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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[193]

No. 13.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Kleine amerikanische Sittenbilder.

Nr. 4. 0Ein neuer Industriezweig.


Den Broadway in New-York entlang pfiff ein so kaltes Lüftchen, zu Eis gefrorene Schneeflocken vor sich her jagend, wie ich es nur jemals während eines harten Winters in Deutschland hatte kennen lernen. Ich kam mit einem Landsmanne, Karl Mader, an welchen mich gleiche Verhältnisse und gleicher Geschmack hatten anschließen lassen, aus der obern Stadt, wohin uns eins von Ole Bull’s Concerten gezogen, und als Jener ein Glas heißen Punsch zur Erwärmung für unsere halb erstarrten Glieder vorschlug, kam er nur meinem eigenen Wunsche zuvor. Das nächste hellerleuchtete Trinklocal ward zum Ziele genommen, und bald saßen wir an einem einsamen Tischchen, mit Behagen die belebende Flüssigkeit einschlürfend.

Mader hatte eben einige launige Bemerkungen über die verschiedenen Gruppen von Amerikanern, welche den Schenktisch umlagerten, gemacht, als sich plötzlich ein Stuhl in den Raum zwischen uns schob und eine darüber gebeugte Gestalt mit einem schwermüthigen Lächeln nach uns Beiden sagte: „Guten Abend, Gentlemen, entschuldigen Sie mich!“ Damit aber hatte der Mann sich auch bereits niedergelassen, warf einen Blick nach unsern Gläsern und fragte mit einem melancholischen Kopfschütteln: „Brandy?“

Wir sahen uns Beide etwas überrascht an, der Eindringling schien indessen kaum auf uns zu achten, legte den Kopf zurück und schloß die Augen halb; Mader aber, der einen raschen, kritischen Blick über die etwas schäbige Erscheinung des Fremden geworfen, winkte mir mit den Augen, als erwarte er hier ein unvorhergesehenes Amüsement. Da begann der Dasitzende plötzlich mit einer Stimme, die jedenfalls einen elegischen Klang haben sollte:

„Wohl ist Wohl, und Schmerz ist Schmerz,
Was uns weh thut, fühlt das Herz!“

„Sagten Sie etwas?“ rief ihn Mader an, und wie aus dem Schlafe erwachend fuhr der Angeredete auf, ließ einen verwunderten Blick durch das Local schweifen und erwiderte dann:

„Habe ich etwas gesprochen, Gentlemen? O, ich war das nicht, der sprach, es war Byron’s Geist, der meine Lunge in Anspruch nahm!“

„O, so sind Sie ein Spiritualist, ein Medium!“ lachte mein Gefährte auf.

„Beides zu meinem Schmerze, und ich könnte Ihnen Dinge erzählen – aber bitte, bestellen Sie keinen Brandy für mich!“ unterbrach sich der Sprecher, die Hand abwehrend ausstreckend.

„Sicherlich nicht!“ erwiderte Mader.

„Weil ich,“ fuhr der Fremde fort, als habe er den Einwurf nicht gehört, „stets nur Gin mit Zucker trinke!“

Mader lachte; ich aber, dem eine solche Erscheinung neu war, bestellte den Gin.

Der Fremde schlürfte sein Glas mit einem zerstreuten Blicke, wischte sich mit einem baumwollenen Taschentuche die Stirn und sagte dann: „Sie werden jedenfalls meinen Namen wissen wollen, Gentlemen – ich heiße auf dieser Welt gegenwärtig Mac Feargus. Vor Zeiten hätten Sie mich unter einem andern Namen kennen lernen.“

„Ah, und unter welchem?“

„Noah!“

„Meinen Sie den Vater von Sem, Ham und Japhet?“

„Nein! ich meine zwar dasselbe Individuum, auf das Sie hinweisen, allein das hatte keine solchen Söhne.“

„Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen widerspreche!“ erwiderte Mader entschieden.

„Sicherlich, Sir; aber da ich selbst früher dieses Individuum war, leuchtet es Ihnen vielleicht ein, daß ich das selbst am besten wissen muß. Ich könnte wohl, da ich soeben die Erleuchtung in mir fühle, Jedem von Ihnen sagen, wer Sie vor Zeiten waren, allein Sie würden mir keinen Glauben schenken.“

„Nur los damit, und vielleicht glauben wir!“

Von Neuem legte der Fremde den Kopf zurück und schloß die Augen halb, riß sie aber nach etwa drei Secunden groß wieder auf und sagte, sich zu Mader wendend: „Sie waren Judith!“

„Hallo, hallo!“ lachte dieser. „Haben Sie sich nicht im Geschlecht geirrt?“

„Der Geist kennt kein Geschlecht!“ war die ernste Antwort. „Und Sie,“ wandte sich der Sprecher an mich, „gehörten zu den gemordeten Kindern von Bethlehem!“

Wir konnten eine Zeitlang nicht aus unserm Lachen heraus kommen, unser Gesellschafter aber sah schwermüthig drein, roch in sein leergetrunkenes Glas und sagte: „Sie mögen mich, wie ich merke, für einen passenden Gegenstand Ihres Amüsements halten, aber, Gentlemen, Sie würden anders urtheilen, wenn ich Ihnen die Geschichte eines Weihnachtsabends erzählen sollte, Sie würden begreifen, warum meine Kleider jetzt geflickt, meine Wäsche zerfetzt und meine Schuhe voll Löcher sind, würden verstehen, wie sich ein Mann als der letzten Hoffnung, die ihn noch aufrecht erhält, der Metempsychosis ergeben und die Ueberzeugung einer ewig vor sich gehenden Seelenwanderung erlangen konnte.“ Er griff mit einem tiefen Seufzer nach seinem Glase, aus welchem er die letzten zwei Tropfen in seinen Mund laufen ließ; ich aber, dessen Interesse für den sonderbaren Kauz geweckt war, sagte: „Nehmen Sie noch ein Glas Gin von uns an und erzählen Sie, Sir, wenn Sie nichts Besonderes davon abhält!“

[194] „Ich werde!“ sagte er, den Kopf langsam neigend, und als der Gin gebracht war, der Fremde sich auch durch einen langen Schluck die nöthige Fassung verschafft zu haben schien, begann er:

„Wie Sie mich hier sehen, Gentlemen, war ich zu etwas Besserem bestimmt, als ich werden sollte; ich habe als Knabe in London eine gute Schule genossen; die plötzlich veränderten Verhältnisse meiner Eltern aber zwangen mich, zu einem Handwerk zu greifen, und ich wurde, einem poetischen Dränge in mir folgend – Damenschuhmacher. Wissen Sie wohl, Genlemen, welche Poesie in einem Damenschuhe liegt? Die Polen sollen in der Ekstase aus den Schuhen ihrer Schönen trinken; ich weiß es nicht, aber ich kann es völlig verstehen; schon als junger Mensch hatten diese zierlichen, eleganten Fußbehälter einen wunderbaren Reiz für mich; aber erst als ich bei Ausübung meines Geschäfts dazu gelangte, so manchen kleinen weichen Fuß selbst, in welchem ich oft das warme Leben pulsiren fühlte, in meine Hände zu nehmen, lernte ich die Höhe eines Genusses kennen, den nur Wenige ahnen. Ich ward Dichter in der Ausübung meines Handwerks; keiner von allen Arbeitern in dem großen Geschäfte, dem ich angehörte, vermochte diesen Schwung des Gedankens in die Erfindung neuer Schnitte, diese Zartheit und Poesie in die Verzierung und Ausschmückung zu legen. Keiner aber verstand es auch, mit der Delicatesse und dennoch einer gewissen Innigkeit den preisgegebenen Fuß jeder unserer jungen schönen Kundinnen zu behandeln, als ich, und es geschah bei hochstehenden Damen, die unser Etablissement besuchten, oft, daß speciell nach mir verlangt ward. Ich war damals jung, Gentlemen,“ fuhr der Erzähler in wehmüthigem Tone, in sein halbgeleertes Glas blickend, fort, „man nannte mich einen schönen jungen Mann, und meine lockigen blonden Haare, die jetzt grau und struppig sind, erregten viel Bewunderung, aber ich hatte bis jetzt nur eine Leidenschaft für diesen oder jenen Fuß gehegt, ohne mein Herz weiter damit zu beunruhigen; jetzt nun sollte ich das höchste Glück meiner Beschäftigung, aber auch den größten Schmerz derselben kennen lernen.“

Er trank langsam sein Glas aus, blickte einen Augenblick wie in schwärmerischer Erinnerung zur Decke und fuhr dann fort:

„Ich hatte eines Tages eine neue Erscheinung in unserm Etablissement zu bedienen; ich hörte, es sei die Tochter eines Baronets, und die Equipage wie die begleitende Bedienung sprachen ganz dafür – was kümmerte das mich aber? Ich sah nur den zartesten Fuß, der je in meiner Hand geruht, fühlte durch den seidenen Strumpf die weiche feine Modellirung desselben, und kühne Gedanken über das, was ich als würdiges Meisterstück dafür schaffen werde, durchströmten mich; da blickte ich mit einer Frage empor zu ihr und sah zwei Augen unter langen dunkeln Wimpern mit einem Ausdrucke auf mir ruhen, der plötzlich ein Gefühl in mir schuf, wie ich es noch nie gekannt, halb Wonne, halb Schmerz, und als ich meinen Blick wieder verwirrt auf meine Beschäftigung senkte, war dieser Fuß nicht mehr ein für sich bestehender Gegenstand, ein bloßer Vorwurf für meine Kunst, er war plötzlich für mich ein Theil der schlanken Gestalt, die vor mir saß, geworden, und fast elektrisch durchzuckte es mich, als ich eine leise Bewegung desselben in meiner Hand fühlte. Wie ich mein Geschäft zu Ende brachte, weiß ich nicht mehr, ich erinnere mich nur, daß, als sie in ihren Wagen steigen wollte, sie sich noch einmal nach mir umsah und ein Zustand wie Verzückung sich meiner bemächtigte.

Von dieser Zeit an war ich ein anderer Mensch – alle Füße der Welt galten nichts für mich, was ich that, geschah nur gewohnheitsmäßig, und nur bei ihren Besuchen – und sie kam oft – fühlte ich ein neues Feuer in mir erwachen, ein Feuer, das die stille Sprache ihrer Augen jeden Tag mehr anschürte, das bei ihrem verständnißvollen Lächeln, wenn sie das Zittern meiner Hand fühlte, fast meine Besonnenheit zu vernichten drohte und das mich, sobald ich zum klaren Bewußtsein kam, zum Unglücklichsten der Welt machte. Ich sah, daß sie oft wegen der kleinlichsten Dinge, welche durch die Sendung eines ihrer Dienstleute hätten besorgt werden können, selbst vorgefahren kam, sie schien es mir absichllich merken zu lassen, daß sie nur einen Vorwand gesucht, um mit mir in Berührung zu kommen, ihre Mienen sprachen endlich so klar zu mir, als es nur Worte hätten thun können – aber bei alledem, was vermochte ich ihr gegenüber zu thun? Ich wußte nur, daß ich sie bis zur halben Raserei liebte und daß ich mich nächster Tage schweigend todtschießen würde, weil sie eine Baronetstochter und ich – ein Schuhmacher war!

Da, eines Tages – o mein Gott!“ fuhr der Redende fort und faßte nach seinem Glase, das er indessen, sobald er es leer bemerkte, weit von sich schob und dann kopfschüttelnd die Stirn in die Hand stützte.

„Noch ein Glas Gin mit Zucker!“ rief Mader, der mit gespannten Augen an des Erzählers Lippen gehangen, dem Kellner zu.

„Ich danke Ihnen, Gentlemen!“ sagte der Fremde mit matter Stimme, das herbeigebrachte Glas in einem Zuge leerend, „ich kann nicht ohne völlige Nerven-Erschütterung an jene so traurige und doch so schöne Zeit meines Lebens denken! – Da, eines Tages, wie ich eben sagte, redet mich der Chef unsers Geschäfts an: „Mac Feargus, es gilt ein besonderes Meisterstück von Geschmack und Eleganz; die junge Lady – (Namen werde ich nicht nennen, schaltete der Erzähler ein) wird nächstens ihre Hochzeit feiern, und Sie werden sich nach ihrem Hause begeben, um die nöthigen Andeutungen über die Brautschuhe zu erhalten; gehen Sie!“

Ich hatte einen in der Oeffentlichkeit ziemlich bekannten Namen gehört, aber was kümmerte ich mich weiter darum? Ich fahre in dem nächsten Miethwagen nach dem palastähnlichen Gebäude, lasse mich melden und werde nach einem lauschigen Boudoir geführt, wo mir, alleingelassen, eine kurze Zeit Muße bleibt, das berauschende Parfüm, von welchem die Luft durchschwängert war, einzuathmen und den luxuriösen Comfort eines solchen Damenzimmers zu bewundern. Da öffnet sich plötzlich eine Seitenthür, und herein tritt bleich, aber mit einem himmlischen Lächeln auf den Lippen und schöner als je, sie, die ich nie mehr einem sterblichen Ohre nennen werde, sie, die mein Glück und meine Qual war. Sie tritt, mir die Hand entgegenstreckend, auf mich zu, und ich, von meinen stürmenden Gefühlen überwältigt, fast einer Ohnmacht nahe, stürze auf den weichen Teppich zu ihren Füßen. Sie beugt sich über mich, legt ihre Stirn gegen die meine und sagt mit einer unendlichen Traurigkeit: „Wußte ich denn nicht, daß wir uns liebten, und konnte ich denn scheiden, ohne wenigstens eine einzige Viertelstunde des Alleinseins mit einander?“ – Da packte mich plötzlich meine ganze wahnsinnige Liebe und mein tödtlicher Schmerz, ich sprang auf, ich schlang meine Arme um sie, ich küßte sie glühend, verzehrend, und sie wehrte mir nicht, sie lag in meinen Armen widerstandslos meiner Leidenschaft hingegeben; da – klang das geräuschvolle Oeffnen einer Thür, mit einem Schrei riß sie sich aus meiner Umschlingung –“ der Erzähler brach ab, erhob sich rasch und machte einen Gang um unsern Tisch. „Es ist die entsetzlichste Minute meines ganzen Lebens, zu der ich jetzt gelangen werde,“ sagte er, sich in sichtbarer Erregung wieder niederlassend. „Lassen Sie mich trinken, Gentlemen, ich muß diese Erinnerungen abstumpfen und tödten, wenn ich weiter reden soll!“

Mich hatte die lebendige Erzählungsweise des eigenthümlichen Menschen mehr erregt, als ich es zu Anfange unseres Gesprächs je für möglich gehalten, und auf meinen Wink sorgte der Aufwärter für eine neue Zufuhr von „Gin mit Zucker“, die, wie in einer Verzweiflungsthat, sofort von dem Erzähler hinab gegossen ward.

„Als ich, aus meinem Rausche aufgeschreckt, um mich sah,“ fuhr Letzterer fort, „trafen meine Augen auf einen in’s Zimmer getretenen Officier, der mit wüthendem Blicke seinen Degen gezogen hatte und mir entgegen stürzte; ich sah ihn die Bewegung des Stichs gegen mich machen, fühlte indessen nichts von einer Verwundung und hatte im nächsten Augenblicke, dem Triebe der Selbsterhaltung folgend, die Waffe aus seiner Hand gerissen. Ich wollte die Thür gewinnen, aber er vertrat sie mir, und in der alle meine Gedanken überwältigenden Erregung stieß ich ihm seinen eigenen Stahl in die Brust – er taumelte, und ich sprang den Degen fortwerfend aus dem Zimmer – hinter mir aber klang es: „Haltet den Mörder, den Mörder!“ und vor mir sah ich zwei von dem Rufe aufgeschreckte Lakaien in meinen Weg treten. Ein gutgezielter, mit der Kraft der Verzweiflung geführter Faustschlag warf den Einen zu Boden, während der Andere meinen Angriff nicht abwartete und erschreckt zur Seite wich. Der Weg war frei, aber schon in der nächsten Minute bemerkte ich, daß ich in meiner hastigen Flucht die Haupttreppe verfehlt hatte und mich in einer Aufeinanderfolge von Sälen und Corridors befand, in welcher mein fliegender Blick vergebens nach einem Ausgang spähte. Schon vernahm ich, wie Alles, was das große Gebäude an Menschen enthalten mochte, auf den Füßen war, durcheinander schrie und lief, wie eine starke Stimme die Richtung angab, welche ich genommen; [195] ich flog vorwärts, denn ich hörte schon die verfolgenden Schritte – da nahm der Corridor, in welchen ich eingebogen, ein Ende, und vergebens strebte ich, nach irgend einer Seite hin eine Möglichkeit zu weiterer Flucht zu entdecken. Ein Zurückeilen hätte mich meinen Verfolgern gerade in die Hände geliefert, und in der Verzweiflung meines Herzens öffnete ich ein Fenster, das mir die Aussicht auf das Laubwerk eines nahestehenden Baumes gab, vielleicht daß es mir gelang, einen der Aeste desselben zu erreichen; aber schon der erste Blick hinaus belehrte mich über die Vergeblichkeit meiner Hoffnung. Da klang der Ruf eines meiner Verfolger ganz in der Nähe – schon die nächste Secunde mußte mich ihnen überliefern, und nur der augenblicklichen Angst nachgebend, stieg ich aus dem Fenster, mich auf eins der schmalen Gesimse, welche das Haus als Zierrath umliefen, hinablassend; der einzige Halt für meine Hände war dabei immer nur die Fensterbrüstung, jeder Blick von innen heraus mußte mich entdecken und ich meinte schon Stimmen in meiner unmittelbaren Nähe zu hören – da fiel mein Auge auf die blecherne Röhre an der Ecke des Hauses, zur Leitung des Regenwassers vom Dache nach dem Boden bestimmt, und auf die Gefahr hin in eine Tiefe zu stürzen, welche das herüber reichende Laub des Baumes mich nicht ermessen ließ, gab ich mir einen Schwung, um den neuen Halt zu gewinnen – und ich gewann ihn; aber während sich meine Hände krampfhaft um die Röhre schlossen, waren meine Füße von dem Gesims geglitten und vergebens strebte ich, an der glatten Mauer einen neuen Stützpunkt dafür zu gewinnen – der Baum, welcher mich mit den äußersten Spitzen seines Laubes verbarg, verwehrte auch dadurch meinen Augen jeden Blick unter mich. Und jetzt, wie ich so da hing, nur von der Kraft meiner Arme vor dem Sturz in die Tiefe bewahrt, fühlte ich zum ersten Male, daß meine Kleider sich naß und schwer an meine rechte Seite anschlossen, fühlte es warm über meine Haut rieseln und erkannte, daß ich verwundet war. Mochte es nun diese plötzlich gewonnene Ueberzeugung oder wirklich eine Folge des schon erlittenen Blutverlusts sein, ich fühlte meine Arme schwach werden, es überkam mich wie eine halbe Ohnmacht, und nur das plötzliche Klirren des Fensters neben mir vermochte es, mir für einige Secunden meine Geistesklarheit wieder zu geben. „Er muß hier hinaus sein, und doch hätte er nicht mit ganzen Knochen unten ankommen können!“ klang es; dann schloß sich das Fenster und ich fühlte, wie meine Finger die Kraft verloren, mich ferner zu halten, die Verzweiflung schlug ihre Krallen in mein Herz und vor meinen Augen dunkelte es wieder, eine unklare Idee, daß meine Glieder im nächsten Momente zerschmettert auf dem Pflaster liegen würden, durchfuhr mich –“ der Erzähler faßte, wie völlig von der Aufregung überkommen, nach seinem Glase, stieß es aber, da es leer war, wieder von sich und ließ das Gesicht in seine Hände fallen.

