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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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Quelle: commons
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[177]

Der schwarzweiße Storch.

Ein Bild von der Grenze.
Von J. D. H. Temme.
(Fortsetzung.)

„Ich liebe den Punsch etwas stark,“ sagte ich zu dem Assessor.

„Ich auch,“ erwiderte er.

„Er wollte mir nicht nachstehen. Er goß noch eine halbe Flasche Rum hinzu. „So! darf ich bitten zu versuchen?“

Ich versuchte. „Es geht so eben an.“

Er goß auch die zweite Hälfte der Flasche hinzu. „Jetzt?“ sagte er.

Ich versuchte noch einmal. „Ausgezeichnet!“ sagte ich.

Das Herz lachte mir im Leibe. Wer zwei Gläser von dem Punsche getrunken hatte, schickte in den ersten Stunden zu keinem Schulzen mehr, und es ließ sich noch etwas Anderes mit ihm machen. Ein dunkler, unbestimmter Plan wollte sich immer wieder in mir hinaufarbeiten. Wir wollten beginnen zu trinken. Mein Kutscher erschien in der Thür, mit einem Wink, der mich hinausrief.

„Ah, Herr Regierungsassessor, darf ich bitten, mich auf ein paar Minuten zu entschuldigen?“

„Ergebenster Diener.“

„Aber vergessen Sie unterdeß das Trinken nicht.“

Ich ging zu dem Kutscher hinaus. Im Gehen hatte ich dem Dolmetscher einen Wink gegeben. Er folgte mir.

„Herr Secretair, um Gotteswillen, kein Wort zu jenem von den Verfolgten, den Verfolgern, dem befürchteten Ueberfalle.“

„Er soll keine Sylbe erfahren.“

Der Dolmetscher kehrte in die Krugstube zurück.

„Was giebt es?“ fragte ich den Kutscher.

„Der Pole ist soeben mit einem fremden Manne zurückgekommen.“

„Wo sind sie?“

„Sie sind nach oben gegangen.“

„Gut.“

Ich ging rasch wieder nach oben. Oben im Gange noch traf ich zwei Männer. Der eine war der Diener der kranken Dame. Der Andere war eine große, hohe, selbst in der groben Bauernkleidung, die er trug, stolze Gestalt. Stolz, aber auch tief leidend war das blasse, aristokratische Gesicht. Er konnte dreißig Jahre zählen. Es mußte der Gatte der Kranken sein.

„Mein Herr,“ redete ich ihn in französischer Sprache an, „Sie sind der Graf Tomborski?“

Er zuckte einen Augenblick zusammen. Dann fuhr seine Hand nach seiner Brust. Er mußte da einen Dolch oder ein Pistol haben, nach dem er greifen wollte.

„Mein Herr,“ fuhr ich ruhig fort. „Sie dürfen mir vertrauen. Fragen Sie Ihren Diener hier, oder Ihre Frau Gemahlin in dem Zimmer da.“

Er sah mich überrascht näher an. Er ließ die Hand sinken. Er wechselte einige polnische Worte mit dem Diener.

„Ja, mein Herr, ich bin der Graf Tomborski,“ sagte er dann, und nur Schmerz und Leiden herrschten in dem blassen Gesichte des armen Verfolgten vor.

„Und wie Sie mir vertrauen können,“ sagte ich, „auch ohne daß Sie mich näher kennen, das mag Ihnen Folgendes beweisen. Sie waren in der Gefahr, hier von der Polizei verhaftet zu werden. Diese Gefahr habe ich für den Augenblick beseitigt; eine andere abzuwenden, steht aber, wie ich fürchte, nicht in meiner Macht. Es ist ein etwaiger bewaffneter russischer Ueberfall hier in der heutigen Nacht, um Sie und Ihre Familie mit Gewalt nach Polen zurückzuschleppen.“

Er hatte mich anfangs mit Ruhe angehört. Meine letzten Worte trieben ihm den Rest des Blutes aus dem abgehärmten Gesichte.

„Der Ueberfall,“ fuhr ich fort, „ist noch nicht gewiß; ich habe nur Anzeichen für ihn. Desto gewisser ist leider, daß mir kein Mittel hier zu Gebote steht, ihm zu begegnen.“

„O,“ sagte er, „ich zweifle auch an dem Ueberfall nicht. Warum mußte ich auch so nahe an der Grenze die Zusammenkunft mit meiner armen Frau bestimmen? Aber ich konnte nicht anders. Und nun liegt sie krank, im Fieber. Ich kann nicht mit ihr entfliehen.“

„Aber ohne sie, mein Herr?“

Ich wagte nur es leise zu fragen. Er sah mich dennoch beinahe wieder mißtrauisch an: er erhob sich stolz.

„Ohne meine Frau, mein Herr? Meine Frau im Stiche lassen?“

„Sie hat nichts verbrochen.“

„Ich desto mehr, und sie ist meine Frau.“

Mehr sagte er nicht. Es war genug.

„Vielleicht,“ fuhr ich fort, „hat Ihre Frau Gemahlin sich etwas erholt. Mein Wagen steht Ihnen alsdann zu Diensten.“

Er dachte einen Augenblick nach. „Wenn sie Ruhe gefunden hat,“ sagte er dann, „auch innere, so dürfte sie nach der Mittheilung meines Dieners über ihren Zustand in der That sich erholt haben. Darf ich Sie bitten, eine Minute auf mich zu warten? Ich werde sie sprechen.“

[178] Er ging in die Stube der Kranken und kehrte nach kurzer Zeit tief bekümmert zurück.

„Es ist nicht möglich. Sie kann, sie darf nicht fort. Wir müssen uns in unser Schicksal ergeben. Könnten Sie vielleicht mein Kind –? Nein, nein, wie könnte ich das Kind von der Mutter trennen! Und doch! Auch das arme Kind in die ewige Gefangenschaft! O, was beginnen? – Bleiben Sie noch hier in der Nähe, mein Herr! Sie können doch noch vielleicht unser Schutzengel werden.“

„Ich bleibe hier,“ sagte ich. „Und was in meinen Kräften steht, darauf können Sie rechnen. Ich werde für Sie wachen. Wir sehen uns, wenn Gefahr droht, wieder.“

Er schied mit einem bittenden und dankenden Händedruck, zu seiner Frau zurückkehrend. Ich begab mich wieder in die Krugstube, und als ich in sie hineintrat und sah, was sich während meiner Abwesenheit darin begeben hatte, stand plötzlich ein Plan, der bisher in meinem Innern, trotz alles Grübelns, sich nicht hatte gestalten wollen, wie ein klares, lebendiges Bild vor mir, und zu allem dem Weh, das ich gehört und gesehen hatte, wollte auf einmal eine fast tolle Lust in mein Herz hineintreten.

Ich war länger als ein paar Minuten fortgewesen. Der lange Assessor hatte die Zeit benutzt; nicht er allein. Ein leeres Punschglas stand vor ihm, es war kein kleines; daß es voll gewesen und er es ganz ausgeleert hatte, zeigte mir sein Gesicht deutlich. Die grauen Falten darin waren violett geworden, und die kleinen grauen Augen leuchteten zärtlich, nicht etwa nach dem leeren Glase. Die große, hübsche Harfenistin saß neben ihm, ein halb leeres Punschglas stand vor ihr, ihre Finger rauschten einen munteren Marsch durch die Saiten ihrer Harfe; ihre Augen erwiderten die zärtlichen Blicke des Assessors. Das sah ich bei meinem Eintreten. Mein alter, kluger Dolmetscher hatte sich mit seinem Punschglase an einen Seitentisch zurückgezogen.

„Ah, Herr Director,“ rief der Assessor mir entgegen, „es ist Zeit, daß Sie kommen, der Punsch wäre sonst kalt geworden. Sie nehmen es mir doch nicht übel, daß ich ohne Sie angefangen habe? Ich war so verzweifelt durchfroren, und er ist ausgezeichnet, ich versichere Sie.“

„Daran zweifle ich keinen Augenblick,“ versicherte ich ihm, „und um es Ihnen durch die That zu beweisen –“

Er hatte mir schon ein Glas eingeschenkt und dann das seinige wieder gefüllt.

„Stoßen wir an, Herr Assessor, auf den baldigen Regierungsrath. Noch in diesem Jahre.“

„Ah, ah! Ich hoffe es.“

Die Hoffnung brachte ihn auf einmal auf andere Gedanken.

„Sie genehmigen doch, daß ich auch Ihrem Herrn Secretair eingeschenkt habe?“

„Warum hätten Sie nicht sollen?“

„Ein Subalternbeamter!“ sagte er, die Schultern in die Höhe ziehend.

Der Punsch hatte schon angefangen seine innere Natur hervorzuziehen. Er mußte schon mächtig in ihm wirken.

„Und auch dieser Dame,“ fuhr er fort, „habe ich ein Glas angeboten. Sie bat, mich mit ihrer Harfe unterhalten zu dürfen. Da war denn eine Freundlichkeit der anderen werth. Und zudem, die Schönheit macht Alles gleich. Nicht wahr, mein schönes Kind? Nun, trinken Sie einmal; geniren Sie sich nicht in unserer Gegenwart.“

Die große Person genirte sich wahrhaftig nicht. Sie that einen tüchtigen Zug aus ihrem Glase und sie sah nur um so frischer darnach aus.

„Der Assessor wird eher fertig als die,“ riefen mir die klugen Augen des alten Dolmelschers von seinem Seitentische zu.

Den Assessor aber schienen die frischen, vollen Lippen, die so behaglich den süßen Trank schlürften, mit neuer Zärtlichkeit erfüllt zu haben.

„Ah, ah, meine Schöne, lassen Sie einmal die Finger ruhen und erzählen Sie mir. Wir haben noch gar nicht mit einander gesprochen. Woher kommen Sie denn?“

„Ich bin aus Königsberg.“

„Und wie heißen Sie?“

„Laura Lautenschlag.“

„Ei, ei, ein formidabel passender Name für Sie. Und wohin wollen Sie, schöne Laura Lautenschlag?“

„Nach Rußland.“

„Um dort die Harfe zu spielen?“

„Jawohl.“

„Aber haben Sie auch einen Paß?“

„Ich habe meine preußische Concession.“

„Aber die gilt nur für Preußen. Und damit wollen Sie über die Grenze kommen?“

„Ich gehe nach Georgenburg; ich kenne die russischen Herren Officiere da.“

„Ah, dann freilich. Sonst hätte ich Ihnen meinen Schutz angeboten. Ich fahre morgen hinüber, und wenn Sie noch wollen –“

„Sie sind sehr gütig, gnädiger Herr,“ sagte Laura Lautenschlag, auf das Anerbieten eingehend.

Das, und vielleicht auch der „gnädige Herr“ entzückten den Assessor.

„Ah, stoßen wir an, mein schönes Kind. Auf eine gute Reise!“

Der Punsch konnte aus dem Innern des Assessors viel an das Tageslicht heraufholen. Er stieß mit der Person an. Dann fragte er sie: „Sie können doch auch singen, schöne Laura?“

„O, gewiß, gnädiger Herr.“

„So singen Sie einmal. Aber ein recht zärtliches Lied.“

Sie sang, und sie sang mit einer hellen, klaren Stimme nicht übel. Der Assessor hörte ihr mit neuem steigendem Entzücken zu. Aber mein Plan wollte, daß ich ihm näher kam, und zwar recht bald. Es war schon nahe an zehn Uhr, und um Mitternacht war der Ueberfall der Russen, wenn er kommen sollte, zu erwarten.

„Sie wollen also ebenfalls morgen über die Grenze?“ fragte ich ihn.

„Allerdings. In jener Angelegenheit. Ah, parbleu, wir wollten ja über den Schulzen sprechen.“

„Es hat noch Zeit. Er schläft doch schon. Waren Sie schon öfter drüben?“

„Noch nie.“

„Sie haben doch einen Paß?“

„Ich bedarf keines Passes.“

„Ei, ei! Die Russen sind eigne Leute. Kennen Sie die Geschichte des Regimentsarztes aus Tilsit?“

„Nein.“

Ich erzählte ihm die damals vielbesprochene Affaire eines preußischen Arztes, der, ohne sich mit einem Paß versehen zu haben, einen russischen Kranken in der Nähe von Georgenburg besuchte, dort als Ueberläufer angesehen, als solcher fortgeschleppt und nur durch die zufällige Dazwischenkunft des russischen Generalconsuls v. Adelson aus Königsberg gerettet wurde.

„Hm, hm,“ sagte der Assessor etwas bedenklich, als ich meine Erzählung geendigt hatte. Ich mußte ihn wieder in anderer Weise fassen.

„Indessen Sie, Herr Regierungsassessor, werden um so weniger eines Passes bedürfen, da Sie den Russen ja andere Leute zuführen, die nach dem innern des Landes geführt werden sollen.“

„Freilich, freilich.“

„Sie sprechen doch russisch?“

„Nein.“

„Auch nicht polnisch?“

„Ebenfalls nicht. Man hat keine Zeit, alle diese barbarischen Sprachen zu erlernen.“

„Es ist wahr. Aber sie können einem zu Zeiten aus der Noth helfen.“

Er war nachdenklich geworden. Großen Muth schien er nicht zu haben. Menschen, denen der Muth fehlt, greifen um so lieber nach äußeren Mitteln, sich ihn zu verschaffen oder zu ersetzen.

„Stoßen wir auf gute Geschäfte für morgen an,“ forderte ich ihn auf.

Er leerte hastig sein Glas. Die Falten seines Gesichts, die schon wieder grau geworden waren, fingen von neuem an, sich violett zu färben.

„Der Punsch ist wirklich ausgezeichnet,“ sagte ich. „Darf ich bitten, mir noch ein Glas einzuschenken?“

Er schenkte mir ein.

„Ich freue mich, daß Sie ihn gut finden.“

„Ich bedarf zudem seiner. Das Schicksal der armen Leute geht mir durch den Kopf und ich muß trinken, um mir die Sache von dem Herzen abzuwehren. – Aber Sie vergessen sich selbst doch nicht?“

[179] Er füllte auch sein Glas wieder.

„O, keineswegs. Aber darf ich fragen, von welchen Leuten Sie redeten?“

„Von dem armen Grafen Tomborski.“

„Ah, er ist ein Hochverräther.“

„Aber er soll mit Frau und Kind in die Gefangenschaft.“

„Haben sie nicht ihr Schicksal verdient?“

„Auch die Frau?“

„Warum sagte sie sich von dem Hochverräther seines Vaterlandes nicht los?“

„Aber das unschuldige, anderthalbjährige Kind denn?“

„Es ist ein Unglück für das Kind. Aber können alle Menschen nur glücklich sein?“

Ich konnte doch kaum meine äußerliche Kälte und Ruhe bewahren. Ich mußte es, wenn ich helfen sollte.

„Es ist bei alledem hart, denn es ist eine so hohe, angesehene Familie. Die beiden Gatten müssen sich innig lieben, da die Frau nicht fliehen, sich nicht retten wollte, um den verwundeten Mann zu pflegen, und der Mann wollte sich nicht befreien, um die kranke Frau nicht zu verlassen. So brachte Eins dem Andern das edelste, das erhabenste Opfer der treuesten Gattenliebe. Und dafür die ewige Nacht des Kerkers!“

Er war wieder etwas unruhig geworden.

„Sie vergessen doch das Trinken nicht, Herr Assessor?“

Er trank hastiger.

„Sie sind nachdenklich geworden, verehrter Herr! Ah bah! Wir Juristen haben ein Sprüchwort: „Fiat justitia et pereat mundus!“ Für die Polizei gilt es noch mehr. Und Sie werden einen hübschen russischen Orden erhalten. Den Wladimir! Was meinen Sie dazu? Stoßen wir auf ihn an.“

Er trank sein Glas aus.

„Und auf ihn muß nothwendig ein preußischer Orden folgen. Der rothe Adler! Stoßen wir auch auf ihn an. Aber füllen Sie vorher Ihr Glas! Ganz, bis an den Rand! Bei dem rothen Adler darf es nicht anders sein. Und bis auf die Neige muß ausgetrunken werden. Es wäre anders unpatriotisch.“

Er schenkte voll ein und trank ganz leer. Ein guter Patriot war er. Und – auch der Patriotismus berauscht ja. Die Falten in seinem Gesichte begannen zu glühen, seine Augen verschwammen, und aus seinem Innern kam Alles an das Tageslicht herauf, was darin noch verborgen gewesen und wer weiß seit wie vielen Jahren nicht zum Vorschein gekommen war.

„Ein Orden! Ja, ja! Vielleicht zwei! Und he, Sie schöne Laura Lautenschlag, geben Sie Ihr Singen auf und rücken Sie näher. Sie müssen auch anstoßen.“

Laura Lautenschlag ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie stieß mit an und trank aus. „Also wir reisen morgen zusammen, gnädiger Herr?“

„Versteht sich. In meinem Wagen, unter meinem Schutze.“

„Lassen Sie uns auf die Reise noch einmal anstoßen.“

„Ei ja, das wollen wir, Sie – Du Wetterhexe mit den großen, schwarzen Augen.“

Sie stießen noch einmal an und tranken noch einmal aus. Dann war es Zeit, hohe Zeit für ihn.

„Verehrter Herr Regierungsassessor,“ sagte ich zu ihm, „wollen Sie nicht jetzt zu dem Schulzen schicken?“

Er lachte, oder vielmehr er lallte ein Lachen.

