwachs der Familie außer den Wünschen der Eltern; die größere Anzahl der Kinder verringert die Mitgift und erschwert somit die Verheirathung. Hat der Mann ein Geschäft, so tritt in den mittleren Ständen die Frau als Buchführer oder Kassirer ein; bald hat sie mit der dem Weibe im Allgemeinen und vor Allen der Französin eigenen Gewandtheit die äußeren Formen, sowie das innere Wesen kennen gelernt und sich zu einem eigentlichen Associé des Gatten emporgeschwungen; die Träume der Jugend von Liebe und Glück verschwinden schnell in dem Strudel des materiellen Lebens; die Sorgen des Geschäfts gestatten keine geregelte Häuslichkeit, sie wird daher so viel als möglich beschränkt; die kleinen Kinder werden, nachdem sie gekennzeichnet, zu den Ammen auf’s Land gegeben, die größeren in Pensionate untergebracht, die Gatten, die somit alllein von der Familie noch zusammen bleiben, gestatten sich oft nicht einmal die Annehmlichkeit einer eigenen Küche, sondern beziehen ihre Mahlzeiten aus dem Speisehause; die Wohnung entspricht unter solchen Verhältnissen gewöhnlich mehr dem Bedürfnisse, als dem Comfort und der Gemüthlichkeit. Die Kinder wachsen auf, wie die Eltern gelebt: ohne Sin für Familienleben und häusliches Glück.

Noch trauriger ist die Lage einer jungen Frau, die ohne gegenseitige Neigung einem Manne angetraut wird, an dessen Wirken und Streben sie keinen Theil nehmen kann.

Darf ein Ehemann, der in der Häuslichkeit sein eigentliches Lebensglück zu suchen verschmäht, sich beklagen, wenn ein Dritter die in dem jungen Wesen schlummernden Kräfte erkennt, sie in’s Leben ruft und dadurch der Vertraute der jungen Frau wird? War es nicht Pflicht des Gatten, die ihm anvertrauten Kräfte zu wecken, zu entwickeln und dem Zwecke der Ehe dienstbar zu machen? Aber das erfordert Hingebung und Liebe, und sie ist nur zu selten das Motiv der Vereinigung. Darf man sich hiernach wundern, wenn die Männer bald nach der Ehe zu den leichten und bequemen Freuden ihres Junggesellenlebens zurückkehren, und die verlassenen Frauen über die Grenzen der ihnen gestatteten Freiheiten hinausgehen. Der maßlose Luxus des weiblichen demi-monde, der den Neid der ehrbaren Frauen in so hohem Grade erregt, wird zum größten Theil aus den Cassen der Ehemänner bestritten. Trotz alledem bietet das eheliche Zusammenleben dem Auge des Publicums weniger Anstoß als in anderen Ländern, in denen die Ehe heiliger gehalten wird. Die Treue der Gatten verliert da an Werth und Bedeutung, wo Liebe nicht das Band der Verbindung ist, und die größere persönliche Gleichgültigkeit erleichtert auch bei vorhandener Disharmonie die Beobachtung der äußeren Formen; überdies entfernt die geringe Mitwirkung der Eltern bei Erziehung der Kinder so manche Veranlassung zu Meinungsverschiedenheiten, und die Unmöglichkeit der Ehetrennung deckt den Mantel des Geheimnisses auf die vielfachen inneren Schäden der häuslichen Zustände.

Schon oft hat man den Vorschlag gemacht, die Mitgift, die vielfach als das Grundübel des ehelichen Lebens in Frankreich angesehen wird, gesetzlich aufzuheben. Es läßt sich nicht verkennen, daß, abgesehen von der Frage der Durchführbarkeit einer solchen Maßregel, die Motive der Eheschließung dadurch von ihren unedelsten Momenten befreit werden würden; das Weib käme zum richtigen Bewußtsein seiner selbst zurück, wenn nicht mehr sein Vermögen, sondern seine Schätze an Herz und Geist den Werth bestimmten; die vielen jungen Männer, welche jetzt durch eine reiche Heirath sich eine Stellung im Leben zu machen streben, würden auf ihre eigenen Mittel angewiesen, und eine Fülle unwürdig vergeudeter Kräfte wüchse dem Gemeinwohle zu; die Ehe und das Familienleben würde wieder der eigentliche Sitz und Schwerpunkt der menschlichen Glückseligkeit werden. Aber selbst bei den Frauen findet dieser Vorschlag wenig Beifall. Die reinen und vollkommenen Freuden des häuslichen Heerdes sind ihrer Anschauungsweise und Erfahrung so fremdartig, daß sie für die bloße Möglichkeit derselben die einflußreiche Stellung nicht aufgeben wollen, welche ihnen die vorbehaltene Disposition über ihr Vermögen gewährt, der goldne Gürtel der Mitgift wird die Kette, an die sie den Ehemann anschließen können; der Gewinn an Macht entschädigt sie für den Mangel en Liebe. Die sociale Bedeutung des weiblichen Geschlechts ist dadurch in Frankreich größer als in irgend einem andern Lande, daß ein bedeutender Theil des beweglichen und unbeweglichen Vermögens in den Händen der Frauen ist. Noch weniger aber würde das Verbot der Mitgift von den Männern befürwortet werden; sie gewährt dem Einen die Möglichkeit, ein Geschäft zu begründen, ein Anderer vermag durch sie die Resultate seines Schaffens auf dem Gebiete der Kunst oder Wissenschaft ohne Sorgen abzuwarten. Die Ehelosigkeit und das Concubinat würden durch die gesetzliche Aufhebung der Mitgift in ausgedehntem Maße um sich greifen. Mehr noch als die Mitgift trägt aber an den traurigen Zuständen des ehelichen Lebens der Mangel an häuslichem Sinn Schuld, welcher dem Franzosen eigen ist: sein Blut ist leichter, er hat mehr als der Nordländer das Bedürfniß des geselligen Verkehrs, und liebt es nicht, sich auf sich selbst zurückzuziehen. Hätte er Sinn und Vorliebe für ein häusliches Stillleben, so könnten solche Motive, wie sie bei Eingehung der Ehe vorherrschen, im Volksgeiste nicht Wurzel fassen.