„Gin, Kellner, bringen Sie Gin!“ rief Mader, als denke er dem Verblutenden damit neue Kräfte einzuflößen. Der Erzähler aber hob erst den Kopf wieder, als der Duft des neu herbeigebrachten Getränkes seine Nase berührt haben mochte, nahm bedächtig zwei große Schlucke und fuhr dann fort: „Es ist wunderbar, Gentlemen, wie in schlimmen Lagen oft der Geist so befangen ist, daß er das Einfachste und Natürlichste nicht zu erkennen vermag. Als meine Finger ihre Spannkraft zu verlieren begannen, fühlte ich mich langsam an der Dachrinne, an welcher ich hing, hinabgleiten, und der Rest meines Bewußtseins reichte gerade noch hin, um durch Anklammern meiner Kniee diese Niederfahrt nicht zu einem raschen Sturze werden zu lassen; kaum hatte ich aber den Boden erreicht, als es auch völlige Nacht um mich ward.

Mein nächstes Gefühl war das, mich auf einem bequemen Lager zu befinden. Wie ein sanfter, süßer Hauch ging es über mein Gesicht, und ich öffnete mühsam meine Augen. Da meinte ich ihr in Thränen gebadetes Gesicht vor mir zu sehen; im nächsten Augenblick aber hatte mir die Anstrengung auch schon wieder meine Besinnung genommen, und als ich am folgenden Tage zum ersten klaren Gedanken wieder gelangt, als ich erfuhr, daß ich im Hospitale lag, wohin ich, fast zum Tode verwundet, von der Straße aufgelesen, gebracht worden war, hielt ich die Erscheinung für einen Traum. Noch todesmatt lag ich an diesem Abende regungslos und mit halbgeschlossenen Augen, da ging derselbe süße Hauch wie Tags vorher wieder über mein Gesicht; ich sah rasch auf, und diesmal war es kein Traum – sie stand mit einem Blicke, aus dem es sich wie unendliche Liebe in den meinen ergoß, über mich gebeugt. Ich wollte mich aufrichten, aber vermochte es nicht – da senkte sie ihre warmen Lippen leise auf die meinen, zugleich aber fühlte ich, wie zwei schwere heiße Thränen auf meine Wangen fielen; dann drückte sie die Hand vor die Augen und trat hinweg. Als ich mühsam den Kopf gewendet, sah ich eben ihr Kleid in der Thür des kleinen Zimmers, welches für mich allein eingeräumt war, verschwinden. Später erfuhr ich, daß, als durch meinen Chef der Aufenthalt seines verschwundenen Arbeiters ermittelt worden war, sie, die Niemand im Hospitale kannte, die Kosten für meine besondere Pflege bezahlt und während der gefährlichsten Periode meines Zustandes jeden Abend weinend an meinem Lager gestanden hatte.

Seit diesem letzten Besuche kam sie nicht wieder, und erst als ich wieder zu Kräften gelangt war, ward mir ein Brief von ihr, ihr letztes Lebewohl, wie sie damals meinte, eingehändigt. Ich habe diese Zeilen so oft gelesen, daß sie Wort für Wort in meinem Herzen eingegraben stehen. Sie schrieb:

„Ewig Geliebter!

Wir müssen für immer scheiden, aber wenn auch Welt und Menschen unsere Körper trennen, so werden unsere Seelen doch fort und fort bei einander sein. Ich will an Dich denken im Wachen und Schlafen, und wenn wir Beide gestorben sind, wird mein Geist durch den Weltenraum fliegen, um den Deinen zu suchen.

Ich sollte verheirathet werden und widerstand, seit ich Dich gesehen; Niemand vermochte sich meine plötzlich veränderte Gesinnung zu erklären, bis mein Bruder Dich bei mir fand. Die Rache der Familie sollte sich jetzt über Dein schuldloses Haupt ergießen, und nur unter der Bedingung meiner sofortigen Zustimmung zu der einmal beschlossenen Heirath ward jede Verfolgung wegen der Verwundung meines Bruders aufgegeben. Er ist wieder hergestellt, und keine Blutschuld haftet auf Dir. Ein Tuch aber, welches Dein Blut getrunken, soll bei mir bleiben bis an meines Lebens Ende.

Ich sollte zu meiner Hochzeit als reichgeschmücktes Opferlamm erscheinen, aber sie haben mir wenigstens die Verhöhnung meiner Herzenstrauer erlassen müssen, und ich lege die dafür bestimmt gewesene Summe Dir hier bei, da sie im Stande sein wird, wenigstens in Etwas Deinen künftigen Lebensweg zu ebenen.

Und so lebe tausendmal wohl, bis unsere Geister in einem neuen Leben, wo kein Unterschied herrscht, selig in einander fließen werden.“

„Und diesen Zeilen,“ fuhr der Redner tiefaufathmend fort, „war eine Summe in Banknoten beigefügt, die mir sofort die Möglichkeit gab, eine eigene Selbstständigkeit zu begründen, und als ich ihre Schriftzüge mit meinen Thränen durchnäßt, leistete ich mir einen heiligen Eid, daß niemals in diesem Leben ein anderes Weib mich dem Andenken an sie untreu machen solle, die mich geliebt wie Keine.

„Aber wozu sage ich das Alles Euch,“ fuhr der Erzähler mit einem Schmerzenstone plötzlich auf, „von denen wohl Jeder meint, schon geliebt zu haben, und doch nicht weiß, was Liebe ist? die Ihr wohl kaum mich verstehen werdet, wenn ich Euch nun den schrecklichsten Abend meines Lebens mittheile, den Abend, der mich für diese Welt zu Grunde gerichtet – gebt mir Gin, Gin, damit ich meinen Gram ersäufe!“

Mader rief mit einer Stimme nach Gin, welche die tiefe Bewegung zeigte, die Ton und Ausdruck des seltsamen Mannes in ihm hervorgerufen.

„Ich stürzte mich jetzt in’s Geschäftsleben,“ fuhr der Letztere nach einem raschen Zuge aus seinem Glase fort, „ich hatte ein eigenes Etablissement begründet, und mein bisheriger Ruf als Arbeiter schuf mir bald einen reichen Kundenkreis, keine meiner Preise waren zu hoch, und je mehr ich mit dem Schicksale, das mich auffallend begünstigte, spielte, desto höher hob es mich. Mein Geschäft ward endlich eins der renommirtesten unter der gesammten Aristokratie, und die offenen und verdeckten Heirathsanerbietungen mehrten sich täglich; aber ich blieb treu dem, was ich geschworen.

Da kam einmal wieder Weihnachts-Abend heran, der Tag, an dem ich zugleich geboren bin. Eine kleine Gesellschaft von Freunden hatte sich in meinem eleganten Parlor eingefunden, fast ward ich selbst heiter unter dem muntern Tone, der sich herausbildete, und das wohlthuende Gefühl durchdrang mich, daß ich den Haupterfolg meines geschäftlichen Lebens meiner eigenen Thätigkeit zu danken hatte. Wir waren, während ein eiskalter Wind an den Fenstern rüttelte, mit einem guten Mahle und einer heißen Bowle Punsch beschäftigt gewesen, und erst nach Mitternacht verabschiedeten [196] sich meine Gäste. Eben hatte ich die letzten, einige junge Damen, die mich gar zu gern von meinem Junggesellenstande erlöst hätten, bis an die Hausthüre zu ihrem harrenden Wagen gebracht, und dieser war abgefahren, als ich plötzlich eine bleiche, schlotternde, kaum nothdürftig gegen die strenge Kälte geschützte weibliche Gestalt vor mir sah. Sie blickte mich mit eingesunkenen Augen an, die Straßenlampe warf nur ein spärliches Licht herüber, aber ein plötzlicher Schrecken durchfuhr mich beim Anblicke dieses Gesichts, das ich kennen mußte. „Seid barmherzig!“ klang es tonlos aus ihrem Munde, und beim ersten Lautwerden dieser Stimme schrie ich auf, ich nannte einen Namen, der mir der theuerste auf der Welt war, und sie zuckte zusammen, ihre Augen wandten sich groß und wie halb entsetzt nach mir; dann streckte sie mit einem unarticulirten Ruf ihre Arme nach mir aus und wankte; ich aber hatte sie schon, meiner Sinne kaum mächtig, umschlossen, ich hob sie auf wie ein Kind und stürmte mit ihr, während ich nach der Dienerschaft rief, dem Zimmer zu – denn, Gentlemen,“ fuhr der Erzähler mit zitterndem Tone fort, „die da an meiner Thüre halb erfroren stand, war sie, der Abgott meines ganzen Lebens.

Wenige Worte von ihr, die sie schluchzend und gebrochen mir mittheilte, als ich sie in den weichsten Lehnstuhl an das Feuer gebettet, gaben mir mit einem Schlage volles Licht. Ihre Eltern waren schon mehrere Jahre todt, ihr Mann hatte ihr reiches Vermögen zum großen Theile verpraßt und war mit dem Reste und einer Concubine entflohen; sie hatte ihre sämmtlichen Habseligkeiten verkauft, um wieder nach London zurückgelangen zu können, aber das Geld war nicht hinreichend gewesen; zu Fuß hatte sie die letzten Stationen zurückgelegt, hatte sich ihren Lebensunterhalt erbetteln müssen und war endlich rath- und hülflos in den Straßen Londons umhergeirrt.

Aber das überströmende Gefühl meines Glücks, als ich sie glaubte dem Elende entrissen zu haben, sollte nicht lange währen – eine völlige Bewußtlosigkeit folgte ihren ersten krampfhaften Aeußerungen, und bald stellten sich noch beunruhigendere Symptome ein. Ich hatte sie zu Bett bringen lassen und nach dem Arzte geschickt – dieser zuckte indessen die Achseln, gab strenge Anordnungen und empfahl mir, nach Anhörung des Sachverhältnisses, nicht zu viel zu hoffen. Ich verbrachte die Nacht an ihrem Bett, sah Bewußtlosigkeit mit halber Fieberraserei wechseln, hörte sie meinen Namen wie in höchster Noth rufen und hätte mir den Kopf an der Wand zerstoßen mögen, daß ich nicht helfen konnte. Am andern Abend war sie eine Leiche, und ich saß in dumpfer Verzweiflung, ihre kalte Hand in der meinen, an ihrem Lager.“

Der Erzähler hatte mit bebender Stimme die letzten Worte gesprochen, den Kopf schwer über den Tisch sinken lassen, und ein paar große Thränen rollten in sein leeres Glas. Mich hatte diese letzte Scene so ergriffen, daß ich, um nur dem Eindrücke zu entkommen, von Neuem nach „Gin und Zucker“ rief. Der Gebeugte griff mit einem stillen Kopfschütteln nach der erneuerten Ladung und fuhr dann fort:

„Seit dieser Zeit war ich ein gebrochener Mensch. Ich mochte London nicht mehr sehen, verkaufte mein Geschäft um die Hälfte des Werths und ging hierher. Aber der Gram war mein Reisegefährte. Ich suchte ihn durch jede Art von Zerstreuung zu tödten, ich stürzte in den Strudel aller möglichen Vergnügungen und wurde endlich nur inne, daß ich mein Geld verthan, ohne etwas dafür gewonnen zu haben. Ich ward endlich zum Bettler, aber was lag daran, da mir das ganze Leben nichts mehr galt? Ich hoffe ja nur, daß es bald zu Ende gehen und der Tod mich mit ihr vereinen soll, die auf mich wartet.

Jetzt, Gentlemen, wissen Sie, warum ich an Spiritualismus und selbst an Seelenwanderung glaube. Einst vielleicht fühlen sich unsere Seelen, mit neuen Körpern vereinigt, in unwiderstehlicher Sympathie zu einander hingezogen und wir erhalten Ersatz für das, was unser jetziger Lebenslauf uns versagt hat. Sie wissen auch nun, warum meine Kleider zerrissen sind, warum ich mich im Gin betäube, und Sie werden nicht mehr spotten, denn noch wissen Sie nicht, unter welchen Verhältnissen Sie selbst sich einmal nach der Stunde sehnen, in der Sie Ihr müdes Haupt zur Ruhe niederlegen können.“ Er schwieg.

Wir waren sehr ergriffen von der Erzählung. Wir bemitleideten den alten Mann von Herzen, der nur durch seine Seelenleiden zu einer Art fixer Idee gekommen zu sein schien, und als ich mein Portemonnaie zog und Mader einen heimlichen Wink gab, war dieser sofort bereit, wenigstens so viel in unserer Macht stand, für seine augenblicklichen Bedürfnisse beizusteuern.

Er nahm das Geld mit ruhiger Würde, dankte und erhob sich etwas schwankend, um das leer gewordene Local zu verlassen.

„Ist der Mann oft hier?“ fragte ich den Aufwärter, als ich bezahlte.

„Sie meinen den alten Sünder?“ erwiderte der Befragte lachend, „jawohl, so oft, als wir ihm nicht gleich vorn Anfange die Thür zeigen.“

„Aber wie kommen Sie dazu einen Unglücklichen so hart …“

„Einen Unglücklichen?“ lachte der Aufwärter. „Ein unverbesserlicher Trinker und Faullenzer ist er, für dessen Frau und Kinder das Armenhaus sorgen muß. Er selbst aber erschwindelt sich durch allerhand rührende Geschichten so viel, daß er zur Noth leben kann und freies Trinken hat – er sieht es auf der Stelle Jedem an, der noch grün in unserm Lande ist –“

„Aber der Mann hat hier geweint!“ rief ich halb verblüfft.

„Hat er das? Ja das ist immer seine Manier, wenn er wirken will und durch den Gin nach und nach warm wird,“ war die Antwort.

Mader sah mich und ich ihn an – Keiner sprach ein Wort, als wir in unsere Röcke gehüllt den Heimweg antraten.
O. R.



Das Schneeglöckchen.

Der fröhliche Frühling zieht in den Hain
Zur ersten stillen Weihe ein.
Noch trotzt der Winter in todter Pracht,
Doch sieh, das blühendste Leben lacht

5
Hervor aus seines starren, kalten,

Von Eisduft glitzernden Mantels Falten.

Im Ofen kein Holz, auf dem Tisch kein Brod,
Gut Mütterlein krank vor Sorge und Noth.
Da lief klein Aennchen zum Walde hinauf

10
Und las die Reiser zum Bündelein auf,

Und spähte umher, und da ist’s ja gefunden,
Sein liebstes Plätzchen so manche Stunden.

Ei, sitzt es darin wie im eigenen Haus!
Es ist recht müde, nun ruht es aus,

15
Die Händchen gehuschelt in’s Schürzelein:

Da kann der garstige Wind nicht herein.
Und wie’s ihm so wohl thut, wie heimliche Freude,
Giebt Gott ihm „das tägliche Brod auch heute“.

Da ragt’s aus dem Schnee so blättergrün,

20
Da nicken so weiß die Köpfchen und blühn!

Schneeglöckchen, die ersten, winken Dir dort!
Ei, bleibe nur ruhen, sie springen nicht fort.
Mußt ja gar viele Straßen laufen,
Um des Frühlings ersten Gruß – zu verkaufen.

25
Wie blickst Du so froh, weil Dein Auge spricht:

„Lieb Mütterlein, wart’ nur, heut weinen wir nicht!“
Schneeglöckchen! fürwahr, so viel da sind,
Bist Du das schönste, Du armes Kind!
Dich wählte, daß wieder sein Walten gedeihe,

30
Der Frühling zur ersten und heiligsten Weihe.
Friedrich Hofmann.
[197]

Schneeglöckchen.
Originalzeichnung von Herbert König.

[198]

Wie heilt die Natur?

Lungenentzündung und Lungenschwindsucht.

Nicht etwa ganz absonderliche, neue und unbegreifliche, überirdische Vorgänge kommen im kranken Körper zu Stande, um eine Krankheit desselben ganz oder theilweise zu tilgen. Nein! es sind hier ganz dieselben chemisch-physikalischen Processe und ganz nach denselben Gesetzen thätig, welche auch im gesunden Körper angetroffen werden. Auch führen dieselben Processe nicht etwa immer zum Heile, sondern leider oft genug auch zum Unheile, und ganz derselbe Proceß, welcher bei der einen Krankheit nützt, schadet bei mancher anderen. So ist es z. B. in vielen Fällen zur Wiederherstellung der Gesundheit durchaus erforderlich, daß das aus dem Blute Ausgeschwitzte fest wird und fest bleibt (wie bei Wunden, Knochenbrüchen, Absperrung von Zerstörungsprocessen etc.), während in vielen andern Fällen dieses Festwerden das kranke Organ verhärten und dadurch zeitlebens zum Wirken untauglich machen würde.