„Was kümmern mich alle Schulzen der Welt! Unterbediente, Kroppzeug!“

„Sie haben Recht. Es ist auch sehr spät, und ich denke, wir gehen zu Bett.“

„Ja, ja, da bin ich mit dabei.“

Die aufregende Macht des heißen und hitzigen Getränkes hatte schon angefangen, der einschläfernden zu weichen. Auf einmal fuhr er auf.

„Verdammt, hätte ich beinahe etwas vergessen! Ich habe noch eine Bitte an Sie, Herr Director.“

„Sie haben über mich zu befehlen.“

„Der Krüger hat nur drei Kammern im Hause. Alle drei waren bei meiner Ankunft schon besetzt, und er sagte mir, ich müsse hier in der Krugstube auf der Streu schlafen, wenn Sie nicht die Güte haben wollten, mir zu Hülfe zu kommen. Dürfte ich Sie bitten, mir die Kammer Ihres Protokollführers zu überlassen?“

Mir bebte das Herz vor Freude. Er war mir entgegengekommen.

„Ei, mein Herr Assessor, Sie sollen meine Kammer haben.“

„O, ich bitte –“

„Keinen Widerspruch. Das versteht sich von selbst. Ein Mann von Ihrer Distinction–!“

„Ich danke Ihnen. Ich werde mich dessen erinnern.“

Er blähete sich zum letzten Male auf. Ich gab dem Dolmetscher einen Wink.

„Herr Secretair, wären Sie so gütig, dem Herrn Regierungsassessor das Zimmer zu zeigen, und meine Sachen in das Ihrige bringen zu lassen?“

Der alte Dolmetscher nahm den jungen Herrn, der nicht gut mehr gehen konnte, unter den Arm und führte ihn zu der Krugstube hinaus. Ich wandte mich dann an die Harfenspielerin.

„Sie werden auch müde sein, meine Schöne.“

Sie war noch aufgeräumt.

„O, um Mitternacht fängt mein Leben an.“

„Ich glaube es Ihnen. Aber ich möchte gern Ruhe haben.“

„Ich werde Sie ja da oben nicht stören.“

„Aber hier unten.“

„Wie?“

„Ich bin galant und trete Ihnen mein zweites Zimmer da oben ab. Ich und mein Secretair werden hier unten bleiben.“

„Ist das Ihr Ernst?“

„Mein voller Ernst.“

„Sie sind wirklich galant. Und da will ich auch sofort –“

Sie war schon aufgestanden und nahm ihre Harfe, ihren großen Shawl und ihr kleines Bündel und wollte gehen. Der Dolmetscher kehrte zurück.

„Lieber Secretair, dieser Dame überlassen Sie wohl Ihr Zimmer? Unsere Sachen werden dann hierher geschafft.“

„Sehr wohl, Herr Director.“

Der kluge Mann hatte mich verstanden, ohne daß er wußte, warum. Vielleicht hatte er es doch errathen. Die Schöne entfernte sich mit ihm. Ich athmete freier auf, denn ich hatte halb gewonnen Spiel. Da mußte ich auch die andere Hälfte gewinnen.

Der Dolmetscher kehrte zum zweiten Male lachend zurück.

„Erzählen Sie, Herr Secretair.“

„Den Herrn Assessor mußte ich in sein Zimmer forttragen. Ach, Freundchen, sagte er dann, ziehen Sie mir die Stiefeln aus. Ich kann es nicht mehr. Der verdammte Punsch! - Ich zog ihm die Stiefeln aus. Mit dem Anderen werde ich schon selbst fertig werden, sagte er dann. Aber er konnte es nicht; er taumelte mit den vollen Kleidern in das Bett. Und wie er lag, schlief er schon. Ich deckte ihn zu.“

„Und die Harfenistin?“

„Sie that sehr ängstlich. Sie werde hier oben doch wohl sicher sein? fragte sie mich. Wie in Abraham’s Schooß, antwortete ich ihr. Alles schläft schon, wie ein Ratz. Da ging sie in ihr Zimmer. Sie war auch wohl selbst müde.“

Mir wurde immer leichter um das Herz.

„Und nun rufen Sie mir den Krüger her,“ sagte ich zu dem Dolmetscher.

„Darf ich wissen, was Sie vorhaben?“ fragte er doch.

Ich theilte ihm mit, was ich erfahren, was ich errathen, was ich vorhatte. Er ging den Krüger zu holen. Er hatte den Menschen unten und oben im Hause umherschleichen sehen. Es war elf Uhr. Eine halbe, höchstens eine Stunde konnte ich noch Zeit haben. Aber zunächst mußte ich Gewißheit erlangen. Nur der Krugwirth konnte sie mir geben. Mit ihm hatte ich dann noch weit mehr zu sprechen. Er kam herein, keck, ängstlich und falsch, wie das böse Gewissen.

„Der Herr Director wünschten mich zu sprechen?“

„Mein Secretair und ich werden hier unten schlafen; wir haben unsere Zimmer oben vergeben.“

„Ich habe es bemerkt. Aber warum?“

„Warum, mein lieber Krüger? Blos um Ihretwillen.“

Ich sah ihn fest und scharf an. Er konnte mich nicht ansehen. Und doch konnte er unmöglich wissen, was ich meinte. Er sagte auch: „Mir wäre es lieber gewesen, wenn der Herr Director oben geblieben wäre.“

„Es käme darauf an. Aber beantworten Sie mir ein paar Fragen. Weiß der Assessor von der polnischen Familie, die da oben bei Ihnen logirt?“

Er stellte sich verwundert.

[180] „Es sind arme Leute; was sollte der Herr Assessor mit ihnen zu thun haben?“

„Also er weiß nichts von ihnen?“

„Ich kann es nicht sagen.“

„Aber weiß er vielleicht von dem, was heute Nacht hier geschehen wird?“

„Hier? Heute Nacht?“

„Hier bei Ihnen.“

„Ich weiß selbst von nichts.“

„Gut. Aber vielleicht haben Sie wohl einmal in Ihrer Jugend, in der Schule, von Leuten erzählen hören, die in die Sclaverei verkauft wurden, an die Türken, nach Fez, Marrokko, Algier?“

„In der Schule haben wir davon gehört.“

„In späteren Jahren auch wohl von den Seelenverkäufern, besonders in Holland, auch wohl in den angrenzenden deutschen Ländern?“

„In den Zeitungen wurde oft davon geredet.“

„Wurde auch von der Bestrafung solcher Seelenverkäufer geredet?“

„Ich weiß das nicht mehr.“

„So weiß ich es noch. Diejenigen, die Leute in die türkische Gefangenschaft verriethen, wurden geköpft, manchmal auch gerädert, und die Seelenverkäufer hing man an den höchsten Galgen, den man eben hatte. Denn nach den Gesetzen war und ist noch das Eine wie das Andere ein mit dem Tode zu bestrafendes Verbrechen, das Menschenraub genannt wird.“

Er war unruhig geworden. Seine Augen gingen am Boden hin und her. Ich fuhr ruhig, wie ich bisher gesprochen hatte, fort:

„Wie würden Sie es nennen, wenn Jemand Deutsche oder Polen an die Russen verkauft?“

„Ich weiß es nicht,“ sagte er mit ungewisser Stimme.

„Würden Sie einen Unterschied zwischen einem solchen Burschen und jenen Sclaven- und Seelenverkäufern finden?“

Er hatte keine Antwort.

„Wer Jemanden an die Russen verkauft, der ist ebenso schlimm als ein Sclaven- und Seelenverkäufer, der Verkaufte mag ein Russe oder ein Pole oder ein Preuße oder sonst wer sein. Er ist immer ein Mensch, und wenn er hier in Preußen ist, so steht er unter dem Schutze der preußischen Gesetze, und nur nach diesen kann über ihn verfahren werden, und über diese haben nur die Behörden zu bestimmen.“

Der Schweiß lief ihm von der Stirn. Antworten konnte er wieder nicht. Er stand wie das entlarvte böse Gewissen vor mir. Ich mußte rasch mit ihm fertig sein, denn ich sah es ihm an, daß er alle Kraft verloren hatte, sich ferner zu wehren.

„Sie wissen doch, daß ich Criminaldirector bin?“

„Gewiß.“

„Und auch wie das Criminalgericht mit schweren Verbrechern zu verfahren hat? “

Er konnte nicht antworten.

„Nur offene Wahrheit rettet Sie. Antworten Sie mir aus meine Fragen. Es ist der von den Russen verfolgte Graf Tomborski, der oben bei Ihnen logirt?“

„Ja,“ sagte er leise.

„Die Russen wollen ihn heute Nacht hier von Ihnen abholen?“

„Ja.“

„Der Assessor aus Gumbinnen weiß, daß der Graf hier ist?“

„Ich habe es ihm gesagt.“

„Die Russen wollen ihn dennoch heute Nacht holen?“

„Es war schon bestimmt, ehe der Assessor kam.“

„Der Assessor weiß davon?“

„Kein Wort.“

„Um welche Zeit werden die Russen kommen?“

„Sie wollten um Mitternacht hier sein.“

„Wie viel Mann?“

„Kosaken und Straßniks. Wie viele, weiß ich nicht.“

„Mit oder ohne Lärm?“

„Sie pflegen ganz in der Stille zu kommen.“

„Kennt man den Verfolgten von Person?“

„Nur nach dem Signalement.“

„Was soll nun werden, wenn sie kommen?“

„Ich weiß es nicht.“

Er wußte es in der That nicht, denn er stand völlig vernichtet da.

„Kann die Gemeinde gegen sie aufgeboten werden?“

„Es würde kein Mensch kommen.“

„Können Sie sie zurückschicken?“

„Sie würden mich ebenfalls mitnehmen, wenn ich nur ein Wort spräche.“

„Es wäre am Ende das Beste für Sie. Denn wenn den Russen der Raub gelingt, dessen Mitanstifter Sie sind, so wäre Ihr Loos in Preußen nur das Beil des Henkers, und das Erste, was ich nach dem Abzuge der Russen von hier thäte, wäre, Sie zu verhaften und in meine Criminalgefängnisse zu schicken.“

Er war in unbeschreibliche Angst gerathen.

„Helfen Sie mir, retten Sie mich, Herr Criminaldirector. Um meiner armen Frau und Kinder willen.“

„Sie wenigstens verdienten es nicht. Sie wissen also kein Mittel?“

„Gar keins.“

„So thun Sie Alles, was ich Ihnen befehlen werde.“

„Befehlen Sie, Herr Criminaldirector.“

„Aber auf das Pünktlichste. Und sollten Sie mit einer Sylbe, einem Blicke, einer Bewegung den Verräther spielen wollen, Sie wären unrettbar verloren.“

„Ich werde Alles thun, was Sie von mir wollen.“

„Zunächst noch einige Fragen. Was haben Sie mit den Russen verabredet?“

„Sie werden um Mitternacht kommen, still das Haus besetzen und eindringen.“

„Die Hausthür wird offen stehen?“

„So sollte sie.“

„Sollen Sie sich zeigen?“

„Nein, kein Mensch aus dem Hause.“

„Wo sollen die Russen die Verfolgten finden?“

„Oben in der Kammer.“

„Haben Sie ihnen die Kammer bezeichnet?“

„Die zweite rechts am Gange.“

„Das ist schlimm. Aber wir müssen auf Glück rechnen. Zeigen Sie mir Ihre Räume hier unten, und dann machen Sie für mich und meinen Secretair hier in der Krugstube die Lager zurecht.“

Ich besah die unteren Räume des Hauses. Gleich hinter der Krugstube lag eine geräumige Stube, die zur Wohn- und zugleich Schlafstube für die Familie des Krügers diente. Es stand ein großes Himmelbett darin. Unmittelbar daran stieß eine kleinere Kammer, welche das Schlafgemach der älteren Kinder des Krügers war. Hinter ihr lag eine zweite Kammer, in der die Haushaltungsvorräthe, sofern sie nicht im Keller waren, verwahrt wurden. Die Krugstube lag gleich rechts an dem kleinen Flur, in den man durch die Hausthür eintrat. Zu Ende des Flurs war die Treppe, die nach oben führte. Ich erstieg sie, und sie brachte mich in einen kleinen, schmalen Gang. An diesem befanden sich drei Thüren, zwei rechts, die dritte links, ihnen gegenüber. In der zweiten Stube rechts war es still; der Graf Tomborski mit seiner Frau und seinem Kinde war darin.

Ein entsetzlich lautes Schnarchen drang durch die Thür links hervor. Die Stube war für mich bestimmt gewesen. Der Assessor Häring schlief darin. Er schlief sicher und fest, denn er schlief den Schlaf des Rausches. Den Schlaf des Gerechten? mußte ich mich fragen, während ich vor seiner Thür stehen blieb und mit Genugthuung den furchtbaren Schnarchtönen lauschte. Warum hatte er mir verschwiegen, daß er die armen Verfolgten schon hier in seiner Gewalt wußte? War es nicht auch das böse Gewissen? Eine Züchtigung hat er jedenfalls verdient. Aber jene da? mußte ich mich dann fragen, indem ich mich nach der ersten Thür rechts in dem Gange zurückwandte.

Die große, hübsche Königsberger Harfenistin Laura Lautenschlag schlief dort. Ich hörte auch ihr Schnarchen, es war nur leiser. Auch sie? Indeß, sie wollte ja über die Grenze, und sie wird ihren Vertrag schon mit den Dragonerofficieren in Georgenburg machen. – Also frisch vorwärts.

(Schluß folgt.)
[181]

Zur Wurzenhütte am Spitzingsee.

Am Wallberge – Die Heimath der Schnaderhüpfel – Ein Irrsinniger – Von zwei Gemsjägern – Die Ameiser und ihr Geschäft.

In der Morgensonne glühen die Gipfel der oberbaierischen Gebirge, an deren Fuße noch im Schatten versenkt und thaubeträuft das Thal des Rottachflüßchens sich hinzieht. Hinter dem mehr als 6000 Fuß hohen Rißerkogl an der Grenze Tyrols entspringend eilt die Rottach durch wilde Gräben und Schluchten, öfter über hohe Felsenmassen in majestätischem Falle hinabstürzend, dem breiten Thale zu, welches zwischen dem 6000 Fuß hohen Wallberg und der ebenso hohen zweisitzigen Bodenspitze, an den wald-, wiesen- und quellenreichen fünfthalbtausend Fuß hohen Baumgartrücken im West gelehnt, mit dem Thale der reißenden Weißach beim Dörfchen Egern am Ufer des Tegernsee’s sich vereinigt.

Hinten, wo das Thal im Südost zu einem Kessel zusammenläuft, aus welchem ein halsbrecherisches Sträßchen zur Kaiserklause (Falepp) und in’s Tyrol knapp zwischen den Bergen hindurchführt, liegt, fast den Fuß des Peißenberges (dessen Gipfel die Bodenspitze heißt) berührend, ein Bauernhof, genannt der Enterrottacher, in glücklicher Einsamkeit. Dieser Hof ist im echten Gebirgsstyl erbaut; Wohnhaus, Stallung und Stadel unter einem vorspringenden mit Steinen beschwerten Schindeldache, darinnen eine sehr große, zum Theil als Wohnstube benützte Küche mit dem patriarchalischen Heerde, um das Haus ein reicher Obstgarten, vor demselben ein niedliches Blumengärtchen und der Rollbrunnen mit dem tadellosen Quellwasser. Die von Honig duftenden Wiesen sind von herrlichen Ahornen, Linden und Buchen umgeben oder eingerahmt von dichtem Haselgebüsche. Im schattigen Obstgarten sind Tische und Bänke in dem Grasboden befestigt; denn nicht selten kommen hierher Städter, Leute aus allen Nationen der Welt, welche am Tegernsee oder in Kreuth Sommer und Herbst verleben, um den majestätischen Rottachfall zu beschauen, sich von dem Waldeshauch erquicken, von den reinen Berglüften stärken zu lassen. Dabei bietet die freundliche Bäuerin, was Küche und Vorrathskammer enthalten.

In dem oberbaierischen Gebirgshofe

Vom Fuße des Wallberges, bekannt wegen seiner in großer Menge und seltener Größe und Farbenpracht dort blühenden Rhododendras und Alpenröslein, tönt das Rauschen der Rottach herüber durch die grüne Au; jenes Berges zerklüftete Wände starren zum Thale herab. Von dort herunter schimmert das schönste Grün, das üppigste Gras, die heilsamsten Kräuter wachsen zwischen den Spalten der Felsen, die Zwergföhre mit ihren breiten Aesten und den langen dichten Nadeln überdeckt große Strecken, wie von Thränen übergossen glänzen die Wände und glitzert das Gestein im Sonnenlichte. Aus zahllosen Adern träufeln die Wasser der Felsen zu den Gräben und Schluchten hinab, an welche ein Bergforst stößt mit seinen himmelanragenden Tannen und Fichten.

Selten wagt es ein kühner Kräutersammler, in dies Labyrinth zu klettern, wo die Gemse ihr Lager auf weichem Moose und in der bergenden Kluft hat, wo der Adler kreist und horstet in behaglicher Sicherheit. Wird der Hirsch in den tiefer gelegenen Forsten gejagt oder durch einen Schuß erschreckt, dann klettert auch er vorsichtig zum schützenden Gestein empor und verbirgt sich tagelang, die Aeßung zwischen den Felsenritzen mit Lebensgefahr suchend und die Tropfen Wassers vom Gesteine leckend.

Auch der Spielhahn streicht manchmal von Fels zu Fels, besonders zur Balzzeit. Aber der Jäger schießt ihn da nicht; was nützte es ihm auch, es zu thun? Der Schuß kracht, vom tödtenden Blei getroffen läßt das Thier die Schwingen sinken und stürzt tief hinab in eine Ritze, oder in eine Schlucht, wo es nimmer zu finden.

