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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[613]

No. 43. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.       Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Aus dem Gedenkbuche der Gartenlaube.
So wie ein Mensch am herrlichsten erscheint, wenn er kräftig an seinem Schicksal arbeitet, so sind die Völker am größten, so lange sie mit Energie an ihrer innern Bildung, an ihrer Verfassung, ihrer Stellung gegen andere Völker arbeiten. Ein uneiniges, schlaffes Volk, das sein Glück und seine politische Bedeutung dem Zufall oder der zufälligen Laune seines Herrschers anheimstellt, verdient seinen Untergang.
B. 


Der Unheimliche.
Vom Verfasser der „Neuen Deutschen Zeitbilder“.
(Schluß.)

Man brach zur Jagd auf. Die Herren, die Jäger draußen, die Treiber, die Hunde, Alles eilte lustig und fröhlich zu dem lustigen und fröhlichen Waidwerke.

Man hatte eine glückliche Jagd. Das weitläufige Revier des Baron Steinhaus bot sie. Hasen und Füchse wurden in Menge erlegt; selbst Eber stellten sich zum Abfang. Auch an Abenteuern fehlte es nicht. Wenn die Jäger sich begegneten, mußten sie mit freudestrahlendem Gesichte einander zurufen: Das ist ein köstlicher Tag! – Um neun Uhr Morgens war man, wie verabredet worden, auf die Jagd ausgezogen. Es sollte den Tag über ununterbrochen bis um drei Uhr Nachmittags gejagt werden. Dann sollten die Hörner die Gesellschaft an einem bestimmten Orte im Walde zur gemeinsamen Rückkehr nach dem Schlosse sammeln. So war die Anordnung getroffen.

Es konnte zwölf Uhr Mittags sein, als auf einmal die Hörner zum Sammeln riefen. Drei Stunden früher und ein anderer Platz! Was war da vorgefallen? Was sollte das bedeuten? Die Gäste sahen sich fragend untereinander an. Sie konnten es sich nicht sagen und eilten zu dem Sammelplatze, zu dem gerufen wurde. Auf dem Wege dahin trafen sie den Wirth und fragten ihn. Er wußte ebenfalls nichts, und er war erstaunter und verwunderter, als sie.

„Und Ihr Baron Lauer ist auch nicht gekommen, Steinhaus?“

„Wenn Ihr ihn nicht gesehen habt –“

„Nein.“

„So hat er noch nichts von sich sehen und hören lassen.“

„Ein Mann von Wort scheint er eben nicht zu sein.“

„Wer weiß? Er kann noch immer Abhaltung haben. – Aber,“ unterbrach der Baron Steinhaus plötzlich sich selbst, „aber ein Sonderling bleibt er.“

Sie waren auf dem Sammelplatz angekommen, und Alle standen auf ein Mal wie vor einem fremdartigen Zauber. Es war ein abgelegener kleiner, lichter Platz, mitten im Walde. Auf der einen Seite bildeten hohe, starre Felsen seine Wand, auf den drei anderen Seiten schlossen dicht zusammenstehende, mächtige, uralte Tannen ihn ein. Im Sommer hätte man kaum eine romantischere und heimlichere Stelle in dem Dickicht eines Waldes aufsuchen können. Mitten im Winter war es fast schauerlich hier. Der Boden der Lichtung selbst war mit der weißen Schneekruste bedeckt, auch die Spitzen der Tannen waren weiß und die Zacken der Felsen. Aber dunkelgrau starrten die Wände der Felsen in die Höhe und unter den Zweigen der Tannen war es rabenschwarz.

Allein man konnte kaum darauf achten, und vielleicht nur ein Einziger hatte es beachtet, auf den hatte es aber einen sonderbaren Eindruck gemacht.

In der Mitte des lichten Platzes war eine Tafel gedeckt, voll mit Speisen und Weinen und Allem, was das Herz eines von Glück wie von Beschwerden einer Winterjagd angegriffenen Waidmanns erfreuen kann. Der Boden unter der Tafel war mit warmen Decken belegt, um die Tafel standen harrende Bediente.

Der Baron Steinhaus kannte sie. Es waren die Bedienten des Baron Lauer. Einer der Diener überreichte ihm ein Schreiben seines Herrn. Der Baron bat wiederholt um Entschuldigung seines Verspätens. Nachkommen werde er, er bleibe nie aus; aber für den Augenblick sei er noch immer abgehalten. Er hoffe die Herren bei dem kleinen Waldfrühstück zu begrüßen, mit dem er sie vorlieb zu nehmen bitte.

„Es ist zwar etwas sonderbar,“ sagte der Baron Steinhaus, „aber ein Sonderling bleibt er nun einmal.“

Und die Herren nahmen vorlieb. An der Seite thaten es die Jäger und Treiber, für die der Sonderling gleichfalls Erfrischungen hatte herbeischaffen lassen. Alle wurden gar besonders fröhlich und lustig. Auch der Baron Benzing wieder. Er war es, auf den der romantische, aber auch wilde und grausige Platz jenen sonderbaren Eindruck gemacht hatte. Namentlich nach den Felsen hin hatte er seine Blicke richten müssen, als wenn er auch hier plötzlich und unerwartet sich an einer Stelle wiederfinde, die er schon kenne.

[614] Die Bedienten des Sonderlings, der hier so sonderbar den Wirth machte, hatten sich zu den Jägern seitab begeben. Die Unterredung an der Tafel der Herren wurde lebhafter.

„Ihr Baron Lauer, oder wie er heißt, Baron, hat Geschmack.“

„Und vortreffliche Weine.“

„Er muß reich sein, dieser sonderbare Kauz.“

„Ich weiß es nicht,“ erwiderte der Baron Steinhaus. „Ich kenne ihn, wie gesagt, nur seit kurzer Zeit.“

„Wie haben Sie ihn kennen gelernt?“

„Er wohnt hier in der Nähe.“

„Wie? Und wir wissen nichts von ihm!“

„Freilich erst seit drei oder vier Wochen.“

„Und wo?“

„Ein paar Meilen von hier liegt an einer alten Landstraße ein altes, einsames Wirthshaus.“

„Dort wohnt er?“

„Ganz allein, das heißt ohne Familie, aber mit Bedienten und Jägern und Hunden. Und capitale Hunde hat er. Ah, ein paar Schweißhunde solltet Ihr von ihm sehen, so etwas sähet Ihr noch nicht. Er wird sie hoffentlich mitbringen. Er versprach es.“

„Aber erzählt weiter von ihm, Baron, ehe er kommt. Ihr habt uns neugierig auf ihn gemacht.“

„Vor vierzehn Tagen ließ er mich um die Erlaubniß bitten, in meinem Reviere dann und wann jagen zu dürfen. Er sei ein großer Liebhaber der Jagd; was er schieße, werde er jedesmal getreulich an meine Jäger abliefern.“

„Er hatte Euch vorher keinen Besuch gemacht, Baron?“

„Ich hatte noch nicht einmal von ihm gehört.“

„Eine sonderbare Einführung.“

„Ich gab ihm die Erlaubniß, und als ich einige Tage nachher – Ihr wißt, ich muß oft aus der Residenz zu meinem Gute – wieder hierher kam, lud ich ihn ein, gemeinschaftlich mit mir eine Jagd zu machen. Er nahm an, und ich kann Euch sagen, ich habe noch keinen ausgezeichneteren Jäger kennen gelernt. Er war auch mit die Veranlassung zu unserer heutigen Jagdpartie, denn als ich zufällig Eure Namen nannte, bat er mich dringend, in Gesellschaft so tüchtiger Jäger jagen zu dürfen.“

„Viel Ehre für uns, Baron.“

„Eins möchte ich nur genauer wissen,“ fuhr der Baron Steinhaus fort, und er sprach leiser und seine Miene wurde geheimnißvoll.

„Das ist, Baron?“

„Die Leute behaupten, er sei nicht zum ersten Male hier in der Gegend.“

„Man will ihn schon früher hier gesehen haben?“

„Im vorigen Sommer, sagt man.“

„Und was sagt er dazu?“

„Ich habe ihn noch nicht darüber befragt.“

„Ihr hattet Bedenken, Baron?“

„Die Leute reden so Allerlei.“

„Was zum Beispiel?“

„Sie wollen namentlich seine damalige Anwesenheit mit einer geheimnißvollen Geschichte in Verbindung bringen, die sich zu jener Zeit hier zugetragen haben soll. Sie erzählen, im vorigen Sommer habe mehrere Tage lang ein Mann den Forst durchstrichen, der Aehnlichkeit mit dem Baron Lauer gehabt habe. Sie haben ihn nicht bestimmt wieder erkannt. Er hat sich jedesmal eilig zurückgezogen, wenn ihm Jemand hat nahen wollen, und gesprochen hat ihn kein Mensch.“

„Aber wenn er sich hier mehrere Tage aufgehalten hat, so muß er doch irgendwo eine Wohnung gehabt haben.“

„Man hat keine ermittelt. Auch in dem Wirthshause, in dem er jetzt logirt, hatte man ihn früher nicht gesehen.“

„Das ist sonderbar. War er allein gewesen?“

„Ganz allein, man hat nie einen Menschen bei ihm gesehen.“

„Aber die geheimnißvolle Begebenheit, Baron!“

„Ich komme zu ihr. In jener nämlichen Zeit will man einmal in der Nacht plötzlich einen furchtbaren Schrei gehört haben; bald darauf das Gerassel eines Wagens. Dann ist mit einem Male Alles still gewesen. Man ist zu der Gegend hingeeilt. Den Eilenden kommt aus dem Dickicht des Waldes der Fremde entgegen. Er sieht so sonderbar, so finster aus. Die Leute erschrecken vor ihm. Es waren abergläubische Köhler. Sie kehren zurück, und der Finstere verschwindet wieder in dem Dickicht des Waldes. Erst am andern Morgen gehen Einige wieder hin. Sie haben nichts gefunden.“

„Und das hatte sich in der Nacht zugetragen?“

„Im vorigen Spätsommer, mitten in der Nacht, einige Meilen von hier.“

„Und man hat auch später nichts von der Sache gehört?“

„Gar nichts.“

„Und jener Fremde soll der Baron Lauer sein?“

„Die Leute glauben, ihn wieder zu erkennen,“

„Sah man den Fremden seit jener Nacht wieder?“

„Niemand hat ihn seitdem wieder gesehen, – wenn es nicht der Baron Lauer ist.“

„Teufel, man muß ihn geradezu fragen!“

Es war nicht der Baron Benzing, der dies sagte. Hatte auf diesen schon der Anblick des Platzes, an dem man sich befand, einen eigenthümlichen Eindruck hervorgebracht, die Erzählung des Barons Steinhaus schien ihn, wenigstens einen Augenblick, in einem noch höheren Grade ergriffen zu haben Schon als des Aufenthaltes des Fremden, des muthmaßlichen Barons Lauer, in der Gegend während des verflossenen Sommers erwähnt wurde, fuhr er plötzlich auf, und ein aufmerksamer Beobachter hätte von da an ein ebenso angelegentliches wie unruhiges Zuhören an ihm wahrnehmen können. Die Unruhe suchte er freilich sehr angelegentlich zu verbergen. Als der Baron Steinhaus dann aber von der geheimnißvollen Geschichte sprach, war er leichenblaß geworden. Freilich nur für einen Moment. Ein kräftiger Zug aus seinem Weinglase hatte ihm die Farbe zurückgegeben. Große Anstrengung gab ihm auch eine äußere Ruhe wieder. Aber in seinem Innern mußte es desto unruhiger, wilder stürmen.