Es ist sonach die Aufgabe eines wissenschaftlich gebildeten Arztes, bei jedem Krankheitsprocesse (den er natürlich zuvörderst auch richtig zu erkennen im Stande sein muß) denjenigen Vorgang anzuregen und zu unterstützen, der, wie ihm die Wissenschaft gelehrt hat, gerade bei dieser vorhandenen Krankheit möglich und heilsam ist. Hätten sich z. B. erstarrte Blutbestandtheile in Canälen oder andern Hohlräumen (wie in der Lunge bei Lungenentzündung) angehäuft und verstopften dieselben, so müßten diese erstarrten Massen dadurch zur Entfernung geschickt gemacht werden, daß man ihr Zerweichen und Zerfließen begünstigte, während man in den Fällen, wo das Erstarrte, wenn es zum Heile führen soll, in ein festes Gewebe sich umwandeln muß (wie bei Verletzungen), es vom Erweichen und Zerfließen abzuhalten hat.

Je nachdem nun ein krankhafter Zustand dieses oder jenes Organ, oder aber das Blut betrifft, danach sind die Heilvorgänge verschiedene, sowie auch in demselben erkrankten Theile nach der verschiedenen Art der Erkrankung verschiedene Heilungsprocesse auftreten können. – Bei den Blutkrankheiten sind die Heilvorgänge der Wissenschaft noch am wenigsten bekannt, und deshalb muß der Arzt hier vorzugsweise die Apparate und Processe beaufsichtigen und fördern, welche dem Blutleben (der Verjüngung und Mauserung desselben) dienen, wie den Verdauungs-, Athmungs-, Circulations- und Blutreinigungsproceß. – Es versteht sich übrigens wohl ganz von selbst, daß zur Unterhaltung der Naturheilungsprocesse, gerade so wie zur Erhaltung des Lebens (des Stoffwechsels) überhaupt, die der Außenwelt angehörenden ganz unentbehrlichen sogenannten Lebensbedingungen (wie Nahrung, Wasser, Lust, Wärme und Licht) vorhanden sein müssen.

Betrachten wir zunächst einmal im Allgemeinen die Vorgänge, welche bei der Heilung örtlicher Krankheiten vorzugsweise in Betracht kommen. – Am häufigsten dient dem Heilen: eine widernatürliche Blutanhäufung in den feinsten Blutgefäßen (Haarröhrchen), welche stets mit Austritt (Ausschwitzung, Exsudation) einer Flüssigkeit aus dem Blutstrome (durch die Haargefäßwand hindurch) verbunden ist, die entweder bald nach ihrem Austritte erstarrt oder flüssig (wässerig, eiterig) bleibt. Dieses Ausgeschwitzte ist es z. B., welches, wenn es zu Festem und Neugewebe wird, Zerstörungsprocesse vom Umsichgreifen abhält, Blutungen abwendet, von außen eingedrungene fremde Körper oder im Innern erzeugte feindliche Massen durch Absperrung unschädlich macht, Wundes zum Vernarben bringt, Getrenntes wieder vereinigt, Zerstörtes mehr oder weniger vollständig ersetzt etc. Dagegen fördert das flüssige Ausgeschwitzte die Erweichung und das Zerfließen, dadurch aber die Entfernung des verstopfenden Starren, bewirkt ferner die Ausstoßung nachteiliger Stoffe und von außen eingedrungener Körper, bildet bisweilen eine schützende Decke und kann durch Verdünnung concentrirte Schädlichkeiten weniger schädlich oder sogar unschädlich machen etc.

Der Aufsaugungsproceß ist insofern von großer Wichtigkeit für viele Heilungen, als durch denselben Flüssiges und Verflüssigtes, was sich an unrechten Stellen befindet, weggeschafft werden kann. Dieses Hinwegschaffen geschieht entweder mit Hülfe der Lymphgefäße (Saugadern) oder der Blutgefäße. Die letzteren nehmen aber nur das in sich auf, was dem Blute in seiner chemischen Zusammensetzung unähnlich ist (besonders Krankhaftes und Giftiges), die Saugadern führen dann noch das fort, was die Blutgefäße übrig ließen (also vorzugsweise Blutähnliches). Durch den Aufsaugungsproceß werden z. B. krankhafte wässerige und entzündliche (eiterige) Flüssigkeiten aus Herzbeutel, Brustfell und Lunge, Bauchfell, Gelenken etc. fortgeschafft; es wird ausgetretenes Blut ganz oder theilweise wieder entfernt; Geschwülste schwinden oder verkleinern sich mittels des Aufsaugungsprocesses, ja sogar abnorme Knochenmasse kann allmählich aufgesogen werden.

Gewebsneubildungen (wie die Neubildung von lockerem oder festerem Fasergewebe, von Knorpel- und Knochengewebe etc.) können in vielen Krankheitsfällen zu einem glücklichen Ausgange führen, indem sie z. B. tödtliche Durchbohrungen von Organen aufhalten, Zerstörungen Grenzen setzen, Schädliches einkapseln, Wunden und Geschwüre heilen u. s. f. Es gehen diese Neubildungen hauptsächlich aus dem erstarrten Ausgeschwitzten hervor und zwar beim Vorhandensein des gehörigen Wärmegrades (der normalen Körperwärme), während bei zu niedriger oder zu hoher Temperatur dieses Ausgeschwitzte andere, oft nachtheilige Umwandlungen eingeht. – Beispiele mögen das Gesagte beweisen und gleichzeitig den Leser mit der Art und Weise, wie die Natur bei den verschiedenen Krankheiten heilt oder überhaupt verfährt, bekannt machen.

Unter den Lungenkrankheiten sind es besonders die Entzündung und die Schwindsucht (Tuberculose), welche am häufigsten die Menschen und zwar in allen Lebensaltern und Weltgegenden heimsuchen. Diese Krankheiten sind es nun aber auch, bei denen der Naturheilungsproceß Großes leistet, sogar dann, wenn er vom Laien und Arzte noch nebenbei mißhandelt wird.

Bei der gewöhnlichen Lungenentzündung schwitzt aus den die Luftbläschen netzartig umspinnenden Haarröhrchen, in welchen sich eine widernatürliche Menge Blutes aufgestaut hat, eine dickliche, klebrige Flüssigkeit in die Höhlen der Luftbläschen heraus, welche allerdings manchmal (aber nicht immer) zum Theile ausgehustet wird, zum allergrößten Theile aber gerinnt (fest wird) und nun, die Lungenbläschen vollständig ausstopfend, diese zur Aufnahme von Luft (zum Athmen) gänzlich untauglich macht. Würde ein großer Theil der Lungen in dieser Weise gleichzeitig erkranken, dann tritt unabänderlich der Tod durch Erstickung ein, mag nun der Allopath mit seinen Aderlässen oder der Homöopath mit seinem Aconit gegen das Uebel loswirthschaften oder nicht. Sind dagegen kleinere Portionen der einen oder der andern Lunge entzündet, dann heilt die Natur, und zwar ohne Aderlaß und Aconit, überhaupt ohne Arzt und Arznei, diese Entartung der Lunge auf folgende Weise: das in den Bläschenhöhlen geronnene Ausgeschwitzte (aus Faserstoff) wird mit Blutwasser durchtränkt, erweicht und zerfließt endlich zu einer dicken, eiterigen Flüssigkeit, von welcher ein Theil ausgehustet wird (doch nicht immer), ein anderer aber aufgesogen und in’s Blut zurückgeführt wird. Das Zerfließen jenes ausgeschwitzten und erstarrten Blutbestandtheils, welches übrigens sehr langsam (in Monaten), doch auch ziemlich schnell (in wenig Tagen) vor sich gehen kann, kommt nur beim Vorhandensein der nöthigen Feuchtigkeit und Wärme zu Stande. Deshalb ist auch das Einathmen von feuchtwarmer Luft (die man durch Entwickelung von Wasserdämpfen im warmen Krankenzimmer erzielen kann) für die Heilung der Lungenentzündung von großem Werthe. Unter den allopathischen Arzneien ist aber keine, die diesen, Verflüssigungsproceß anregen oder unterstützen könnte.

Von den Homöopathen behaupten einige, daß Phosphor die Zertheilung des Ausgeschwitzten befördere, während andere zu demselben Zwecke für den Schwefel schwärmen, gerade als ob diese Heilkünstler jemals durch diese beiden Mittel einen der entzündlichen Ausschwitzung in der Lunge ähnlichen Zustand erzeugt hätten, wie es doch ihr Aehnlichkeitsgesetz verlangt. – Herr Dr. Clotar Müller in Leipzig schreibt dagegen: „Das Hauptmittel, um das in die Lungen ausgeschwitzte Entzündungsproduct durch Aufsaugung zu entfernen oder dessen eitriges Zerfließen zu verhindern, ist Schwefel.“ Dieser Arzt weiß also nicht einmal, daß das erstarrte Ausgeschwitzte in den Lungenbläschen, um durch Aufsaugung oder Aushusten entfernt werden zu können, erst eitrig zerfließen muß.

Aus dieser kurzen Beschreibung des zur Genesung führenden Verlaufes einer Lungenentzündung wird der Leser sich nun wohl selbst entnehmen können, daß es bei dieser Krankheit die Hauptaufgabe des [199] Arztes ist, die Entfernung des in die Luftbläschen Ausgeschwitzten zu fördern, demnach also vor allen Dingen das Zerfließen desselben zu unterstützen (und zwar, wie oben schon gesagt wurde, durch feuchte Wärme). Natürlicher Weise müßte der Arzt zuvörderst diese Lungenaffection auch richtig erkennen können, und dies ist nur mit Hülfe des Beklopfend und Behorchens des Brustkastens möglich, da Lungenentzündungen sehr oft ohne große Athembeschwerden, Brustschmerz, Husten und Auswurf verlaufen, diese Krankheitserscheinungen übrigens auch anderen Lungenleiden zukommen können.

Gar nicht selten geht das in die Lungenbläschen Ausgeschwitzte, anstatt zu einer eitrigen Flüssigkeit zu zerfließen und dann entfernt zu werden, eine Umwandlung zu einer schwieligen, knorpelharten Masse ein, und dann bleibt das erkrankte Lungenstück zeitlebens verhärtet und zum Athmen untauglich. An einer solchen Verhärtung kann nun recht leicht der Arzt insofern mit Schuld haben, als er den Kranken nicht gehörig warm hielt; das kommt aber vor, wenn der Arzt mit dem Horchen und Klopfen (also mit der physikalischen Untersuchungsweise) nicht gehörig vertraut ist.

Bei der Lungenschwindsucht – welche in einer Ablagerung von eigenthümlich käsiger, entweder sich verhärtender oder zu Eiter zerfließender Masse (Tuberkelstoff) in das Lungengewebe besteht, wodurch das kranke Lungenstück zerstört wird (s. Gartenl. 1854. Nr. 15.) – zeigt sich der Heilungsproceß in ganz anderer Weise, als bei der Lungenentzündung. Im Umkreise der Tuberkelmasse nämlich, sowohl innerhalb als außen an der Oberfläche der Lunge, wird aus dem Blute eine schnell gerinnende (faserstoffige) Flüssigkeit ausgeschwitzt, welche sich nach ihrer Gerinnung allmählich zu einem dichten faserigen und schwieligen Gewebe umwandelt. Dieses Neugewebe bildet nun innerhalb der Lunge rings um die noch feste oder schon zu Eiter und Jauche zerflossene Tuberkelmasse eine fast unzerstörbare Grenze, welche das Vorwärtsschreiten des Zerstörungsprocesses in der Lunge (die Schwindsucht) verhindert. Gleichzeitig bedingt dieser heilsame Ausschwitzungsproceß auch noch eine vollständige Verstopfung und Umwandlung der Blutgefäße der erkrankten Lungenportion zu soliden Strängen, so daß nun, auch wenn diese Gefäße durch die Tuberkeljauche zerfressen würden, doch kein tödtlicher Blutsturz zu Stande kommen kann. Ebenso wird ein Durchbruch einer mit Eiter erfüllten Tuberkelhöhle (Vomica) der Lunge nach dem Brunstfellsacke hin (was stets tödtlich abläuft) dadurch verhindert, daß mit Hülfe des außen an der Lunge aus dem Ausgeschwitzten hervorgegangenen Fasergewebes eine Verwachsung der kranken Lunge mit der knöchernen Brustwand zu Stande kommt.

Hiernach wird der Leser hoffentlich einsehen können, daß bei der Lungenschwindsucht die Lunge nicht so lange und ununterbrochen fort zerfressen wird, bis nichts mehr zum Zerfressen da ist, und daß ein Mensch, dessen Lungen theilweise von der Schwindsucht schon zerstört sind, doch recht gut uralt werden kann, wenn er sich nur davor in Acht nimmt, daß nicht immer ein noch gesundes Stück seiner Lunge von frischer Tuberkelablagerung befallen und zerstört wird. Daß ein Lungenschwindsüchtiger, dem ein Viertel oder Drittel seiner Lunge abhanden gekommen ist, einige Beschwerden davon hat (wie Kurzatmigkeit, Husten, Auswurf), dürfte sich wohl von selbst verstehen und sollte einen vernünftigen Arzt und Kranken nicht zu allen nur möglichen Heilversuchen veranlassen. Die noch gesunde Lunge wolle man schützen, nicht aber die kranke wieder gesund machen, denn das ist unmöglich. Bock.


Varnhagen von Ense, sein Salon und seine Tagebücher.

Einer der merkwürdigsten Männer der Gegenwart war unstreitig der bekannte Varnhagen von Ense, welcher durch seine Tagebücher noch nach seinem Tode das größte Aufsehen erregt und über das Grab hinaus eine unberechenbare Wirkung übt. In seiner Jugend Romantiker, war er zugleich ein erklärter Voltairianer, der schwärmerische Verehrer Goethe’s sympathisirte mit Heine und dem jungen Deutschland, der Freund von Gentz und Metternich jubelte bei dem Ausbruche der Revolution und ging mit den Häuptern der Demokratie Hand in Hand. Der kalte, glatte Diplomat besaß ein warmes Herz für das Volk und seine Leiden, der berechnende Politiker schloß sich ohne Besinnen jeder großen Bewegung an. Der Freund Lessing’scher Toleranz und Aufklärung schrieb ein Leben Zinzendorf’s voll Anerkennnug für den religiösen Schwärmer und hing an dem berühmten Theologen Neander mit rührender Zärtlichkeit. Heute verkehrte er mit der höchsten Aristokratie und morgen drückte er dem Proletariat die Hand, selbst den socialen Ideen aus ganzer Seele huldigend. Abwechselnd war er Officier, Diplomat, Gelehrter und Schriftsteller gewesen; er kannte das Leben am Hofe, wie das Kriegslager, und war in den Salons der vornehmsten Kreise eben so zu Hause, wie in der einsamen Stube des jungen Literaten oder des alten Bücherwurms. Auf seinem Lebensgange war er mit den ersten Männern seiner Zeit vielfach in Berührung gekommen, er war mit Goethe, Wilhelm und Alexander v. Humboldt, mit Fichte, Hegel und Schleiermacher bekannt, mit Uhland, Chamisso, Achim von Arnim und Bettina vertraut. Der junge Heine las ihm seine Erstlingswerke vor, und Gutzkow, Mundt, Laube etc. strebten nach seiner Anerkennung. Der Staatskanzler Hardenberg war ihm wohlgeneigt, Metternich suchte ihn in österreichische Dienste zu ziehen, Gentz war einer seiner intimsten Freunde. Souveraine und mediatisirte Fürsten zogen ihn in ihre Kreise, der höchste Adel verkehrte mit ihm und überhäufte ihn mit Zuvorkommenheiten; fremde Gelehrte von europäischem Rufe, wie Cousin und der berühmte Carlyle standen in fortwährendem Briefwechsel und innigem Verkehre mit ihm. Der hellste Stern des Daseins war ihm in der genialen Rahel aufgegangen, die ihren geistigen Glanz über den Mann ihres Herzens ausgoß. Die nordische Sibylle, welche mit prophetischem Blicke in den Blättern der Zukunft las, versammelte um sich die ersten und die besten Geister ihrer Zeit und schuf das Ideal einer höheren Geselligkeit für Berlin.

Aber nicht nur die größten Männer, sondern auch die größten Ereignisse des Jahrhunderts hatte Varnhagen aus eigener Anschauung kennen gelernt. Er sah die Monarchie Friedrich’s des Großen nach der Schlacht bei Jena zusammenstürzen, die Erhebung des deutschen Volkes, an der er lebendigsten Antheil nahm, die darauf folgende schmachvolle Reaction, die Freiheitsbestrebungen, durch die Julirevolution von Neuem angefacht, die Thronbesteigung Friedrich Wilhelm’s IV. und die zum Theil durch den König selbst hervorgerufenen Bewegungen, welche die Revolution und all die nachfolgenden politischen Schwankungen herbeiführten. Mit historischem Blicke faßte Varnhagen all diese Strömungen des Zeitgeistes auf, an denen er bald handelnd, bald leidend Theil nahm, indem er die Thatsachen künstlerisch verarbeitete und in seinen „biographischen Denkmälern“ der Öffentlichkeit übergab, oder nur für sich und zu seinem eigenen Gebrauche mit bewunderungswürdigem Fleiße und staunenswerther Sorgfalt registrirte und sammelte. So wurde er im eigentlichen Sinne die „lebende Chronik“ seiner Zeit, ein unerschöpflicher Quell der Belehrung und Anregung für Alle, denen, wie mir, das Glück zu Theil ward, ihm persönlich nahe zu stehen und den interessanten Mann zu kennen.