Nicht eben die hohe Lage macht jene Wallbergwände so unzugänglich, denn sie sind höchstens 2000 Fuß über der Thalsohle, sondern [182] ihre eigene Zerrissenheit. Ober ihnen aber in der schwindligen Höhe ist wieder die schönste freie Alpenweide und sind Almen, und muntere Dirnen zwischen den weidenden Kühen und Ziegen lassen ihren Juchheruf und ihr Gejodel ertönen, um das Echo wach zu rufen, das in wunderbarer Kraft den ihm zugerufenen Ton wohl zwölfmal wiedergiebt und ihn zuletzt zu den entferntesten Schluchten und Wänden fortträgt.

Hier im baierischen Gebirg ist, wie im Ziller-, Unterinn- und Pusterthale, die Heimath der durch ganz Deutschland verbreiteten Schnaderhüpfel oder Schnaderhaggen, jener meist vierzeiligen Strophen, in welchen die Volkspoesie das Suchen und Finden, das Meiden und Leiden der Liebe in den mannigfachsten Wendungen bald in neckischer und satirisch spottender, bald in tiefempfundener Weise darstellt, und die durchschnittlich mit einem fröhlichen, himmelaufjubelnden Jodler oder einem plötzlichen grellen Aufjauchzen endigen. Oft sehr zart, oft jedoch auch sehr unzart, aber stets treffend und witzig lassen sie sich zu Hunderten und Tausenden zählen, während ihre weichen, in getragenen Tönen sich fortbewegenden Melodien kaum nach Dutzenden gerechnet werden können. Sie entstehen im Volke und Niemand kennt die Dichter, während ihre Gesänge von Mund zu Mund, von Thal zu Thal weitergetragen werden, wie einst die Gesänge Homers. Da klingt es wohl von den Bergen herab:

A Büchsel zum Schießen
Un an Stoßring zun Schlag’n
Un a Diendl zun Liebn
Muß a frischa Bue hab’n!

Oder in tiefelegischer Weise singt ein frischer, fröhlicher Gesell:

Schön blau ist der See
Und’s Herz thut mir weh,
Und wird nimmermehr g’sund,
Bis mein Diendl nit kumm’t.

Und Diendl, was thätst Du,
Wenn treffet’ mi’s Loos?
Du müßtest halt wandern
Auf’s Sterzinger Moos.[1]

Und wenn i amal g’storb’n bin,
Brauch i Weichbrunn koan’n;
Mein Grabl wird naß
Von mein Diendl sein Woan’n

Wie oft habe ich so gesehen in der einfachen Hütte, wo am hölzernen Tische die kräftigen Gestalten der Aelpler sitzen, wie sie uns hier die kunstgeübte Hand des Malers im Bilde dargestellt hat. Der kundige Spielmann unterhält die Gäste mit einem lustigen Liedchen, das er mit der beliebten Cither begleitet, während der eine der Genossen nach dem Takte der Musik die Füße hebt und im engen Gemach zu tanzen versucht. Das Maidele schenkt die Krüge voll, und bald steckt die freudige Lust auch die übrigen Anwesenden an. Oder der Aelteste und Erfahrenste erzählt eine abenteuerliche Geschichte aus seinem Jäger- und Wanderleben, durchwebt mit Spuk- und Geistermähren, und erntet dann den wohlverdienten Dank seiner Zuhörerschaft, die noch immer, wie alle Gebirgsbewohner, an Kobolde und Nixen, an Berggeister und fliegende Drachen, an Alraunen und Galgenmännchen glauben.

Ich bin mit einem Jäger, der zu den unermüdetsten Kletterern zählte, wiederholt hieher nach dem Wallberg gekommen und habe den alten Burschen kennen zu lernen genug Gelegenheit gehabt. In dem Wallberggewände hat sich einmal ein Mann versteckt gehalten, den der Irrsinn aus der Nähe der Menschen gebannt hat. Er war der Sohn eines wohlhabenden Bauers, und leider als Knabe schon in stetem widerspenstigem Streite gegen den Vater. Es war oft zu heftigen Scenen gekommen. Eines Tages waren Beide beim nahen Ziegelofen mit Ziegelbrennen beschäftigt, man hörte sie wieder einmal heftig streiten, dann war es plötzlich ruhig geworden. Der Bube kam gegen das Haus gelaufen und erzählte in großer Verwirruug, der Vater sei an der weiten Oeffnung des glühenden Ofens ausgerutscht und in der Gluth zu Grunde gegangen. Man hatte sich darüber allerlei Bedenkliches gesagt, aber die Sache beruhen lassen. Aus dem Buben wurde ein Mann; sein liebster Aufenthalt war in den Klüften des Gebirges, um der flinken Gemse und dem schlauen Murmentl (Murmelthier) nachzupirschen. Dort strich er, ein Jäger aus Liebhaberei, Tage und Wochen lange allein umher, wie Ahasverus nirgends Ruhe findend. Oefter wollte man Spuren von Irrsinn an ihm bemerken. Da kam einst die Nachricht, daß nach einem Vatermörder, der sich ins Gebirge geflüchtet, große Streife gehalten werden müsse: kaum hörte der Mann hiervon, als er unter den Anzeichen der höchsten Bestürzung in der mangelhaftesten Bekleidung sein Haus schnellstens verließ und unter dem Ausrufe: „Sie kriegen mich nicht! Es steigt mir Keiner nach!“ ins Gebirge entfloh. Von dem bekümmerten Eheweibe wurden viele Männer aufgeboten, den Entflohenen aufzusuchen.

Vergeblich durchstreifte man die Berge, als es einem verwegenen Wildschützen, welcher mit dem Flüchtigen in früheren Jahren öfters auf die Gemspirsche in die Wallbergwände gestiegen war, endlich beifiel, er könne sich etwa in jenen fast unzugänglichen Steinrevieren versteckt halten. Durch das Versprechen einer glänzenden Belohnung aufgemuntert, ließ der Wilderer sich bereit finden zu einem Versuch, jene Wände mit ihren Schluchten und Höhlen zu durchforschen; richtig gelang es ihm auch, den Gesuchten zu entdecken, dessen Kleider in Fetzen gerissen und dessen Füße blutrünstig waren. Trotzdem ergriff der Irre die Flucht und setzte in haarsträubender Hast von Klippe zu Klippe, ohne die freundlichen Zurufe des Suchenden zu beachten. Also aus den Wänden verscheucht, lief er den außerhalb harrenden Streifmännern gerade in die Hände. Von diesen gefangen genommen, begehrte er, ehe es zur Hinrichtung käme, einen Priester, um sein Gewissen vor ihm auszuschütten. Gegen alle Zureden, daß man ihn nicht hinrichten wolle, blieb er taub und starb als ein Opfer der Angst und Verzweiflung.

Vor nicht sehr langer Zeit besuchten zwei Gemsjäger jene Wände, und nach unsäglichen Mühseligkeiten war es ihnen auch gelungen, ein Gratthier zu erlegen, es der Tiefe, in die das erschossene Wild gerollt war, glücklich zu entreißen, und zu Thal zu steigen. Dort, wo die Rottach den berühmten Wasserfall am Fuß des Wallberges bildet, eine halbe Stunde vom Enterrottacher Hofe entfernt, fallen die Wände in das Flußbett jenes Gewässers herab. In dem Labyrinth derselben verbargen die Wildschützen ihre Büchsen und sich selbst bis zum Anbruch der Nacht, um hierauf mit der im Rucksacke untergebrachten Beute das Thal und den Heimweg zu gewinnen. Zur selben Zeit aber ging drunten eine baierische Grenzjägerstreifwache vorbei, und diese hörte das Herabkollern des Steingerölls und endlich das Geflüster der Wilderer, welche sich in vollkommener Sicherheit wähnten. Die drei Grenzjäger trafen rasch Vorbereitungen, um die vermeintlichen Schmuggler zu fangen; von der Finsterniß begünstigt vertheilten sie sich unbemerkt am Ufer. Die Wildschützen langten am Rottachufer an, durchwateten den Fluß und stiegen am rechten Felsenufer zum Sträßchen hinan. Nun erscholl vor und hinter ihnen drohender Haltruf; die Wilderer wähnten, den Förster und seine Gehülfen gegen sich zu haben, warfen die Jagdbeute weg und sprangen zurück in das Flußbett, um in dem jenseitigen Gewände sich zu bergen. Die Grenzjäger verfolgten sie durch das Flüßchen, aber die Wilderer waren flinker und hatten einen Vorsprung gewonnen. Somit sandten ihnen die Ersteren mehrere Schüsse aus ihren Karabinern nach. Die Kugeln schlugen an die Felsen nächst den Fliehenden, daß die Splitter wegflogen und der Donner schrecklich durch die Schluchten tönte. Dann aber war Alles ruhig wie zuvor, und endlich scholl von hoch oben her das Hohnlachen der Entronnenen. An einem der nächsten Tage aber kam zum Bader von Brandenberg in Tyrol ein Bursche aus Baiern, um sich einen Steinsplitter, der schmerzhaft in der rechten Wange saß, aufschneiden zu lassen. Der Verwundete war längst im Verdachte als Wilderer, und über die Ursache der Verwundung konnte er sich nicht recht ausweisen. Die Grenzer waren aber nicht wenig überrascht, als sie, den weggeworfenen Sack untersuchend, statt der Seiden- oder sonstigen Schmuggelwaren eine Gemse fanden.

Außer den Gemsjägern sind es dann noch einige sogenannte „Ameiser“, d. h. Sammler von Ameiseneiern (Puppen-, frische, mit dem Gebirge und dem Nomadenleben in demselben wohl vertraute Männer, welche an diesen Wänden und unter den Latschen herumklettern, um Ameisenhäuser zu suchen, welche dort bis sechs Fuß hoch und vier bis fünf Fuß im Durchmesser gefunden werden. Es ist interessant, die Ameiser bei ihrem Geschäfte zu sehen. Kaum ist ein Haus gefunden, so reißt es Einer mittels einer Schaufel rasch auf, die Ameise aber stürzt sich schnell auf eine Puppe, um sie zu verbergen, und nach wenigen Minuten wäre der ganze Puppenstock von den zahllosen Arbeitsameisen verschleppt, wenn nicht eiligst zugegriffen würde. Ein Ameiser öffnet nun einen weiten, langen dichten Zwillichsack, und ein Anderer faßt [183] mit den bloßen, aber ziemlich rauhen und mit Oel eingeriebenen Händen Ameisen und Puppen haufenweise und wirft sie in den Sack; in manchem Ameisenhause sind 20 bis 40,000 Puppen. Von Klippe zu Klippe, von Schlucht zu Schlucht sucht nun der Ameiser, den festverbundenen Sack auf dem Rücken, andere Beute. Die Ameisen, rothe und schwarze, große und kleine, sammt den Puppen, kommen alle in den nämlichen Sack, bis er voll ist, worauf er irgendwo an geschütztem Orte untergebracht wird, bis die Ameiser nach 6-8 Tagen zu Thal steigen. Keine der emsigen Gefangenen vermag zu entrinnen, so sehr sie sich auch innerhalb der Umhüllung um die Freiheit abmühen; die rothe Ameise ist die heftigste und greift, nachdem sie die Unmöglichkeit der Flucht bemerkt, die sanfteren und schwächeren Schwestern an und tödtet sie mit ihren scharfen Zangen. Die Rothen sind durchweg schärfer als alle Anderen, und sie machen sich aus dem Schwestermorde nichts.

Haben die Ameiser einige Säcke voll gemischter Beute, so ziehen sie mit denselben zu Thal, um die Ameisen an abgelegenen waldigen Orten „auslaufen“ zu lassen, d. h. die Puppen und den Weihrauch von den bisherigen Besitzerinnen zu reinigen. Das Standquartier haben in dieser Gegend die Ameiser beim Euterrottacher Hofe. Im Schatten der Bäume, an den Säumen des Bergforstes strecken sie die müden Glieder, diese Ruhezeit zugleich zum „Auslaufenlassen“ benützend.

Dies geschieht nur bei hellem Sonnenscheine. Ein sehr langes und breites weißes Tuch wird auf der Erde ausgebreitet, dessen Ränder werden umgeschlagen, und innerhalb den eingebogenen Tuchränder legen sie frisches Laub in der Runde herum. Der Sack wird geöffnet und der Inhalt desselben in die Mitte des Tuchs geschüttet. Nun sollten Sie sehen, an welches Rennen es geht! Alle sind gierig, in’s Grüne zu entkommen, und rennen den Rändern des Tuches zu; aber ebenso schleunig kehren sie alle wieder um, der Instinct, die junge Brut zu retten, treibt sie zum Haufen zurück. Jede ergreift nun eine Puppe, jede diejenige, die ihr zunächst liegt; die große Ameise birgt die Puppe der kleinen und trägt sie eiligen Laufs unter das Laub, und die kleine zerrt und quält sich ab, um die Puppe der großen Schwester zu retten. Die rothe Ameise ist fast die emsigste und ohne Zaudern rettet sie nicht nur die Puppen der eigenen Art, sondern auch gleich eilfertig jene der schwarzen Schwester, welche sie während der Gefangenschaft im Sacke so grimmig angegriffen und verfolgt oder getödtet hat.

Der Ameiser aber sitzt, sein Pfeifchen schmauchend, in einiger Entfernung und füllt von den Häufchen, welche die Ameisen aufgeschichtet haben, einen Becher nach dem andern mit den weißen Puppen, sodaß er an günstigen Tagen dreißig und vierzig Maß Puppen gewinnt, welche er an die Besitzer von Singvögeln in den größern Städten verkauft. Ist endlich keine Puppe mehr auf dem Tuche, so laufen die Ameisen über dasselbe hinaus in’s Freie, wo sie sich, nachdem die erste Verwirrung vorüber, bald in Familien sammeln, von den Fichten-, Tannen-, Föhren-, Lärchen- und Wachholder-Nadeln neue Haufen errichten und nach ein paar Jahren dem Ameiser in der bequemeren Lage am Fuße der Berge neue Beute liefern. Bei Sichtung des auf dem Tuche liegenden Materials ergiebt sich dann noch eine Menge wohlriechenden starkduftenden Harzes, das als gemeiner Weihrauch ebenfalls verwerthet werden kann. Es möchte Jedem, der Brustleiden hat, anzurathen sein, nach Enterrottach zu gehen und zugegen zu sein, wenn die Ameiser die vollen Säcke ausschütten und „auslaufen“ lassen. Ein kräfter Harzduft dringt in alle Adern und erfüllt die Atmosphäre ringsum. Wessen Brust dies nicht stärkt, der hat für seine Brust wohl nichts mehr zu hoffen.

(Schluß folgt.)


Friedrich Christoph Dahlmann.

Von Heinrich v. Treitschke.
(Schluß.)


… Und dieser Mann voll Rechtsgefühles, voll wissenschaftlicher Ruhe und maßvoller Pietät vor dem Gegebenen sollte jetzt als ein Staatsverbrecher schmachvoll des Landes verwiesen werden! Schon als im Sommer 1837 die Kunde kam von dem Tode des guten Königs Wilhelms IV. von England-Hannover, ahnte Dahlmann, seines Bleibens sei nicht lange mehr in Göttingen, wo er politischen Einfluß, wissenschaftlichen Ruhmes die Fülle und Beweise der Liebe und Verehrung von allen Seiten gefunden hatte. Am 1. November hob der neue König Ernst August die zu Recht bestehende Verfassung eigenmächtig auf, welche Dahlmann nach Bürgerpflicht ehrte, als sein Werk liebte. Die Beamten entband der König ihres nicht ihm geleisteten, Verfassungseides. Während ein dumpfes Murren durch das Land ging und mancher Beamte sich jenes trostlosen Wortes getröstete: „ich unterschreibe Alles, Hunde sind wir ja doch,“ gingen die Göttinger Gelehrten mit einander zu Rathe, und am 18. November unterzeichneten Sieben von ihnen eine von Dahlmann entworfene Vorstellung an das Universitätscuratorium, worin sie erklärten, daß sie sich auch jetzt noch durch ihren Verfassungseid gebunden hielten. Es war kein politischer Act; denn die „bösen Sieben“ waren keineswegs sämmtlich Parteigenossen, und nur Dahlmann, Albrecht und Gervinus wurden durch ihre Wissenschaft auf Staatsfragen hingeführt, während die beiden Grimm, Ewald und Wilh. Weber in ihrer gelehrten Thätigkeit mit dem Staate Nichts zu thun hatten. Es war eine „Protestation des Gewissens,“ eine That der Bürgertugend, die einzig mögliche Antwort ehrlicher Männer auf die Zumuthung den Eid zu brechen. Aber dahin war es mit unserem Vaterlande gekommen, daß die schlichte Rechtschaffenheit, welche im bürgerlichen Verkehr Jedermann bei uns erwartet und ausübt, im öffentlichen Leben als waghalsige Kühnheit, als Staatsverbrechen erschien. Auch heute, wo dem Beispiele Hannovers so viele deutsche Landesherren gefolgt und von dem Rechtsboden in den meisten Einzelstaaten nur wenig karge Reste noch übrig sind auch heute soll unser Volk es den Sieben nicht vergessen, daß sie damals durch eine mannhafte That den Bann der Trägheit brachen, der auf unserem Lande lastete. Unsere Gelehrten insbesondere sollen wieder und wieder die goldenen Worte durchdenken, womit Dahlmann und seine Genossen damals die Aufgabe des deutschen Gelehrten bezeichneten: „Das ganze Gelingen unserer Wirksamkeit beruht nicht sicherer auf dem wissenschaftlichen Werthe unserer Lehren, als auf unserer persönlichen Unbescholtenheit. Sobald wir vor der studirenden Jugend als Männer erscheinen, die mit ihren Eiden ein leichtfertiges Spiel treiben, ebenso bald ist der Segen unserer Wirksamkeit dahin. Und was würde Sr. Maj. dem Könige der Eid unserer Treue und Huldigung bedeuten, wenn er von Solchen ausginge, die eben erst ihre eidliche Versicherung freventlich verletzt haben?“ Hatte man am Hofe zu Hannover es kaum der Mühe werth gehalten, nach einem Rechtsvorwande für den Staatsstreich zu suchen, so war man jetzt auch sofort entschlossen, das aufsässige „Federvieh“ zu beseitigen. Nach wenigen Wochen wurden die Sieben abgesetzt, ohne daß man auch nur jene wahrlich sehr bequemen Formen achtete, welche der Bundestag für die Entfernung „staatsgefährlicher“ Professoren vorgeschrieben. Dahlmann ward mit Jakob Grimm und Gervinus sogar aus dem Lande getrieben, weil die Drei ihren Protest brieflich an Verwandte mitgetheilt hatten. Wohl mochte dem großen Wiedererwecker alldeutscher Dichtung das Wort aus den Nibelungen in der Seele klingen: „war sint die eide kommen?“ als eine Schaar Kürassiere die Zierden der Göttinger Hochschule über die Landesgrenze brachte und drüben auf hessischem Boden der in Schaaren vorausgeeilte Göttinger Bursch die geliebten Lehrer zum letzten Male mit einem Hoch empfing.