Sein Auge suchte, ob es von der Gesellschaft bemerkt werde, und wenn nicht alle Blicke nur an dem Erzähler hingen, hätte man eine Angst, eine Todesangst darin sehen können, die mit Entsetzen erfüllen mußte, und die mit Entsetzen umher suchte, wo denn Rettung zu finden sei. Nach jenen starren Felsen starrten die Augen hin, dann in das schwarze Dunkel der Tannen, dann zurück nach einem kleinen Pfade, der aus dem Walde in die Lichtung führte, als wenn von dort das Unglück, der Tod kommen müsse; dann wieder in die grauen Felsen, als wenn aus ihnen ein furchtbares Gespenst herausschreiten müsse, mit dem Tode hinter ihm sich zu vereinigen.

Ein helles, lustiges Halloh ertönte im Walde, kaum vierzig bis fünfzig Schritte entfernt. Die Schützen und Treiber seitab antworteten hell und lustig halloh! Der Baron Steinhaus brach das Gespräch über den Fremden und die geheimnißvolle Geschichte ab.

„Unser Sonderling!“ sagte er. „Das war der Ruf seines Jägers. Er wird auch seine Hunde mit sich führen.“

Der Sonderling erschien. Es war ein langer, hagerer, sehr ernst aussehender Mann, derselbe, den wir aus dem Bade her kennen – der Unheimliche, Ein Jäger, zwei Schweißhunde am Seile führend, folgte ihm. Der Unheimliche begrüßte die Gesellschaft. Dann wandte er sich an den Baron Steinhaus: „Sie haben mir verziehen?“

„Sie sind ein Sonderling, aber immer ein liebenswürdiger, der keiner Verzeihung bedarf.“

„Immer?“ lächelte eigenthümlich der Unheimliche. „Doch darf ich bitten, mich den Herren vorzustellen?“

Der Baron Steinhaus stellte vor: „Baron Lauer!“ dann „Graf Sternfeld!“ Die beiden Herren waren einander völlig unbekannt. „Freiherr von Mangold!“ Der Baron Lauer kannte auch den Freiherrn nicht. „Baron Benzing!“ Den Baron durchzuckte es wieder. Aber der Unheimliche kannte auch ihn nicht. Keine Miene seines Gesichts zeigte, daß er ihn je gesehen, je von ihm gehört habe. Er begrüßte ihn, wie die Anderen, als einen völlig Fremden. Er setzte sich zu ihnen. „Ich darf noch mit Ihnen frühstücken, meine Herren, bevor wir unser edles Werk fortsetzen?“ Aber bevor er etwas anrührte, sah er sich um, nach seinem Jäger und den beiden Schweißhunden. „Führe sie dorthin,“ sagte er zu dem Jäger. Er zeigte nach einer Stelle in der Nähe der Felsen, nicht weit von einer riesigen Tanne, die dort stand. „Du bleibst aber bei ihnen,“ setzte er hinzu. Der Jäger führte die Hunde hin.

Der Baron Benzing erbebte, als er die Hunde sich der Stelle nahen sah. Die anderen Herren aber sahen den beiden Thieren mit Entzücken nach. Der echte, kluge, kräftige braune Schweißhund ist ein schönes Thier. Man konnte ihn nicht schöner, nicht von [615] besserer Race, nicht von feinerem und doch kräftigerem Knochenbau, nicht von glänzenderer brauner Farbe, nicht mit prachtvollerem Behang, nicht mit klügerem Auge sehen, als diese beiden edlen Thiere.

„Ein paar Prachtexemplare!“ ertönte es von allen Lippen,

„Die müssen sich auf den Schweiß verstehen!“

„Ja,“ sagte der Unheimliche, „sie wittern ihn unter der Erde! Ich glaube, selbst unter dem Schnee!“ Er sagte es, wie mit absichtlichem Nachdrucke; aber er sah Niemanden dabei an. Dann begann er zu frühstücken.

„Man muß ihn geradezu fragen!“ hatte vorhin einer der Herren gesagt. Es war der Graf Sternfeld. Es ist ein eigen Ding mit dem Geradezufragen.

„Sie scheinen diese Gegend schon ziemlich genau zu kennen, Herr von Lauer,“ hob der Graf Sternfeld an.

„Meinen Sie, Herr Graf?“

„Sie haben für unser Frühstück einen so überaus geeigneten Platz ausgewählt.“

„Gefällt er Ihnen, dieser Platz?“

„Ich finde ihn anmuthig, diese schroffen Felswände, diese mächtigen, alten Tannen. Im Sommer muß es hier reizend sein.“

„Gewiß, Herr Graf.“

„Sie waren im Sommer schon hier?“

Der Gefragte sah auf. Er warf zuerst einen kurzen Blick schnellen Nachsinnens auf den Frager, dann einen längeren, wie des zweifelhaften Ueberlegens, auf den Baron Benzing. Dieser hatte schon lange seine volle äußere Ruhe wiedergewonnen. Nichts an ihm verrieth eine Bewegung in seinem Innern.

Der Unheimliche schien zu überlegen. Er ließ sein Auge über die Gesellschaft an der Tafel gleiten, über die Diener, die seitab lagerten, über die schroffen Felsenwände, in das Dunkel unter den alten Tannen, auf die frische, unberührte Schneedecke zwischen den Tannen und den Felsen, zuletzt auf die beiden schönen braunen Schweißhunde, die in der Nähe dieser Decke, ebenfalls auf dem Schnee, sich ausgestreckt hatten. Dann hatte er seinen Entschluß gefaßt. Und laut und langsam die Worte betonend, antwortete er dem Grafen: „Ja, ich war schon hier, im Sommer, im vorigen Sommer!“

Der Baron Benzing saß ihm gegenüber. Er mußte doch wieder einen Stich in das Herz bekommen haben. Seine Augen flogen in das Weinglas, aber er konnte sie wieder erheben.

Die Anderen waren neugierig geworden. Die Erinnerung an jene geheimnißvolle Geschichte, von welcher der Baron Steinhaus gesprochen und nicht gesprochen hatte, und die eigenthümliche Betonung der Worte des unheimlichen Fremden konnten wohl eine Bewegung in ihnen hervorrufen.

„Ihre Antwort läßt fast vermuthen,“ sagte der Graf Sternfeld, „daß Sie ein Abenteuer hier gehabt hätten.“

„Das hatte ich.“

„Darf man es erfahren?“

„Warum nicht, meine Herren? Es ist nur die Frage, ob Sie es hier gleich anhören wollen?“

„Gewiß, gewiß.“

„Es ist freilich nicht sehr kurz.“

„Wir haben Zeit.“

„Und dann – wenn ich es Ihnen erzählt habe – doch ich erzähle.“

Er erzählte, der unheimliche Mann mit einem unheimlichen Humor:

„Ich reise viel in der Welt umher. Ich bin eigentlich ein stets unsteter Reisender. Es ist ein Schicksal, das in der Welt mich umhertreibt, durch Länder, über Meere, in große Städte, in lebhafte Badeörter, in einsame Wälder. Ich muß es so. Meine Stellung, oder nennen Sie es mein Amt, erfordert das. Ich sehe so auch allerlei Menschen und allerlei Treiben der Menschen. Auch das ist meine Bestimmung. An manche Menschen fesselt mich diese ganz besonders. Zuweilen wissen sie es, noch öfter auch nicht. Es ist dann desto schlimmer für sie. Vielleicht ahnen Sie meine Mission, meine Herren, aber jetzt keine Moral, wenigstens in diesem Augenblicke nicht.

„In einer deutschen Hauptstadt lernte ich schon vor Jahren einen jungen Mann kennen. Er war ein hübscher, talentvoller Mensch, der Sohn braver Eltern; es fehlte ihm nur Eins, ein edles Herz. Er studirte – lieber noch spielte er. Mit dem Spielen junger Leute verbindet sich Vieles, was mehr Geld kostet, als auch das glücklichste, ehrliche Spiel einbringt. Er wurde falscher Spieler. Ein unedles Herz muß gemein werden und wird es bald. Ein gemeines Herz ist eigentlich schon mehr, als ein verbrecherisches. Die betrogenen Cameraden warfen den falschen Spieler aus ihrer Mitte, und die Polizei nahm ihn in ihre Mitte. Die Gerichte verurteilten ihn zu Gefängnißstrafe, doch nur von einigen Monaten. – Aber, meine Herren, vergessen wir unsere Gläser nicht. An ein gutes Ende unserer heutigen Jagd!“

Sie stießen Alle mit ihm an.

„Ah, Herr Baron Benzing, ich bitte sehr um Entschuldigung. Ich stieß wohl zu hart an Ihr Glas; sein Inhalt ist halb verschüttet. Erlauben Sie, daß ich es Ihnen vollschenke.“ Der Inhalt des Glases des Herrn von Benzing war halb verschüttet, aber daß der Baron Lauer zu hart daran gestoßen habe, das mußte wohl ein – höflicher Irrthum des Barons sein. Die Hand des Herrn von Benzing zitterte noch, als er dem Andern sein Glas zum Vollschenken hinhielt. Der Baron Lauer aber sah es nicht, er fuhr fort zu erzählen.

„Ein halbes Jahr später traf ich bei Verfolgung meiner Mission den jungen Mann in der französischen Hauptstadt Er war kein Student mehr, aber er spielte noch, nur anders in Paris, als in der deutschen Hauptstadt. Er selbst war jetzt der Betrogene – im Spiele, anderswo betrog er dafür Andere. Um nicht auf die Galeeren zu kommen, mußte er freilich bald flüchten. Und im nächsten Sommer sah ich ihn als Croupier in einem deutschen Bade. Hier betrog er zwar nicht mehr; er war schon weiter gekommen: er stahl. Er kam noch weiter: in das Zuchthaus, leider nur auf ein Jahr. Nach Verlauf des Jahres war er Dieb und zugleich Betrüger in London. Doch auch nicht lange. Auch in London hat man eine gute Polizei – gegen Diebe und Betrüger. Er wußte wieder nach dem Continente zu entkommen, Er ging nach Hamburg. Er war unterdeß noch weiter vorangeschritten. In Hamburg zeigte er es. Er wußte sich die Liebe eines eben so schönen wie braven Mädchens zu gewinnen. Sie gehörte einer achtbaren, aber wenig bemittelten Bürgerfamilie an. Er stellte sich ihr als einen reichen Erben des südlichen Amerika vor. Er verführte sie; er verdarb sie. Im vorigen Sommer traf ich ihn mit ihr in einem deutschen Bade wieder. Sie mußte reiche junge Leute an sich locken, im Spiele und auf andere Weise ausziehen – für ihn, Er selbst ging unterdeß seinen besonderen Geschäften nach.