Es war im Jahre 1852, als ich zum ersten Male in der zuvorkommendsten Weise von Varnhagen aufgefordert wurde, ihn zu besuchen, nachdem ich schon vorher in brieflichem Verkehre mit ihm gestanden hatte. Er bewohnte in der Mauerstraße das schöne, große Haus, in dem sich Rahel’s Kreis zu versammeln pflegte. Auf mein Klingeln öffnete der Bediente Ganzmann und ließ mich in ein hohes Vorzimmer, das mit Büchern in höchst einfachen Repositorien angefüllt war. Während ich gemeldet wurde, hatte ich Zeit, mich umzusehen und die Bemerkung zu machen, daß die vorhandenen Bücher nicht zum Staate dienten, da sie meist entweder gar nicht, oder nur sehr schlicht eingebunden waren und in der Mehrzahl stark benutzt schienen. Von Eleganz war in dem Entrée eben so wenig, wie in dem Wohnzimmer, in das ich geführt wurde, irgend eine Spur. An der einen Wand stand ein Bett mit rother, etwas verblichener Kattundecke, an der entgegengesetzten Seite ein Arbeitstisch mit Repositorium, Beide von gewöhnlichem rohem Fichtenholz, ohne jede Farbe und Politur, nur vom Alter und unzähligen Tintenflecken geschwärzt. In der einen Ecke befand sich ein hoher Schrank, der Thür gegenüber ein Sopha mit Roßhaarüberzug, dem man ansah, daß es viel benutzt wurde. Einige alte [200] Kupferstiche, das bronzene Reliefbild Rahel’s von Tieck, die Büsten Mirabeau’s und Kant’s, letztere ein Geschenk von dem Bildhauer Rauch, bildeten den ganzen Zimmerschmuck. Trotz der grauen Wände und der altmodischen, fast dürftigen Möbel lag etwas Imposantes in dieser keineswegs gesuchten Einfachheit, besonders wenn man an die Geister der Männer und Frauen dachte, welche unsichtbar den Besucher dieser Räume umschwebten.

Während ich mich diesen Betrachtungen überließ, trat Varnhagen selbst aus einer Seitenthüre, ein rüstiger Sechziger von hoher Gestalt mit vollem grauem Haar, breiter Stirn, feiner, fast spitziger Nase und graublauen Augen, welche von einer goldenen Brille bedeckt wurden. Er war mit einem bequemen Hausrock bekleidet und trug den etwas kurzen Hals frei ohne Tuch. Mit freundlichem, gewinnendem Lächeln lud er mich zum Sitzen auf das ziemlich harte Sopha ein, während er selbst auf einem Holzstuhle Platz nahm. Bald befand ich mich mit ihm in dem interessantesten Gespräche, oder ich hörte vielmehr seinen Erörterungen mit unaussprechlichem Vergnügen zu. Er war in der That ein Meister der Unterhaltung, unerschöpflich in geistreichen Bemerkungen, Bonmots und pikanten Anekdoten, die er mit großem Geschicke einzuflechten wußte; dabei ohne alle Prätension und Coquetterie, von der selbst die bedeutendsten Männer nicht freizusprechen sind. In einem hohen Grade besaß Varnhagen die Kunst der geistreichen Franzosen, liebenswürdig und anmuthig zu plaudern, vorausgesetzt, daß er in guter Laune war. Um Stoff brauchte er nicht verlegen zu sein, glich er doch einer lebendigen Encyklopädie, einem biographischen Lexikon, nur mit dem Unterschiede, daß er fast immer nur Selbsterlebtes gab und statt dürrer Lebensgeschichten die interessantesten Charakterzüge zu erzählen wußte.

An kleinen pikanten, zuweilen auch lebhaften Nebenbemerkungen ließ er es nicht fehlen, während er die für mich interessantesten Erscheinungen der Kunst und Literatur, der Diplomatie und der Soldatenwelt aus dem Kreise seiner näheren Bekannten abbandelte. Welche ausgezeichnete Gallerie bedeutender Köpfe zeichnete er in der kurzen Zeit meines Verweilens mit Meisterhand in wenigen, aber sicheren Strichen! Wilhelm von Humboldt, Schleiermacher, Chamisso, Heine etc. wurden von ihm eingehend und scharf charakterisirt, wobei es mir schien, als wenn er die beiden Ersteren trotz aller Freundschaft nicht eben mit Schonung behandelte. Im Laufe des Gespräches berichtete er aus dem Privatleben des großen Staatsmannes verschiedene Anekdoten, die allerdings den Begriffen einer gewöhnlichen Moral nicht vollkommen entsprachen und eine starke Hinneigung zu der nackten Kunstanschauung der Griechen bekundeten. Varnhagen selbst gab nicht undeutlich zu verstehen, daß ihn nur die Rücksicht auf den noch lebenden Alexander von Humboldt zurückhielten, ein anderes Bild zu veröffentlichen, als die frommen „Briefe an eine Freundin“ von ihrem berühmten Verfasser geben. Auch das Privatleben Schleiermacher’s und besonders das eheliche Verhältniß des bekannten Theologen veranlaßten ihn zu höchst überraschenden Aufschlüssen, und ich war nicht wenig erstaunt, bei dieser Gelegenheit zu erfahren, daß Schleiermacher sogar ernstlich mit dem Gedanken umgegangen war, sich selbst das Leben zu nehmen, und nur durch die Dazwischenkunft seiner Freunde von diesem verzweifelten Entschlusse abgehalten wurde.

Nur ungern riß ich mich aus einer solch interessanten Unterhaltung los; um so willkommner war mir daher die Erlaubniß, bald wiederkehren zu dürfen, die ich auch bestens benutzte. Bei einem folgenden Besuche lernte ich auch Fräulein Ludmilla Assing, die Nichte Varnhagen’s kennen, die seit einigen Jahren in seinem Hause lebte und gleichsam die seit Rahel’s Tode erledigte Stelle der Wirthin übernommen hatte. Fräulein Assing besitzt eine zierliche Figur, vielen Geist und bei einem kalten Verstande ein warmes Herz für ihre Freunde und Begeisterung für alles Schöne. Sie schrieb damals für verschiedene Zeitschriften geistreiche Correspondenzartikel und malte mit großem Talent die Portraits ihrer zahlreichen Bekannten, mit denen sie die Wände ihres Zimmers schmückte. Die ansehnliche Sammlung dieser Zeichnungen von meist interessanten Persönlichkeiten wurde scherzhaft „die Gallerie männlicher und weiblicher Schönheiten“ genannt. Von ihr erhielt ich die Einladung zu einer jener Gesellschaften, welche freilich nur noch ein schwacher Nachhall früherer Zeiten waren, wenn man sie mit den Rahel’schen Kreisen verglich, aber immerhin einen großen Genuß gewährten. Aus Rücksicht auf die leidende Gesundheit Varnhagen’s versammelten sich die Gäste schon um fünf Uhr Nachmittags und gingen meist um acht Uhr Abends wieder fort. Die Bewirthung war einfach, es wurde Kaffee und Wein, Kuchen und dergleichen herumgereicht, im Sommer dann und wann noch Eis gegeben. Der Hauptreiz lag, wie sich das hier von selbst versteht, in der Unterhaltung und Begegnung ausgezeichneter Männer und Frauen. Unter den Ersteren zeichnete sich vor Allen der frühere Ministerpräsident General von Pfuel aus, der, trotzdem er das siebzigste Jahr bereits längst überschritten, eine seltene Jugendfrische zeigte. Es war eine Freude, den schönen Greis mit den langen silberweißen Haaren, den kräftigen gebräunten Zügen und den lebhaften Augen zu sehen, an seinen immer anregenden Unterhaltungen Theil zu nehmen.

Wie Varnhagen hatte auch Pfuel eine bedeutende Rolle in den Befreiungskriegen gespielt, im Geheimen und offen gegen die Franzosenherrschaft angekämpft, nach dem Siege der Verbündeten war er Commandant von Paris gewesen und hatte diesen schwierigen Posten mit ebenso großer Humanität als Energie verwaltet. Später wurde er zum Gouverneur von Neuschatel ernannt, wo er ebenfalls Gelegenheit fand, seinen Muth und seine Klugheit zu bewähren und selbst die Achtung seiner politischen Gegner zu erzwingen. In den verhängnisvollen Märztagen wurde er mit demselben Posten für Berlin betraut, und vielleicht wäre es seiner damals bewiesenen Mäßigung gelungen, die nachfolgenden Ereignisse zu verhindern, wenn nicht andere Gewalten sich eingemischt hätten. Zum Ministerpräsidenten berufen, wich er nach kurzer Zeit den vereinten Stürmen einer zügellosen Straßendemokratie und der ihn anfeindenden Reaction. Zu allen Zeiten stand Pfuel auf Seiten des liberalen Fortschrittes und einer gesetzmäßigen Freiheit; er gehörte zu jener militärischen Schule, die, wie Gneisenau, Rühle, von Lilienstern, durch Kenntnisse und Bildung hervorragten und fern von jedem Standesvorurtheile waren. Das preußische Heer verdankt ihm seine ausgezeichneten Schwimmschulen, und noch heute ist der fast achtzigjährige General einer der rüstigsten und tüchtigsten Schwimmer. Außerdem hat er sich bis in das späteste Alter die lebendigste Theilnahme für alle bedeutenden Erscheinungen in der Literatur, Kunst und Wissenschaft bewahrt, wobei er einen gewissen Hang für die mystischen Seiten der Natur, Magnetismus, Od etc. zeigt, vielleicht ein Nachklang der Romantik, welcher er in seiner Jugend huldigte. Er war der intimste Freund des unglücklichen Heinrich von Kleist und vermag manchen interessanten Aufschluß über das innere Leben des berühmten Dichters zu geben.

Außer dem Genannten gehörte noch der Geschichtsschreiber der „deutschen Höfe“, Herr Vehse, dem Varnhagenschen Kreise an, ausgezeichnet durch seine Gutmüthigkeit und Indiskretion, die sich nicht nur auf historische Mittheilungen beschränkte, unerschöpflich in kleinen pikanten Anekdoten und von einer ebenso komischen, als liebenswürdigen Naivetät, so daß man ihm, selbst wenn er wider Willen auch hier und da verletzte, nicht ernstlich zürnen konnte. Bedeutender war der seitdem verstorbene Professor Dirichlot, berühmt als großer Mathematiker, und seine Gattin, eine nahe Verwandte von Felix Mendelssohn. Auch der talentvolle Schriftsteller Herr von Sternberg war trotz seiner Sonderbarkeiten ein gern gesehener Gast, nicht minder wie der ausgezeichnete Orientalist Doctor Zunz voll scharfen Geistes. Unter den jüngeren Gästen bemerkte man Hermann Grimm, Gottfried Keller, den schweigsamen, aber hochbegabten Verfasser des „grünen Heinrich“, einen geborenen Schweizer, Rudolph Gottschall und den liebenswürdigen Fedor Wehl. Dazu kamen eine Zahl ausgezeichneter, durch Geist und Liebenswürdigkeit hervorragender Frauen und jüngerer Mädchen, Fräulein Solmar, die vertraute Freundin Varnhagen’s, Frau v. Treskow und ihre Tochter, die sich mit Glück als Dichterin bereits versucht. Die Mutter, eine gepriesene Schönheit ihrer Zeit, gehörte noch dem Rahel’schen Kreise an und stand mit den bedeutendsten Männern in Verbindung. Durch liebenswürdige Originalität glänzte die Gräfin Clotilde von Kalkreuth, früher mit der Gräfin Ida Hahn-Hahn innig befreundet, deren religiösen und aristokratischen Fanatismus sie jedoch keineswegs theilt, indem sie sich in jeder Beziehung eine seltene Unabhängigkeit des Urtheils und des Lebens zu bewahren weiß.

Nicht minder bedeutend war die Erscheinung der Tochter Bettina’s, Gisella von Arnim, bekannt als Dichterin reizender Märchen und interessanter Dramen, so wie der höchst talentvollen Bildhauerin, Fräulein Rey. Manche Lücke hat seitdem der unerbittliche Tod in dem Varnhagen’schen Kreise gerissen; unter den Geschiedenen nenne ich vor Allen die Gräfin Ahlefeldt, die Gattin des Anführers der [201] Lützow’schen Freischaaren, welche sie zum Kampfe begeisterte, die Freundin des Dichters Immermann, der an ihrer Seite seine schönsten Werke schuf, seine besten Lieder sang. Auch die Schwester des berühmten Neander, welche ihren Bruder mit der hingebendsten Aufopferung und Liebe durch das Leben leitete, ebenso gut, als geistreich und witzig, ist nicht mehr unter den Lebenden.

Aber auch die weite Ferne schickte von Zeit zu Zeit ihre besten Geister in das Varnhagen’sche Haus, das gastfrei jedem empfohlenen oder sich selbst empfehlenden Manne geöffnet war. Franzosen, Russen, Engländer und selbst Amerikaner kamen ab und zu und brachten manch neues, anregendes Element zu den schon vorhandenen hinzu. Unter ihnen befand sich, wenn ich nicht irre, der damals noch unbekannte Verfasser von Goethe’s Leben, Mr. Lewes, und seine Freundin Miß Elliot, welche durch ihren Roman „Adam Bede“ in jüngster Zeit ein so großes Aufsehen erregt hat, der liebenswürdige, geistreiche Fürst Pückler-Muskau, Fürst Hatzfeld mit seiner schönen, anmuthigen Gemahlin und deren Mutter, der Freundin Holtei’s, in deren Hause Laube einige Zeit als Hauslehrer gelebt hat, und die geniale Schröder-Devrient, welche hier oft ihre schönsten Lieder mit bezaubernder Kunst vortrug. Der Gast aber, der vor Allen mit Recht gefeiert wurde, war unser – Uhland, der größte deutsche Lyriker. Er war nach Berlin gekommen, um die Schätze der dortigen Bibliothek für seine literarhistorischen Studien zu benutzen. Als Jugendfreund Varnhagen’s ließ er sich an der Seite seiner trefflichen Gattin öfters in dem Kreise blicken, der ihm natürlich mit der größten und innigsten Verehrung entgegenkam. Die äußere Erscheinung Uhland’s verrieth nichts weniger als den großen Dichter, sie war unscheinbar wie das bescheidene Grau der Nachtigall, die ihre schönsten Lieder im Verborgenen singt und unter der prunklosen Hülle die Seele voll himmlischer Melodie und entzückender Poesie verbirgt. Aber das sinnige Auge, die reine Stirn und ein mildes Lächeln verriethen dem aufmerksamen Beobachter den Sänger unserer herrlichsten Lieder und Balladen. In größerer Gesellschaft sprach Uhland nur wenig, aber in vertrauter Unterhaltung mit Varnhagen schwand zuweilen seine bescheidene Zurückhaltung, und dann belebten sich seine Züge, leuchteten seine Augen, umschwebte ihn ein Abglanz der romantischen Jugendzeit. – Ich weiß nicht, ob es Zufall oder Absicht war, daß gerade zur Zeit seines Berliner Aufenthaltes die Intendanz sein Trauerspiel „Ernst von Schwaben“ einstudirte. Als davon in der Gesellschaft die Rede war, schüttelte der bescheidene Dichter mit eigenthümlichem Lächeln den Kopf und äußerte: „Das thut mir leid. Der Ernst von Schwaben ist nicht dramatisch, wie ich mich längst überzeugt habe.“

Man thäte sehr Unrecht, wenn man glaubte, daß in dem Varnhagen’schen Kreise ausschließlich gelehrte und literarische Interessen vorgeherrscht hätten oder gar der sogenannte ästhetische Berliner Ton angeschlagen worden sei. Im Ganzen kann man sich keine freiere, harmlosere Unterhaltung denken, in der Scherz und Ernst, tiefere Bemerkungen und pikante Anekdoten, bedeutende Worte und leichte Bonmots mit einander abwechselten. Da war kein Haschen nach geistreichen Phrasen und ästhetischen Urtheilen, kein gesuchtes Wesen, keine gemachte Bedeutsamkeit; man lachte, scherzte und überließ sich meist einer ungezwungenen Heiterkeit, obgleich auch der tiefe Ernst keineswegs ausgeschlossen war. Varnhagen selbst war der liebenswürdigste Gesellschafter, ein unübertrefflicher und unnachahmlicher Erzähler, an dessen Mund die ganze Gesellschaft hing. Besonders waren die anwesenden Frauen von seiner Unterhaltung entzückt, und selbst die jüngsten Mädchen schwärmten für den alten Herrn, der so anmuthig mit ihnen zu scherzen wußte, ohne im Mindesten seine Würde zu vergeben.

Im Verlaufe der Zeit war es mir gegönnt, Varnhagen näher zu treten und als sein Hausarzt, zu dem er mich später wählte, manchen Blick in sein eigenthümliches Wesen zu thun. Eigentlich behandelte sich Varnhagen, wenn er, wie dies häufig der Fall war, an seinem oft wiederkehrenden Brustkatarrhe litt, fast ganz allein, da er früher selbst Medicin studirt hatte, so daß ich eigentlich nur sein ärztlicher Beirath war und die von ihm verordneten Mittel entweder billigte oder verwarf. In dieser meiner Eigenschaft war ich auch Zeuge der wahrhaft rührenden Sorgfalt und Zärtlichkeit, womit Varnhagen seine und Rahel’s alte Dienerin, „die Dore“, während ihrer langandauernden Krankheit behandelte. Er selbst pflegte sie, reichte ihr die verordnete Arznei, und als die Gefahr dringender wurde, wich er weder bei Tag noch Nacht von ihrem Lager. Rührend und erschütternd war sein Schmerz über ihren Verlust, und auch mir wird der Augenblick unvergeßlich bleiben, als er der Sterbenden die Augen zudrückte mit dem Ausrufe: „Leb wohl, Du treue Seele!“ –

Solche Züge sprachen für das Herz Varnhagen’s und widerlegten hinlänglich den allgemein verbreiteten Irrthum von seiner Kälte und diplomatischen Gemessenheit. Wer ihm überhaupt näher stand, hatte im Gegentheil weit öfter über seine Leidenschaftlichkeit zu staunen, die er allerliebst in den meisten Fällen vollkommen zu beherrschen wußte, so daß er äußerlich ganz ruhig schien, während es in seinem Innern stürmte. Bei aller Besonnenheit war er von Natur ein entschiedener Sanguiniker, leicht bewegt, aber auch bald wieder beruhigt und abgekühlt. Dieses Temperament und ein gewisser, fast weiblicher Zug in seinem Charakter dürften zur Erklärung mancher Widersprüche und scheinbarer Räthsel in seinem Wesen dienen. Rahel’s männlicher Geist und große Seele hat vielleicht wider Willen mit dazubeigetragen, ihm eine derartige receptive und für die verschiedensten Eindrücke empfängliche Richtung zu geben. Trotz seiner großen Begabung war Varnhagen durchaus kein eigentlich produktiver und schöpferischer Schriftsteller, er hat kein irgend Epoche machendes Werk von ewiger Dauer hinterlassen, aber er war, wie es auch Frauen häufig zu sein pflegen, ein scharfer Beobachter der ihn umgebenden Personen und Zustände; er hatte ein feines Gefühl, einen sicheren Takt, einen stark entwickelten Sinn für Ordnung und war Meister des geglätteten, sorgfältig polirten Styls, der nur die männliche Kraft und Originalität hier und da vermissen läßt. Als Biograph, Verfasser von Denkwürdigkeiten wird er Wenige finden, die ihn übertreffen, indem er mit weiblicher Empfänglichkeit fremde Individualitäten und Zustände in sich aufzunehmen vermochte. Selbst seine zierliche Handschrift, die perlengleichen Züge, die meisterhaften Papierschnitzereien mit der Scheere, die sorgsame Aufbewahrung von Reliquien und oft unscheinbaren Kleinigkeiten verriethen eine gewisse Ähnlichkeit mit der weiblichen Natur. Mit bewunderungswürdiger Geduld und Geschicklichkeit schnitt er mit der Scheere die reizendsten Landschaften und Figurenbilder aus freier Hand in Papier aus, die von seinen Freunden als theure Angedenken aufbewahrt werden.