Dahlmann, den seine Schüler damals als den „Mann des Wortes und der That“ begrüßten, ging nach Leipzig, um eine Stätte zu finden, wo er nicht nöthig hätte, „die Lehre des Meineids in seine Vorträge über Staat und Versassung aufzunehmen“. Die That der Sieben wirkte nach. Zu deutlich hatte sich offenbart, daß ein Kleinstaat heutzutage nicht mehr fähig ist, Charaktere zu ertragen. Und als der Bundestag zusah, ruhig zusah, wie eine Landesverfassung vor seinen Augen „wie ein Spielzeug“ zerbrochen

[184] ward, da schwand auch dem Gutmüthigsten der Glaube, daß unsrem Volke vom Bunde jemals Heil kommen könne. In diesen Tagen ist der Bundestag sittlich zu Grunde gegangen.

Aber die Gegner waren rührig. Der Minister v. Rochow belehrte die Elbinger Bürger, welche ihrem Landsmann Albrecht eine Adresse gesendet, daß es dem Unterthanen nicht zieme, „die Handlungen des Staatsoberhauptes an den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen.“ Und die amtlichen Blätter ergingen sich in solchen Verleumdungen über die Sieben, daß Dahlmann, seiner Bescheidenheit zum Trotz, sich entschließen mußte, zum ersten Male in eigner Sache öffentlich zu reden. Er erzählte den Hergang in der classischen Schrift: „Zur Verständigung“. Freilich, das Buch mußte in Basel erscheinen. Wie es in Deutschland stand mit der Freiheit der Meinung, darüber sprach Dahlmann sich aus in der Vorrede, welche er der juristischen Vertheidigungsschrift seines Genossen Albrecht voranschickte. Die Güte eines Freundes des Verstorbenen hat mir das Blatt verschafft, und ich lese in den schönen gleichmäßigen Schriftzügen: „So lange es bei uns nicht in politischen Dingen, wie seit dem Religionsfrieden Gottlob in den kirchlichen, ein lebendiges Nebeneinander der Glaubensbekenntnisse giebt, (so lange, die das beste Gewissen haben könnten, sich gebehrden, als ob sie das schlechteste hätten, so lange der feigherzigste Vorwand genügt, um nur Alles abzuweisen, was an dem trägen Polster der Ruhe rütteln könnte,) ebenso lange giebt es keinen Boden in Deutschland, auf dem Einer aufrecht stehend die reifen Früchte politischer Bildung pflücken könnte.“ Daß die hervorgehobenen Worte nicht gedruckt wurden, dafür sorgte der Rothstift der Leipziger Censur. Denn sie enthielten einen deutlichen Hinweis auf die sächsischen Minister, welche zwar wohlmeinend genug waren, den Verwiesenen im Lande zu dulden, aber den Muth nicht fanden, für die gute Sache offen aufzutreten. So fand Dahlmann in Leipzig zwar edle Gastfreundschaft und werkthätige Hülfe von Vielen, denen es eine Lust war, ihm die Verbannung zu erleichtern, aber die an der Hochschule angekündigte Vorlesung durfte nicht stattfinden.

Bald ging er nach Jena; und wie schon in Göttingen die „Quellenkunde der deutschen Geschichte“ Zeugniß gegeben von dem rüstigen Fortgange seiner historischen Studien, so schrieb er jetzt in den Tagen der Muße seine erste größere Geschichtserzählung, die „Geschichte Dänemarks“. Ein gelehrtes Werk - denn „nach langer Arbeit unter Bausteinen wird man nicht alle Erde vom Kleide los, die Noten-Noth schleppt Einem wie die Erbsünde nach“ - aber auch ein schönes Lesebuch: denn Dahlmann verstand die damals bei uns noch sehr seltene Kunst, den rein-menschlichen Gehalt der Geschichte lebendig zum Leser reden zu lassen. Schilderungen wie jene des freien Bauernstaates der Ditmarschen oder die Charakteristik des grausamen Königs Christiern II. vergißt Keiner wieder.

Erst nach der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm’s IV. kamen den Sieben bessere Zeiten. Und es waren frohe Tage für Dahlmann, als ein ehrenvoller Ruf ihn nach Bonn führte und dort die Arndt und Böcking und Simrock und ein freudiges Willkommen der Studentenschaft ihn aufnahmen. Gar bald schmeichelte sich ihm der Zauber des rheinischen Gebens in’s Herz, dem kein Deutscher widersteht. Scheinen doch in diesem preußischen Rheinlande alle Gegensätze des deutschen Lebens, der ganze überschwängliche Reichthum unseres Volksthums auf kleinem Raume vereinigt; man sieht da einen Mikrokosmos von Deutschland. Der deutsche Großstaat mit seiner straffen Ordnung, seiner protestantischen Wissenschaft inmitten der katholischen Welt; die trauliche Enge des nordischen Familienlebens neben der ungebundenen Heiterkeit, der schönen Sinnlichkeit süddeutscher Art; und unter den geborstenen Trümmern der Ritterburgen ein ganz bürgerliches, demokratisches Geschlecht, das die trennenden Schranken mittelalterlicher Standesbegriffe schier völlig übersprungen hat und mit der rastlosen Thätigkeit moderner Menschen auf seiner Welthandelsstraße sich tummelt.

Diese ersten Bonner Jahre waren die heitersten in Dahlmann’s Leben, die Zeit, da sein Name in Aller Munde war. Damals entstanden aus seinen Vorlesungen seine beiden bekanntesten Geschichtswerke, die Geschichte der englischen und der französischen Revolution. Es war nicht die Absicht, die Resultate umfassender Quellenforschungen zu geben; aber wirken sollten die Bücher, die Mitlebenden belehren und warnen durch das treue und lebendige Bild verwandter gährender Zeiten. „Wer auf diesem Pfade sich irgendwie entzieht, nach Art der Buhlerinnen halb zeigt und halb verbirgt, da aufhört, wo er anfangen sollte, Ereignisse häuft, wo es sich darum handelt, die herbe Frucht der Selbsterkenntniß zu pflücken, der mag bequem sich im Vaterlande betten und überall, wo es hoch hergeht hochwillkommen sein; allein ein echter Jünger der Geschichte, ein Mann der Wahrheit, ein Freund Deutschlands ist er nicht.“ Der Zweck ward erreicht: kaum irgend ein anderes Buch hat in den Jahren, welche der Revolution unmittelbar vorangingen, den Gebildeten die Nothwendigkeit constitutioneller Einrichtungen für Deutschland so eindringlich gepredigt. Haben wir auch inzwischen gelernt, über Cromwell und die Helden des englischen Freistaats gerechter zu urtheilen, so hat doch das Ganze der Darstellung noch nichts an seiner ergreifenden Kraft verloren. Und an der Schilderung Mirabeau’s mag man erkennen, wie frei und unbefangen Dahlmann bei aller sittlicher Strenge in die Welt blickte. Der Mann, welcher zu lässig und kühn war, um die Ehre seines Privatlebens zu achten, aber in den Kämpfen seines Volks groß und hochsinnig voranstand – er findet gerechte und warme Würdigung bei dem deutschen Gelehrten, der eine gleiche Sonderung des privaten und des öffentlichen Lebens an sich selber nie ertragen hätte. Man klagt oft über die gedrängte Kürze von Dahlmann’s Styl. Aber ist es denn ein gutes Zeichen, daß unsere durch das rasche Zeitungslesen verderbten Leser nach jener englischen Breite verlangen, welche der gedankenreichen deutschen Natur nimmer zusagen wird? Freuen wir uns vielmehr, daß unsere Sprache noch nicht so abgeglättet ist wie die französische, daß sie reich und lebendig genug ist, um einen individuellen Styl zu dulden. Und individuell, ein Bild des Mannes selber ist Dahlmann’s Styl. Es war ihm unmöglich, seine Gedanken anders als nach reiflichem Erwägen zu Papier zu bringen. So wird ihn Jeder verstehen, der noch frisch genug empfindet, um ein mit ganzer Seele geschriebenes Buch auch mit ganzer Seele zu lesen. Ist sein Ausdruck dann und wann geschraubt, so ist er noch häufiger markig, energisch, bezeichnend; und auch schön kann er sein, wenn plötzlich aus der ruhigen Erzählung das übervolle Herz oder die gute Laune hervorbricht, wenn Dahlmann die großen Tage der Elisabeth schildert oder mit seinem Lächeln den gelehrten Narren Jakob I. uns vorführt.

Die Schriften über zwei fremde Revolutionen waren Sturmvögel der deutschen Revolution. Furchtbar rächte sich jene alte Unterlassungssünde, woran Dahlmann so oft warnend erinnert; durch einen mißlungenen Straßenkampf wurde Preußen ein constitutioneller Staat. Das deutsche Parlament trat zusammen, und hannoverische, schleswig-holsteinsche, preußische Wahlkreise wetteiferten um die Ehre Dahlmann, „den radicalen Unitarier, den entschlossenen Einheitsmann“, in die Paulskirche zu senden. Hatte Dahlmann schon zu Göttingen erklärt, die Souverainetät der Einzelstaaten sei mit dem Wesen eines Staatenbundes unvereinbar, so sah er jetzt den Augenblick gekommen, eine monarchische Gewalt über Deutschlands Fürsten zu gründen. Er war nie ein blinder Bewunderer Preußens gewesen: – noch bei seiner Bonner Antrittsvorlesung schien es ihm nöthig, sich gegen den Vorwurf, er hasse Preußen, zu rechtfertigen. Aber sein klares Auge erkannte die Nothwendigkeit, die Reichsgewalt an die Krone Preußen zu übertragen. Der sogenannte Siebzehner-Entwurf, wesentlich das Werk von Dahlmann und Albrecht, sprach diesen Gedanken aus, dessen Ausbau und Weiterbildung noch heute die Aufgabe unsrer nationalen Politik bleibt. Dahlmann scheiterte mit seinen Genossen an dem unlösbaren Widerspruche, daß eine Versammlung ohne Macht über die Macht in Deutschland verfügen sollte, daß ein Parlament ohne Einfluß auf Preußen die Krone Preußen seinen Zwecken dienstbar machen sollte, und daß neben diesem Reichstage ein Reichsverweser stand, der in sich nur den österreichischen Unterthan sah und trotz aller biederen Reden niemals andere als Habsburgische Zwecke verfolgte. Dahlmann am wenigsten war geneigt, die mangelnde legitime Macht des Parlaments durch die Kraft der Massen zu ersetzen. Der gehaltene Ernst seiner Rede war wenig geeignet für das dramatische Leben der Debatte. Ihm fehlte zum praktischen Staatsmanne der starke persönliche Ehrgeiz, die rasche Beweglichkeit und jene rücksichtslose Kühnheit, welche in den Personen nur Mittel zum Zwecke sieht. Das deutsche Parlament verlief sich im Sande, und Dahlmann erfuhr das tragische Geschick, daß manche seiner besten Tugenden in diesen Tagen wildester Bewegung ihm ein Hemmniß wurden. Aber es ist ein Unrecht, ihm zur Last zu legen, was die idealistische Unklarheit der Zeit verschuldete, [185] und unverantwortlich ist es, ihn, den Bescheidensten der Menschen, als das Prototyp jener selbstgefälligen Gelehrten zu bezeichnen, welche sich so gern die Eigentlichen, die Edlen, die besten Männer nannten.

Als nun der Bundestag wieder auferstand von den Todten und unsere Flotte unter den Hammer brachte, als Dahlmann sein liebes Schleswig-Holsten verrathen und die besten Früchte der deutschen Bewegung im Brühl’schen Palaste zu Dresden als schätzbares Material vermodern sah, da verzweifelte er an der Lebenskraft und Lebenswürdigkeit der Kleinstaaten. „Sollte diese große Bewegung an dem Uebermuthe der Könige von Napoleons Gnaden scheitern und das Heil unseres Volks sich noch einmal zur Nebensache verflüchtigen, so hemmt, wenn es abermals fluthet, kein Damm die wilden Gewässer mehr, und der Wanderer wird die Reste der alten deutschen Monarchie in den Grabgewölben ihrer Dynastieen aufsuchen müssen.“ Um so fester hielt er bis zum Tode den Glauben an den Beruf des deutschen Großstaates. „Uns thut ein Herrscherhaus noth, welches gänzlich sich unserem Deutschland widmet. An den Hohenzollern Preußens können wir ein solches Herrscherhaus nicht nur haben, sondern mit dem schlechtesten und dem besten Willen kann es kein Sterblicher dahin bringen, daß wir es nicht an ihm haben. Es ist für Deutschland gar keine Zukunft möglich ohne Preußen.“

Zu retten, was zu retten war, ging er nach Berlin und stritt in der ersten Kammer für den Ausbau der Verfassung, für das volle Steuerbewilligungsrecht des Unterhauses und für das Fernhalten des Junkerthums aus dem Oberhause. –

Das jüngste Jahrzehnt verbrachte er wieder in Bonn. Der Staat des Herrn von Manteuffel bot seinem öffentlichen Wirken keine Stätte. Noch immer las er vor vollen Bänken in dem großen Saale Nr. XI., der die Ausschau bietet über die Baumgänge des Hofgartens hinweg nach den Gipfeln des Siebengebirges und vor Zeiten wiederhallte von dem festlichen Lärme des geistlichen Hofes von Köln. Ungebeugt, das Haar noch dunkel, die ernsten, ja grimmigen Züge fast bewegungslos, bis dann und wann ein leichtes Heben der Hand, ein Blitzen des Auges die innere Erregung bekundete – so stand er vor uns. Kein falsches Pathos, keine jener kleinen Künste, welche den Hörer mehr reizen als fesseln. Eine ruhige, gleichmäßige Rede, langsam, doch sicher ergreifend durch den Reichthum der Gedanken und die Plastik der Schilderung, nicht mit Stoff überladen, aber ein festes Gefüge der entscheidenden Thatsachen und Gesichtspunkte, das häuslicher Fleiß des Hörers leicht ausfüllen mochte. Und was mehr ist, in jedem Worte Muth und Kraft und Geistesklarheit. Mit bewußter Absicht führte er seine Geschichtsvorträge gern bis in die neueste Zeit herab, um die Jugend zu lehren die Wahrheit zu ertragen. Gar Manchem seiner Schüler wird es noch heute im Herzen nachklingen, wie Dahlmann – im Winter 1852, in den wildesten Tagen der Reaction – seine deutsche Geschichte mir der Schilderung der Dresdner Conferenzen schloß: „Seitdem sind alle Hoffnungen auf eine Einigung Deutschlands gescheitert, und wie der Rechtszustand darniederliegt, davon geben Kurhessen und Schleswig-Holstein ein Zeugniß. Doch genug, übergenug, ich schließe.“ Der regsamere Theil der Studentenschaft brachte ihm noch die alte Liebe entgegen: unsere Burschenschaft ist nie rheinaufwärts zum Commerse gefahren, ohne vor Dahlmann’s Hause die Fahne zu schwenken und ihm ein Hoch zu bringen. Seine letzten Jahre waren sehr trübe, verbittert durch das Elend des Vaterlandes und durch schwere persönliche Erlebnisse. Von den Wenigen, denen er das Glück seiner Freundschaft und den Einblick gönnte in sein reiches Herz, starb ein guter Theil hinweg. Auch Frau und Tochter wurden ihm entrissen; auch Otto Abel starb, der junge, vielverheißende schwäbische Historiker, der in Dahlmann’s Hause fast wie ein Sohn verkehrte; er rieb sich auf, weil sein Traum von der Kaiserherrlichkeit der Hohenzollern nimmer Wahrheit werden wollte. – Am 5. December ist Dahlmann gestorben. Er ruht auf jenem schönen Friedhofe, wo dem Römer Niebuhr sein König ein römisches Denkmal erbaute, wo neben der alten Deutschordenskapelle die Größen des neuen Bonn, die Schlegel, Bunsen, Arndt, die letzte Stätte gefunden.