„Sie werden ungeduldig, Herr von Benzing! Ich erzähle leider langweilig. Es ist mein Unglück. Aber stoßen wir an, meine Herren. Der Wein stärkt auch die Geduld. Und ich bin bald zu Ende. Ich komme wenigstens zu dem letzten Acte meiner Geschichte.“ Sie stießen an.

„Ah, Herr von Benzing, diesmal war ich nicht wieder so ungeschickt. – Aber, Louis, was haben die Hunde? Sie werden so unruhig,“ Die letzteren Worte richtete der Baron Lauer an seiner Jäger, der mit den beiden Schweißhunden an den Tannen hielt.

Die beiden Thiere waren in der That unruhig geworden. Sie lagen zwar noch, malerisch schön, mit den Köpfen auf ihren Vordertatzen, aber die Nüstern hatten sie spürend in die Höhe gestreckt, und die Augen waren unbeweglich nach einem Punkte hin gerichtet

„Die Thiere müssen wirklich etwas haben, Euer Gnaden,“ antwortete der Jäger.

„Was könnte es sein?“

„Es erhob sich eben ein leichter Wind von den Felsen her.“

„Dort kann nichts sein, gebiete ihnen Ruhe.“

„Kusch!“ gebot der Jäger den Hunden. Die gehorsamen Thiere legten den Kopf wieder ganz auf die Füße, aber nur widerwillig

„Sie sahen und spürten in der That nach den Felsen hin,“ bemerkte der Baron Steinhaus.

„Ich sah es gleichfalls, Herr Baron, aber wenn dort unter dem Schnee nichts ist– und was könnte da sein? Dennoch bleibt es sonderbar. Die Thiere täuschen sich nie. Am Ende ist es wohl nur Ungeduld. Erlauben Sie mir deshalb, kurz fortzufahren.“

Dem Baron Benzing schien das Athmen schwer zu werden. Der unheimliche Erzähler fuhr fort: „Er, der junge Mann, von dem ich Ihnen erzähle – er führte damals im Bade den Namen Urner –“

Der Baron Benzing suchte mit der äußersten Gewalt dem Schlage des Namens zu begegnen. Er vermochte es nicht ganz, und fuhr unwillkürlich von seinem Sitze auf.

[616] „Sie haben ihn gekannt, Herr Baron Benzing?“ fragte der Unheimliche.

„Nein,“ konnte der Baron mit fester Stimme erwidern.

„Ich wüßte auch nicht. Der Name Baron Benzing kam wenigstens in den Curlisten damals nicht vor. Indeß, ich wollte mich kurz fassen. Der junge Mann selbst ging seinen besonderen Geschäften nach. Im Bade war ein braves Mädchen, nicht mehr ganz jung. Im mittleren Bürgerstande arm geboren, zudem früh Waise, hatte sie zu jenen Armen gehört, die von der Kindheit an dazu bestimmt sind, im sauren Dienst bei fremden Leuten ein Brod zu verdienen, das sie nur unter Thränen verzehren können. Sie fand freilich auch einen Lohn für ihre treuen, braven Dienste; aber der Lohn sollte ihr Unglück werden. Sie war längere Zeit Ladenjungfer bei einer kinderlosen Wittwe gewesen. Die Frau starb im vorigen Frühjahre und setzte sie zur Erbin eines nicht unbedeutenden Vermögens ein.“

Die Herren waren aufmerksamer geworden.

„Hat nicht von der Geschichte etwas in den Zeitungen gestanden, Herr Baron?“

„Ja, eine gerichtliche Bekanntmachung.“

„Wie war der Name der Person?“

„Marianne Bohle.“

„Richtig, sie wurde vermißt.“

„Deshalb bat das Gericht öffentlich um Auskunft über sie.“

„Und von ihr erzählen Sie, Herr Baron?“

„Von ihr will ich erzählen.“

„Sie wissen also von ihr?“

„Darf ich bitten, mir ferner zuzuhören? Die Dame war kränklich. In einem langen, schweren Dienst kann ein armes Mädchen das werden. Sie war in das Bad gegangen, um sich zu kräftigen. Der Herr Urner machte ihre Bekanntschaft. Sie besaß ein baares Vermögen von mehr als zwanzigtausend Thalern. Er gab sich ihr als einen reichen Kaufmannssohn aus Hamburg aus. Er bot ihr seine Hand an. Sie zögerte. Das Reine scheut sich instinctiv vor dem Unreinen. Ein Zufall kam ihm zu Hülfe. In dem Badeorte entstand Feuer, in demselben Hause, in welchem jene schöne Dame die jungen, reichen Herren an sich locken mußte. Die Dame selbst gerieth in die äußerste Lebensgefahr. Der junge Mann, der Herr Urner, rettete sie; ich muß es anerkennen, meine Herren, mit einem seltenen Muthe und mit augenscheinlicher Gefahr seines eigenen Lebens. – Sie sehen mich verwundert an, Herr von Benzing? Was wollen Sie? Auch der größte Verbrecher bleibt Mensch, und der größte Lump ist noch großer Thaten fähig. Bei ihm galt es zudem einen Zweck. Die Gerettete, ohnehin schon in seiner Gewalt, war jetzt vollständig seinem Willen unterworfen. Sie mußte mit ihm eine Komödie aufführen, in welcher sie die Reuige und er den Edelmüthigen spielte. So wurde die arme Marianne Bohle gefangen, und die Verlobte des Herrn Urner. Und darauf verschwand sie, und mit ihr waren ihre zwanzigtausend Thaler verschwunden, auch von einem Herrn Urner hat man seitdem nichts mehr gehört.“ Der Erzähler brach ab, man meinte, er sei mit seiner Geschichte zu Ende.

„Das wollten Sie uns erzählen, Herr Baron?“ –

Er hatte nur eine Pause gemacht.

„Das, meine Herren, stand schon in den Zeitungen. Ich mußte es Ihnen nur wiederholen, um zu der eigentlichen Geschichte zu kommen, die Sie von mir zu hören wünschten.“

„Von der Marianne Bohle, Herr Baron?“

„Und dem Herrn Urner, meine Herren. Aber, Louis, was haben die Hunde wieder?“

„Ich weiß es auch nicht, Euer Gnaden,“ antwortete der Jäger des Barons. „Sie wittern immer dort nach den Felsen hin,“

Die beiden Schweißhunde des Barons Lauer waren unruhiger geworden. Sie hatten sich halb erhoben, ihre Schnauzen waren nur noch nach den Felsen gerichtet, dahin auch ihre brennenden Augen; nur manchmal sahen sie mit diesen sich einander an, als wenn die klugen Thiere sagen wollten: Da ist es! Dann wandten die Augen sich wieder brennender nach den Felsen.

„Halte sie fest, Louis,“ sagte der Baron, „Zwischen den Felsen dort muß etwas vergraben sein, was sie wittern, Sie würden nicht ruhen, bis sie es aufgescharrt hätten. Es ist das so ihre Art. Die würden ihre Kräfte verschwenden, die wir noch für die Jagd brauchen wollen,“

Der Jäger faßte die Leine, an der er die Hunde hielt, fester. Der unheimliche Baron Lauer erzählte weiter:

„Ich komme zu dem Ende meiner Geschichte, meine Herren; wenn Sie wollen, zu der letzten Scene des letzten Acts; doch nein, wohl erst zu der vorletzten, die letzte kommt dann von selbst.“

Er sah in der That unheimlich aus, als er mit spöttischem Humor die Worte sprach. Nicht blos dem Baron Benzing, auch den Andern mochte es etwas kalt und heiß durch die Brust fahren. Auf der Stirn des Baron Benzing standen Schweißtropfen. Aber wie ihm die Stirn auch glühen mochte, sein Gesicht war blaß. Die Andern sahen es nicht.

„Im Spätsommer vorigen Jahres,“ fuhr der Baron Lauer fort, „hielt, etwa vier bis fünf Meilen von hier, eines Abends an einem Eisenbahnhofe ein junger Herr mit einem Einspänner, den er selbst führte. Er schien auf den nächsten Eisenbahnzug zu warten, der weiter nach Hamburg ging. Eine Post kam an, sie hielt. Eine Dame stieg aus; sie schien gleichfalls Jemanden zu erwarten. Der junge Herr fand sie. Sie hatten sich gegenseitig erwartet. Er führte sie zu seinem Einspänner und fuhr mit ihr davon in die Richtung zu diesen Forsten. Die Gegend ist hier im Sommer schön, besonders eine halbe Meile weit von hier, wo der Wald sich öffnet. Ein paar Liebende schwärmen gern, wenn auch nicht gerade für, doch in einer schönen Gegend, und romantisch ist es, in stiller, lauer Sommernacht durch einen dichten Wald zu fahren, der Morgenröthe entgegen, um die Sonne über eine prachtvolle Gegend aufgehen zu sehen; Arm in Arm, still und fest aneinander gedrückt, von keines Menschen Auge gesehen, allein mit seiner Liebe und dem Geliebten. Um Mitternacht ist das Pferd müde geworden. Man läßt es verschnaufen. Man steigt unterdeß aus. Man ist mitten im Walde. Sein Dunkel seitab vom Wege ist so einladend, das Moos duftet so wundervoll aus dem Dunkel heraus; die Tannen schwirren leise in dem linden Nachtwinde; die Luft ist so sanft, so weich; das Herz wird weit, es wird eng, es wird weh in Liebe, in Sehnsucht. „Gehen wir ein paar Schritte in den Wald.“ Das Pferd wird angebunden. Sie gehen in das Dunkel des Waldes. Es scheint ein Instinct zu sein, daß die Liebe und das Verbrechen das Dunkel suchen. Der Geliebte umfaßt die Geliebte; sie hängt sich an seinen Arm und sucht durch das Dunkel sein Auge; er findet das ihrige und beugt sich zu ihr nieder. Sie hängt sich an seinen Hals. Er umschließt ihren Nacken, und – – – ein furchtbarer Schrei von ihren Lippen, dann ist sie still; es ist Alles vorüber. Er hat sie erwürgt, und trägt die Leiche in den Wagen, bindet sein Pferd los, und jagt im Galopp von dannen.“ –

Der Erzähler machte wieder eine Pause. Seine Zuhörer waren sämmtlich erblaßt. Das Gesicht des Baron Benzing war nicht mehr allein weiß, es war nur bleifarbiger, als die anderen. Sie sahen sich Alle einander an; aber Keinem fiel es auf, daß sie so blaß aussahen, auch dem unheimlichen Erzähler nicht.

„Meine Herren,“ fuhr er fort, „ein Mord ist eine schwere Sache; eine noch schwerere ist es aber, den Mord zu verbergen. Unser junger Mann hatte kaltes Blut genug, um es mit Geschick auszuführen. Der Wald war groß und menschenleer. Im Sommer wird nicht gejagt, gibt es nicht einmal Holzdiebe. Kein Mensch hatte ihn gesehen; er hatte keines Menschen Spur wahrgenommen. Er fuhr etwa eine Meile weiter, langsamer, damit das Geräusch des Wagens nicht etwa doch zum Verräther werden möge. Das weiche Moos eines Waldweges kam ihm zu Statten. An einer dichten Stelle des Waldes machte er Halt und band sein Pferd wieder an. Er nahm die Leiche aus dem Wagen. Er nahm auch ein Instrument mit, das er in dem Wagen verborgen hatte. Wenn man etwas ausführen will, so muß man sich dazu vorsehen. Er trug die Leiche in das tiefere Dickicht. Er fand einen versteckten Platz. Es war zugleich ein hübscher, anmuthiger Platz, meine Herren, –“

Der Erzähler sah sich auf dem Platze um, auf dem sie sich befanden. Da sah er auch wieder die beiden Schweißhunde. Die Thiere waren beinahe ungeduldig geworden; der Jäger hatte Mühe, sie zu halten.