Auch in seinem Charakter offenbarte sich oft eine fast weibliche Reizbarkeit und Launenhaftigkeit, der überraschendste Wechsel der Gefühle und Empfindungen, heftige Sympathien und Antipathien, die eben so oft in ihr Gegentheil umschlugen und nur von kurzer Dauer waren, entschieden ausgesprochene Liebe und starker Haß, leichte Verletzbarkeit und Vorurtheile aller Art, aber daneben jene bezaubernde Liebenswürdigkeit, Hingebung und Feinheit der Empfindung, Mitleid und großmüthige Aufopferung, wie sie sonst nur dem schnell bewegten Herzen der Frauen eigen zu sein pflegt. Alle diese Eigenschaften finden sich auch in seinen so berühmt gewordenen „Tagebüchern“ wieder, die freilich keinen Anspruch auf eine große literarische Bedeutung machen können, aber für den zukünftigen Geschichtsschreiber von unschätzbarem Werthe sind.

Von jeher hatte Varnhagen die Gewohnheit, die wichtigsten und interessantesten Begebenheiten des Tages, Mittheilungen aller Art, Gespräche mit bedeutenden Personen auf kleine Quartblätter von starkem grauem Papiere aufzuschreiben. Diese Notizen wurden von ihm sorgfältig gesammelt, geordnet und in schwarzen Pappkasten bewahrt, die er in dem großen Wandschranke verschloß. Ebendaselbst lagen in alphabetischer Ordnung ein Schatz von Briefen und seltenen Autographen der berühmtesten Männer und Frauen seiner Zeit. Er sammelte, aber nicht wie gewöhnliche Raritätenkrämer, um diese oder jene Handschrift zu besitzen, sondern hauptsächlich solche Documente, welche ihm für die Literatur oder Zeitgeschichte von großer Wichtigkeit schienen. Im Laufe der Unterhaltung pflegte er dann, wenn ihm ein Name, ein Datum oder eine Person entfallen war, den Schrank zu öffnen und seine Cartons hervor zu langen. So groß aber war die Ordnung in diesen Papieren, daß er stets das Gewünschte fand. Auf diese Weise sind jene „Tagebücher“ entstanden, welche bei ihrem Erscheinen eine so große Sensation erregten; es sind eben nur lose Blätter, flüchtige Bemerkungen und Notizen, wie sie Jedermann niederschreiben zu können glaubt. Bei näherer Prüfung wird man freilich den historischen Geist Varnhagen’s auch hier erkennen, indem er das Wesentliche von dem Unwesentlichen, das Bleibende von dem Vergänglichen zu sondern wußte und nur solche Thatsachen verzeichnete, welche einen [202] dauernden Werth haben. Das Ganze ist ein schätzenswerthes Material für den künftigen Geschichtsschreiber, der freilich mit einer gewissen Kritik dabei verfahren muß; noch wichtiger aber erscheinen diese Auszeichnungen für den Dichter und Denker, dem sie die Stimmungen der Zeit getreulich widerspiegeln, für den sie das todte Gerippe der Begebenheiten mit lebendigem Fleisch bekleiden. Vermöge seiner ganzen Stellung und durch seine vielfachen Verbindungen war Varnhagen in den Stand gesetzt, Personen und Zustände in einem andern Lichte zu sehen, als die große Menge. Seine intimsten Bekanntschaften reichten bis in die höchsten Regionen, und so kam es, daß er manchen Blick hinter die Coulissen der großen Welt thun durfte, daß er die Motive und Gesinnungen der Regierenden genauer kannte und besser beurtheilte, als Viele.

Max Ring.




Erinnerungen.
Memoiren-Bruchstücke von Franz Wallner.
Nr. 2. Berühmte Menschen.

„Wer ist da?“ rief mein Reisegefährte Honeck (Cohen) verdrießlich in die raucherfüllte Stube hinaus, die in der Faubourg Poissonnière inmitten unserer beiden Schlafzimmer lag. „Wer ist da?“ wiederholte er, als nicht gleich Antwort kam.

Heinrich Heine,“ tönte es zurück.

Was ein berühmter Name für Wirkung hervor bringt! Mit einem Sprunge waren wir Beide aus dem Bette auf die kalten Steinfließen gesprungen, im Nu in die Morgenkleider geschlüpft, um den verehrten Gast, an den wir Tags vorher unsere Empfehlungsbriefe abgegeben hatten, nicht warten zu lassen. Damals hatte Heine noch keine Ahnung von den namenlosen Leiden, von welchen er später heimgesucht wurde, nur ein heftiger nervöser Augenschmerz, von dem die entzündeten Deckel und Ränder Zeugniß ablegten, wollte, wie er sagte, nicht wanken und nicht weichen. Ein eben von ihm erschienenes größeres Portrait von Pucht, welches er mir zum Andenken mitgab, gab seine ausdrucksvollen Züge zum Sprechen ähnlich wieder und ziert noch jetzt mein Arbeitszimmer, nachdem es mich auf allen Kreuz- und Querzügen meines wechselvollen Wanderlebens begleitet hatte. Wir gaben uns ein Rendezvous in der Gallerie Orleans im Palais Royal, wo wir ihn, da wir gestern das Malheur hatten, ihn nicht in seiner Wohnung zu treffen, nach Hause begleiten sollten. Dort wolle er uns „seine Mathilde“ (Heine’s nachmalige Frau) vorstellen, wir sollten dann Alle zusammen in Rocher de Cancale diniren und Abends die damals neue Oper „die Hugenotten“ hören. Die Billets würde uns Heine schaffen, da die Erwerbung von solchen, ohne ganz besondere und außerordentliche Protection, bei dem Fanatismus und dem massenhaften Andrang, den die geniale Schöpfung Meyerbeer’s hervorrief, zu den Unmöglichkeiten gehörte.

Von den zahllosen kleinen Scherzen und trotzigen Impromptus Heine’s ist mir Weniges im Gedächtniß geblieben, weil ich in fieberhafter Unruhe und Spannung den Theaterabend kaum erwarten konnte. Ich äußerte dies gegen ihn. „Ja,“ entgegnete er, „wir werden heute von 7 Abends bis 1 Uhr Morgens viel Vergnügen auszustehen haben.“ – „Wie!“ rief ich erstaunt, „das sagen Sie, der Sie jüngst die prächtige Kritik über die Hugenotten in die Augsburger allgemeine Zeitung geschrieben haben?“ – „Ja, lieber W., ich hatte leicht eine gute Kritik schreiben, ich werde die Oper heute zum ersten Male hören.“

Und so war es auch, Heine hatte sich aus den vorhandenen Urtheilen über das Meyerbeer’sche Werk sein eigenes geschaffen, und dieses mit allem Aufwand der nur ihm zu Gebote stehenden geistreichen Schilderungskraft veröffentlicht. Auf dem Wege nach dem Theater erzählte der Schalk, daß er Spontini heute recht ärgern wolle, weil er mit Meyerbeer viel zu sprechen gedenke.

Im Jahre 1846 traf ich ihn wieder, aber schon leidend, verstimmt und ängstlich, obgleich noch lange keine Aussicht zu ernstlicher Befürchtung da war. Ich hatte ihm und einer Baronin von Santenwel Briefe von Freiligrath mitgebracht, und an letzterer eine eben so liebenswürdige, als geistreiche Dame kennen gelernt, die sich ungemein warm für den verbannten, damals in Brüssel lebenden Freiligrath interessirte. Ihren Wunsch, einen Abend in der Gesellschaft, in welcher sie jeden Mittwoch die bedeutendsten Menschen bei sich versammelte, zuzubringen, lehnte ich dankend ab, da ich Paris als Fachstudium besucht hatte und keinen Abend versäumen wollte, ohne in irgend ein, manchmal auch in zwei oder drei Theater zu gehen. „Da die Theater hier monatelang dieselben Stücke geben,“ meinte meine gefällige Gönnerin, „so wird sich schon während Ihres Hierseins noch ein Abend finden, wo Ihnen sämmtliche Bühnen nichts besonders Interessantes bieten, dann lassen Sie es mich 24 Stunden vorher wissen, und Sie sollen Abends bei mir etwas finden, was Sie in ganz Paris vergebens suchen würden.“ Die Neugierde, was dies wohl sein könne, bestimmte mich, von der freundlichen Einladung Gebrauch zu machen und der Dame einen Abend zu nennen, an welchem ich bei ihr erscheinen würde. Bei meinem Eintritt in den eleganten Salon, in dem bereits eine zahlreiche Gesellschaft versammelt war, trat sie mir, der ich mich selbst immer über meine Gespanntheit mit Meidinger lustig machte, mit den scherzhaften Worten entgegen: „Heute können Sie sich einmal ungenirt gehen lassen; reden Sie, wie Ihnen der Schnabel wuchs; Sie finden heute in meinem Hause nur Deutsche, keinen einzigen Franzosen.“ Welch’ eine Menge damals im Exil lebender Landsleute: Heine, Ruge, Herwegh, Börnstein etc.! Letzterer gab damals ein, später unterdrücktes, Journal „Vorwärts“ heraus, in welchem unter dem Namen H. Heine eben ein kleines Gedicht erschienen war, von dem er die Vaterschaft aber entschieden ableugnete; und in der That scheinen die beiden Verse „Pein“ und „Bein“ sich schlecht mit der eleganten Schreibweise des berühmten Verfassers des „Buchs der Lieder“ vereinigen zu wollen. Das Gedichtchen machte damals viel Glück, ich weiß nicht, ob es später bekannt und nachgedruckt wurde. Es hieß Selbst-Ironie:

Den Gärtner ernährt sein Spaten,
Den Bettler sein lahmes Bein,
Den Wechsler seine Ducaten,
Mich meine Liebespein! –

Drum bin ich Dir verbunden,
Du Mädchen, für Dein treulos Herz,
Viel Geld hab’ ich gefunden
In meinem Liebesschmerz.

Ich schrieb bei nächtlicher Lampe
Den Jammer, der mich traf,
Er ist bei Hoffmann und Campe
Erschienen in klein Octav.

„Vorwärts“ wurde von der Pariser Polizei verboten, die Hauptmitarbeiter von derselben ausgemaßregelt und zerstreuten sich in alle Winde. Börnstein ging nach Amerika, wo er eine ganz seltsame Carrière durchmachte. In Paris konnte man sich keinen besseren Führer als ihn denken, er kannte Alles, wußte Alles, correspondirte mit allen deutschen Zeitungen, übersetzte alle französische Stücke, die in Paris irgend Glück machten, besorgte Hunderte von Commissionen und fand bei seiner rastlosen Thätigkeit doch noch immer Zeit, dem Fremden in seinem gastfreundlichen Hause, im Kreise seiner liebenswürdigen Familie einige heitere Stunden zu widmen. Was hat der Mann in Amerika Alles unternommen und mit Glück durchgeführt! Redacteur des großen in St. Louis erscheinenden Journals „Der Anzeiger des Westens“, Buchdruckerei- und Theater-Besitzer, Bierbrauer, Theaterdirector und Schauspieler war er zu gleicher Zeit, beim Ausbruche des Krieges trat er als Stabsofficier und Adjutant in die Armee ein, und jetzt bekleidet er den lohnenden und ehrenvollen Vertrauensposten eines amerikanischen Consuls in Bremen. Während der Zeit leitet der ältere tüchtige Sohn Börnstein’s die vielfachen Geschäfte seines Vaters jenseits des Oceans, während der zweite ihm als Viceconsul nach Europa gefolgt ist. –

Freiligrath fühlte sich damals in Brüssel nichts weniger als behaglich. Trotzdem, daß ihm seine liebenswürdige, prächtige Frau mit den Kindern in die Verbannung gefolgt war, lag ihm

[203] doch die Sehnsucht nach Deutschland in jedem Pulsschlag, in jedem Zucken der Nerven. Außer seiner Familie hatte er fast keinen Umgang, als mit Karl Heintzen, dessen hervorstechendste Eigenschaft eben nicht in persönlicher Liebenswürdigkeit besteht. Einen Lichtpunkt in dem damaligen Leben Freiligrath’s bildete folgendes Ereigniß: Der Dichter, welcher schon im Jahre 1832 in einer Menge reizender Schöpfungen: „Amphitrite“, „Meerfabel“ etc. den Ocean und das Schiffstreiben so prächtig schilderte, hatte doch, außer im Elbhafen in Hamburg, weder Eines noch das Andere je gesehen. Ein Ausflug nach einer der nahen Seestädte, ich glaube nach Amsterdam, sollte ihm Gelegenheit geben, das, was er „mit seines Geistes Augen“ so oft gesehen, auch in Wirklichkeit kennen zu lernen. Der Adler, ein prachtvoller, nach Canton bestimmter, neuer Dreimaster, lag vor Anker, und gern wurde Freiligrath und dem ihn begleitenden Freunde die Erlaubniß ertheilt, das Schiff zu besehen. Der Oberbootsmann, ein wettergebräunter alter Seemann, machte den Führer. An der Capitains-Cajüte entschuldigte er sich, die fremden Herren nicht in diese Räume einführen zu können, da der Capitain eben Gäste bei sich bewirthe. Gesprächsweise wurde noch erwähnt, daß derselbe schon zwei Mal die Reise um die Welt gemacht habe. In dem Augenblick öffnet sich die Thüre, und man erblickt eine fröhliche Gesellschaft von eleganten Herren und Damen, die eben im Begriff ist, ein nichts weniger als frugales Diner zu beenden, wie eine reichliche Anzahl leerer Flaschen zur Genüge bekundet. Der blonde Dichter entschuldigt sich, seiner Neugierde, das prachtvolle Schiff zu bewundern, ohne Erlaubniß des Capitains gefolgt zu sein. Dieser, ein vollendeter Weltmann, nöthigt die Herren, in seine Gemächer einzutreten, zeigt ihnen seine elegante Waffenkammer, sein Arbeitszimmer, Alles auf’s Netteste und Comfortabelste eingerichtet. Letzteres ziert auch eine kleine, aber sehr gewählte Büchersammlung, in welcher die Prachtausgabe von Freiligrath’s Poesien obenan steht.

„Freut es Dich nicht, daß Deine Gedichte jetzt die Reise nach Canton mitmachen?“ frug der Begleiter Freiligrath’s seinen Freund.

„Wie so?“ wirft der Capitain dazwischen.

„Der Herr ist Freiligrath.“

„Freiligrath? Der Dichter Freiligrath?“ ruft der Seemann stürmisch aus.

Auf die Bejahung der Frage stürzt er zum Sprachrohr: „Flaggen auf! Alle Mann an Bord! Champagner herauf! – Gott segne Sie, Sie haben mir manchen heißen Tag auf dem weiten Ocean verkürzt, manche frohe, begeisterte Stunde geschaffen!“ Er drückte den erschütterten Dichter bewegt an die Brust, und die Gläser mit dem inzwischen angekommenen schäumenden Rebensaft füllend, spricht er mit weicher Stimme: „Meine Herren und Damen, Sie auf dem Festlande haben keine Ahnung, welch’ treuer Begleiter der wahre deutsche Dichter dem einsamen Seefahrer in fernen Welttheilen ist, was dieser ihm zu danken hat! Ein Zufall, den ich segne, bringt der besten einen an meinen Tisch! Meine Herren und Damen, ich nehme das als eine frohe Vorbedeutung für meine morgige Reise an! Erheben Sie die Gläser, der Dichter Freiligrath, er lebe hoch!“

Lautlos, nur durch eine mühsam zurückgedrängte Freudenthräne konnte der arme Dichter, der in diesem Augenblick mit keinem Fürsten der Erde getauscht hätte, den stürmischen Jubelruf der Anwesenden erwidern.

Bei seiner Entfernung standen ehrfurchtsvoll in zwei Reihen und in Festkleidern „Alle Mann an Bord“, alle Flaggen waren aufgezogen, das Schiff lag im festlichsten Schmucke da, als ob der König es mit seinem Besuche beehrt hätte.

Das war der schönste Tag im Leben eines deutschen Dichters! –

Eine ganz andere Natur, als der durch und durch poetische Freiligrath, war der vollständig materielle Saphir. Seine Hauptforce bestand darin, daß er irgend ein beliebiges Wort in allen Spielarten tanzen ließ, wie einen Kreisel. Deshalb haben sich verhältnißmäßig wenig seiner zahllosen Witze erhalten, weil sie der Augenblick, der sie gebar, auch schon verschlang. Ich unternahm einst mit ihm, aus Gefälligkeit, eine Reise von Lemberg nach Brody, um ihn in seinen dortigen Akademien zu unterstützen.

Brody ist eine sogenannte Freistadt, ein schmutziges Nest, an der russischen und zugleich äußersten Grenze deutscher Cultur, hat aber eine starke Bevölkerung, die lebhaften Handel treibt und besonders im Schmuggel starke Geschäfte macht. Unter den 22,000 Einwohnern befinden sich 20,000 Juden, alle gekleidet in ihre langen talarartigen Nationalcostüme, die Männer von den Weibern fast nur dadurch zu unterscheiden, daß letztere den Kopf mit zahlreichen Goldstücken verzieren, wodurch sie, nach Saphir’s Behauptung, schlechtem Spargel glichen, an welchem auch der Kopf das einzige Genießbare wäre. Die Brodyer Juden sind, im Gegensatz zu ihren Stammesgenossen, tapfer, brechen manchmal auf kleinen polnischen Pferden, die Schmuggelwaare auf beiden Seiten vor sich herabhängend, weshalb sie „Päckler“ heißen, in geschlossenen Colonnen über die Grenze, und liefern in den seltenen Fällen, wo Bestechung nicht ausreicht oder zu viel gefordert wird, den Grenzaufsehern vollständige kleine Bataillen.