Fast jeder vielgenannte Mann hat einen Doppelgänger in der öffentlichen Meinung. Unfähig, einen bedeutenden Charakter als Ganzes zu begreifen, haftet die Menge gern an einer auffälligen Aeußerlichkeit; und findet sich gar ein müßiger Kopf, jene wahre oder unwahre Eigenheit mit beißendem Witze zu verspotten, so entsteht ein Zerrbild, das kein Reden mehr aus den Köpfen der Menschen vertreibt. So ist die Meinung entstanden, Dahlmann, der poetische, gemüthvolle Mensch, sei ein trockner Doctrinär gewesen. Und noch häufiger läßt sich die Rede hören, er habe sich überlebt. Und doch sind alle jene Ziele, um welche Dahlmann’s politisches Wirken sich bewegte, für uns noch immer ein Gegenstand nicht des Genusses, sondern der Hoffnung. Er stritt für den Rechtszustand in Hannover – und er selber mußte noch erleben, wie das Spiel von 1837 in häßlicherer Form aber und abermals aufgeführt ward! Vor einem halben Jahrhundert mahnte er an Deutschlands Recht auf Schleswig – und noch heute betritt der Deutsche bei Altona die Fremde! Er stritt für das preußische Kaiserthum – und noch immer schaltet über uns der Bundestag! Aber lauter noch klingt das Lob: er war ein Mann von gutem Gewissen und voll hohen Muthes, wo es Recht und Vaterland galt, Einer der Wenigen, welche der ruhelose Muthwille und der gewaltthätige Uebermuth wirklich fürchtete. Und wehe unserem Volke, wenn wir je der Meinung würden, diese antike Lauterkeit des Charakters könne bei uns veralten!

Wer Dahlmann’s Namen nennt, soll der Worte gedenken, welche er selber einst schrieb, als er seinen rheinischen Landsleuten die traurige Mähre erzählte von dem Tote des letzten aus dem holsteinischen Grafenhause: „Wenn ich den Chor christlicher Tugenden mustere, den man jetzt häufig spazieren führt, sucht mein Blick nach einer unter ihnen, von deren ernster Schönheit, im strengen Ebenmaße der Glieder, alte verschollene vaterländische Kunden reden. Unter ihrem festen Tritte sprießen keine Blumen, aber heilende Kräuter bezeichnen ihre Bahn. Sie muß das Haus hüten, höre ich. Möge sie behüten das Haus der Deutschen, die hohe Gerechtigkeit!“



Vorlesungen über nützliche, verkannte und verleumdete Thiere.

Von Carl Vogt in Genf.
Nr. 2
Die Vögel als Wildpret – Junge Dohlen als Tauben – Der Vogel als Feld und Gartenhüter – Vogelverheerung in Italien – Die Verminderung der Vögel und die fortschreitende Cultur – Schädlichkeit des Storches.

     Meine Herren!

Fast in allen germanischen Ländern hat sich in neuerer Zeit ein wahrer Sturm im Interesse namentlich der kleinen Vögel erhoben, die man vor den Nachstellungen des Menschen schützen will. Eine Menge von Gründen sind herbeigeschleppt worden, um zu beweisen, daß man sich selber den größten Schaden anthue, wenn man Leipziger Lerchen, Schwarzwälder Krammetsvögel oder Ortolane aus der Provence mit Wohlbehagen verzehre. Die Neigung, der gefiederten Bewohner der Lüfte habhaft zu werden und sie als gutes Wildpret zu verspeisen, scheint freilich allen erdbewohnenden Menschen gemeinsam seit uralter Zeit, und es mag nur wenige Vögel geben, die theils aus Volksglauben, theils wegen des widrigen Geschmackes ihres Fleisches überall gleichmäßig geschützt sind. Die Schwalbe, welche in Deutschland und der Schweiz höchstens zu Schießübungen dient, sonst aber gehegt und gepflegt wird als gute Vorbedeuterin und Weissagerin häuslichen Glückes – die Schwalbe findet auf ihrem Wege nach dem Süden in den Umwohnern des Mittelmeeres zahllose Feinde, die mit Schlingen, Angeln und langen Ruthen ihr auflauern, wenn sie ermüdet von der langen Reise über die Bäche und Tümpel streicht, um einige Mücken im Fluge zu erhaschen. Raubvögel, Raben und Dohlen, Sturmvogel und Taucher wird in Deutschland kein Mensch unter die Zähne nehmen, und noch steht mir das lebhafte Entsetzen vor Augen, welches in meiner Vaterstadt Gießen eine fröhliche Gesellschaft erfüllte, die von einem Jagdliebhaber zur Verspeisung eines ganz ungewöhnlichen leckeren Bratens geladen worden war. Der

[186] harte Winter hatte zwei prächtige Sägetaucher nach der Lahn hin verlockt, und der Jäger war so glücklich gewesen, beide zu erlegen. Man ließ die übrigen Schüsseln fast unberührt vorüber geben, um dem Braten, der nach Aller Meinung ebenso gut sein mußte, als der Vogel schön, alle nur erdenkliche Ehre anzuthun. Aber es roch nach Thran, schmeckte nach Thran und war so unendlich zähe, daß man ebenso gut einen wohleingeschmierten Jagdschuh als Object seiner Eßlust hätte wählen können. Die Lappen und Isländer aber, welche ihre Mahlzeiten statt mit Wein mit Fischthran würzen, finden begreiflicher Weise solchen Braten durchaus lecker, und die Stipendiaten meiner Vaterstadt, welche nach der Behauptung eines der Unglücklichen eine so nahrhafte Suppe bekamen, daß es auf das Gleiche herauskam, ob sie dieselbe aßen oder während des Regens die Zunge zum Fenster hinausstreckten – diese Märtyrer eines jugendlichen Appetites letzten sich weidlich an jungen Dohlen, welche ihnen unter der schmeichelhaften Bezeichnung von jungen Tauben im Frühjahr öfter vorgesetzt wurden.[2]

Man kann sich in der That in vielen Fällen fragen, ob der Nutzen, den wir aus einem Vogel als Nahrungsmittel ziehen, den Nutzen oder Schaden aufwiegt, den er uns in wildem Zustande zufügen kann. Die Jagdliebhaber werden sich freilich segnen und bekreuzen, wenn man kalten Blutes behauptet, daß fast alles Jagdzeug, mit Ausnahme der Schnepfen vielleicht, absolut schädliches Gethier ist, das die fortschreitende Civilisation um jeden Preis ausrotten muß. Aber wenn wir auch diese Verhältnisse unberücksichtigt lassen, so kann man dennoch in sehr vielen Fällen zweifelhaft sein, ob der Nutzen oder der Schaden überwiege. Halten wir die früher aufgestellten Grundsätze fest, so ergiebt es sich leicht, daß alle insectenfressenden Vögel ohne Ausnahme von dem größten Nutzen für uns sind und durch ihre unablässige Jagd auf diese kleinen Feinde jeden Schutz und Pflege verdienen, die wir ihnen nur angedeihen lassen können. Schwalben, Kukuke, Ziegenmelker, Fliegenschnäpper, Grasmücken, das ganze Heer der niedlichen Sänger mit seinem dünnen Schnabel, der zu schwach ist, um Körner zu hülsen, sind in diesem Falle und bilden eine ganze Armee wohlbestallter Polizeisoldaten, welche zur Hütung von Feld und Wald, von Garten und Busch berufen sind. Hier kann also kein Zweifel obwalten: man soll sie um so mehr hegen und schützen, als ohnedem das magere, saftlose Fleisch der Meisten nur wenig als Nahrungsmittel geschätzt werden kann. Anders aber verhält es sich mit den körner-, beeren- und früchtefressenden Vögeln, wie Drosseln und namentlich Kernbeißer und Finken, die mit starkem Kegelschnabel selbst die härtesten Samen enthülsen und sich gern vom öligen Inhalte derselben nähren. Es ist wahr, viele derselben nähren sich vorzugsweise von solchen Samen, die wir als Unkraut betrachten, und Niemand wohl wird den niedlichen Distelfink deshalb hassen, weil er dem Esel eine zukünftige Lebensfreude zerstört. Aber die meisten dieser Vögel kennen auch die guten und schmackhaften Samen sehr wohl, und der Bauer, der Hirse gesät hat, wird sich durch die Betrachtung, daß die Hänflinge auch den Samen des Taumellolches fressen, nicht abhalten lassen, ihnen auf den Pelz zu brennen, wenn sie in seinem Hirsenfelde rumoren. Vieles mag also hier von persönlicher Convenienz des Landeigenthümers und der Besonderheit seines Betriebes abhangen. Der Gartenliebhaber, der nur Blumen, Gemüse und höchstens einige Spalierbäume zieht, wird mit Vergnügen Vögel aller Art sehen, die ihm seine Beete und Bäumchen reinigen; derjenige aber, der einen Kirschengarten hat, wird der Spatzenhegung seines Nachbars nicht mit allzu großem Vergnügen zusehen. Ich kannte einen Pfarrer, den gutmüthigsten aller Menschen, der keiner Creatur jemals etwas zu Leide gethan haben würde. Um die Zeit der Kirschenreife aber gerieth das friedliche Pfarrhaus in eine wahrhaft fieberische Aufregung und glich fast einer Mördergrube: die Töchter strickten Netze, Söhne und Confirmanden machten Schlingen, Schrotpatronen, Pulverfrösche und Donnerschläge, und den Pfarrer mit seinen Knechten sah man nie ohne Gewehr. Das Zanken der Spatzen weckte den Pfarrer vor dem frühesten Morgengrauen aus dem Schlafe; bei dem Gesange einer Amsel ballte er die Fäuste und der Ruf des Pirols brachte ihn in Wuth. Der gute Mann hatte sich nach zwanzigjährigen Mühen einen großen, mit den edelsten Sorten bepflanzten Kirschgarten herangezogen, der ihm mehr einbrachte, als seine ganze übrige Pfarrerbesoldung. Hofrath Perner in München und Pfarrer Tschudi in Glarus würden dem sonst harmlosen Geistlichen vergeblich die Schonung der unschuldigen kleinen Vöglein gepredigt haben, für welche der Erstere namentlich schon so viele Insertionskosten in der Allgemeinen Zeitung bezahlt hat.

Sehen wir uns genauer nach dem Verhältnisse der Vögel zu den Insecten um, so finden wir sehr verschiedene Beziehungen. Die meisten Körnerfresser, mit Ausnahme der Tauben, die unter allen Umständen dem Landwirthe schädlich sind, suchen besonders zur Zeit, wo sie Nestjunge haben, vorzugsweise gern Insecten auf und leisten uns dadurch die wichtigsten Dienste, so daß man selbst den Spatzen die wenigen Getreidekörner, die sie haschen können, in Berücksichtigung dieser Dienste gerne gönnen mag. Andere, wie Raben, Krähen, Dohlen, Stahre, Neuntödter und Wespenhabichte leben vorzugsweise von Insecten und deren Larven, verschmähen aber auch ein junges Vögelchen oder derlei Beute nicht, wenn es ihnen in den Wurf kommt. Die meisten kleinen Raubvögel, wie Thurmfalken und Lerchenhabichte, fallen über Insecten nur dann her, wenn sie gerade nichts Besseres zu finden wissen. Allein dies hindert doch nicht, daß bei den letzten der Schaden, den sie durch Verheerung der kleinen Vögel anrichten, weit den Nutzen überwiegt, den sie bei gewissen Gelegenheiten leisten können.

Gegen die größeren Raubvögel hat das Landvolk im Allgemeinen einen gewaltigen Haß, der sich dadurch bethätigt, daß man ihre Leichen zu ewigem Gedenken an die Scheunenthore annagelt; etwa in ähnlicher Weise, wie man im Orient und im Mittelalter die Körper ausgezeichneter Verbrecher bis zu gänzlicher Verwesung an den Stadtthoren aufstellte. Gerechtfertigt ist dieser Haß gewiß gegen die Edelfalken, die Hühner-, Tauben- und Lerchenhabichte, welche sich fast nur von Geflügel nähren; aber verwerfen muß man ihn, sobald er sich gegen diejenigen Raubvögel wendet, welche vorzugsweise von Ratten, Mäusen, Hamstern und ähnlichem Ungeziefer leben. Schon Mancher, der mit inniger Befriedigung einen Bussard an sein Scheunenthor nagelte, hat sich damit unbewußter Weise weher gethan, als wenn er einen Scheffel Getreide in das Wasser geschüttet hätte.

Die vielfachen Schäden, welche durch Insecten zu unserer Zeit veranlaßt worden sind, haben, wie ich schon erwähnte, Gelegenheit gegeben, die Mittel hervorzusuchen, welche man solchen Verwüstungen entgegen stellen könnte, und man hat hier namentlich darauf aufmerksam gemacht, daß die Schonung der Vögel überhaupt, namentlich aber der kleinen Singvögel, wesentlich zur Vertilgung des Ungeziefers beitrage. Pfarrer Friedrich von Tschudi, der sich schon durch ein vortreffliches Werk über die Alpen einen Namen gemacht hat, vermehrte sein Verdienst durch die Herausgabe eines kleinen Schriftchens über „das Ungeziefer und die Vögel“, das in ausgezeichneter Weise kurz alle diejenigen Gründe anführt, welche zu Gunsten der Vögel als Insectenvertilger sprechen. Es ist diesem Schriftchen gewiß die weiteste Verbreitung zu gönnen, und es wäre auch in unserem Kantone Genf außerordentlich zu wünschen, daß die darin enthaltenen Lehren die größte Verbreitung und Anerkennung fänden, da es wirklich empörend ist, die Menge mündiger und unmündiger Sonntagsjäger zu sehen, welche an Feiertagen alle Hecken und Büsche umschleichen und nach Spatzen und Grasmücken ihr Pulver verpuffen.

Tschudi behauptet mit vollem Rechte, daß die Zahl der nützlichen Vögel im civilisirten Europa bedeutend abgenommen habe und im steten Abnehmen begriffen sei. Er schreibt diese Abnahme hauptsächlich auf Rechnung der Vertilgungsjagd, welche in Italien (er hätte besser gesagt: in allen Mittelmeerländern) gegen die Vögel ausgeübt wird, und findet, daß durch diese Abnahme der Vögel auch die Zunahme der Insectenverwüstungen bedingt sei.

Diesen letzteren Punkt erlaube ich mir nun entschieden in Abrede zu stellen. Mit der fortschreitenden Cultur und Civilisation sind im Gegentheile Raupenschäden, Heuschreckenschwärme, Käferfraße entschieden seltener und unbedeutender geworden. Ich werde im Verlaufe dieser Vorlesungen Gelegenheit haben, Ihnen einige Beispiele von Insectenverwüstungen aus dem Mittelalter vorzuführen, die Alles übertreffen, was in unserem Jahrhundert geleistet worden [187] ist, und wogegen man sich durch Processe und Processionen zu wehren suchte, während man doch jetzt wenigstens die, wenn auch unzureichende, Arbeit des Menschen dagegen in Anspruch nimmt. Es begreift sich dies auch vollkommen leicht. Der Wald, der der eigentliche Schlupfwinkel all dieses Ungeziefers ist, weicht vor der Civilisation entweder gänzlich zurück oder civilisirt sich selber: giebt es ja doch in manchen deutschen Ländern fast eben so viel Forst- und Waldschützen als Stämme im Hochwalde. Mit dem größeren Zurückweichen des Waldes aber, mit der Ausrottung der Hecken wird dem Insectenungeziefer die Zahl seiner Schlupfwinkel und Zufluchtsörter stets mehr beschnitten, und mit dem Aufhören der Brache und der Einführung einer rationellen Wechselwirthschaft das Treiben der Larven unter der Erde mehr und mehr gehemmt. Denn die seiner Zeit allgemein eingeführte Brache war so recht eine Brütezeit für die Insectenlarven, Engerlinge und Schnecken, während jetzt jedes Stürzen und Pflügen eines Ackerfeldes Tausende dieses Ungeziefers an die verderbliche Sonne oder an den Schnabel der Raben, Krähen und Dohlen bringt, die im Winter nicht auswandern und uns also von den Italienern auch nicht weggefangen werden können.

Tschudi giebt im Vorbeigehen auch einen kleinen Hieb gegen den Leipziger Lerchenfang und die thüringische Vogelstellerei, die jetzt gewiß den Vögeln wenig mehr Abbruch thut, da man von allen Seiten Klagen über ihre gänzliche Abnahme hört, während sie im Mittelalter so sehr florirte, daß man ja einen der größten deutschen Kaiser, Heinrich den Finkler, vom Vogelheerde zum Throne holen mußte. Was aber den Leipziger Lerchenfang betrifft, so wird es ebenso schwer sein, den Leuten begreiflich zu machen, daß man die Lerchen leben lassen müsse, weil sie vielleicht Würmer fressen, als man ihnen begreiflich machen wird, daß man die Schafe leben lassen müsse, weil sie Wolle geben. Trotz aller Humanität sind fette Leipziger Lerchen ein ausgezeichneter Leckerbissen, und man hat bis jetzt noch nicht gehört, daß die so fruchtbare Leipziger Ebene durch die Lerchenjagd in ihrem Ertrage Schaden gelitten habe.