„Ich weiß nicht, was das heute mit den Hunden ist,“ sagte der Baron. „Am Ende ist es doch besser, ihnen den Willen zu lassen. Sie könnten nachher, wenn sie loskämen, hierher zurückkehren und uns die ganze Jagd verderben. – Louis, laß sie los!“ rief er dann auf einmal dem Jäger zu.

Der Baron Benzing fuhr bei dem Rufe hoch in die Höhe. Der Jäger ließ die Hunde los. Die Thiere rannten in rasender Hast zu den Felsen. Im Laufe stießen sie ein wildes Gebell aus, wie einen Freudenschrei. Es war nur ein einziger Schrei,

[617]

Ferdinand Freiligrath.



dann wurden sie still und geschäftig, furchtbar geschäftig. Der Baron Benzing saß wieder ruhig. Aber neben seinem Sitze stand sein Gewehr. Es war eine Büchse und mit einer Kugel geladen für die Eberjagd. Er nahm sie in die Hand, spielend. Sein Gesicht war noch blaß, aber der Schweiß stand nicht mehr auf seiner Stirn, auch kein Schreck, keine Angst mehr. Seine Lippen waren fest zusammengepreßt; seine Augen glüheten; ein Entschluß reifte in ihm, ruhig und kalt. Sein glühender Blick fiel auf die geschäftigen Hunde, dann auf ihren unheimlichen Herrn. Seine Hand nahm das Gewehr fester. Was er vorhatte, wer konnte es wissen? Aber ein Entschluß der Verzweiflung schien es zu sein, der in ihm reif werden wollte.

Der Baron Lauer erzählte weiter, auch ruhig und kalt. „Auf dem anmuthigen, einsamen Platze ließ er die Leiche nieder. Er suchte die versteckteste Stelle des Platzes aus. Er grub eine Grube, in die Grube legte er den Leichnam, und deckte das Grab wieder zu. Es ist bis auf den heutigen Tag unberührt geblieben – wenn nicht – – Herr von Benzing, nehmen Sie sich mit Ihrem Gewehr in Acht, Sie könnten ein Unglück anrichten. Meine Erzählung hat Sie angegriffen.“

Die Augen Aller wandten sich auf den Baron Benzing. Er war weißer geworden, als der Schnee, der an den Zweigen der alten Tannen hing. Aber seine Lippen waren noch fest zusammengepreßt; seine Augen glüheten noch dunkel; seine Hand hielt das Gewehr krampfhaft. Die glühenden Blicke fielen auf den unheimlichen Mann, der ihm gegenüber saß. Er erhob die Hand, in der er das Gewehr hielt. Der Unheimliche sah ihn ruhig an.

„Wenden Sie dorthin Ihre Blicke, Herr von Benzing. Auch Sie, meine Herren.“ Er zeigte nach jener Stelle an den Felsen, an der die Schweißhunde geschäftig waren.

Alle sahen unwillkürlich hin, auch der Baron von Benzing. Wer einmal hingesehen hatte, konnte den Blick nicht wieder zurückwenden. Wie die Thiere in rasender Eile zu der Stelle hingestürzt waren, so arbeiteten sie jetzt in rasender Eile. Sie warfen den Schnee, der den Boden bedeckte, hoch in die Höhe, Es war eine leichte Arbeit. Dem Schnee folgte das dunkle Moos. Unter dem Moose war die Erde gefroren. Die harte Kruste wollte den Thieren Widerstand leisten; es war eine wilde Wuth, mit der sie sie aufrissen. Den Klauen mußten die Zähne helfen. Die gefrorne Kruste war nur eine dünne. In der lockeren Erde scharrten und schaufelten und wühlten die Thiere, daß die Schollen weit umherflogen. Und je weiter die Arbeit der Thiere vorrückte, desto wilder wurde ihre Wuth der Arbeit. Aber keinen Laut gaben die Thiere von sich. Es war eine furchtbare Geschäftigkeit; es war ein furchtbarer Anblick.

„Aber was ist das?“ fragte man unwillkürlich.

„Es wird ein Grab geöffnet,“ antwortete der Baron Lauer.

Der Baron Benzing hatte hingestarrt wie die Andern, aber wie in einer Betäubung des Wahnsinns. Sein Gesicht war völlig entstellt. Der Mann konnte nicht mehr denken, nicht mehr wollen. Auch die Verzweiflung konnte ihm keinen Entschluß mehr bringen, ihn zu keiner That mehr treiben. Die Antwort des Unheimlichen schreckte ihn aus seiner Betäubung auf. Noch einmal wollte er die Hand mit dem Gewehr heben; er vermochte es nicht mehr. Seine Kraft wurde gebrochen. Die Hunde hatten ein tiefes Loch gescharrt. Sie warfen keine Erde mehr in die Luft; sie ruheten. Dann stießen sie wieder ein wildes, kurzes Gebell aus. Es war ein Geheul, ein rasendes Geheul der Freude, Es durchbebte die Nerven der kräftigsten Jäger.

Der Jäger, der die Thiere geführt hatte, war ihnen gefolgt. [618] Er blickte in die Grube, die sie aufgescharrt hatten. „Eine Leiche!“ rief er mit Entsetzen.

„Und hier der Mörder!“ sagte kalt der Unheimliche. „Die ewige Gerechtigkeit in ihrem unerschütterlichen Fortschreiten und das eigene Gewissen in seinem unwiderstehlichen, dem blöden Menschenauge oft als Wahnsinn sich darstellenden Drange, haben ihn hierher gebracht, in die Nähe seines Opfers, um selbst ein furchtbareres Opfer seines Verbrechens zu werden.“ – Er wies auf den Baron Benzing oder Max Urner oder wie sonst der Name des Menschen war.

Die Kraft des Verbrechers war gebrochen. Er wollte aufspringen, sank aber wieder nieder. Die Büchse, die er noch einmal im Wahnsinn der ohnmächtigsten Verzweiflung hatte emporheben wollen, entsank seiner Hand. Auf seiner Stirn stand kalter Todesschweiß; sein Gesicht trug die Farbe einer Leiche.

Der Baron Lauer wandte sich an den Herrn von Steinhaus, den Wirth der Gesellschaft, „Mein Herr,“ sagte er sehr ernst, fast befehlend, „wir sind hier auf Ihrem Grund und Boden. Sie werden die Güte haben, durch Ihre Leute die Leiche und den Mörder bewachen, und die Gerichte herbeirufen zu lassen – Und unsere Jagd, meine Herren?“ fuhr er fort. „Ah, Sie haben wohl keine Lust, sie fortzusetzen? Ich kann es mir denken. Aber mir werden Sie es erlauben, Herr von Steinhaus? Auf Wiedersehen, meine Herren! Auf Wiedersehen! – Louis!“ Er winkte seinem Jäger, die beiden Schweißhunde zu koppeln. Die Thiere litten es geduldig. Dann ging er in den Wald; der Jäger und die Hunde folgten ihm.

„Wer ist der Mensch?“ fragten sich die Zurückgebliebenen.

Eine Stimme aus dem Walde antwortete ihnen: „Sein Gewissen! Oder nennen Sie mich auch einen Polizeibeamten!“ –




Der Verbrecher konnte den Mord nicht ableugnen. Seine Untersuchung und auch – seine Verurtheilung dürfen keinen Gegenstand der bloßen flüchtigen Unterhaltung bilden. Oder dürfte meine Erzählung Anspruch darauf machen, mehr als für diese zu dienen?




Ferdinand Freiligrath.
(Lebensskizze mit Portrait.)


Als ich im Juli 1838 mit einer Empfehlung von Fouqué aus Halle nach Berlin übergesiedelt war, galt es vor allen Dingen, Chamisso persönlich kennen zu lernen. Sein speciellster Freund und Biograph, der alte, getreue Julius Eduard Hitzig, damals literarischer Mittelpunkt Berlins, führte mich zu ihm unten in der Friedrichsstraße, unweit des Halleschen Thores, und ließ mich mit ihm allein. Der kleine, alte, in seiner grauen, engen Jacke und mit dem langen, weißgrauen Haar hinter Büchern auf dem Sopha sitzende ehrwürdige, leidende Greis schüttelte grimmig sein Haupt, als ich ihn wegen meiner ihm zugeschickten Gedichte befragte. Ohne Hehl und offen erklärte er sie für Maculatur, was sie wirklich waren und geblieben sind. Aber es ging mir nicht allein so; er sagte, nach Ueberwindung eines seiner furchtbaren Hustenanfälle, daß wir uns Alle könnten begraben lassen. „Da nehmen Sie dieses Buch mit!“ rief er, „und sehen Sie, wie man jetzt singen muß.“

„Gedichte von Ferdinand Freiligrath.“ Ich las sie zu Hause durch, laut, wiederholt, und dankte Chamisso und diesem Dichter, daß sie mich auf einmal von der Einbildung vieler Studenten und Candidaten gründlich geheilt. Als ich dem ehrwürdigen Vater des damaligen Musen-Almanachs den Band zurückgeben wollte, machten sie eben in seinem Hause Anstalt, ihn zu begraben.

Er wird eben so wenig sterben, als Freiligrath. Aber damals ging mit ihm eine lyrische Epoche unter die Erde, und in meiner Hand hielt ich den von ihm freudig und begeistert erkannten und anerkannten Apostel einer neuen, in Wort und Form, Tonfall und Reim, Anschauungsweise und Empfindung gewaltigen, weiten, die ganze Welt mit ihren fremdesten und fernsten Klängen reimenden, kosmopolitischen Lyrik.

Die einzeln und zerstreut früher erschienenen Gedichte waren, wenigstens in unserm damaligen Kreise, mehr wie originelle Curiosa angesehen worden. Die erste Gesammtausgabe von 1838 aber gab dem Dichter mit einem Male eine Stellung ersten und ganz eigenthümlichen Ranges unter den deutschen Lyrikern.

Wir sahen ihn um diese Zeit zum ersten Male im Portrait, einen feisten, kraftstrotzenden, großäugigen, vollblühenden Jüngling, der in Amsterdam Kaufmann gewesen und kurz vorher in eine ähnliche Stellung nach Deutschland zurückgekehrt war. Später trat er aus seinem still gewachsenen Ruhme plötzlich eine Zeit lang in die Tagespresse: er war ja auf einmal der deutsche Dichter, der von Preußen Pension bezog. Kurz darauf neue Ueberraschung: „Glaubensbekenntniß,“ Aufgeben der Pension, Anklage, Flucht. Wir finden den Schöpfer einer neuen, grandiosen, deutschen Lyrik in einem dunklen Hofe einer dunkeln Straße der City von London hinter dem Contobuche.