Es macht auf den Fremden einen überaus komischen Eindruck, wenn er unter der Masse der mit langen schwarzen Locken verzierten und in dunkle Talars gehüllten Gestalten sich vergebens nach einem Menschen in deutscher Tracht umsieht. Am Morgen nach unserer Ankunft in Brody hörte ich unter meinem Fenster in den wohlbekannten Nasentönen Saphir’s meinen Namen rufen. Ich erblickte auf der Straße Saphir, umgeben von einem zahllosen Schwarm polnischer Juden, die seine dortige Leibgarde bildeten, auf jedes Wort des berühmtesten „von ihre Leut’“ lauerten, und den blühenden Unsinn, den er reichlich zum Besten gab, für baare Münze nahmen.

„Wallner, kommen Sie herab.“

„Was soll ich denn?“ entgegnete ich verdrießlich.

„Wir wollen spazieren gehen, die Stadt ansehen.“

„Was ist denn in dem schmutzigen Neste zu sehen?“

„Kommen Sie nur, ich habe noch eine prächtige Idee.“

„Welche?“

Wir wollen einen Christen suchen.“

Am Vorabend vor seinem ersten Auftreten hatten sich die Honoratioren der Stadt in unserem Hotel überaus zahlreich versammelt, vielleicht in der Hoffnung, einige unentgeltliche Witzbrocken des berühmten Mannes aufzuschnappen. Eine lange Tafel vereinigte Alles zum gemeinschaftlichen Abendessen, nach welchem starker Thee mit Rum servirt wurde. Als ich und Saphir ein zweites Glas dieses hitzigen Getränkes ablehnten, meinte einer der Anwesenden, der am Tische präsidirte, daß wir jetzt in Rußland wären und uns den Landesgebräuchen fügen müßten. Es gäbe in Rußland Männer, die zehn, zwölf Gläser Tschai tränken, und dann ganz ruhig darauf schliefen.

„Was mögen die für Nerven haben!“ erwiderte ich.

„Ah,“ sagte Saphir, „die Russen haben keine Nerven, die haben 20,000 kleine Knutchen im Leibe.“

Plötzlich erhob sich der Mann am Ende der Tafel und rief Saphir zu: „Ich danke Ihnen, Herr Doctor, im Namen meiner Landsleute, ich bin der hiesige russische Consul.“

„Da bedaure ich meine Aeußerung von ganzem Herzen,“ entgegnete Saphir mit dem größten Ernst, „wenn ich vorher gewußt hätte, daß Sie der russische Consul sind, so würde ich das, was ich eben gesagt, mir wahrscheinlich nur gedacht haben.“

Die Vorlesung Saphir’s in dem trotz der enormen Preise gedrängt vollen Saale gab ein Genrebild der sonderbarsten Art.

Bei jedem schlagenden Witzwort erscholl statt des erwarteten Beifalls ein einstimmiges Zischen, so daß der verwöhnte Saphir endlich bei einer ähnlichen Aeußerung, die genau die Form des in Deutschland üblichen Mißfallensvotums hatte, inne hielt und frug, womit er sich den Unwillen des Publicums zugezogen, er sei in dem Falle lieber bereit, die Vorlesung zu schließen und das Geld zurück zu stellen,[1] als sich mißhandeln zu lassen.

Wer stellt sich unser Erstaunen vor, als man ihn in Kenntniß setzt, daß diese Zischlaute der höchste Grad Brody’scher Ehrenbezeigungen seien und ungefähr so viel heißen sollen als:

„Scht – scht – welch’ ein Mann!“

„Scht – scht – welch’ ein Kopf!“

Der Beifallsausbruch des Klatschens war dort ganz unbekannt, und so begnügte sich Saphir mit der reichen Rubel- und Ducatenernte und mit wohlwollendem Zischen.

Bei der wahrhaft orientalischen Gastfreundschaft, mit der Saphir’s Haus zahllosen Tischgenossen stets geöffnet war, ist seine fortwährende peinliche Geldverlegenheit leicht begreiflich. So gefürchtet er sich mit seiner spitzigen Feder machen konnte, so gutmüthig und gefällig war er im Leben, die Bezeichnung „eine [204] offene Hand“ paßte auf Niemand besser, als auf ihn. Freilich war von Wiedergeben, wenn er borgte, fast nie die Rede, und seine Antwort an Baron Sina, von dem er tausend Gulden leihweise abholen sollte, und der ihn frug: „ob er um seine tausend Gulden komme?“ lautete charakteristisch genug: „Nein, lieber Herr Baron, Sie kommen darum.“

Der Theaterdirector Pokoroy sandte einst seinen Regisseur Peter nach Strelitz, um den Tenorist Hahn zu engagiren. Dieser kam an, sang aber so erbärmlich, daß sich die Direction nach seinem dritten Auftreten mit einer namhaften Summe über die Lösung seines Contractes abfinden mußte. Saphir schrieb im Humorist unter Anführung des betreffenden Capitels und Verses folgendes Bibelcitat:

     „Gastspiel des Tenoristen Hahn.

     Und als der Hahn zum dritten Mal krähte, da ging Petrus hinaus und weinte bitterlich.“

Ein Herr Bodner vom Pesther Theater trat als Hamlet auf und fiel complet durch. Saphir brachte in seinem Blatt folgende Notiz: „Herr Bodner, der gestern den Hamlet spielte, wird darauf aufmerksam gemacht, daß in der Leopoldstadt, im Gasthof zur weißen Rose, eine billige Retourkutsche nach Pesth zu finden ist.“

Saphir war sehr eitel auf seine – Häßlichkeit, so z. B. besitzt Frau Doctor Laube in Wien ein Bild von ihm, worunter er die Worte schrieb: Zum Brechen ähnlich. Mir schrieb er unter sein Portrait: Das ist auch Gottes Ebenbild! Geschieht ihm schon recht.

Bekanntlich ist König Ludwig von Baiern bei allen seinen sonstigen vortrefflichen Eigenschaften etwas ökonomisch und schwerhörig. Bei der Stelle in Schiller’s Carlos: „Geben Sie Gedankenfreiheit!“ applaudirte einst das Publicum sehr lebhaft, worauf der König das Haus verließ. Als Saphir, damals Intendanturrath am Münchner Hoftheater, nach der Vorstellung zu Tambosi kam, fand er eine Anzahl Unzufriedener vor, die sich heftig dagegen Aussprachen, daß der König bei einer freisinnigen Aeußerung des Publicums das Haus verließe. „Wie so?“ frug Saphir. – „Haben Sie denn nicht gesehen, daß der König bei den Worten: „Geben Sie Gedankenfreiheit!“ fortging?“ – „Wie Sie dem Mann wieder Unrecht thun!“ antwortete Saphir, „Sie vergessen, daß er schwer hört, er hat also nur verstanden „geben Sie uns –“ da ging er; was er geben soll, hat er gar nicht gehört, das ist ganz gleichgültig.“

Seine spitze Zunge brachte es dahin, daß ihm der König den Befehl ertheilen ließ, in 24 Stunden die Stadt München, in 48 Stunden das baierische Land zu verlassen. Mit dem Bewußtsein, nichts mehr verlieren zu können, begab sich Saphir zum Minister, stellte diesem die traurige Lage vor, in die er durch die allerhöchste Ungnade gerathen, und schloß mit den Worten: „Meine Verhältnisse sind bekannt, ich habe viel Schulden, werde wohl Alles verkaufen und auf meinen zwei Füßen hinaus wandern müssen, um nach der königlichen Weisung in 48 Stunden aus dem Lande zu kommen. Das Land ist groß, 48 Stunden sind kurz, zwei Füße sind wenig. Es müßte denn sein, daß Se. Majestät die Gnade hat, mir die Füße zu schenken, die in Seinen Versen zu viel sind, dann verpflichte ich mich, in 48 Minuten draußen zu sein.“

Vier Wochen vor seinem Tode sprach ich ihn zum letzten Mal. Er war geistig und körperlich gebrochen, eine jüngere, kampfbereite und schlagfertige Generation war ihm aus dem Felde des Witzes entgegen getreten und hatte den Sieg davon getragen, Undank und Rücksichtslosigkeit hatte er dort geerntet, wo er Wohlthaten gesäet, der kranke Löwe lag knurrend, allein und fast verlassen auf dem Krankenlager, von dem er nicht wieder erstehen sollte. Friede seiner Asche!




Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Von Guido Hammer.
Nr. 16. Eine Nacht beim Krebsleuchten.

Ein schwüler Julitag verhieß eine gleiche Nacht, die der Förster zum Krebsleuchten zu benutzen beschlossen hatte, wozu ihm die Befugnlß auf dem Reviere zustand. Er hatte deshalb bereits den Zeichenschläger und mehrere Waldarbeiter dahin instruirt, sich mit dem erforderlichen Kien und sonstigen Bedarf zum bevorstehenden Krebsfang Abends um zehn Uhr auf der „Henkerbrücke“ am „Nesselbach“ einzufinden und dort die kleine, dazu eingeladene Jagdgesellschaft zu erwarten. Doch nicht direct sollten wir zur nächtlichen Partie aufbrechen, sondern es wurde mit ihr zugleich der Anstand auf einen Hirsch verknüpft, der in der Nähe des Nesselbaches allabendlich über ein Gehau kommen sollte, um von da auf die nicht allzufernen Felder des Grenzreviers zu ziehen, weshalb wir uns noch bei Tage auf den Weg machten.

Abwechselnd führte uns dieser über sonnenbrandige, sandige Holzschläge und auf schmalem Pfade durch haideüberzogene Strecken, sowie durch hohe, rothstämmige Föhrenbestände; dann ging’s bald an üppig grünuferigen Wässerchen unter Erlen hin, bald schritten wir unter dem sonnenvergoldeten transparenten Laubdache schlankschäftiger Buchen vorwärts, bis wir gegen Sonnenuntergang an unserm vorerst gesteckten Ziel anlangten. Es war ein an einem Hange hinabliegendes schmälen- und haideüberwachsenes Gehau, durch das sich ein tiefseingeschnittenes, an seinen Rändern von frischer Vegetation begleitetes Bächlein wand. Es rieselte mit plätschernder Raschheit dem Thale zu, um dort mit offenen Armen von dem größeren Thalgewässer, dessen geschwätziges Murmeln man deutlich durch die Waldesstille vernehmen konnte, aufgenommen zu werden. Hier, wo der Hirsch erwartet wurde, stellten wir uns am Ausläufer eines das Gehau begrenzenden alten Bestandes an, der theilweise mit dichten Fichtenstraupen besetzt war, und hinter welchem man sich vortrefflich bergen konnte.

Schon wich die rothgoldige Beleuchtung mit den letzten Strahlen der untergehenden Sonne von den bis dahin noch beschienenen Wipfeln der alten Fichten, Tannen und Buchen, die hier den Wald bildeten, und nur noch vom Reflex des lichtumflossenen Himmels erhielt die ganze Landschaft den letzten rosigen Hauch. Auch dieser entschwand nach und nach, und nur die über fernen Wolken glänzenden Streifen des Abendhimmels leuchteten über den gegen Westen gelegenen Hochwald herüber. Mehr und mehr griff die ernste Dämmerung Platz, die dem stillen Wald eine so zaubervolle Weihe giebt, und die diesmal noch durch die tiefste Ruhe erhöht wurde. Bald aber regte sich das dem Walde eigenthümliche Leben. Da kam ein alter Buschhase über das Gehau herübergerückt, sich tändelnd nach dem Wiesengründchen wendend, wo er Schmackhaftes

[205] zu finden wissen mochte. Auch ein Reh trat auf die Blöße heraus, ja selbst ein altes Roththier mit seinem Kälbchen zog ganz am Ende des Gehaues über dasselbe hinweg, wahrscheinlich ebenfalls der freien Matte im kühlen Thale zu. So verging die Zeit, ohne daß man es bei der auf die Natur gerichteten Aufmerksamkeit gemerkt haben würde, hätte nicht die vorschreitende Dunkelheit an den Verlauf der Stunde erinnert. Noch hatte sich kein Hirsch hören und blicken lassen, als der Förster den Signalpfiff zum Abtreten ertönen ließ, der uns Uebrige nach seinem Stande berief. Doch kaum leisteten wir dem Rufe Folge, so hörten wir den Geweihten drüben im Dickicht, von wo her er kommen sollte, brechend und polternd zurückfliehen – er war jedenfalls eben im Begriff gewesen, herauszuziehen, und durch unser Abtreten flüchtig geworden. Mit dem miserablen Troste, daß es doch zu dunkel gewesen sein würde, um auf den Erwarteten, namentlich gegen den dunkeln Hintergrund, schießen zu können, mußten wir uns begnügen, uns von seinem Dasein überzeugt zu haben und daran für die nächste Zeit weitere Hoffnungen zu knüpfen.

Von hier aus ging’s nun unmittelbar auf finsterm Waldespfade zum bestimmten Rendezvous für das Krebsleuchten. Bald sahen wir auch den Schimmer eines Feuerchens, das sich der Zeichenschläger mit seinen Leuten angezündet hatte, durch das Waldesdunkel schimmern. Ein herrliches Bild bot sich unsern Blicken dar. Vor uns lag ein verwittertes, steinernes, grünbemoostes Brückchen, das sich von den farrenkrautüberwucherten Ufern über einen krystallklaren Bach spannte und von einer am Rande stehenden Buche völlig überwölbt wurde. Die weitere dichtgeschlossene Umgebung bildeten dunkele Fichten mit zur Erde hängendem Geäste, deren silberne Flechten wie lange Bärte herabhingen, die im flackernden Feuerschein phantastisch von dem düstern Hintergründe abstachen. Dieser erschien um so schwärzer, als die Flammen nur die unmittelbar nahen Gegenstände grell beleuchteten. Dazu gaben die wildaussehenden Gestalten, die die knisternde Gluth umstanden und auf die beleuchtete Umgebung riesengroße gespenstige Schlagschatten warfen, der nächtlichen Scene etwas ungemein Malerisches.

Rasch wurde nun nach unserm Eintreffen Anstalt zur Wasserjagd auf die gepanzerten Scheerenträger getroffen. Wer Lust verspürte, in’s Wasser zu gehen, zog sich, wenn er keine Aufschlagstiefeln hatte, barfuß aus, so wie man sich denn überhaupt aller unnöthigen Kleidungsstücke entledigte, und watete, in der Hand den brennenden Kienspan, stromauf im Bache hin. Hell loderten die Brände und übergossen die wuchernde Vegetation des Baches und die Sträucher und Bäume am Rande desselben mit einem magischen Lichte, sowie selbst der Boden, über dem das durchsichtige, rothgoldig glitzernde Wasser hinfloß, mit voller Klarheit beleuchtet wurde, wodurch die in warmen Nächten aus ihren Wurzel- und Steinlöchern hervorkommenden Krebse deutlich sichtbar waren. Nun ging’s an ein Zulangen der Watenden, wobei jedesmal einer der ritterlich gepanzerten Reactionäre der hinterrücks zugreifenden Hand des Häschers verfiel, der den Gefangenen entweder in einen um seinen Hals hängenden Sack steckte oder den am Ufer Mitgehenden zuwarf, um ihn von diesen in das Verließ eines Zubers oder Leinwandsackes stecken zu lassen. Auf diese Weise mehrte sich fast Schritt vor Schritt die Beute. Auch waren bereits von einem der Waldwärter, der mit Virtuosität Forellen mit den Händen unter alten Wurzelstöcken und Steinen hervorzufischen verstand, eine hübsche Anzahl solcher ihrem krystallenen Elemente entrissen worden, so daß die nächtliche Beute schon eine recht ergiebige genannt werden mußte.

Aber auch die Zeit war verronnen, so daß es schon nach Mitternacht war, als einmal Halt zu machen beschlossen wurde. An einer der düstersten Fichtenpartien auf einem hohen Uferrande wurden die Jagdtaschen hingelegt, um hier einen kleinen Imbiß und herzstärkenden Trunk einzunehmen, während die leidenschaftlichsten Fischer und krebsenden Genossen noch immer im Wasser herumsuchten. Der Mond, der eben die Wolken zerrissen hatte, verband hier seinen silbernen Schein mit der rothen Fackelgluth, und beider Lichtstrahlen schimmerten in abwechselnder Pracht, wie Diamant- und Rubnuenglanz, in dem sonst tiefdunkeln Wasser der sich hier bildenden Waldesbucht. Die düstern Wolken zogen dabei langsam und schwer am Himmel hin, bald das Mondlicht verhüllend oder momentan ganz verdunkelnd, während dem schon längere Zeit stattfindenden Wetterleuchten sich dumpfmurmelnder Donnerton beigesellte. Dieses Zeichen veranlaßte die Gesellschaft, ihr an diesem einsamen, baumumrauschten Orte improvisirtes Lager schleunigst wieder aufzugeben, sowie überhaupt auf weitern Beutefang zu verzichten, da ja ohnehin die Säcke und Körbe fast gefüllt waren, und aufzubrechen. Schnell waren die Fackeln bis auf zwei, die uns zum Wegleuchten dienen sollten, ausgelöscht, denn das plötzlich schnell heranrückende Gewitter trieb zur Eile. Unser nächstes Ziel war eine nicht allzu fern liegende Waldschenke, deren Wirthsleute herauszupochen beschlossen wurde, da das Wetter uns in keinem Falle bis nach Hause kommen zu lassen versprach. Wir hatten überhaupt schon zu lange gezögert; immer drohender wurde das schnell heraufziehende Wetter. Ihm voraus ging jetzt ein hohles Brausen durch den Wald, das die knarrenden Stämme der vom daherjagenden Sturme gepackten Bäume mit Seufzen und Stöhnen begleiteten. Blitz folgte nun auf Blitz, so daß das grollende Donnerrollen fast ununterbrochen war und nur durch dann und wann folgende stärkere Schläge Abwechslung erhielt. Einzelnen vorausgefallenen Tropfen folgten jetzt Ströme von Regen. Sturmgepeitscht rauschten sie zur Erde. Dazu wurde die wasserdurchfluthete Atmosphäre durch die auch alles Uebrige in ein Feuermeer verwandelnden Blitze grell erleuchtet, so daß der Ausbruch einem Kampfe des Feuers, Wassers und der Luft um die Herrschaft der starren Erde glich. Den am schwarzen Himmel niederfahrenden blauen Schlangenlinien folgten die Donnerschläge so augenblicklich und erschütternd, daß sie fast betäubend wirkten, besonders einmal, als der vernichtende Strahl in eine Buche, die ungefähr nur hundert Schritt vor uns stand, einschlug und sie von oben bis unten auseinander riß, daß dem überwältigenden Schmettern des Donners das Prasseln und Krachen des stürzenden Baumes folgte. Ja, es wurde geradezu unheimlich, sich mit dem Gewehre, diesem natürlichen Blitzanzieher, in diesem Aufruhre der Elemente zu wissen und jeden Augenblick erwarten zu können, daß sich die Feuerschlangen des Himmels auf uns niederstürzen würden, um ein oder mehrere Opfer aus unserer Mitte zu wählen. Schutz und Schirm vor dem mit wolkenbruchartigen Regenströmen verbundenen Gewitter zu suchen, gab die Oertlichkeit durchaus nicht zu; es blieb uns also nichts übrig, als uns ins Unvermeidliche zu fügen und rüstig weiter zu schreiten.