In Italien geht nun freilich die Verheerung der Vögel in’s Großartige, und Tschudi hat vollkommen Recht, wenn er dagegen zu Felde zieht. Aber zur Entschuldigung muß man auch sagen, daß Gelegenheit Diebe macht und daß es schwer hält, der Versuchung zu widerstehen. Im Frühjahr kommen die Vögel aufs Aeußerste ermüdet über das Meer herüber an den Küsten an, so ermüdet, daß man die schnellen Schwalben mit Rohren aus der Luft herabschlagen und die Wachteln mit Händen greifen kann. Zur Schwalbenjagd, die ich in Nizza öfter gesehen habe, hätte ich mich freilich nicht entschließen können, aber Wachteln habe ich mit eigenen Händen manche gefangen, obgleich ich nicht gerade zu den Schnellfüßigsten gehöre. Diejenigen, welche vor einigen Jahren den Wachtelzug sahen, der sich in die Stadt Genf selbst verirrt hatte, so daß man in allen Hausgängen und Alleen todtmüde Wachteln mit den Händen griff, werden wohl begreifen, daß man solche Gelegenheiten nicht verabsäumt, sich ein leckeres Brätchen zu verschaffen. Im Herbste aber – das muß man gestehen – sind die Italiener vollkommen in ihrem Rechte, wenn sie vertilgen, was sie können, denn dann fallen alle diese Vögel, die sich bei uns im Frühjahre und Sommer von Insecten nähren, die Grasmücken und Dünnschnäbler sowohl, wie die Finken und Drosseln mit einer durch die Reise geschärften unersättlichen Freßgier über die süßen Früchte des Südens her und stopfen sich dergestalt mit Trauben, Feigen und Oliven, daß sie kaum mehr im Stande sind, einige Schritte weit zu fliegen. An der ganzen provençalisch redenden Küste, in Nizza wie in Marseille, hat man ein Sprüchwort, in dem man sagt: „besoffen wie ein Krammetsvogel“, weil man den unsichern Flug und die taumelnden Bewegungen, die von dem übermäßigen Fraße herrühren, der Trunkenheit zuschreibt, welche das Fressen von Trauben bewirken soll. Die Krammetsvögel haben zu dieser Zeit fast fingerdicken, öligen Speck auf dem ganzen Körper und die Grasmücken sehen aus, als habe man sie in Butter gewickelt. Die Feinschmecker kennen auf den ersten Blick diejenigen Vögel, die sich mit Oliven gemästet haben und begreiflicher Weise im Geschmacke den aus dem Waldgebirge stammenden Vögeln, welche würzige Beeren verschlangen, weit nachstehen. Wie kann man nun vernünftiger Weise den Italienern zumuthen, die Vögel, welche ihre Ernten zerstören, deshalb zu schonen, weil dieselben im Norden, wo andere Culturbedingungen herrschen, im Frühjahre die Insecten wegfressen!

Auch das dürfen wir nicht unberücksichtigt lassen, daß die Vogeljagd in Italien seit den ältesten Zeiten geübt wurde und daß bei der damaligen unvergleichlich zahlreicheren Bevölkerung Italiens auch die Zerstörung, welche unter den Vögeln angerichtet wurde, verhältnißmäßig eine weit größere war. Die Römer schätzten den Krammetsvogel über alles andere Vogelwild,[3] sowie sie auch den Hasen allem übrigen Haarwild vorzogen, und während wir uns doch heutzutage nur begnügen, Krammetsvögel und Drosseln in Schlingen zu fangen, mästeten sie die Römer im Gegentheile und betrachteten die Anlegung eines Drosselzwingers, wie Varro und Columella (de re rustica) uns lehren, als einen eben so nothwendigen Zweig der Landwirthschaft, wie unsere heutigen Landwirthe Hühnerhöfe und Gänseställe. Lucullus soll, nach Plutarch, die Kunst des Mästens der Drosseln erfunden haben. Die Drosselzwinger waren dunkel und so gestellt, daß die Vögel weder das Feld noch den Wald sehen konnten, damit Sehnsucht und Heimweh ihrer Gemüthsruhe keinen Abbruch thäten. Man sieht also, daß die Römer ebenso gut, wie unsere jetzigen Gänsestopfer, den Einfluß dunkeler Ställe auf das Fettwerden kannten. Man mästete die Vögel mit einer Art Brei von gestoßenem Hirse und gemahlenen Feigen, welchem man Beeren von Epheu, Myrthen und Pistazien zufügte, um dem Fleische mehr Würze zu geben. Nach einer vorläufigen Behandlung in weiteren Räumen wurden die Thiere noch zwanzig Tage lang in ganz engen, dunkeln Ställen gemästet und dann erst auf den Tisch gebracht. Es gab so ungeheuer viele Drosselzwinger in der Nähe von Rom, daß die Felder mit ihrem Miste gedüngt und Ochsen und Schweine mit den Abfällen gemästet wurden.[4] Was will nun gegen eine solche Massenvertilgung der Drosseln und ähnlicher Vögel die jetzige Vogeljagd in Italien sagen! Wenn Tschudi anführt, daß in einem einzigen Districte am Langensee 60 bis 70,000 Vögel im Jahre vertilgt werden, so ist das ja wahrlich eine verschwindend kleine Zahl gegenüber den Massen, welche die alten Römer ihren Magen opferten!

Wenn also ein Uebel, welches schon seit 2000 und mehr Jahren stetig fortwirkt, erst dann merklichen Einfluß üben soll, wo es an und für sich in Abnahme begriffen ist, so scheint mir die Gefahr, die von demselben droht, nicht allzubedeutend. Die Verringerung der Vögel überhaupt, sowie insbesondere der kleinen Singvögel in unseren Gegenden mag mit durch die Vertilgung in südlichen Ländern bedingt sein, kann aber nicht einzig und allein davon herrühren. Sie liegt, wie die Verringerung des Wildes überhaupt, in weit größeren Verhältnissen, in der stets zunehmenden Cultivirung des Bodens, in der Austrocknung von Sumpf und Moor, in der Ausdehnung einer ununterbrochenen Bearbeitung des Bodens über alle Flächen, welche dem Wilde – und dazu gehören ja die Vogel auch – mehr und mehr jeglichen Zufluchtsort entzieht. Dieser fortschreitenden Cultur und diesem zwingenden, unwiderstehlichen Einflusse gegenüber halten ja selbst solche Dinge nicht Stand, deren Nutzen kein Mensch bestreitet. Das Schaf ist ohne Zweifel eines der nützlichsten Hausthiere, und abgesehen von dem Nahrungsstoffe, den es liefert, kann man dreist behaupten, daß die Civilisation in unseren gemäßigten Ländern ohne die Schafwolle ganz undenkbar wäre. Nichts destoweniger drängt die fortschreitende Cultur das Schaf als wollerzeugendes Thier nach und nach gänzlich aus unserem Welttheile hinaus und behält es nur als Fleischerzeugungsmaschine bei. Die Wollenproduction verlangt weite Flächen, Haiden, Ebenen, wo man nach dem Ausdrucke Leopold’s von Buch nichts sieht als Himmel, Barone und Schafe. Diese Bedingungen der Existenz des Schafes als Wollenthier verschwinden allmählich aus unserem Welttheile, und die Wollenerzeugung, so nothwendig sie für unser Leben auch sein mag, hat sich jetzt schon großentheils nach Australien geflüchtet. Wenn man sie also auch noch so sehr schonen und jeglichen Grund ihrer schnelleren Vertilgung soviel möglich wegräumen mag, so werden doch die wilden Vögel mehr und mehr in unserem Welttheile abnehmen, weil der Mensch vor Allem Platz für sich und sein Leben verlangt.

Tschudi hat dies auch sehr wohl gefühlt, und unter den Mitteln, [188] die er empfiehlt, finden sich manche halbe Wendungen zum Rückschritte, die kaum angenommen werden dürften. Man soll große Waldbäume in die Felder pflanzen und soviel möglich lebendige Hecken anlegen, damit Bussarde und kleinere Vögel sich ansiedeln können. Man frage doch einmal die bernischen Landwirthe z. B., was sie von den einzeln stehenden Eichen halten, die vor Anlegung der Eisenbahn, welche sie zu Schwellen vernutzte, überall im Freiburgischen in den Feldern standen. Jede solche Eiche hat, abgesehen von ihrem dem Getreide schädlichen Schatten, einen bedeutenden Zerstreuungskreis von Ungeziefer um sich her, das von dieser Hochwacht herab über die benachbarten Felder herfällt! In jeder lebendigen Hecke krabbelt zehnmal mehr Ungeziefer, als die darin wohnenden Singvogel jemals vertilgen können.

Es bedarf ja in gegenwärtiger Zeit nur eines Blickes auf die zahllosen Raupennester des Baumweißlings und des Goldafters, die unvertilgt an den blätterlosen Dornen der Hecken hängen, um sich von dieser Wahrheit zu überzeugen. Wer also Feld- und Gartenwirthschaft treibt, wer namentlich nicht reich genug ist, um einen Park zu haben, sondern jedes Fleckchen Erde zur Cultur benutzen muß (und in diesem Falle befindet sich ja wohl die große Mehrzahl), der wird trotz aller Lieblichkeit des Gezwitschers der Grasmücken die lebendige Hecke, wenn er nur kann, beseitigen und statt ihrer eine Einfriedigung wählen, die weniger Schlupfwinkel bietet und besser schützt. Die Forstleute, sagt von Tschudi, sollen die alten hohlen Bäume im Walde stehen lassen, damit die nützlichen Vögel hinein nisten können: Aber die Forstleute werden uns antworten, daß unsere Bevölkerung vor allen Dingen Holz verlangt, daß ein alter hohler Baum keinen Brennstoff mehr producirt und einem halben Dutzend junger, holzerzeugender Bäume den Platz versperrt und daß der Mensch erst wohnen, kochen und heizen will, ehe er daran denkt, wo die Vögel Herberge finden können. Möge man sich also wohl umsehen in der Wahl der Mittel; jegliche muthwillige Zerstörung durch Pulver, Schlingen und Nestaushebung soll man hindern, im Uebrigen aber die Sentimentalität nicht so weit walten lassen, um Dinge zu empfehlen, die doch nicht ausgeführt werden können.

Zu den unbedingt schädlichen Vögeln gehören ganz gewiß die Tauben-, Lerchen-, Stein-, Jagd- und Thurm-Falken, die Hühnerhabichte, Sperber, Gabelweihen, der Storch und die Elster. Hinsichtlich der beiden letzteren Thiere glaube ich einigen Widerspruch vernehmen zu müssen. Ist der Storch nicht bei allen gesitteten Völkern geschützt und selbst verehrt, so sehr, daß er das Wahrzeichen der Stadt Straßburg bildet und in Hunderten von Figuren am Dome ausgemeißelt steht? Hält man nicht das Haus für ein gesegnetes, auf dem ein Storchpärchen sich einnistet, und pflanzt man nicht alte Wagenräder auf hohen Giebeln auf, um Störche anzulocken, welche Niemandem nützlich sind als dem Dachdecker, der weit schneller Arbeit bekommt? Galten die Störche nicht bei den Griechen als das Symbol der Mäßigkeit, der Gattentreue, der Elternliebe, und hatten nicht die Athenienser ein Gesetz, welches ihren Namen trug und die Verpflichtung der Kinder, ihre alten Eltern zu ernähren, feststellte? Galten sie nicht den Auguren als gute Vorbedeutung, als Zeichen der Eintracht und des Friedens, und nahmen die Apotheker in ihrer Eigenschaft als Wohlthäter der Menschheit und Erfinder der Klystiere sie nicht als Wappenthier in ihr unbeflecktes Schild auf?

Das Alles ist wahr. Aber weder existiren die gerühmten moralischen Eigenschaften, noch der materielle Nutzen für den Menschen. Der Storch ist der boshafteste, zornigste und mordlustigste Egoist, der sich denken läßt: dem Mörder gleich mordet er selbst dann, wenn seine Freßgier befriedigt ist, greift selbst das brütende Weibchen und die Nestjungen seines Nachbars an, und was die gerühmte Gattentreue betrifft – – –

In einem Dorfe nahe bei Solothurn nistete seit langer Zeit ein Storchenpaar. Einstmals bemerkte man kurze Zeit nach ihrer Rückkehr, daß jedesmal, wenn der Gemahl nach Nahrung ausflog, ein jüngeres Storchenmännchen zum Neste kam und mit dem Weibchen schön that. Anfänglich zurückgewiesen, setzte das Männchen doch seine Bemühungen fort und errang sich endlich so sehr die Gunst des Weibchens, daß eines schönen Tages beide gemeinschaftlich nach der Wiese flogen, wo der Hahnrei auf Frösche lauerte, und ihn mit scharfen Schnabelhieben tödteten!

Wir finden den Storch hauptsächlich nur auf feuchten Wiesen, an Wassergräben, nicht aber in trockenen und sonnigen Gegenden. Seine Hauptnahrung besteht aus Fröschen, Ringelnattern und Maulwürfen, die er beim Aufwerfen der Haufen mit raschem Schnabelhiebe hervorholt. Er soll auch die giftigen Vipern vertilgen; allein an sonnigen Halden, Steingeröllen und trockenen Waldrändern, wo sich die Vipern aufhalten, findet man ihn niemals. Frösche, Kröten und Maulwürfe aber, die er mit Vorliebe vertilgt, sind dem Menschen doch wahrlich eher nützlich, und auch die Ringelnatter hat noch Niemandem Schaden gethan. Feldmäuse, welche die trockenen Felder vorziehen, die nassen Wiesen aber fliehen, finden den Storch sehr selten auf ihrem Wege, und die jungen Sumpfvögel, die er vertilgt, sind ebenso viel wohlschmeckende Braten weniger in unserer Küche. Sein großes Nest bietet freilich vielen Spatzen und Ammern Raum zum Nestbau. Aber man sehe einmal zu, wie Gevatter Langbein es treibt! Ist er gerade hungrig und nicht bei Laune auszufliegen, so schnellt er plötzlich den langen Hals, bohrt mit dem Schnabel hinab und ergreift den ersten besten Miether im Erdgeschosse seines Palastes, den er mit Appetit verspeist. Der Nutzen also, den der Storch dem Menschen bringt,

ist wahrlich nicht zu finden.
und thäte man hundert Laternen anzünden.

(Schluß folgt.)




Amerikanische Eishäuser.

Auf eine Anfrage über die Aufbewahrung des Eises erhalten wir aus Amerika folgende Mittheilung: Sogenannte Eiskeller, wie in Deutschland, hat man hier nicht; wohl aber Eishäuser, die sich bis jetzt am besten bewährt haben, und vorzüglich deshalb, weil sie sich an jedem beliebigen Orte aufstellen lassen, klein und groß, und sich auch für jedes Haus, welches einen Garten hat, eignen. Am besten wird es sein, ich gebe Dir eine Beschreibung unseren Eishauses in Brattleboro, das vollständig nach hiesiger Art ist. Es ist ganz aus Tannenbretern gebaut, kann aber auch aus jedem anderen Holz, das nicht zu leicht fault, gefertigt werden, und hat doppelte Wände, deren jede nur aus einer Lage Breter besteht. Der Abstand der inneren von der äußeren Wand beträgt circa 16 bis 18 Zoll, und der Zwischenraum ist fest mit Gerberlohe bis unter’s Dach ausgestampft; letzteres ist ebenfalls mit einer Lage Breter gedeckt und dann mit Dachschindeln belegt. Die Breite des gebliebenen innern Raumes beträgt 20 Fuß bei 25 Fuß Tiefe, die Höhe der Wände bis an den Rand des Daches 18 Fuß. Es steht auf der flachen Erde, ohne alle Ausgrabung. Die Oeffnung zur Einbringung des Eises, aus einer einfachen, fest verschließbaren niedrigen Thür bestehend, ist in dem einen Giebel des Daches angebracht. Um das Eis im Sommer bequemer herausnehmen zu können, und auch das Haus im Herbst besser ausräumen und austrocknen zu lassen, befindet sich an der entgegengesetzten Seite, etwa 5 bis 6 Fuß über der Erde, eine andere schmale Thüre, ebenfalls aus doppelten Wänden mit Gerberlohe ausgefüllt. –

Ein Eishaus darf kaum kleiner sein, als das beschriebene, wohl aber viel größer, je nach dem Bedürfniß, so wie auch die Gestalt des Gebäudes nach Wunsch und Belieben geändert werden kann. Die größeren Eishäuser an unsern hiesigen Teichen sind gewöhnlich noch einmal so lang als breit. Eben kehre ich von einer Spazierfahrt zurück, die ich machte, um mir ein größeres Eishaus anzusehen. Die Bauart war dieselbe, wie ich beschrieben, nur war es bei einer Breite von circa 40 Fuß 80 Fuß lang. Die Einrichtung zum Ein- und Ausbringen des Eises war etwas anders, aber besser, als die bei unserem Eishause. Das eine Ende des Hauses war über den Teich hinausgebaut. Eine etwa 3 Fuß breite Oeffnung reichte vom Dache an bis zur Erde und zwar an jeder Seite des Hauses, die eine zum Einbringen, die entgegengesetzte zum Herausnehmen des Eises. (Siehe die Zeichnung.) Das Eis wird in regelmäßigen Stücken in die dem Wasser nächste Oeffnung hineingeschoben, und wie sich nun das Gebäude mit dem [189] Eise anfüllt, wird die Oeffnung mit Querbretern und Füllung zugestellt. Erreichen allmählich die Eisschichten im Hause eine zu große Höhe, um die Oberfläche bequem erreichen zu können, so bedient man sich einer Vorrichtung zum Heben der grossen Eisstücke, bestehend aus einem kleinen Gerüste, das sich vermittelst Rollen und einem Seil vor der Oeffnung heben oder senken läßt. (Siehe die Zeichnung.) – Hinsichtlich der Lage des Eishauses will ich bemerken, daß es am besten ist, dasselbe hart am Wasser anzubauen, mit einem Vorsprung, der noch über die Oberfläche desselben hinausragt. Sollte dies nicht angehen, so kann das Eishaus an jedem andern Orte angelegt werden, wo möglich jedoch frei, nach Norden zu oder unter schattigen Bäumen. – Die wärmste Sonne hat nur geringen Einfluß auf das Schmelzen des Eises, sobald die Wände hinreichend mit Gerberlohe oder im Nothfall auch mit Sägespänen fest angefüllt sind, doch ist Lohe am besten und wird am häufigsten benutzt. Der Boden des Hauses muß ebenfalls mit einer 4 bis 5 Zoll dicken Schicht Lohe bedeckt sein, um gegen die Erdwärme zu schützen. In unserm kleinen Eishause konnten wir stets das Eis von einem Jahre bis zum andern erhalten, und beim Einbringen des neuen Eises fand sich stets noch eine 4 bis 5 Fuß dicke Eislage vor.