März 1848: Freiligrath in einem Flammenmeere deutscher Begeisterung, in Aller Herzen, in Hunderttausenden von Exemplaren in Aller Händen, auf allen Straßen jubelnd ausgeschrieen und – Freiligrath im Gefängnisse.

Aber freigesprochen! Richtig. Die deutsche Nation ehrt und liebt ihn mit warmem Herzen bereits in der sechzehnten Auflage, aber diesen edelmüthigsten und volksthümlichsten Dichter selbst hat sie seit zehn Jahren nicht auf deutschem Boden sehen können, und wer ihm seitdem die Hand reichen wollte, mußte weit in den Nordosten Londons hinaus, oder ihn im Geschäft hinter der Londoner Börse stören. Wer ihn einst in St. Goar unmittelbar am Spiegel des lichten, lachenden Rheins besuchte, und jetzt über einen schauerlichen Kirchhof vor einem mit Einsturz drohenden Thurme vorbei wandern muß, um ihn in seinem grünem Versteck aufzufinden, dem schlägt das Gewissen allerdings qualvolle Wunden bei Vergleichung der neuen, freien, einheitlichen Bestrebungen Deutschlands und dieser alten, eingewohnten, wenn auch so freundlichen Exilwohnung eines deutschen Dichters und anderer deutscher Dichter und Männer. Kaum hat sich hier und da eine klägliche, schwächliche Zeitungsstimme erhoben, daß „dem Vernehmen nach“ eine Art von Amnestie in Aussicht stehen solle. Und als diese Aussichten verschwanden, blieben auch die sporadischen Amnestie-Gerüchts-Notizen in den Zeitungen aus. Mit seinen eigenen Organen sprach das Volk kein kräftiges Wort. Doch das soll uns nicht zu Täuschungen verleiten. Das Volk hat auch ein Herz-Organ, mit welchem es während der letzten zehn Jahre öffentlich zu sprechen verlernen mußte. Aber es war nie todt, es schlug und redete sehr viel und sehr heiß im Stillen, und selbst Geheime Räthe fragten sehr ernstlich, aber freilich sehr im Stillen den von London Kommenden: „Was macht Freiligrath?“ Und eine schöne, liebende Braut schrieb unlängst an ihren Bräutigam:

„O lieb’, so lang’ Du lieben kannst,
O lieb’, so lang’ Du lieben magst,
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo Du an Gräbern stehst und klagst!“

und setzte hinzu, daß sie den Dichter solcher Lieder freudig und herzlich küssen würde, wenn und wo sie ihn fände.

Und wie viele edle Frauen und Jungfrauen Deutschlands würden sie darum beneiden! Wer könnte die Jünglinge und Männer zweier Generationen zählen, die durch den Zauber seiner bald herkulisch, bald apollonisch schönen, kräftigen und elastischen Gedankenschritte und Versrhythmen erhoben, gestärkt und geläutert wurden? Sie Alle würden das wärmste Wort der Verehrung, den kräftigsten Händedruck für ihn haben, könnten sie ihn auf dem Boden seines Vaterlandes begrüßen.

Keine Sentimentalitäten. Deshalb sprechen wir hier die kalte Thatsache aus, daß sich unser Dichter in sein Vaterland, wie es jetzt ist, eben so wenig zurücksehnt, als die meisten andern seiner Schicksalsgenossen. Ein Mann, dessen ganzes Leben ununterbrochen in edelster Männlichkeit, bürgerlicher Ehrenhaftigkeit und geschäftlicher Tüchtigkeit blühete und fruchtete, dessen Poesien im besten Herzblute seines Volkes pulsiren, kann nicht – amnestirt werden. Wer mit Ehren in die Vierziger gekommen, zu dem kann man nicht noch endlich zu guter Letzt sagen: Wir wollen Dir das Verbrechen verzeihen, daß Du kein Heuchler geworden und gewesen.

Die wirkliche Persönlichkeit des Dichters wird sich also vorläufig nicht in Deutschland einfinden. Wir suchen diesen Mangel [619] hier durch sein lebensgetreues Portrait und eine aus Leben und Umgang gewonnene Lebensskizze zu ersetzen, welche durch die nicht exilirten und nie ausweisbaren Gedichte, die Jedem im Herzen wohnen oder leicht aufzufrischen sind, ergänzt und mit Fleisch und Blut erfüllt werden mag. Eine wirkliche Biographie und vollwürdigende Charakteristik des Dichters zu schreiben, dessen Erlebnisse und Entwickelungen ganz wesentlich dem Allerheiligsten des Herzens angehören, kann hier weder beabsichtigt noch erwartet werden. Diese Aufgabe bleibt zunächst etwaigen Memoiren, einer Selbstbiographie überlassen.

Ferdinand Freiligrath wurde am 17. Juni 1810 in einer Stadt geboren, in deren Straßen der Teutoburger Wald hereinblickt, in Detmold. Südlich hinauf labyrinthet sich das waldige, felsige, schluchtige Schlachtfeld des ersten Sieges deutscher Freiheitskraft, wo Hermann die römischen Legionen des Varus schlug; daneben windet sich die Werra und weiter hinaus winken luftige Sennen mit rothen Erica’s und halbwilden Pferden, die auf dem berühmten Pferdemarkte von Detmold verkauft werden. Detmold besteht aus drei Städten, in denen zusammen 4000 Menschen, darunter brave Leineweber, tüchtige Gerber und fette Brauer wohnen, auch ein deutscher souverainer Fürst, welcher von einem prachtvollen Residenzschlosse aus über ganz Lippe-Detmold herrscht. Auch ist Detmold, wie ich aus dem Conversations-Lexikon erfahren habe, „Sitz der höchsten Landesbehörden“ und hat ein Gymnasium, zu dessen Lehrern der Vater Freiligrath’s gehörte. Die Stadt ist klein, hat alles Mögliche in und ungewöhnliche landschaftliche Scenerie um sich, Alles leicht zugänglich, dicht beisammen und wird so auch dem Kinde, dem die Wiege noch eine ganze Welt ist und das hernach als Mann die unendliche Welt oft zu eng findet, bald ein vertrauter Tummelplatz. Deshalb darf man auch die Wiege großer Männer und deren Umgebung nie unbeachtet lassen, wenn nicht wesentliche Elemente in ihrer spätern. Entwicklung unverstanden bleiben sollen.

Bis zum siebenten Jahre wuchs das Kind in einem vollen, lieben Familienkreise auf, feist, blühend, volllockig und strotzend von übermüthiger Knabenfülle, ein wahres Bacchusmodell. Aber dem siebenjährigen Kinde starb die Mutter! Weder der vielbeschäftigte Vater, noch dienende Personen konnten dem Waisenkinde die Unersetzliche ergänzen, und so lernte er sich einsam und allein in seinem Herzen, in der anregenden Umgegend, ja selbst schon in Versen und Reimen zurechtfinden. Das zehnte Jahr brachte ihm eine zweite Mutter und ihn zugleich auf’s Gymnasium, wo er bald als fleißiger, edelmüthiger und witziger Knabe bei Lehrern und Mitschülern herzlich beliebt ward. Er nannte mir besonders einen Lehrer, Falkmann, mit welchem er in das vertrauteste Verhältniß kam und der einen ganz besonders wohlthätigen Einfluß auf sein Herz und seine Studien ausübte. Er war und hatte sich für eine akademische Carriere bestimmt, die aber durch den Bruder seiner verstorbenen Mutter, Kaufmann in Edinburg, unterbrochen ward. Der Onkel bat, man möchte ihm den Ferdinand als Adoptivsohn anvertrauen, doch müsse er zu diesem Zwecke Kaufmann werden. Zureden, das winkende Vaterland eines Walter Scott und Burns entschieden ihn für den Plan. Um zunächst „Kaufmann zu lernen,“ kam er in die Lehre zu Soest in Westphalen. Aber der Bankerott des Onkels und der Tod des Vaters (1829) wiesen ihn auf einmal darauf an, sich auf eigenen Füßen und durch eigene Arbeit eine Lebensbahn zu schaffen. Nach einigen Versuchen führte ihn der Zufall nach Amsterdam in ein Banquierhaus, wo er sechs Jahre blieb. Die großen Seeschiffe aus aller Welt, die Kisten und Waarenballen mit fremden, weit umher auf beiden Halbkugeln liegenden Städtenamen, die braunen, gelben, rothen und schwarzen Matrosen auf den Decks und in den Takelagen – diese grandiose Scenerie und Kaleidoskopie des Seehafens – erklang bald in jener gewaltigen, unerhörten, hinreißenden Auslands- und kosmopolitischen Poesie aus verschiedenen Zeitschriften und dem Chamisso’schen Musen-Almanach durch Deutschland.

Aus den Gedichten jener Zeit sind zu erwähnen: „Barbarossa“, „Amphitrite“, das „Wetterleuchten der Pfingstnacht“, die „Stimme vom Senegal“ und die „Auswanderer“, der „Mohrenfürst“ und der „Wüstenkönig“ und alle die wilden, sprühenden, stolzen Fremdlinge und Gedanken und Reime, die ihn 1833, besonders auf Chamisso’s und Schwab’s Anmahnungen, als berühmten Dichter aus dem Amsterdamer Banquierhause triumphirend zum freien Musen-Cultus zurückriefen. Wenigstens gab er eine zwischen 1833 und 1839 angenommene kaufmännische Stellung bald wieder auf und lebte nach dem ersten Erscheinen seiner damals sämmtlichen Gedichte unabhängig in Darmstadt. Hier und am Rhein fand sich auch Liebe ein, mit der sich nicht spaßen ließ, so gewaltig und tief ergriff ihn die Neigung zu einer blonden Tochter Weimars, die als Kind Goethe’s Liebling gewesen war, auf dessen Schooße sie gespielt, aus dessen Tasche sie Zuckerwerk genascht hatte. Oft, wenn sie mit den Schwestern unter seinem Fenster spielte, warf er Früchte und Näschereien herunter und immer mit dem Zurufe: „der Aeltesten,“ wofür er sie immer hielt, da sie die größte war. Diese Liebe brachte ihm 1841 am Rhein die Gattin, die ihn bei aller Zartheit und Weichheit des Weibes bisher stark und treu durch ein oft von Gefahren und niederdrückenden Schicksalen getrübtes Leben begleitete, ihm vier herrliche, liebe Kinder gebar und als liebende, reich gebildete Mutter erzog. Die ersten Monate ehelichen Lebensglücks wurden in St. Goar in einem unmittelbar vom Rheine aufsteigenden Hause, in der anmuthigsten Umgebung und mit den mannichfaltigsten berühmten und lieben Gästen genossen. Durch den Kanzler Müller und A. v. Humboldt fand sich auch die Pension für ihn ein, welche durch einen Todesfall vacant, nicht aber vom Könige von Preußen für ihn creirt worden war. Dem Könige gebührt dabei das Verdienst, die aus Verehrung für den Dichter von einem Alexander von Humboldt ausgegangene Befürwortung nicht zurückgewiesen zu haben. Dies verdient beiläufig mit beachtet zu werden, da weder die älteren classischen, noch die neuesten Dichter, noch Dichter überhaupt jemals von den Hohenzollern besondere Beweise der Anerkennung und Gunst erfuhren. Freiligrath macht davon um so weniger eine Ausnahme, als er die ihm zu Neujahr 1842 wie einen rothen Adlerorden vierter Classe zuerkannte kleine Pension, deren Verleihung ihn überraschte, mit Neujahr 1844 schon in den Händen des Königs zurückließ, sie aufgab und dafür seinerseits durch „eines Büchleins kecken Schuß in die Stickluft dieser Tage“ die Welt und die in’s Stocken gerathenen preußischen Illusionen überraschte.