So erreichten wir denn endlich, durchnäßt bis auf die Haut, den einsam gelegenen Waldkrug, als das Gewitter mit seiner stärksten Macht bereits vorüber und uns vorausgeeilt war. Bald war der Wirth, den das Wetter ohnedem wach erhalten und zu Lichtanmachen veranlaßt hatte, herausgeklopft. Schlürfenden Schrittes hörte man ihn auf dem Hausflur kommen und der Thüre nahen, um zu öffnen. Die ihm bekannten Jägergesichter ließen sein grämliches Antlitz, das er über die nächtliche Ruhestörung aufgesteckt hatte, bald in freundlichere Falten legen, und schnell wurde von ihm ein Feuer gemacht, das nicht nur die Sachen trocknen, sondern auch die gefangenen Forellen zum nächtlichen Schmause bereiten sollte. Die Garderobe des alten Haidekrügers und seiner Söhne mußte bis zum Trockenwerden unserer Kleidungsstücke zu unserer nothdürftigen Bedeckung herhalten, so daß wir in einer Weise metamorphosirt wurden, die zu den heitersten Scenen Veranlassung gab. Bald war das Fischgericht fertig, das, mit frischem Trunk gewürzt, nach überstandener Strapaze herrlich mundete.

Schon dämmerte der Morgen, als wir unsere warmfeuchten Sachen wieder anzogen, um den Nachhauseweg anzutreten. Noch sah man dem gen Norden geflohenen Gewitter einige zerrissene Wolken als Nachzügler nacheilen, während sonst vom schönsten klaren Himmel die Sterne in ihrem vor dem Osten verbleichenden Schimmer niederschauten. In tiefblauem Dämmerten lag der erfrischte Wald vor uns, und schon fing sich das frische Leben an zu regen. Singvöglein schnipsten und zwitscherten in den Zweigen, die, wenn sie durch das Flattern der kleinen Befiederten gestreift oder vom leichten Winde geschüttelt wurden, ihren feuchten Perlenschmuck aus den glänzenden Blättern und Nadeln fallen ließen. Es ward heller und heller. Ein heiserer Kuckuck, der noch in verspäteter süßer Liebessehnsucht schmachtete, schrie den lichten Tag an, den nun die goldene, siegreich das letzte Gewölk zerstreuende Sonne über Berg und Thal ergoß. In klarer Pracht spiegelte sich die Himmelskönigin mit Diamantfunkelschein millionenfach in dem perlenden Naß, das an Baum und Strauch, an Halm und Staude zitterte. Im Vollgenuß eines solchen herrlich anbrechenden Morgens eilten wir munter, die Säcke mit ihrem kribbelnden Inhalt auf dem Rücken, der Försterwohnung zu, von wo aus ein Jeder, [206] mit einer Anzahl der Gefangenen beschenkt, möglichst schnell nach Hause zu kommen suchte, um in Betracht des bedenklichen Anzugs unbemerkt einschlüpfen und noch einige Stunden bis zur gewöhnlichen Aufstehzeit der Stadtmenschen der Ruhe pflegen zu können, die man um so nöthiger hatte, als Einem an diesem Tage noch die Anstrengung des Krebsessens bevorstand.




Silhouetten vom preußischen Landtage.
2. 0Koryphäen der Fortschrittspartei.


Der 11. März im 14. Jahre des constitutionellen Staats in Preußen hat zum zweiten Male einer vom Volke frei und offen nach seinem Herzen gewählten Versammlung seiner Vertreter den Scheidebefehl der Krone gebracht. Das preußische Volk war in seinem Rechte, eine solche Versammlung zu wählen, und sein König war in seinem Rechte, sie aufzulösen. Soweit bietet der Act nichts Außerordentliches; seine besondere Bedeutung erhält er durch die Zeit, in welcher er geschah, und durch die Beweggründe, die ihn möglich machten. Das preußische Volk, die deutsche Nation kennen sie, und beiden stellt eine geschichtliche Parallele die letzte Nothwendigkeit vor die Augen: – wie einst dem Papstthum gegenüber gilt es heute in der Monarchie von einem schlecht unterrichteten an einen besser zu unterrichtenden König zu appelliren, und die unterrichtende Stimme kann einzig und allein aus der neuen Vertreterwahl des durch sehr ernste Erfahrungen über das, was ihm Noth thut, und das, was ihm zum Heil gereicht, nunmehr gründlich unterrichteten preußischen Volks sprechen.

Das aufgelöste Abgeordnetenhaus hielt außer der Hagen’schen bisher nur zwei bedeutende Sitzungen; sie waren der unglückseligen kurhessischen Frage gewidmet. Aber in der zweiten dieser Sitzungen ereignete sich Etwas, dessen Bedeutung nicht zu unterschätzen ist. Der Abgeordnete Schulze, seit vierzehn Jahren bekannt als Schulze-Delitzsch, brachte von der Tribüne herab den Parteinamen der Demokratie wieder in’s Leben und forderte stolz die Anerkennung ihrer Leistungen auf wirthschafllichem Gebiete. Die Partei, welche den Kern der linken Seite des Hauses bildete, ist in Wahrheit die preußische Demokratie, und es war ein Sieg für sie, daß Schulze-Delitzsch auf ihre dichten Phalangen hinzeigen konnte. Schulze-Delitzsch war der eigentliche Quirl dieser Partei im Abgeordnetenhause, die disciplinirende Seele. Es gab noch mehr Oberfeldherren; aber Schulze war der General in den Schlachten, vielfach sonach das eigentliche Haupt der Schaar. Seine ruhmvolle Thätigkeit auf dem Felde der Genossenschaften und Vorschußvereine für den kleinen Handwerker ist allgemein gekannt und auch in der „Gartenlaube“ früher schon des Ausführlichen erzählt worden. Wenn irgend Einer der preußischen Abgeordneten Thaten aufweisen konnte, um deren willen er den Platz auf dem curulischen Stuhl erhalten hatte, so war es dieser Mann, der durch rastloseste Arbeit, uneigennützig geleistete Mühen und seltenste Aufopferung für die Sache der Volkswohlfahrt ein echt demokratisches Princip zur Ausführung brachte und ein Wohlthäter für Millionen wurde. Begeisterung setzt ihn in einige Unruhe und Geschäftigkeit; man sah ihn selten still auf seinem Platze im Saale, sondern immer von einem Freunde zum andern eilen, plaudern, herzlich die Hand schütteln, lebhaft gesticuliren. Die gedrungene, kraftvolle Gestalt prägte sich augenblicks dem Gedächtniß ein, und das ausdrucksvolle Gesicht mit dem weißen Albabart, überschattet von blondem, fast künstlermäßig geordnetem Haar, erhöhte das Interesse des Betrachters nicht wenig. Schulze-Delitzsch ist vom seltenen Schlag der Volkstribunen; er war nicht nur der populärste, sondern auch der hinreißendste Redner des Hauses; er hat die Gabe, begeistern oder erschüttern zu können, denn die Worte entsteigen dem warmfühlendsten, bewegten Herzen. Der breite sächsische Dialekt heimelt sofort gemüthvoll an und namentlich, wenn die Ironie ihren Ausdruck erhält. Aber so ironisch Schulze in seinen Reden sein kann, um die Kleinlichkeit des Gegners sichtbar zu machen, so gewaltig rührt er die Tiefen seines inneren Ernstes auf, wenn er für seine Sache plaidirt. Dann strahlt aus den immer freundlichen, kleinen Augen der Glanz innerer Begeisterung und sie werden groß, ernst, ja drohend; dann verschwindet fast der Dialekt, und die Sprache tönt sonor und fest durch den Saal. Wucht der Gedanken kettet schnell Satz an Satz in klarer, fester Gliederung; Begeisterung giebt der Rede farbige Bilder und jene dämonische Macht, welche die Herzen der Zuhörer ohne Widerstand Unterthan macht, so lange bis sie vom Bann befreit sind.

Der Generalissimus der preußischen Demokratie, gewissermaßen der Stratege, war der Geheime Obertribunalrath Waldeck. Beim ersten Blick über die Versammlung fiel die hagere, große Gestalt mit dem schneeweißen Haupt in die Augen. Waldeck hat einen der charaktervollsten Köpfe; die Linien desselben haben etwas Antikes, Römisches; in dem durchfurchten Gesicht liegt gramvoller Ernst seltsam um einen fuchsartigen Ausdruck der Augen gebettet. Seit den Zeiten der Nationalversammlung ist dieser Mann der Führer der Demokratie, und die Leiden, die Verfolgungen, die ihm von der ersten Wuth der Reaction bereitet wurden, die strenge Redlichkeit, mit welcher er seinen Grundsätzen treu geblieben, hatten ihm diese Stellung gesichert, trotzdem in manchen Punkten, namentlich bezüglich der deutschen Frage, die Partei anders denkt als er. Im Jahre 1848 gruppirte Waldeck aus der Partei der äußersten Linken die am meisten nach rechts gelegene Schattirung um sich und operirte meist nur darauf hin, durch Transactionen mit den andern Fractionen sich die Majorität zu sichern. Dadurch wurde er das proclamirte Haupt der vielfach aus republikanischen Elementen bestehenden äußersten Linken der Nationalversammlung, und die Reaction sieht in ihm noch immer das rothe Gespenst. Gleichwohl hat Waldeck in der Vertheidigungsrede bei Gelegenheit seines Processes ausdrücklich den Beweis geführt, daß er republikanische Gesinnung niemals gehabt, und daß er als Katholik auch die Freisinnigkeit nicht so weit wie als Politiker versteht, bewies er durch die Energie, mit welcher er 1848 der Kirche nicht den Zehnten verkürzt wissen wollte. Um so eifriger erstrebte er jedoch Freiheit in der Gemeinde und der staatsbürgerlichen Rechte. In dieser Beziehung ist Waldeck’s Verdienst höchster Anerkennung werth und der geklärteste, autoritätsvollste Ausdruck des Demokratie. Bei einer Neuwahl 1860 gelang es ihm, zum ersten Mal wieder seit 1848 als Abgeordneter gewählt zu werden. Eben darum, weil er das Haupt der 1849 niedergeworfenen, beschimpften und verfehmten demokratischen Partei war, nahm diese Wahl die Größe eines politischen Ereignisses an. In der Rede, welche er vor etwa Jahresfrist von der Tribüne des Abgeordnetenhauses hielt, gab er das Glaubensbekenntniß der versöhnten, wieder in die öffentliche Arena eintretenden Demokratie ab, und danach hat sich vielfach die jetzige deutsche Fortschrittspartei organisirt.

Gleich hinter Waldeck saß im Hause der Abgeordneten Taddel, der alte Geheime Justizrath mit dem ehrenvollen a. D. (außer Diensten). Der kleine Herr mit dem kahlen, an den Schläfen mit Silberhaar gezierten Schädel und dem freundlich-vornehmen, klugen Gesicht ist der Bayard des preußischen Richterstandes, der Richter ohne Furcht und Tadel, welcher den Proceß Waldeck leitete und gegenüber der Polizeiarroganz Hinckeldey’s die Würde des Gerichtshofes mit unerbittlicher Strenge aufrecht zu halten wußte. Einen solchen Ehrenmann konnte die Reaction, die nur Schranzen zu benutzen weiß, nicht gebrauchen. Das Volk versteht wahre Tugenden des Charakters besser; daher gab es dem in Ungnade gefallenen Taddel ein Vertrauensmandat als Abgeordneter.

Etwas ähnlich in äußerer Erscheinung dem Vertreter des freien preußischen Richterstandes ist der Märtyrer der freien Pädagogik, Dr. Diesterweg. Nur ist die Structur dieser Gestalt derber; das kahle Haupt mit dem Kranz von weißem Haar scheint mehr Zeichen der Gedankenarbeit als schwindender Manneskraft zu sein; die Physiognomie hat etwas Schalkhaftes, die klugen Augen leuchten von innerem Feuer. Das ist der Mann, der im freien Geiste Pestalozzi’s gelehrt hat und deshalb von dem kleinlichen Geist der preußischen Schulregulative um sein Amt gebracht wurde; das ist der alte Diesterweg, der noch immer so viel lehrt, ohne gleichwohl eine Schule zu haben, der ein Schulmeister bester Art für das deutsche Volk geworden ist und als solcher den Geist predigt, [207] in dem geschulmeistert werden soll, damit aus deutschen Jungen keine Liebediener, sondern deutsche, freie Männer werden. Da ihn die preußische Regierung nicht vertragen konnte, so hat auch ihn das preußische Volk zu seinem Abgeordneten erwählt.

Neben ihm saß noch ein Verfolgter der Reaction, Herr von Kirchmann, Appellationsgerichts-Vicepräsident, im Jahre 1848 Mitglied der Nationalversammlung und fast immer genannt, wenn man Temme nannte. In Folge seiner Thätigkeit in jener Zeit als Mitglied der äußersten Linken ward er verfehmt und abgesetzt. Niemand konnte dies Unrecht eines Regierungssystems besser wieder gut machen als das Volk; daher sandten ihn die Schlesier diesmal in’s Abgeordnetenhaus, damit Beweise dafür geliefert würden, daß die Demokratie viel gelernt und viel vergessen habe.

Unter den neu eingetretenen demokratischen Mitgliedern des Abgeordnetenhauses ist vor Allem der Professor Dr. Virchow zu nennen, als Naturforscher und Anatom eine der Zierden seiner Wissenschaft. In seinen zahlreichen wissenschaftlichen und populären Vorträgen und speciell als Stadtverordneter von Berlin hat er die Unerschrockenheit seiner Gesinnung documentirt; auf seine Veranlassung hin namentlich begann der Magistrat den Proceß gegen Patzke, der wenigstens so viel eingebracht, daß die Herrschaft moralisch längst verurtheilter Beamten ihr klägliches Ende fand und daß abermals bewiesen wurde, die Nemesis bleibe doch für keine Schuld aus. Virchow macht den Eindruck eines noch jugendlichen Mannes; die Zierlichkeit der Gestalt, das weltmännische Benehmen, die dünnen, blonden Haare, das feine Gesicht mit geistvollem, in Ironie getauchtem Ausdruck geben der Erscheinung etwas Gewinnendes, so wie es bei Cicero mit praestantia und subrisus audientium bezeichnet wurde. Wie bei Schulze-Delitzsch die Herzlichkeit überall ihre Spuren gelassen, so bei Virchow der acute, durchdringende Verstand. Man möchte sagen, aus ihm hört man den Anatomen, der nur das Object behandelt und mitleidslos in den Eingeweiden des Cadavers nach Bereicherungen der allgemeinen Wissenschaft sucht. Jeden, auch den verwickeltsten Gegenstand – wie fremd er ihm sei – behandelt er mit erstaunlicher Gewandtheit, eignet sich die Kenntniß seines innersten Gefasers in höchster Weise an; er war deshalb ein wahrer Hercules für Commissionen, ein Talisman für deren Arbeiten. Aber weit davon entfernt, nur der trockene, denkende Wissenschaftler zu sein, ist Virchow als Redner geistreich, witzig, von feingespitztester Ironie: er gleicht einem Meister der französischen Fechtkunst mit dem Floret, sicher im Ausfall und elegant dabei, kaltblütig und mit Unfehlbarkeit den Gegner bei jeder Blöße verwundend. Aus der Monotonie seiner Sprache hört man die Arbeit des Räderwerks der Gedanken heraus; die Rede entspringt eben vor Allem dem Verstande und fließt schnell, klar und glänzend dahin; nur selten, daß die leichten Wellen sich kräuseln oder durch einen Strom seelischer Empfindungen einen Strudel bilden, dessen Spitze bis in die Tiefe der Gefühle dringt.

Der Stadtgerichtsrath Twesten saß auf derselben Bank mit Virchow. Er trägt noch immer den zerschossenen Arm in der Feldbinde der Gesinnung. Mit diesem Arm hat er die Freiheit und die Ehre des Schriftstellers gegen den General von Manteuffel vertheidigt, der ihn bekanntlich wegen der Angriffe auf das Militärcabinet in der Broschüre: „Was uns noch retten kann!“ zu einem Pistolenduell aufforderte. Twesten hat ein jugendliches Aussehen; das blühende Gesicht mit der etwas starken, gestülpten Nase, die offenen, großen Augen, die schwarzen Lockenhaare geben ihm etwas Studentenartiges, welches mit der übrigen Männlichkeit seines Wesens eine sehr glückliche Verbindung eingegangen ist. Seine Collegen rühmen die juristische Tüchtigkeit; über seinen Geist, sein Wissen, sein feines kritisches Talent, die Schönheit seines Denkens belehrt der große Aufsatz über „Schiller im Verhältniß zur Wissenschaft“, der sich in den neuesten Heften der von Oppenheim herausgegebenen, trefflichen „Deutschen Jahrbücher“ befindet und dessen größere Verbreitung durch Separatabdruck gewiß allgemeinen Dank eintragen würde. Daß Twesten auch ein sehr gewandter, ruhiger, klarer Redner ist, bewies er durch die Vertheidigung des Commissionsantrages in der kurhessischen Frage.