Auch in England sind die Ehepacte allgemein gebräuchlich, aber sie haben mehr den Zweck, den Bund der Herzen auch auf die Vereinigung der irdischen Güter auszudehnen, als die Ehegatten gegen einander sicher zu stellen. Die neuere französische Literatur hat nicht wenig dazu beigetragen, das Familienleben zu untergraben: die eheliche Untreue ist der unerschöpfliche Stoff der Romane. In einer Zeit, wo die Unnatürlichkeiten einer Feydeau’schen Sylvie aus dem wirklichen Leben geschöpft sind, können selbst die feinen und zarten Ideen eines Michelet über Liebe, Ehe und Familie keine Wurzel fassen.

H. R.



Berichtigung. In dem Aufsatze „Theodor Körner’s Leier und Schwert“ in Nr. 8 der Gartenlaube ist auf Seite 119 die Betheiligung der würtembergischen Truppenabtheilung in einer Weise dargestellt, als ob der dieselbe commandirende Oberstlieutenant von Kechler einen militärischen Ungehorsam begangen habe, indem er den Oberst von Lützow von dem beabsichtigten Angriff in Kenntniß setzen wollte.

Zum Beweis, daß dies nicht der Fall war und daß diese Anschauungsweise auch den Mittheilungen des bei dieser Affaire mitbetheiligten Adjutanten des Oberstlieutenants Kechler, auf welchen sich der Herr Verfasser des Aufsatzes als Gewährsmann beruft, nicht entnommen werden kann, folgen hier die betreffenden Stellen aus diesen Mittheilungen wörtlich abgedruckt:

„Kechler ritt darauf mit mir, seinem Adjutanten, nach Lützen und meldete dem General Fourier den vom Herzog von Padua erhaltenen Befehl, die getroffenen Conventionen und den Hermarsch von Zeitz bis Kitzen.

Ueber den Punkt der Convention,

„daß bevor eines Angriffs Anzeige gemacht werden müsse,“ äußerte Fourier: „das ist recht“ und entließ uns ohne weitere Verhaltungsbefehle.

Ferner heißt es in diesen Mittheilungen:

„Uebrigens sogleich nach unserer Ankunft sandte Oberstlieutenant von Kechler den Reiter-Oberlieutenant Ferdinand Grafen von Reichach mit einem Trompeter an Lützow ab, um ihn von dem von uns vermutheten Angriff von Lützen her zu avertiren.“

Daraus erhellt klar, daß das Verfahren Kechler’s sowohl gegenüber seinem militärischen Vorgesetzten, dem General Fourier, als gegen Lützow, welchem er vertragsmäßig den Angriff anzuzeigen hatte, ein völlig correctes war, und ebenso, daß die Absendung des Grafen von Reischach an Lützow, weder eine geheime war, noch zu sein brauchte.




Kleiner Briefkasten.


H. I. in Weimar. Einverstanden! Eigentlich sollte es nicht noch einmal nöthig sein, unsere lieben Deutschen auf den 16. Mai, als den Tag hinzuweisen, an welchem der Senior und das Haupt aller lebenden deutschen Dichter, Friedrich Rückert, sein fünfundsiebenzigstes Jahr vollendet. Dennoch geschieht es hiermit, damit in diesem ereigniß- und jubelreichen Jahre nicht Viele, denen das später leid thäte, versäumen mögen, in größeren oder kleineren Kreisen dem Dichter ein Ehrenfest zu weihen, wie er es um den deutschen Geist und das deutsche Herz verdient hat.


  1. Mairo ist jener etwa 12 bis 13 Leguas vom Pozuzu entfernte Punkt am Amazonenstrom, bis wohin Dampfschiffe fahren und dadurch eine Verbindung mit dem atlantischen Ocean eröffnen können.
  2. Huanaco liegt schon am östlichen Hang der Cordilleren und also mit an den freilich dort noch nicht schiffbaren Quellen des Amazonenstroms.