Verticaldurchschnitt des Eishauses

Hinsichtlich des Schneidens des Eises wäre zu erinnern, daß die beste Zeit dazu wäre, wenn das Eis seine größte Dicke, also 8 bis 10 Zoll, erhalten hat. Eis, das sich durch Anhäufung von Schnee und Regen auf einer schon vorhandenen Eisrinde gebildet hat, ist schlecht, weil es voller Luftblasen ist, die ein schnelles Schmelzen des Eises befördern, und nicht zur Aufnahme in Eishäuser geeignet; ist man jedoch gezwungen, solches doch zu nehmen, so fege man den Schnee sorgfältig ab und schneide mit einer gewöhnlichen, großzahnigen Schrotsäge regelmäßige, etwa 3 Fuß lange und 2 Fuß breite Blöcke. (Befindet sich auf denselben eine Schneekruste, so läßt sich dieselbe leicht mit einem guten Beil abspalten.) So schnell nun die Blöcke geschnitten werden, müssen solche auch in das Eishaus geschafft und schichtweise verpackt werden; damit diese Schichten vollkommen glatt und eben werden, muß auch der Boden für die erste Schicht ganz eben gemacht sein. Dabei ist erforderlich, daß die Eisblöcke genau so gelegt werden, wie Bausteine, alle Lücken und Zwischenränme müssen mit klein zerschlagenem Eis fest ausgefüllt werden um so viel als möglich alle Luft auszuschließen, worin eigentlich das Geheimniß des Eisverpackens liegt. Ist die erste Schicht gelegt, so lege man die zweite so, daß die Ritzen der erstern damit bedeckt werden, nach Art der Mauersteine. So fülle man das Eishaus bis unter das Dach an, und decke dann die oberste Schicht mit einer dicken Lage Hobelspäne oder Stroh, und schließe das Haus, bevor es anfängt wärmeres Wetter zu werden. Im Sommer nimmt man das Eis durch eine Oeffnung im Dachgiebel heraus und läßt es auf einer schiefen Ebene herunter rutschen, wozu ein angelehntes Bret ausreicht; nach jedesmaligem Herausnehmen ist die obere Schicht wieder sorgfältig mit Hobelspänen oder Stroh zuzudecken. – In genauer Verbindung mit diesen Eishäusern stehen die schon seit Jahren in Amerika eingeführten und bis in die kleinsten Städte verbreiteten Eisschränke und Eiskisten zur Aufbewahrung alles Desjenigen, was im Sommer durch große Wärme leidet oder dem Verderben ausgesetzt ist; namentlich Fleisch, Speisen

Das Eishaus.

a Thüre des Hauses, bb senkrechte Balken, zwischen welchen sich ein Gerüste c zum Heben des Eises auf- und abziehen läßt.

[190] aller Art, Butter, Milch und dergleichen. Das zur Füllung dieser Kühlapparate nöthige Eis läßt sich wohl in größern Städten, welche ihre Eiscompagnien haben und das Eis jeden Morgen ihren Abonnenten in’s Haus liefern, verschaffen, aber nicht in kleinen Orten. In diesen kann man sich nur durch ein eigenes Eishaus helfen oder zur Verminderung der Kosten durch den Zusammentritt mehrerer Familien, welche sich ein gemeinschaftliches erbauen lassen. Da man jetzt auch in Deutschland anfängt (in Leipzig z. B. befindet sich ein Hauptdepot bei Herrn C. F. Jage), sich für diese Kühlapparate zu interessiren und deren große Nützlichkeit einzusehen, so glaubt man auch dem deutschen Publicum einen Dienst zu erweisen durch eine genaue Angabe zur Anlegung von Eishäusern.




Ein Deutscher.

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)


Es war am folgenden Abend, und das Geschwisterpaar, der Bowery zuwandernd, sah bereits den Ort seiner Bestimmung vor sich. Reichardt trug eine leichte Notenmappe, während Mathilde unter dem Sommermantel das Gazekleid, in welchem sie vor ihren Zuhörern erscheinen wollte, aufgeschürzt hielt. An der Thür des von hellen Gaslaternen bezeichneten Locals bewegten sich bereits die verschiedenartigsten Menschengruppen, die Zettel, welche eine berühmte Primadonna mit fast unaussprechbarem Namen verkündeten, entziffernd, die Eintretenden musternd oder selbst Eintritt suchend.

Der Saal, in welchem die Vorstellungen stattfanden, zeigte ausser den Sitzen für die Zuhörer nichts als eine Erhöhung für die Vortragenden und einen Vorhang daneben, welcher den Zwischenraum bis zur Wand verdeckte. Hierhin begleitete Reichardt das Mädchen, das, als sie bereits mehrere als Neger costümirte „Künstler“ in dem Raume stehen sah, sich auf einen Stuhl in der hintersten Ecke niederließ.

Das versammelte Publicum schien bereits des Wartens genug zu haben, und Reichardt konnte sich nicht enthalten, bei einzelnen Ausbrüchen der Ungeduld den Kopf zu schütteln. Dieses Jolen, Pfeifen und Schreien war so roh und unbändig, wie es die niederste Kneipe in Deutschland ihm kaum geboten hätte. Er warf einen Blick nach Mathilden, die indessen, den Blick in ein Notenstück vertieft, kaum zu hören schien; den übrigen „Künstlern“ aber schien der Lärm etwas so Gewöhnliches, daß er nicht eine Secunde lang ihr halblautes Gespräch zu unterbrechen vermochte. Endlich trat der Director der Truppe, ebenfalls mit dem Teint Afrika’s versehen, in den Raum, grüßte mit einem verbindlichen Lächeln, das Reichardt in diesem schwarzen Gesichte ganz abscheulich fand, die junge Dame, und das Concert begann mit einer Ouverture, in welcher Banjo und Tamburin jedenfalls die Hauptrolle spielten.

Reichardt wollte Anfangs seinem Gehör nicht trauen, bis das Ohr sich an das wirre Durcheinander von Tönen gewöhnt hatte, und er endlich kopfschüttelnd ein Verständniß der tollen Eigenthümlichkeit des Stücks erlangte; das Publicum aber schien höchlichst erbaut davon und applaudirte, als solle der Boden des Saals durchaus hinunter gearbeitet werden. Ein Gesang, von welchem Reichardt kein Wort verstand, der aber den Grimassen des Vortragenden und dem Jolen und Lachen des Auditoriums nach äußerst komisch sein mußte, folgte, und nun war Mathildens erstes Lied an der Reihe. Reichardt fühlte die Hand des Mädchens in der seinen zittern, als er sie auf die Erhöhung vor das Publicum führte, aber er konnte ihr nur durch einen warmen Händedruck Muth zusprechen. Ueber die versammelten Menschen legte es sich wie ein Schweigen des Erstaunens, als die weißgekleidete bleiche Mädchengestalt, diese von den gewohnten Darstellungen so abweichende Erscheinung, hervortrat; einzelnes Klatschen erhob sich an verschiedenen Orten, das aber nirgends zünden wollte, und Reichardt fühlte eine eigenthümliche Beklemmung, als er sich an dem bereitstehenden Piano niederließ. Kräftig begann er das Vorspiel zu einem Liede, das der Sängerin im Boardinghause stets den ungetheiltesten Beifall eingetragen, und bei den bekannten Klängen schien Mathilde neuen Muth zu gewinnen; ihr Kopf hob sich und mit voller Sicherheit begann sie die ersten getragenen Töne. Ihre Stimme hatte eine Wirkung in dem weiten Saale, welche ihr Reichardt nie zugetraut; über den Zuhörern aber blieb dieselbe eisige Stille wie vorher liegen, und selbst bei einer am Schlusse des ersten Theiles eingelegten, glücklich durchgeführten Cadenz rührte sich nirgends eine Hand. Reichardt fühlte das Blut nach seinem Kopfe steigen, er hatte nicht den Muth, in Mathildens Gesicht aufzusehen – da, mit den ersten Tönen des zweiten Theils wurde eine Stimme laut: „Englisch!“ und als habe das eine Wort dem allgemeinen Gefühle Ausdruck gegeben, schrie es „Englisch“ von allen Seiten nach; einzelnes Zischen erhob sich wohl als Opposition der Störung, schien aber nur die ersteren Rufe in ihrer Zahl zu vermehren und in ihrer Ausdauer zu kräftigen. Mathilde hatte aufgehört zu singen und blickte geisterbleich über das Publicum hin, und wie beschworen von dem Ausdruck dieser großen schwarzen Augen begann sich der Lärm zu legen. Reichardt intonirte sein Zwischenspiel noch einmal, und wie mechanisch fiel das Mädchen an der rechten Stelle ein, aber schon nach ihren beiden ersten Noten brach unter den Zuhörern ein voller Sturm aus. „Englisch, Englisch!“ schrie es, lärmte, pfiff und tobte es – Reichardt sah sich vergebens nach dem Director der Truppe um, während Mathilde, starr wie eine Statue, ihren Platz behauptete – da sprang plötzlich hinter dem Vorhange eine grotesk aufgeputzte Negerin, eine Guitarre in der Hand, hervor, schlenkerte die großen, den verkleideten Mann verrathenden Beine in einigen carikirten Tanzpas und begann, sich an den äußersten Rand der Erhöhung vor die Sängerin stellend, in durchschneidender Fistelstimme:
Miss Nelly was a Lady –“

In einen Sturm von Applaus, Gelächter und Hurrahs gingen die Zeichen der Unzufriedenheit über, Reichardt aber sah, wie Mathilde plötzlich wankte. Mit zwei Schritten war er an ihrer Seite und führte sie, die sich fest an seinen Arm klammerte, von der Bühne. „Nur fort, nur fort ins Freie!“ sagte sie gepreßt, als Beide hinter dem Vorhange angelangt waren. Er warf ihr den Sommermantel um, legte ihr den Schleier über den Kopf und führte sie, ohne einen Blick nach den übrigen Musikern zu werfen, die sich augenscheinlich aus ihrem Wege gestellt hatten, nach dem Corridor hinaus.

Sie hatten die Straße erreicht. „Nach Hause!“ flüsterte Mathilde, als drücke ihr eine Last die Brust zusammen, und Reichardt fühlte, während er ihrem raschen Schritte folgte, zeitweise ihren Arm in dem seinen zucken. Er konnte die ganze Aufregung und Bitterkeit ihres Herzens mitfühlen, aber er mochte auf der Straße und unter dem frischen Eindruck des Schlags, den sie erhalten, nicht zu ihr reden; nur durch die Art, wie er sie eng an sich geschlossen führte und ihr sichtliches Streben, rasch nach dem Boardinghause zu kommen, förderte, mochte er ihr andeuten, was er selbst empfand.

Sie ließ seinen Arm los, als sie ihre Wohnung erreicht hatten, und eilte ihm voran die erleuchtete Treppe hinauf; als sie aber ihr nur von einer außen brennenden Gaslaterne schwach erleuchtetes Zimmer geöffnet, und Reichardt, von Sorge für sie getrieben, ihr gefolgt war, wandte sie sich, wie ihrer nicht mehr mächtig, um und fiel in einem Thränenausbruche, der in seiner Leidenschaftlichkeit den jungen Mann erschreckte, an dessen Brust.

Reichardt’s erste Bewegung war, die Thür zu schließen; dann umfaßte er mit einem ihn seltsam durchrieselnden Gefühle die krampfhaft schluchzende, halb bewußtlose Gestalt und zog sie zu sich auf einen Stuhl nieder. „Mathilde, was ist es denn mehr als eine Erfahrung im fremden Lande, die Jeder hier machen muß?“ sagte er, ihr beruhigend zusprechend, während er doch unter dem Druck dieser weichen Glieder, die auf ihm ruhten, es heiß in sich aufsteigen fühlte; „Mathilde haben wir denn etwas verloren, sind wir denn nicht noch bei einander?“

„Ich wäre auch gestorben, wenn ich allein gestanden hätte!“ sagte sie, das von Thränen überfluthete Gesicht hebend. Sie sah in seine vom Gaslicht hell beschienenen Züge, in ihren Mienen leuchtete es warm und leidenschaftlich auf – „Max, ich möchte [191] sterben!“ rief sie plötzlich, und Reichardt fühlte ihre Arme fester um seinen Nacken, fühlte ihren Mund voll und heiß auf dem seinen; – als er aber, seiner Aufregung nicht mehr gebietend, seine Arme fest um ihren Leib schlingen wollte, rang sie sich mit einer plötzlichen Kraftanstrengung los und sprang auf. „Geh, Max, geh!“ rief sie, als er ihr folgte, ihm beide Arme abweisend entgegenstreckend, „unsere Wege dürfen nicht miteinander laufen!“ dann aber, wie von einem neuen Gedanken erregt, faßte sie seine beiden Hände in die ihrigen und sah ihm zwei Secunden lang tief in die Augen. „So, nun gute Nacht!“ sagte sie dann, ihn loslassend und die Thür öffnend. – Reichardt stand wie halb betäubt in dem Corridor, hörte, wie sie den Riegel vorschob, und wandte sich langsam seinem Zimmer zu.

Als am andern Morgen nach dem Erwachen die gestrige Scene wieder vor seine Seele trat, wollte sie ihm kaum anders als ein üppiger Traum erscheinen; er mußte unwillkürlich an die „schwachen Stunden“, welche ihm der Kupferschmied prophezeit, denken, und fast fürchtete er sich vor dem ersten Blicke, welchen er heute mit dem Mädchen wechseln werde. Aber umsonst sah er sich am Frühstückstische nach ihr um, und erst als er sich wieder von seinem Platze erhob, theilte ihm die Wirthin mit, daß die „Schwester“ schon früh ausgegangen sei und ihn bitten lasse, auf ihre Rückkunft zu warten. Mit einem stillen Kopfschütteln ging er nach dem Gastzimmer und versuchte den Zeitungen seine Aufmerksamkeit zuzuwenden; zehnmal aber hatte er sich schon während des Lesens erhoben, weil er Mathildens leichten Tritt zu hören geglaubt, hatte endlich die Blätter weggeworfen und über die Zukunft dieses Geschwister-Verhältnisses zu grübeln begonnen, während allerhand Vorstellungen von dem, was das Mädchen so früh aus dem Hause getrieben haben könne, durch seinen Kopf schossen, und es war fast elf Uhr, als er endlich seinen Namen nennen hörte. Der Fuhrmann eines Gepäckwagens ward von der Wirthin in’s Zimmer gewiesen, der mit einem zierlich gefalteten Billet an den jungen Mann herantrat. Mit einer eigenthümlichen Spannung, die er umsonst zu beherrschen suchte, öffnete dieser das Couvert und las in kleinen, bestimmten Schriftzügen:
„Mein geliebter Bruder Max!

Unsere Wege dürfen nicht zusammen gehen, sagte ich Dir am gestrigen Abend, der nur ein schrecklicher – und doch auch ein so seliger war (es ist mir ein süßes Gefühl, Dir das jetzt frei und ohne jeden Rückhalt zu bekennen), und so habe ich nach dem Entschlusse, der sich aus einer durchkämpften Nacht entwickelt, das Band, das uns bis jetzt vereinte, kurz durchschnitten. Ich habe ein Unterkommen gefunden, und Du wirst nicht fragen: wo oder wie? – mein größter Schmerz dabei ist, daß ich Dich allein einer noch ungewissen Zukunft überlassen muß. Deinen mannigfachen Kenntnissen aber wird eine würdige Verwendung nicht lange fehlen, und wenn Du jetzt mit der Trommel anfangen müßtest, so denke daran, daß den größten Männern in diesem außergewöhnlichen Lande selten ein besserer Anfang beschieden gewesen ist.

Du wirst jedenfalls wieder von mir hören, und sollten auch Jahre dazwischen liegen; unterdessen aber, Bruder Max – schone die Herzen, die Dir vielfach freiwillig entgegenkommen werden; Du bist Dir wohl Deiner Macht über weibliche Gemüther jetzt noch nicht voll bewußt; denke aber, wenn Du es werden wirst, an das Abschiedswort Deiner Schwester, die nicht zu den Schwächsten zählte!

Und nun, als letzten Liebesdienst, sende mir durch den Ueberbringer meine Sachen, die Du fertig gepackt in meinem Zimmer finden wirst. Sage der Wirthin, ich sei Nätherin geworden, Dienstmädchen, Schenkmamsell, was Du willst; meine Erscheinung wird Dich nicht Lügen strafen. Ich weiß, Du wirst meine Bitte ehren, jetzt nicht zu forschen, was aus mir geworden, und so bewahre mir Dein Andenken, bis wir uns einmal freier wiedersehen.