Dr. Lüning gehörte gleichfalls zu den parlamentarischen Novizen, welche bereits in die vordersten Reihen der Kämpfer eingetreten waren. Er ist von imposanter Figur, mit dem Kopf eines französischen Generals, welchen Ausdruck er namentlich durch den flachsfarbenen Henry IV.-Bart erhält. Auch er gehörte zu den besten Rednern des Hauses. – Unweit von ihm saß Dr. Beitzke, der treffliche Geschichtschreiber der Befreiungskriege von 1813– 1815; man sieht ihm, gleich den alten Major an. – Franz Duncker, der jüngste und vorgeschrittenste Sproß der Berliner Duncker, hatte sich ebenfalls hier niedergelassen; er war der Repräsentant der Volkszeitung, die er zum Theil redigirt und mit deren wachsender Bedeutung auch er mehr und mehr den Charakter einer politischen Person annahm, den Buchhändler dagegen in den Hintergrund treten ließ. Man könnte ihn den Adjutanten der demokratischen Partei in Berlin nennen. Das starke Haar und der dichte, zu früh grau melirte und einst rothe Vollbart geben ihm ein etwas grimmiges Aussehen; aber in Wirklichkeit ist Franz Duncker ein ganz sanfter und auch ein recht liebenswürdiger Mann, der Princip und Sache wohl zu trennen weiß.

Im Hintergrunde sah man den sogenannten „rothen Becker“, den Dortmunder Abgeordneten. Er gab während der Revolutionszeit 1848 die radicale „Rheinische Zeitung“ heraus, deren letzte Nummer in rother Schrift gedruckt wurde. Dann spielte er eine bedeutende Nummer in dem Communistenproceß zu Köln, der aus lauter Fälschungen des Polizeihasses jener Zeit zusammengebraut wurde. Man verurtheilte Becker damals zu fünfjährigem Gefängniß. Nach seiner Freilassung wollte ihm die Regierung, trotz der neuen Aera, nirgends ein Domicil gestatten; da mußten denn wohl die Dortmunder ihn als Abgeordneten nach Berlin schicken, damit er ein Asyl fand. Den Namen des „rothen Becker“ hat er übrigens seit seiner Schulzeit in Folge der röthlichen Haare. – Auch Dr. Rupp ist nicht zu vergessen, jener lange Mann mit dem grauen, zurückgestrichenen Lockenhaar und dem pastorischen Antlitz: er ist der Prediger der freien Gemeinde in Königsberg und befand sich hier, um die Religionsfreiheit zu vertreten. – Hinter ihm saß Prince-Smith, der philosophische Nationalökonom; unweit davon Michaelis, der praktische Volkswirth der Nationalzeitung; weiter links der französisch lebhafte, auf den Congressen agitirende Nationalökonom Jules Faucher.

Eine der bedeutendsten Persönlichkeiten war noch der Vicepräsident Behrendt, eine stattliche, kräftige Figur, die so recht Freiheit des Bürgerthums und die Routine eines öffentlichen Wesens repräsentirt. Aus dem Antlitz spricht Energie, Scharfsinn, Lebhaftigkeit und Geist, und alle diese Eigenschaften zeigten sich auch in den Reden Behrendt’s, der sowohl als politischer Charakter, wie als Redner schon eine parlamentarische Vergangenheit aufweisen kann. In der vorigen Session führte er die vorgeschrittenste Fraction der Vincke’schen Partei.

Als einer der interessantesten Geister unter den neu eingetretenen gab sich Dr. Frese zu erkennen, bekannt durch die Uebersetzung der Lewes’schen Biographie Goethe’s und als Herausgeber einer Kammercorrespondenz. Der blühende Mann mit jugendlich-üppigen Formen gehörte unter die Redner, welche ihre parlamentarische Schule noch durchzumachen haben, und erinnerte jetzt noch an den Ton der demokratischen Clubredner, denen der Effect über Alles geht. Wie ein Camille Desmoulins sprudelte dieser Feuerkopf witzig und unbekümmert um die Rücksichten der Persönlichkeiten seine Gedanken aus; er schoß hastig, oft in gewinnendster, liebenswürdigster Leidenschaftlichkeit seine Pfeile vom Bogen, als sei er sicher, daß sie treffen müßten. Die Menge der Feinde erließ freilich ein bedächtiges Zielen. Er streifte zum Gaudium der Tribünen stark an die äußersten Grenzen des parlamentarisch Erlaubten und gab doch dem Präsidenten keine Gelegenheit, das Damoklesschwert des Ordnungsrufes auf ihn fallen zu lassen; wenn der Präsident noch die letzte Keckheit der Rede überdachte, hatte der Uebermuth des jungblütigen Redners schon eine neue fallen lassen, unschuldig fast, wie ein Kind Blumen verliert. Frese war unstreitig frisches Blut für dies Haus der Abgeordneten; er rührte in dem alten Sauerteig, er tanzte auf einem Vulcan, er spottete über sehr Ehrbares, er sagte – was für das Volk nie, wohl aber für die Könige unangenehm ist – ganz ungeschminkt die Wahrheit über das, was das politisch aufgeweckte Volk fühlt, und denkt.

S.-W.




[208]

Blätter und Blüthen.

Tauben-Sanftmuth. Die sprichwörtlich gewordene „Tauben-Sanftmuth“ ist zwar vielfach schon angezweifelt und angegriffen worden; man hat auf die Zank- und Streitsucht des Taubengeschlechtes, auf die Eifersucht der Männchen und ihre erbitterten Kämpfe aufmerksam gemacht; doch nirgend hörte ich von einem so schlagenden Beweise für die Bosheit und Rachsucht der „sanftmüthigen Täubchen“, wie ich ihn selbst erlebt habe. – Zur Belustigung der Kinder ließ ich den alten Taubenschlag vor der Thür meines Wohnhauses renoviren und mit einer ganzen Taubencolonie bevölkern. Da gab es Feldflüchter als Proletarier; Glasaugen und Werfer in der Classe der Honoratioren, Kröpper repräsentirten den Bauernstand; Mövchen, Perücken und Trommler bildeten die Gelehrten- und Adelsaristokratie. Die Eigenthümlichkeiten, um nicht zu sagen den Charakter der einzelnen Racen, wie der Individuen beobachtete auch ich oft mit Vergnügen und suchte meine Kinder darauf aufmerksam zu machen. Während die Einen in strenger Abgeschiedenheit von dem großen Haufen sich bewegten, nur an einander Wohlgefallen zu haben schienen, besaßen Andere eine unverbesserliche Nichtachtung ihres „edleren Blutes“ und konnten nur durch Gewaltmittel von einer Mesalliance abgehalten werden. Ein Paar prachtvoller weißer Pfauenschwänze zeichnete sich vor allen anderen durch seine Schönheit aus. Es hatte sich der ganz besondern Liebe und Aufmerksamkeit meiner Jungen zu erfreuen. – Doch wie sich nie in einer Person alle Vorzüge vereinen, so ging auch diesem hocharistokratischen Paar die Gewandtheit im Fluge ab. Darum kein Wunder, daß die Pfauentaube eine leichte Beute des raubgierigen Habichts wurde. Die Trauer über diesen schmerzlichen Verlust war um so tiefgreifender, als sich nicht so bald Gelegenheit zu einem Ersatz bot. Der verwittwete Gatte war jedenfalls am schlimmsten daran, und wir glaubten deshalb auch billige Rücksicht nehmen zu müssen, als wir bemerkten, daß er, fern von jedem Rangvorurtheil, sich an dem warmen Herzen einer jugendlichen Schönheit aus dem Arbeiterstande zu trösten suchte.

Eines Tages jedoch brachte ich aus der Stadt eine würdigere Gattin für den „edlen Wittwer“ mit, und sofort ward sein neues Verhältniß für ein schmähliches Concubinat erklärt, das süße Band gewaltsam getrennt, der Vollblutstauber mit seiner ihm bestimmten Gemahlin zu näherer Bekanntschaft einstweilen in einen besondern Käfig gesperrt und die verstoßene Gemahlin, um jede eheliche Scene zu verhüten, nach einem entfernten Vorwerke in’s Exil geschickt, wo man ihr gleichfalls einen entsprechenden Gemahl octroyirte. Mit ihr wurde das ganze Geschlecht der Arbeiter oder Feldflüchter ausgemerzt und fortgeschickt. Anfangs ging Alles gut. Das fürstliche Paar siedelte nach dem gemeinschaftlichen Taubenschlage über, begann alsbald sich häuslich einzurichten, und nach Verlauf einiger Wochen brachte mein Hans die Freudenpost: „es wären zwei Eier im Neste.“ Auch die Verbannte schien sich in das Unvermeidliche gefunden zu haben; auch sie trug fleißig zu Neste und hatte, wie der Schaffer berichtete, still und eingezogen mit ihrem Manne gelebt. – „Die Sache ist ausgestanden,“ dachten alle Betheiligten, nur die Hauptperson nicht. Sie, die in ihren heiligsten Gefühlen Beleidigte, erschien plötzlich auf dem Hauptgute und schlüpfte, nachdem sie das Terrain recognoscirt, durch ein ihr nur zu wohl bekanntes Hinterpförtchen in den Taubenschlag. Hier erhob sich nun zum Schrecken aller Zuschauer ein gewaltiger Tumult. Brütende Mütter flogen, ihrer natürlichen Pflichten vergessend, geängstigt ins Freie; dennoch hörte man drinnen heftigen Flügelschlag und zorniges Gegurre. Da taumelte, arg zerzaust, mit Blutspuren auf dem weißen Gefieder, auch die Pfauentaube heraus, verweilte unschlüssig auf dem Rande des Flugbretes und hob sich dann schwerfällig auf das vorspringende Dach ihres Hauses, von wo sie mit vorgebeugtem Halse das Innere ihrer Wohnung zu durchspähen suchte. Endlich schoß, wie ein Pfeil, der feindliche Eindringling aus dem Schlage, hob sich, ohne einen Augenblick zu verweilen, hoch in die Luft und verschwand den Blicken der bestürzt dastehenden Knaben. Jetzt erst kamen diese auf den Gedanken, eine Leiter zu holen, um den Schauplatz „gräßlicher Thaten“ näher zu untersuchen. Die Wirklichkeit blieb denn auch hinter dem Entsetzlichsten, was eine Kinderphantasie auszuhecken vermag, nicht zurück. Das liebe Nest des edlen Paares war völlig zerstört, die Schalen der gänzlich zerhackten Eier lagen stückweise auf dem Boden des Schlages, die beraubte Mutter flatterte hülf- und rathlos umher, ohne das stille Plätzchen ihres Glückes wiederzufinden. Doch kein zweites Nest war verletzt worden. Das empörte Rechtsgefühl der Kinder verlangte, zur Beruhigung der schmerzlich aufgeregten Gemüther, eine eclatante Genugthuung, und in einem Familienrathe beschlossen wir (natürlich ohne des eignen Unrechts, durch das wir fremdes hervorgerufen, zu gedenken) den Tod der Mörderin. Allein auch bei uns hing man dazumal keinen Verbrecher, bevor man ihn hatte. Die Schuldbeladene kehrte, wie von einer bösen Ahnung getrieben, nicht in ihr Exil zurück. Vergebens harrte ihrer der verlassene Gatte, der „auf Mord sinnende“ Schaffer.

Sie mußte in einem fremden Taubenschlage Unterkommen gefunden haben. – Das tiefgekränkte Pfauentaubenpaar brütete in diesem Jahre nicht wieder. Als aber im folgenden Sommer in einem neuen, schöneren Neste glücklich zwei junge hoffnungsvolle Pfauentauben sich zeigten, dachte Niemand an die Verschollene mehr. Vielleicht hatte sie uns nur sicher machen wollen, vielleicht gedachte sie einer noch raffinirteren Rache zu genießen; genug, es wiederholte sich die Scene vom vorigen Jahre. Die unschuldigen Jungen wurden von ihrer unversöhnlichen Feindin auf's Grausamste umgebracht. Erst im dritten Jahre gelang es mir, die um das Gehöft herumlungernde Verbrecherin zu schießen. Jetzt konnte unser kinderloses Ehepaar endlich seine Sprößlinge, unbehelligt von fremden Eindringlingen, groß ziehen.

H.




Kleiner Briefkasten.


Wilhelm Bauer und das deutsche Taucherwerk betr. Noch vor der Veröffentlichung des Comité-Anfrufs für W. Bauer, also auf die einfache Bitte der Gartenlaube, sind ferner bei der Redaction für den Erfinder und sein Werk bis zum 14. März eingegangen: aus Hannover 3 Thlr., von Scholtz in Schleswig 1 Thlr., aus Burgstädt 1 Thlr., durch Oek.-B. Keil in Leisendorf 1 Thlr., durch R. Dr. Saalborn in Pritzwalk 23 Sgr., durch J. W. Weißenborn in Langensalza 2 Thlr., aus Segeberg 1 Thlr, aus Betsche 1 Thlr, aus Dresden 2 Thlr., von 29 Lesern der Gartenl. in Asch 14 Thlr. 25 Sgr., durch R. und P. Amtm. Ringl in Lieberose 4 Thlr., durch F. W. Winkler in Soden 5 fl. 12 kr., durch P. Völckers in Eutin 4 Thlr. 20 Sgr., aus Ronsdorf 1 Thlr., von 4 Lesern der Gartenl. zu Aistershaim in Oberösterreich 1 Thlr. 6 Sgr., B., B. und H. in Berlin 15 Sgr., von 7 Lesern der Gartenl. in Raunhof 1 Thlr., aus Herlasgrün 3 Thlr., aus Langensalza von E. D. 1 Thlr., von R. M–g in Taucha 1 Thlr., aus Walddorf bei Eibau 1 Thlr., durch O. Bertram in Kassel 1 Thlr., durch Boyes und Geisler in Hamburg 3 Thlr., durch I. Müller in Diez a. d. Lahn 1 Thlr., von dem Thiergartenpersonal zu Moritzburg 21 Sgr., von Kr. M., K. Chol. n. C. – 21 Sgr, von A. S. aus Kassel 3 Thlr., W. St., W. B., A. R. 3 Thlr., aus Schönheide 4 Thlr. 10 Sgr., von I. Müller „G. f. d. W.“ 1 Thlr., Zwei Abonnenten und ein Mitleser der Gartenl. 1 Thlr., aus S. bei B. 1 Thlr., von einigen Leserinnen der Gartenl. in Ostheim vor der Rhön 3 Thlr., von A. Hennicke in Zobten 4 Thlr. 15 Sgr., aus Bochum 3 Sgr, durch F. W. Reuß in Oberursel bei Frankf. a. M. 2 fl. an Briefmarken = 1 Thlr. 2 Sgr., durch die Ernesti’sche Buchhandlung in Chemnitz 1 Thlr., von Rechtsanwalt v. W. in Schlawe 5 Thlr., von mehreren Kattowitzern 1 Thlr., aus Berlin 1 Thlr., durch S. Plaut in Bodenteich 2 Thlr. 13 Sgr., durch Lehrer Barthelmes in Völkersleier 2 fl. rhn., durch D. Wurlitzer und Kaufm. Schael in Gottesberg 5 Thlr. 15 Sgr., von Frau S. St., geb. H., in Dover (Delaware, Nordamerika) ein Wechsel für W. Bauer auf 25 fl. rhn.

Alle Geldsendungen sind frankirt zur Post zu geben.

Auf die verschiedenen Anfragen nach der Weiterbeförderung etwaiger Sammlungen durch die Sortimentsbuchhandlungen des Ortes kann ich nur bitten, Rücksprache mit den betreffenden Chefs der Buchhandlungen zu nehmen. Ich bin von der Freundlichkeit der Herren überzeugt, daß sie keine abschlägige Antwort geben.

E. Keil.

Lehrer G. B. in Mallmitz. Ihr „junger Garibaldianer“ ist noch kein Gegenstand für die Gartenlaube. Nicht was Einer in der Jugend verspricht, interessirt jetzt das deutsche Volk, sondern was er im Alter hält.

A. P. in Mgdbg. Ihr großes Trinklied beginnt mit einem so ungeheuerlich kecken und originellen Schwung, daß es im Fortgang nicht höher hinaufkann; so kommt es, daß es sich gesungen jedenfalls besser ausnimmt, als es sich gedruckt ausnehmen würde.

W. H. in Düsseldorf. König Leopold und Victor Hugo haben der Todesstrafe des Gesetzes gegenüber, durch That und Lied etwas Gutes vollbracht; Gleiches ist nicht von Ihrer Uebersetzung des betreffenden Gedichts zu sagen.

F. S. Nr. 74, poste restante Vallendar bei Coblenz. Nicht verwendbar. Wir bitten, über Ihr Manuscript zu verfügen, da die Post ohne vollständige Adresse des Empfängers Poste-restante-Sendungen nicht befördert.

I. M. in Itzehoe. Gedichte; dankend beseitigt. – Ihre Bemerkung für Herr Wilhelm Bauer werden wir demselben mittheilen.



Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das erste Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Außer den trefflichen Beiträgen eines Bock, Carl Vogt, Schulze-Delitzsch, B. Auerbach, Beta, Ad. Stahr, Max Ring, L. Storch, Fr. Oetker, Temme, G. Hammer, Mor. Hartmann, H. Schmid, Lev. Schücking, Otto Ruppius, Otto Müller, Ed. Hoefer etc. etc. kommen im nächsten Quartal zum Abdruck:

Schlaf und Traum, von Hofrath Schleiden in Jena – Ein Künstlerdenkmal, von Lobe - Bairische Jäger und Wildschützen – Großfürst Constantin und sein Einzug in Jerusalem, von Hofrath Tischendorf Lichtblicke aus Tyrol – Ein hessischer Märtyrer – Die deutschen Spielhöllen – Bilder aus der Reise des Herzogs Ernst von Coburg-Gotha nach Afrika. Mit besonderer Genehmigung des Herzogs, von Dr. Alfred Brehm. Mit Abbildungen – Das Haberfeldtreiben etc. etc.

Leipzig, im März 1862.

Ernst Keil.

  1. Es würde ihm dies sehr schwer gefallen sein, der größte Theil der Einnahme befand sich bereits auf dem Wege nach Wien.