Das ist „ein Glaubensbekenntniß, Zeitgedichte“ (1844). Der gewaltigste politische Dichter war hiermit von jener „höheren Warte“ auf die „Zinnen der Partei“, über die er sich einem Herwegh gegenüber gestellt hatte, herabgestiegen. „Und darin muß ich ihnen allerdings Recht geben,“ sagt er im Vorwort. „Fest und unerschütterlich trete ich auf die Seite derer, die mit Stirn und Brust der Reaction sich entgegenstemmen. Kein Leben mehr für mich ohne Freiheit! Wie die Loose dieses Büchleins und meine eigenen auch fallen mögen: – so lange der Druck währt, unter dem ich mein Vaterland seufzen sehe, wird mein Herz bluten und sich empören, sollen Mund und Arm nicht müde werden, zur Erringung besserer Tage nach Kräften das Ihrige mitzuwirken. Dazu helfe mir, nächst Gott, das Vertrauen meines Volks. Mein Gesicht ist der Zukunft zugewandt!“

Das Volk jauchzte, die preußische Regierung suchte ihn für den Kerker und zwar wegen „Freiheit! Recht!“ und „Am Baume der Menschheit!“

„Der Knospe Deutschland auch, Gott sei gepriesen!
Regt sich’s im Schooß! Dem Bersten scheint sie nah –
Frisch, wie sie Hermann aus den Weserwiesen,
Frisch, wie sie Luther auf der Wartburg sah.

5
Ein alter Trieb! doch immer muthig keimend,

Doch immer lechzend nach der Sonne Strahl,
Doch immer Frühling, immer Freiheit träumend –
O wird die Knospe Blume nicht einmal?

Herr Gott im Himmel, welche Wunderblume

10
Wird einst vor allen dieses Deutschland sein!“

Wegen dieser Hoffnungen suchte man ihn für den Kerker, dem er sich durch die Schweiz und später London entzog. Die Knospe barst wirklich. Statt des Dichters steckte man die große Blume hinein.

Nach einem kurzen Aufenthalte in der Schweiz fand er in der City von London einen Wirkungskreis für seine kaufmännische Thätigkeit, bis ihn der erste Dichter Amerika’s, Longfellow, Freunde von ihm und Deutsche überredeten, für eine vom Volke gesicherte Stellung in die neue Welt hinüberzukommen. Am Abende vor der Abreise kam aber ein Brief, der ihn zurückhielt, ein März 1848, der ihn nach Deutschland zurückrief. Die Blume war aufgebrochen. „Die Todten an die Lebenden“ waren ihm vorausgeeilt. Man setzte ihn zu Düsseldorf zwei Monate in Untersuchungshaft. Die ersten Geschwornen Preußens sprachen ihn frei (October 1848). Er betheiligte sich hierauf an der „Neuen Rheinischen Zeitung“ des Dr. [620] Karl Marx, des Meisters in Erregung und Verbreitung grimmigen Abscheues vor Demokratie, die er in wahnsinnigster communistischer Verirrung und in giftspritzendem Hasse gegen alle, auch demokratischen Nichtcommunisten giftig und geistreich zu vertreten suchte.

Wir können mit unserer heiligen Verehrung des Dichters keine Abgötterei verbinden. Deshalb muß es hier gesagt werden, daß Freiligrath unter dem Einflusse dieses unglückseligen Virtuosen des Hasses, der viel Geistreiches, aber nie einen edeln Gedanken geschrieben, seine Stimme, seine Freiheit, seine Charakterstärke verlor. Seitdem ihn Karl Marx angehaucht, sang Freiligrath nicht oft mehr.

Da wir auf die anderweitigen literarischen Producte des Dichters nicht zurückkommen, seien sie hiermit eben kurz erwähnt. Der ersten Ausgabe der Gedichte folgte eine Nachlese: „Zwischen den Garben“. Er betheiligte sich an dem „Rolands-Album“ (Köln, 1840), am „Rheinischen Odeon“ und dem „Rheinischen Jahrbuch“. Das „romantische Westphalen“ war hauptsächlich sein Werk, ebenso „Blätter der Erinnerung an Karl Immermann“ (1842) mit vortrefflichen Commentaren Kinkel’s und Schücking’s zum „Merlin“. Dem Glaubensbekenntnisse folgten die „Sechs Gedichte Ça ira“ und „Neuere politische und sociale Gedichte“ (1850). Später bekundete er sich als unübertrefflichen Meister in lebendiger Uebertragung der besten Dichtungen aus dem Englischen und Französischen, wie dem Schottischen des Burns. Dadurch ist die in New-York bei Fr. Gerhard erschienene Gesammtausgabe seiner Werke zu sechs starken Bänden angewachsen. In London rief nur ein Tod (Johanna Kinkel’s) und eine Geburt (Schiller’s) seinen schaffenden Dichter-Genius wach. Das von Deutschen in Amerika von ihm erbetene Gedicht zur Feier des hundertsten Geburtstages Schiller’s wird von allen deutschen Gemeinden und Vereinen der freien Staaten Amerikas nach Einer Melodie, an Einem Tage und zu derselben Stunde gesungen werden. So reichen sich deutsche Dichter aus verschiedenen Jahrhunderten die Hände, um den neuen, idealen, kosmopolitischen Boden des deutschen Vaterlandes und dessen Einheit zunächst im Gesange, in der unsterblichen, über die Erde leuchtenden deutschen Poesie (die also vergebens auf heimathlicher Scholle mit Kerker verfolgt und „unschädlich“ gemacht wurde) zu verwirklichen.

Er fand nach seiner Flucht vor den Verfolgern der „Neuen Rheinischen Zeitung“ in London bald erträgliche kaufmännische Beschäftigung und kann als Sachwalter der Schweizer Bank, was äußere Lebensstellung betrifft, verhältnißmäßig glücklich gepriesen werden. In dem nobeln Bureau derselben, in der Mitte der königlichen Börsengebäude, der respectabelsten und schönsten Geschäftsgegend der City, ist er Meister und oberster Leiter mit einem geräumigen Privatzimmer. Nach Geschäftszeit lächeln und jauchzen ihm im fernen, stillen Nordosten Londons die liebende Gattin und fröhliche, liebe Kinder entgegen. Grüne Bäume rauschen vor dem Fenster, und aus dem langen, geräumigen Garten duftet der Frühling Blumen und schüttelt der Herbst Früchte. Freunde und Verehrer, die gar fleißig zuströmen, finden immer herzliche, gastliche Aufnahme, biedern Händedruck, ein treues, offenes Auge und den herzlichsten, unbefangensten Ton in seiner kräftigen, sonoren Baßstimme. In der unbefangensten, treuherzigsten Weise unterstützt ihn in Erhaltung dieser wohlthuenden heimischen Atmosphäre die Frau. Der bausbäckige Kleinste spielt den liebenswürdigen Schalck und zieht gelegentlich plötzlich eine Rauchwolke aus der Havannah des Vaters. Bruder und Schwester in der Mitte lesen und studiren still. Ersterer ist auch stolz auf seine kleine Menagerie im Garten und auf seine Photographien. Die älteste Tochter, das sinnigste, süßeste Mädchengesicht, das ich je gesehen, gleitet wie ein verkörperter Sonnenstrahl durch das Haus und liest schon Homer in der Ursprache. Ich und mein Haus rechnen den Frühlingsabend, als sie mit dem Vater zu uns kam und aus einem grünen Körbchen mit Moos ein junges Kätzlein aus der Menagerie des Bruders für Adelheid Kinkel springen und spielen ließ, für einen der schönsten unserer Erlebnisse in London.

Wir schließen mit diesen heitern Andeutungen aus dem gücklichen Familienkreise des Dichters und scheiden im Zweifel, ob sein Herz noch blutet über Deutschland, oder ob ihn die Hoffnung verließ, daß die schöne Knospe und Blume neu und kräftiger aus dem alten Triebe hervorbreche.




Das Perpetuum mobile.

Die großen Erfolge, welche vorzüglich die Mechanik zu Ausgange des Mittelalters in dem Lichte, das von dem Morgemrothe der auftauchenden Sonne naturwissenschaftlicher Erkenntniß ausging, erreichte, berauschte die Gemüther über Alles. Warum sollte es, da man in den Wirkungen des Schießpulvers so kolossale Kräfteäußerungen erblickte, von denen man sich nicht erklären konnte, wo sie herkamen, nicht auch möglich sein, durch Federn und Getriebe geheimnißvolle Kräftequellen zu benützen, von denen man sich überall umgeben glaubte? Brachte doch die Natur in den Menschen und Thieren Mechanismen (so dachte man sich damals) hervor, welche eine Zeit lang Arbeit verrichten, dann hingehen zu sterben, aber Alles aus sich selbst producirend. Das neugeborne Kind hatte doch die Kraft nicht wie ein ausgewachsener Mann. Es mußte also der Mensch in Folge einer gewissen innern Construction Kräfte aus sich heraus zu entwickeln im Stande sein, denn er brauchte nicht wie eine Uhr aufgezogen zu werden, und konnte doch immer ein gewisses Quantum Arbeit leisten. Es schien also der Weisheit des Menschen nur aufgegeben zu sein, aus einem dauerhafteren Stoffe, als es Fleisch und Blut ist, eine ähnliche Maschine herzustellen. Darin lag dann der Born materieller Glückseligkeit, weil die unversiechbare Quelle der Kraft und verkäuflicher Arbeit.

Mit der Erfindung des Perpetuum mobile wäre das Problem gelöst gewesen, deshalb haben sich Tausende von denkenden Köpfen an die Enträthselung dieser Aufgabe gemacht. Die klarsten darunter, die mit den Gesetzen der Mechanik am meisten vertraut waren, kamen auf die eitle Darstellung menschen- und thierähnlicher Gebilde, die, durch einen innern Mechanismus getrieben, Bewegungen machten ähnlich denen freiwillig handelnder Wesen. Die Menge mitunter höchst’ scharfsinnig und geistreich erfundener Automaten sind auf dem Wege nach dem Perpetuum mobile entstanden. Johannes Müller (Regiomontanus) verfertigte außer seinen Räderwerken, die den Umlauf der Planeten darstellten, eine Fliege, die auf dem Tische herumkroch, sowie einen Adler, der den Kaiser Maximilian bei seinem Einzuge 1570 an den Thoren Nürnbergs mit Flügelschlagen begrüßte. Vaucanson’s Ente fraß und gab das Verdaute wieder von sich; und ein Flötenspieler desselben Künstlers, der die Finger richtig setzte, machte großes Aufsehen. Droz setzte eine Clavierspielerin zusammen, die dem Spiel ihrer Hände mit den Augen folgte, nach der Beendigung aufstand und der Gesellschaft eine Verbeugung machte, und ein anderer Automat stellte einen Knaben vor, der auf ein untergelegtes Stück Pergament mit sicherer Hand einige Figuren zeichnete, den Staub des Bleistifts wegblies und von Zeit zu Zeit sich die gefertigte Zeichnung besah. Es waren Alles eitle Spielereien, die dadurch, daß sie versuchten, die tausend verschiedenen Dienstleistungen eines Menschen auf mechanischem Wege zu vollziehen, nimmer irgend eine dauernde Beachtung beanspruchen konnten. Unsere jetzigen Maschinen unterscheiden sich dadurch wesentlich von ihnen, daß hier gerade entgegengesetzt nur eine Dienstleistung, aber Stelle von tausend Menschen verrichtet wird.