Einen warmen Händedruck von
Deiner Schwester Mathilde.“ 

Der Fuhrmann hatte schon eine lange Weile ungeduldig seine Füße hören lassen, ehe Reichardt die Augen wieder von dem Papier hob und der Gegenwart inne zu werden schien. Die Stirn mit der Hand reibend suchte er die Wirthin auf, um ihr anzukündigen, daß seine Schwester eine Stelle gefunden, die sie aber sogleich festgehalten und genöthigt habe, nach ihrem Gepäck zu senden – und als dieses dem Fuhrmann überliefert war, suchte Reichardt sein Zimmer auf, um sich von Neuem in die Lectüre dieses Briefes vertiefen und seinen Gedanken ungestört nachhängen zu können. – –

Am Nachmittage ging der kleine Musiker, welcher Reichardt’s Aerger am Tage seiner Ankunft erregt, aus dem Zimmer des jungen Mannes, und dieser hatte sich verpflichtet, während der Sommermonate mit dem Alten und zweien seiner Collegen die Tanzmusik in den umliegenden kleinen Badeorten zu spielen. Es sei ein Glück für ihn, daß er noch zeitig genug zur Erkenntniß gekommen, hatte ihm der Alte gesagt, denn einen Tag später hätte er die Stelle jedenfalls durch einen Andern besetzt gefunden.




Die Glanzhöhe der Saison in Saratoga, dem eleganten Badeorte, war vorüber. Die bekanntesten fashionablen Schönheiten waren bereits unsichtbar geworden und mit ihnen der größte Theil derjenigen Familien, die nicht „mit Jedermann“ verkehren mochten und sich so, trotz aller tödtlichen Langeweile auf einen engen Umgangskreis Solcher beschränkt hatten, deren Vermögensverhältnisse sich in genauer Linie mit den ihrigen befanden. Mit dem Verschwinden der Exclusiven, ihrer bekannten Equipagen und ihrer lärmenden, ungezogenen Kinder aber schien eine ganz andere Luft in „Congreß-Hall“, dem alten, renommirten Badehotel, einzuziehen; der allgemeine Ton ward freier, die zurückgebliebene junge Damenwelt, die sich nicht vorgesehen hatte, jeden Tag in dreimal verschiedener Toilette und jeden Tag, die langen Wochen hindurch, in immer Neuem zu erscheinen, athmete auf, und zur Entschädigung für einen bereits stattgefundenen, aber nur von der Elite der Gäste besucht gewesenen Ball ward jetzt Agitation für eine ganze Reihe zwangloser Tanzunterhaltungen gemacht. Ein großer Theil der noch Anwesenden bestand aus Familien aus dem Süden, welche, später angekommen, die letzten heißen Tage hier noch zu verbringen gedachten.

Es war Nachmittags drei Uhr vorüber, die Zeit, an welcher die große, von Schlinggewächsen umsponnene Piazza vor dem Hotel, der Lieblingssammelplatz der Badegäste, am vereinsamtesten war. Wer nicht eine Spazierfahrt angetreten hatte, ruhte in voller äußerlicher Ungezwungenheit in seinem Zimmer, und nur einzelne Männergestalten, halb schlafend, halb rauchend, machten sich, in die bequemste Stellung gestreckt, hier und da auf dem langen, eleganten Vorbau sichtbar.

Nahe den Eingangsstufen saßen zwei Männer in sichtlich angelegentlichem Gespräche bei einander. Der Eine von ihnen, stets auf seinem Stuhle zurückgelehnt, trug den langen, schwarzen Rock der amerikanischen Geistlichen, während sein übriger Anzug sich dem modischen Geschmacke möglichst näherte; volles braunes Haar beschattete ein sorgfältig rasirtes Gesicht, das in diesem Augenblicke zu unbeweglichem Marmor geworden zu sein schien. Der Zweite, jünger und seinem ganzen Aeußeren nach ein Kind des Südens, hatte soeben seinen Stuhl näher zu seinem Gesellschafter gerückt.

„Sie dürfen mir in dieser Weise nicht ausweichen, Mr. Curry,“ sagte er, mit finsterm Blicke sich rasch durch das schwarze Haar fahrend. „Die Saison geht zu Ende, und meine Geduld ist es schon. Ich habe weder so viel Zeit noch überflüssige Mittel, um sie hier ohne eine bestimmte Aussicht opfern zu können, lieber gebe ich jetzt gleich eine Hoffnung ganz auf, an der ich zuletzt nur am Narrenseile gezogen werde, und wir treten uns wieder so gegenüber, wie wir es eines Tages thaten!“

Der Aeltere regte keinen Zug seines Gesichts, holte aber aus seiner Westentasche ein kleines Messer hervor, mit welchem er sich die Nägel zu putzen begann. „Ich halte es für entschieden besser, die Angelegenheiten ruhig und kalt zu betrachten,“ sagte er. „Unsere jetzige Stellung zu einander ist durchaus verschieden von jener, welche Sie soeben andeuteten –“

„Jedenfalls wird sie noch immer den nöthigen Effect ausüben!“ fuhr der junge Mann mit einem bittern Lachen auf.

Der Erstere warf einen raschen Blick nach den fernsitzenden Gästen und hob dann langsam den Kopf. „Nicht so ganz als Sie vielleicht meinen, Mr. Young,“ erwiderte er kalt. „Falls Sie indessen das Gespräch in der so eben begonnenen Weise weiter führen wollen, so erlauben Sie lieber, daß ich Sie verlasse.“

Der Jüngere sah seinem Gesellschafter eine Secunde lang in die halb verschleierten Augen. „Ich sollte wenigstens neugierig sein zu erfahren, was Sie mir noch zu sagen haben,“ versetzte er dann mit einem gedämpften, unmuthigen Lachen, „ich werde Sie also jetzt mit keinem lauten Worte in weitere Verlegenheit setzen – fahren Sie fort!“

[192] Curry neigte wie befriedigt den Kopf. „Die Sachlage ist einfach die folgende,“ sagte er mit noch mehr gemäßigter Stimme.

„Sie glaubten vor einiger Zeit, ich habe mich bei Ausübung meines Amtes eines sündlichen Uebergriffes gegen Ihre Schwester schuldig gemacht, wurden aber bald so von Ihrem Irrthum überzeugt, daß Sie mir Ihr besonderes Vertrauen schenkten und mich sogar zum Mittelmanne machten, um in genauere Beziehung zu Mrs. Burton und deren Tochter zu kommen.“

„Erlauben Sie einen Augenblick,“ fiel ihm Young, dem das Blut in’s Gesicht stieg, in die Rede. „Erstens handelt es sich nicht um einen Irrthum, sondern um ein Verbrechen, das Sie an meiner Schwester begingen, und das ich nur des Mädchens wegen für den ersten Augenblick verschwieg. Sie selbst aber waren es, der mir Miß Burton mit ihrem Vermögen als Köder vor die Augen hing – “

Curry winkte beschwichtigend mit der Hand. „Das sind Ihre Ansichten von der Sache, Sir,“ sagte er ruhig, „Ansichten, die Ihrem Benehmen kaum Ehre machen würden und außerdem Ihnen die Möglichkeit, Ihren finanziellen Verhältnissen durch eine Heirath aufzuhelfen, sofort nehmen müßten, lassen Sie uns friedlich mit einander gehen, so werden wir Beide am besten fahren, und drängen Sie mich nicht in einer Weise, die mir es ganz unmöglich macht, für Ihr Interesse zu wirken. Mrs. Burton ist ein eifriges Mitglied meiner Kirche, aber dennoch muß ich der besondern Stunde warten, die mir den rechten Einfluß auf sie gewährt.“

„Aber es handelt sich um ihre Stieftochter, die nicht einmal zu den Methodisten gehört!“

„Richtig! Um deren Erziehung sich aber der Vater nicht kümmert, und die deshalb unter der vollen Controlle der Stiefmutter steht.“

In diesem Augenblicke klang ein voller Pianoaccord, dem ein rasender Läufer folgte, aus dem großen Versammlungszimmer; einzelne barocke Sprünge folgten nach, dann schlug eine Thür zu und wie im Sturm erschienen zwei junge Mädchen auf der Piazza, der Ausgangstreppe zueilend. Young hatte bei dem ersten Tone gehorcht und sprang bei dem Erscheinen des Paars auf. Mit Erblicken der Männer indessen zügelten Beide ihren Schritt, zogen die verschobenen breiten Strohhüte zurecht und kamen hochaufgerichtet, mit glühenden Wangen heran – einen halben Schritt voraus eine schlanke Brünette, mit dunkeln, muthigen Augen und halb spöttisch aufgeworfenem, üppigem Munde, während in dem dunkelblonden Haare, den lachenden Augen und den weichen, maifrischen Zügen ihrer Gefährtin, die nur mit einer leichten Scheu zu folgen schien, sich ein Gegensatz von eigenem Zauber bot.

„Miß Burton, ich bin glücklich, Sie noch einmal zu sehen,“ sagte Young, der Brünette entgegentretend, „ich denke morgen mit dem Frühesten abzureisen und hoffe, daß wir uns bald in den gewohnten Kreisen der Heimath wiedersehen!“

„Ich glaube wohl, Sir, daß Sie glücklich sind, Abschied zu nehmen!“ lachte die Angeredete, „grüßen Sie mir unsern schönen Wald und sagen Sie ihm, er habe zwar lange keine so schöne Menagerie von allerhand wunderbarem Gethier, wie es sich hier einsperren läßt, ich käme aber doch, so bald ich könnte!“ Sie nickte dem jungen Manne leicht zu und eilte, von ihrer Begleiterin gefolgt, die Stufen hinab, als habe sie den dasitzenden Geistlichen kaum bemerkt – ein helles Kichern aber klang, schon als sie nicht mehr sichtbar waren, aus der Ferne herüber.

„Sie gehen also morgen schon?“ begann Curry, als wolle er die Gedanken seines Gesellschafters von dem eben erfolgten Auftritte abziehen.

„Ich gehe, Sir, denn meine Anwesenheit ist daheim nothwendiger als hier!“ erwiderte Young die Augen zusammenziehend. „Denken Sie aber daran, daß wir Preis um Preis gegenseitig handeln, und daß ich noch immer zu guter Geschäftsmann bin, um ohne Weiteres einer absichtlichen Täuschung zum Opfer zu fallen!“ Er wandte sich langsam weg und schritt dem Hause zu; der Geistliche aber sah ihm kurz nach, preßte dann die Lippen zusammen und begann das Ausputzen seiner Nägel von Neuem.

Fortsetzung folgt.)


Eine Todtenfeier Klopstock’s. Zu Ottensen unter der Linde liegt der Sänger des Messias bestattet. Mit fast königlichem Gepränge hatte man die sterbliche Hülle Klopstocks der Erde übergeben. Die Behörden und Bürger Hamburgs, wo er sich die letzten dreißig Jahre seines Lebens beinahe ununterbrochen aufgehalten, waren dem Sarge in über siebzig Wagen und in unendlichem Zuge gefolgt; unter militärischer Ehrenwache und unter dem vollen Geläute von sechs Thürmen hatte man Altona, wo sich andere fünfzig Wagen anschlossen und auf den Schiffen im Hafen Trauerflaggen wehten, und bald das Dorf Ottensen erreicht. Eine sinnige Feier in der Kirche daselbst war noch abgehalten worden, indem man einentheils aus dem Messias, an der sich der Dichter in seinen letzten Augenblicken gelabt hatte, vorlas und weinende Chöre Klopstock’sche Lieder sangen. Dann war der Sarg mit Blumen überschüttet in die Erde gesenkt worden. So Klopstock’s Todtenfeier im Frühling des Jahres 1803.

Ganz im Gegensatz zu ihr steht aber eine andere, die Jahre lang nachher still und sinnig in dem Hause des dahingeschiedenen Dichters begangen wurde, und zwar von Niemand anders als von seiner hinterlassenen Gattin und – dem alten Blücher.

Als dieser nämlich im Jahre 1817 auf dem Gipfel des Ruhmes sein Vaterland Mecklenburg wieder einmal besuchte, gelangte an ihn von Hamburg aus die Einladung, doch auch hierher zu kommen: habe man die trüben Tage mit einander getheilt, so wünsche man auch die guten mit einander zu genießen. 1808 nämlich, nach der unglücklichen Affaire zu Lübeck, hatte sich Blücher nach Hamburg begeben und war in der kurzen Zeit seines Aufenthalts mit Jung und Alt, Vornehm und Gering in die traulichsten Beziehungen getreten. Seit diesen Tagen hatte man ihn nicht wieder gesehen und bat nun jetzt, nachdem sich so Vieles geändert, den alten Marschall Vorwärts um seinen Besuch. Aber in einer verbindlichen Antwort bedauerte er, dieser Einladung nicht folgen zu dürfen, da seine Gegenwart in Berlin nothwendig sei. Indem er jedoch die Feder ansetzte, dies zu unterzeichnen, wurde es ihm wieder leid und schnell entschlossen schrieb er unter den Absagebrief: „Ich will doch kommen!“ – Er kam, und unermeßlicher Jubel empfing ihn. „Man erzeigt mir zu viel Ehre,“ rief er aus; „ich habe wahrhaftig nichts als meine Schuldigkeit gethan.“ Auf den ununterbrochenen Ruf: „Vater Blücher!“ zeigte er sich dem in der Straße, an den Fenstern, auf den Dächern gedrängten Volke, immer ein treffendes, ein biederes, ein heimliches Wort in Bereitschaft. Man illuminirte die Stadt, man gab im Theater ein Stück „Vorwärts“, und auf einem Balle, ihm zu Ehren gegeben, sangen ihm zwanzig junge Mädchen ein Ehrenlied, wofür er alle zwanzig der Reihe nach und unter lautem Hurrah der Gesellschaft küßte. Mit dem Ehrenbürgerrecht beschenkt reiste er nach zehntägigem Aufenthalt wieder ab; „es ist die höchste Zeit, daß ich gehe, denn ich erliege sonst,“ hatte er beim Abschiede gesagt. –

Aber mitten in dieses öffentliche Geräusch fiel nun eben jene stille, sinnige Todtenfeier Klopstock’s, die der greise Feldherr mit der hinterlassenen Wittwe beging.

Blücher hatte Klopstock persönlich gekannt und geschätzt, hatte ihn wohl als seinen Freund bezeichnet. Nur mit entblößtem Haupte ging er an des Dichters Grabstätte zu Ottensen vorüber und konnte sich auch in diesen festlichen Tagen seines Hamburger Aufenthalts nicht versagen, die Wittwe desselben aufzusuchen. Sein Gastfreund von Hostrupp hatte fragen müssen, ob und wann er sie besuchen dürfe, und war dann der einzige bei der Zusammenkunft Gegenwärtige.

Die ehrwürdige Matrone empfing in Trauer gekleidet den alten Feldmarschall. Ehrerbietig hatte sie ihn erwartet an der Thüre des unscheinbaren Hauses, wo sie mit ihrem Gatten gelebt und das mit der Inschrift bezeichnet ist: „Hier lebte und starb Klopstock.“ Ein Frühstück stand bereitet, und man nahm Platz an dem einfach geschmückten und besetzten Tische. Mit inniger Liebe gedachten die beiden Alten des Dahingeschiedenen und seiner Werke, besonders der Oden und der Lieder, die Blücher genauer kannte; ein Glas Portwein wurde dazu getrunken. Vor langen, langen Jahren hatte nämlich, wie jetzt die Wittwe des Dichters ihrem Gast und dem ihn begleitenden Hostrupp erzählte, der König von Dänemark ihrem Gatten zwanzig Flaschen vorzüglichen Portwein geschenkt. Lange hatten sie und nur bei festlichen und außerodentlichen Gelegenheiten davon getrunken. Eine war noch im Keller, als Klopstock sich zum Sterben legte. „Hebe sie auf,“ hatte er noch gesagt, „bis zu einem seltenen Ehrenfalle.“ So erzählte die Wittwe und fuhr fort: „Dieser ist jetzt gekommen, meinem Hause ist die Ehre widerfahren durch Euer Durchlaucht Gegenwart. Mir und dem Weine geschieht Ehre, wenn Sie ihn trinken.“ – Man trank still und gerührt, und Thränen im Auge feierte der greise Held den heimgegangenen Dichter.

M. B. 

Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das erste Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal des neueu Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen. Der Schluß des Gerstäcker’schen Briefes erscheint in einer der nächsten Nummern.

Leipzig, im März 1861.
Die Verlagsbuchhandlung.  

  1. Das Loos bezieht sich auf die Soldaten-Conscription; auf das Sterzinger Moos gehören nach dem Sprüchwort die alten Jungfern.
  2. Einem meiner Studiengenossen, der später im fernen Afrika als österreichischer Consul ein bewegtes Leben endete, wurde das Stipendium entzogen. Einige Wochen später meldete er sich bei dem Ephorus, der ihn, Reclamationen witternd, mit einem grimmigen: „Was wollen Sie?“ anschnauzte. „Entschuldigen Sie,“ antwortete Konstantin, „wenn ich Sie störe. Ich wollte nur aus Mitleiden mit meinem Nachfolger mich bei Ihnen erkundigen, wie ihm das Stipendium bekömmt.“ „Brauchen gar nicht zu fragen,“ schnaubte wüthend der Ephorus, „es wird schon gegessen werden.“
  3. Nil melius turdo – nichts Besseres, als ein Krammetsvogel, sagt Horaz in einem seiner Briefe.
  4. Ein Nachklang der römischen Einrichtungen findet sich noch jetzt, wenn auch in kleinerem Maßstabe, in einigen Gegenden Italiens. Nur mästet man jetzt Ortolane statt Drosseln. Auf einem Landhause bei Genua sah ich eine solche Ortolanen-Mästanstalt, die mit etwa 5000 Stück besetzt war und ärger stank, als ein Schweinestall.