Ueberzeugten sich aber auch die besseren Köpfe endlich von der Erfolglosigkeit ihrer Versuche, so gab es doch viele Andere, die ohne die Bekanntschaft mit den Hülfsmitteln der Mechanik, welche Jenen die Unausführbarkeit ihrer Ideen zeigte, fort und fort dem Phantome sich selbst erzeugender Kraft nachhingen, und dabei endlich auf Pfade geriethen, die sie, nachdem die Zeit mühseliger Arbeit und das Vermögen sinnlosen Experimenten geopfert worden war, am Ende unbefriedigt, stumpf und verzweifelt in’s Irrenhaus führten. Und es ist die Zeit nicht etwa vorbei, in der man an die Realisierung solcher Träume dachte. Gerade unser Jahrhundert, das die eminentesten Fortschritte auf dem Gebiete der Naturwissenschaften gemacht hat, hat die Köpfe Vieler verwirrt, die in den gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung nicht zu blicken vermochten, sondern halbgebildet aber doppeltbewußt sich berufen glaubten, die letzten Geheimnisse der Schöpfung erkennen und für ihre Zwecke benutzen zu können. Eigennutz ist bei diesen

[621] mystischen Geistern gewöhnlich die Haupttriebfeder ihrer Handlungen. Man frage nur einen Professor der Physik oder einen berühmten Mechaniker oder einen Irrenarzt, wie oft ihnen der Fall vorgekommen ist, daß Menschen, die früher in glücklichen Verhältnissen gelebt haben, in geistig und materiell zerrüttetem Zustande zu ihnen gekommen sind und sie von der endlichen Ausführung des Perpetuum mobile unterhalten haben. Im gewöhnlichen, geräuschvollen Strome des Lebens hört man freilich wenig von diesen stillen, unglücklichen Menschen, und eben weil die Krankheit, von der sie befallen sind, eine so heimliche ist, die sich ihre Opfer lautlos holt – gewöhnlich aus der Classe der Schuhmacher, Schneider oder kaufmännischen Speculanten – daß man nicht allemal den einzelnen Fall bekämpfen kann: wollen wir durch eine Darlegung der wissenschaftlichen Grundprincipien, die bei der Darstellung eines Perpetuum mobile in Frage kommen müssen, zur Ausrottung dieses Spukes das Unsere beizutragen versuchen. Wir werden zu diesem Ende auf einige Fragen aus der Mechanik geführt, deren Beleuchtung uns aber wenig Zeit kosten wird.

Wenn wir einen gleicharmigen Hebel in seinem Schwerpunkt aufhängen, so wird die an einem Endpunkte wirkende Kraft eine an dem andern Ende wirkende Last von gleicher Größe zu heben im Stande sein. Wirkt in einem Mühlrade das fallende Wasser, so muß, wenn ein an die Welle des Rades aufgehängtes Gewicht von einem Centner um einen Fuß gehoben werden soll, mindestens ein Centner Wasser um einen Fuß fallen.

Ist der Weg kleiner, den die Kraft beschreibt, so muß die Kraft größer sein; beispielsweise (da wir uns dieselbe hier als eine durch die Anziehungskraft der Erde wirkende, schwere Masse vorstellen), soll das Wasser nur einen Weg von ½ Fuß zurücklegen, so muß dafür die doppelte Menge in das Rad fallen; dafür wird aber auch die halbe Kraft, wenn sie den doppelten Weg zurücklegt, eben so viel wirken. Das Product aus dem Wege in die Kraft muß immer gleich sein dem Producte des Weges, den die Last zurücklegt, in die Last selbst.

Man mag nun entweder gleich an dem Umfange des Wasserrades die Last, welche allemal nur eine entgegengesetzte Kraft darstellt, wirken lassen, oder die Arbeit durch dazwischengelegte Maschinen übertragen: das Verhältniß und der eben ausgesprochene Satz bleibt derselbe. – Jeder Körper, der sich mit einer gewissen Geschwindigkeit bewegt, wird diese, wenn er gegen einen widerstehenden Körper trifft, verlieren und dadurch einen Druck hervorbringen, der einer gewissen Arbeit entspricht, die in ihrer Größe von der Masse des bewegten Körpers und seiner Geschwindigkeit abhängt. Das Product dieser beiden Factoren nennt man die dem Körper innewohnende lebendige Kraft. Eine Büchsenkugel, die ein Loth schwer ist und mit einer Geschwindigkeit von 500 Fuß fliegt, hat ebensoviel lebendige Kraft in sich und wird bei der Hergabe derselben ebensoviel Arbeit leisten, als eine Kanonenkugel von 5 Pfund Schwere, die nur eine Geschwindigkeit von 45 Zoll für die Secunde hat. Genau soviel – nicht mehr und nicht weniger. Es ist dasselbe Verhältniß, wie bei dem im Wasserrade wirkenden Wasser. Läßt man eine Kugel in einer kreisförmigen Rinne herablaufen, so wird sie, wenn sie den tiefsten Punkt erreicht hat, eine Geschwindigkeit erlangt haben, vermöge welcher sie auf der andern Seite eben so hoch wieder würde hinauflaufen können, wenn keine Reibung vorhanden wäre. Ein Pendel fällt vor und zurück, und beschreibt immer gleiche Bogen; ein Springbrunnen kann nur so hoch sich erheben, als das Wasser, welches er ausspeit, vorher in seinen Röhren gefallen ist. Beim Rückfalle wiederholt sich dasselbe Spiel. Es könnte, wenn keine Reibung vorhanden wäre, die einen Theil der Kraft aufzehrt, allerdings ewig dauern, allein eine andere Arbeit als die der Unterhaltung dieser Bewegung würde unmöglich damit geleistet werden können. Man hatte aber trotzdem mancherlei Versuche gemacht, ein Perpetuum mobile auf diesem Wege zu construiren. Bis vor dem Brande des Dresdner Zwingers konnte man dort eins aufgestellt finden, welches seiner vorzüglichen Ausführung wegen, die die Reibung sehr vermindert hatte, eine sehr lange Zeit sich in Bewegung erhielt. Es bestand aus einem Rade, das ähnlich wie ein Wasserrad an seinem Umfange Kapseln hatte. Darüber war eine Rinne angebracht, die in einer schiefen Ebene aufwärts stieg und sich auf der anderen Seite wieder senkte, der Art, daß eine Kugel, welche von den Kapseln des Rades mitgeführt werden konnte, auf der einen Seite dem Rade abgenommen wurde und, nachdem sie die Rinne durchlaufen hatte, auf der andern wieder in eine Kapsel des Rades fiel. Bekam das ruhende Rad nun durch den Fall dieser metallnen Kugel einen Stoß, welcher es hinreichend in Drehung versetzte, daß es die Kugel in die Rinne speien konnte, und daß sie in diese zugleich Geschwindigkeit mitbrachte, welche für das Durchlaufen der schiefen Ebene, in der die Rinne lag, zureichte: so war der Stoß, den das Rad durch den darauffolgenden Fall der Kugel erhielt, nur um die Größe geringer, welche zur Überwindung der Reibung der Kugel in der schiefen Ebene und der Friction des Radzapfens verbraucht worden war. Gab man also der Kugel anfänglich einen Vorrath an Geschwindigkeit mit auf den Weg, so wurde dieser nur sehr allmählich von der auf ein Minimum reducirten Reibung aufgebraucht, und es hatte eine Zeit lang allerdings den Anschein, als erhielte sich wirklich die Maschine durch sich selbst in Bewegung. Wartete man es aber ab, so blieb das Ganze doch endlich stehen, da sich, weil die Reibung dieselbe blieb, die Kraft mit jeder Umdrehung verringerte.

Genau in derselben Weise geben auch alle elastischen Körper nur so viel (im allergünstigsten Falle) an Kraft wieder her, als zu ihrer Spannung verwendet wurde. Eine Stahlfeder schnellt höchstens ebensoweit zurück, als sie vorgebogen wurde, ein Gummiball, dem man durch den Fall von einer Höhe eine Kraft mittheilt, wird beim Wiederaufwärtsspringen nie die ursprüngliche Höhe wieder erreichen. Die innersten Theilchen müssen sich aneinander reiben und consumiren dabei jedesmal eine gewisse Kraftmenge, und je weniger derartige Körper elastisch sind, um so größer wird diese innere Reibung und um so größer das Quantum der verloren gehenden Kraft.

Alle Kraft wirkt nur durch Bewegung. Wir können bewegte Massen gewissermaßen als Sparbüchsen ansehen, in denen sich kleine Kraftmengen, die in fortdauernder Aufeinanderfolge sich wiederholen, niederlegen lassen und die man später in ihrer Summe auf einmal verbrauchen kann. Ein kleines Kind kann eine große Glocke durch einen einzigen Stoß nicht zum Schwingen und Anschlagen bringen, sondern die Bewegung, welche die kindliche Kraft dieser großen Masse mitzutheilen im Stande ist, wird kaum hinreichen, sie um einen Zoll aus ihrer Lage zu bringen. Wiederholt aber das Kind, wenn die Glocke aus der geringen Schwingung zurückgekehrt ist, jenen Stoß und setzt dasselbe Spiel fort, so wird die Glocke immer größere Bogen beschreiben und in ihren Schwingungen eine lebendige Kraft repräsentiren, welche viel größer werden kann, als die, welche ein kräftiger Mann auf einmal in ihr hervorzubringen vermocht hätte. Es ist aber dabei an Kraft nichts gewonnen worden. Wenn die Kraft, mit der das Kind jedesmal die Glocke anstieß, hingereicht hätte, ein Pfund um einen Zoll zu heben, so wird die schwingende Glocke im Stande sein, ebensoviel Pfunde, als sie Stöße erhalten hat, um einen Fuß aufwärts zu heben, aber durchaus nicht mehr, man mag Hebel oder Federn anlegen, so viel man will. Soll die Hubhöhe oder, was dasselbe ist, die Geschwindigkeit sich vergrößern, so muß sich die Last entsprechend verringern, und umgekehrt. Eine gespannte Feder, eine comprimirte Luftmenge geben, wenn sie ihre Spannung verlieren, nur das wieder her, was sie erhalten haben. Haben sie, wie die Glocke, ihren Vorrath an Kraft nicht auf einmal, sondern nach und nach aufgenommen, wie es etwa auch die Windbüchse thut: so kann ihr Effect, wenn die angesparte Kraft auf einmal verbraucht wird, allerdings ein sehr großer sein, er ist dann aber auch ein sehr kurzer. Alle Versuche, ein Perpetuum mobile herzustellen, unter alleiniger Benutzung der rein mechanischen Kräfte, der Schwere, Elasticität, Druck der Gase und Flüssigkeiten, sind also danach als fruchtlose zu bezeichnen. Da durch dazwischen gelegte Maschinen, Zahnräder, schiefe Ebenen, Keile, Schrauben, Getriebe, Hebel oder Rollen keine neue Kraftquelle eingeführt wird, so ist auch kein Uhrwerk und kein Hebelwerk im Stande, die Leistung in einer gewissen Zeit zu vermehren, im Gegentheil wird dadurch nur die Reibung vermehrt und der Nutzeffect an mechanischer Kraft entsprechend verringert werden.

Außer den mechanischen Bewegungskräften gibt es aber noch eine Anzahl von Naturkräften, von denen man die Lösung des Problems erwarten könnte.

Wärme, Licht, Elektricität, Magnetismus, chemische Verwandtschaftskräfte – alle diese sahen wir schon im Leben mechanische Kraftäußerungen hervorbringen.

Die Windmühlen, die Wassermühlen, die Dampfmaschinen werden durch Wärme in Bewegung gesetzt und sie wandeln die Wärme in mechanische Kräfte um, denn die Wärme der Sonnenstrahlen ist [622] es, welche die Luftschicht, die über dem bestrahlten und sich erwärmenden Boden lagert, sich ausdehnen und, weil sie leichter geworden ist, nach oben zu abströmen läßt! Deshalb herrscht in den heißen Gegenden stets eine aufwärts steigende Bewegung der erwärmten Luftschicht. In den leerwerdenden Raum dringt aus nördlichen Regionen die kalte Luft nach, es erfolgt ein Windstrom von den Polen nach dem Aequator, der sich auf dem Meere in den regelmäßig wehenden Passatwinden erkennen läßt, der auf dem Lande aber durch mancherlei Ursachen von seinem normalen Laufe abgelenkt wird. Der Wind entsteht also durch dieselben Ursachen, welche das Wasser an der Oberfläche des Meeres verdunsten lassen, die Dünste weit über die Länder führen und von den Häuptern der in die Wellen ragenden Berge als Nebel und Regen wieder absetzen. Von hier entspringen die Quellen der Flüsse. Das Wasser hat den Weg bis zum Meere wieder zu durchfallen, und die Arbeit, die es auf diesem Wege verrichten kann, ist nichts als umgesetzte Wärme. In den Dampfmaschinen haben wir ein drittes Beispiel, das sich selbst erklärt.

Allein ebenso wie in diesen drei Fällen Wärme in mechanische Kraft umgewandelt wurde, so können wir in der mechanischen Kraft uns wieder eine Wärmequelle schaffen.

Jeder Druck, jeder Stoß, jede Reibung erzeugt Wärme. Wir müssen die Achsen der Wagenräder schmieren, damit sich nicht die mechanische Kraft der Pferde in Wärme verwandle und das Holz entzünde; manche Mühle wurde ein Raub der Flammen lediglich in Folge der Wärme, welche durch erhöhte Geschwindigkeit und vermehrte Reibung erzeugt wurde; durch geschickt nach einander angebrachte Hammerschläge läßt sich ein Stück Eisen glühend machen, und Vielen ist wohl das Feuerzeug noch in Erinnerung, dessen sich die Fuhrleute früher bedienten. Es bestand aus weiter nichts, als aus einer metallnen Röhre, in der durch einen Druck Luft comprimirt wurde; die dadurch erzeugte Wärme reichte hin, den auf dem Boden der Röhre befindlichen Schwamm zu entzünden.

Elektrische und magnetische Kräfte lassen sich ebenso in Wärme oder gleichbedeutend in mechanische Kraft überführen, umgekehrt aber kann man wieder durch Bewegung Ströme von Elektrizität erzeugen. Es kam nun ein Amerikaner auf die Idee, durch diese Ströme Wasser in seine beiden Bestandtheile, Wasserstoff und Sauerstoff, zu zerlegen, den Wasserstoff im Sauerstoff zu verbrennen und durch die dabei entstehende große Hitze nicht nur das bekannte Drummondsche Licht zu erzeugen, sondern auch eine kleine Dampfmaschine damit in Bewegung zu setzen, welche ihm die Umdrehung des Magnetes, durch welche die elektrischen Ströme erzeugt werden, besorgen sollte. Dies wäre nun ein Perpetuum mobile gewesen. Aber leider war das mobile nicht perpetuum, und wir wollen ähnliche Beispiele nicht erst aufzählen, da es uns ja nur daran lag, durch dieses eine den Zusammenhang aller physikalischen, mechanischen und chemischen Kräfte unter einander und ihre Verwandlung in Wärme, den Maßstab, nach welchem man jede mechanische Arbeitsleistung bemessen kann, zu zeigen. Läßt sich denn aber nun nicht durch irgend eine Verknüpfung dieser Beziehungen ein positiver Gewinn an Arbeitskraft ermöglichen? Genau so wie sich die Frage bei den rein mechanischen Bewegungskräften verneinte, thut sie es auch für diese eben betrachteten Kräfte, und wir können mit Sicherheit sagen, sie verneint sich auch für alle etwa noch zu entdeckenden.

Es besteht nämlich in der ganzen Welt das Gesetz, daß von Allem, was darin ist, mag es Masse oder Bewegung sein, mag es Materie oder Kraft heißen, nicht das geringste Theilchen verloren gehen kann. Für jedes verloren gehende Fußpfund Kraft wird ein gewisses Aequivalent Wärme gewonnen, die sich, indem sie sich andern Körpern mittheilt und Ursache chemischer Processe oder elektrischer Erregungen wird, früher oder später wieder in Arbeitskraft umwandelt und zwar in ihrer Wirkung dann genau wieder ein Fußpfund repräsentirt.

Es gibt z. B. ein Pfund Kohle, wenn es verbrennt (also, indem es sich mit Sauerstoff verbindet, einen chemischen Proceß durchmacht), so viel Wärme, daß 8086 Pfund Wasser um einen Grad C. erwärmt werden; daraus läßt sich berechnen, daß die Summe der Anziehungskräfte, welche zwischen den kleinsten Theilchen eines Pfundes Kohlenstoff und denen des zu seiner Verbrennung nöthigen Sauerstoffs herrschen, im Stande ist, 100 Pfund auf 4½ Meilen Höhe zu heben. Verwenden wir dasselbe Quantum Kohle zur Heizung einer Dampfmaschine, so werden wir einen solchen Effect nimmermehr zu erzielen im Stande sein, denn ein großer Theil dieser Kräfte geht durch Reibung als Wärme an andere Körper über, ein andrer noch größerer verfliegt wegen mangelhafter Einrichtung unserer Oefen durch die Esse, – was uns als verwendbare Kraft bleibt, sind bei den besten Expansions-Dampfmaschinen höchstens 18 Procent.

Die Kohle hat sich nun bei dieser Verbrennung in Kohlensäure umgewandelt, welche der Atmosphäre sich mittheilt und aus dieser durch die Pflanze wieder aufgesaugt wird. Unter Zutritt der Sonnenstrahlen verwandelt die Pflanze die Kohlensäure wieder in Verbindungen, welche weniger Sauerstoff enthalten; den freiwerdenden Sauerstoff hauchen die Blätter aus. Licht und Wärme sind aber, damit dies geschehen kann, unumgänglich nothwendig, sie werden von der Pflanze verschluckt, und wenn man die Mengen dieser beiden Kräfte, so wie die chemischen Kräfte, welche von der seit der Aufnahme der Kohlensäure in den Organismus der Pflanze, durch alle ihre Umwandlungsphasen in Stärkemehl, Zucker, Holzfaser und endlich bei der schließlichen Verwandlung des Holzes in Kohlenstoff verbraucht worden sind, wenn man alle diese, in Wärme ausgedrückt, messen könnte: so würden wir finden, daß ihre Summe genau der Kraftmenge entspricht, welche wir beim Verbrennen eines Pfundes Kohle als Wärme erhielten.

Ebenso wenig, wie ein Theilchen Kraft verloren ging, eben so wenig ist ein Theilchen Stoff untergegangen. Die Kohlensäuremenge, welche aus einem Pfunde Kohlenstoff sich entwickelt, gibt uns, nachdem sie den Kreislauf durch das Reich des organischen Lebens gemacht hat, ein Pfund Kohlenstoff wieder zurück.

Elektrische und magnetische Kräfte rufen wir durch chemische Processe hervor. Aber die Schwefelsäuremenge, welche wir in den galvanischen Batterien verbrauchen, und die Quantität Zink, welche verzehrt wird, hat zur Herstellung eben so viel Kraft und Wärme erfordert, als durch die elektro-magnetische Maschine, in der diese beiden arbeiten, geleistet wird.

Das Thier, welches uns seine Kräfte leihen soll, müssen wir eben wie eine Dampfmaschine mit Kohlenstoff versehen. Es athmet denselben als Kohlensäure wieder aus. Alle Nahrung ist bei Thier und Menschen nichts weiter, als eine Heizung der Maschine, welche die Wärme in Kraft umsetzten soll. Ein Arbeiter, der viel schwere Last getragen, hat mehr Hunger, als der, welcher während dieser Zeit geschlafen. Im nördlichen Klima, wo die Luft und Sonne dem Körper nicht so viel Wärme gibt, als im südlichen, muß durch eine fettere, kohlenstoffreichere Nahrung die nöthige Wärme und Kraftmenge erzielt werden. Auch der Mensch also schafft aus sich heraus keine Kraft. Er ist nichts als eine Maschine, die man, wenn man alle jene unzähligen Vorgänge der Kraftaufnahme und des Kraftverbrauchs genau zu bestimmen vermöchte, eben so genau in ihrer Wirkung berechnen könnte, als ein mathematisch construirtes physikalisches Instrument.

Nirgends wird also Kraft gewonnen. Wohl aber wird bei jeder Maschine, die zur Kraftumsetzung dient, mag sie aus dem Atelier eines Mechanikers oder als Thier oder Mensch aus der nie ruhenden Werkstätte der Natur direct hervorgegangen sein, Kraft als Wärme verloren, die durch Ausstrahlung an andere Körper übergeht und sich der Benutzung als mechanische Kraft entzieht. Daran scheitert jeder Versuch, ein Perpetuum mobile herzustellen.

Was an Kraft in der Natur vorhanden ist, das kann der Stoff benutzen, er nimmt es aber nur leihweise, wechselt es in der mannichfachsten Weise um und gestaltet sich dadurch zum vielbewegten Leben.

Schaffen kann der Stoff keine Kraft, ebensowenig der Mensch. Deshalb suche man nicht nach dem Perpetuum mobile, sondern sinne und denke nach, den gegebenen Reichthum an Kraft, der in der Natur enthalten ist, möglichst zu nutzen, das heißt, ihn rasch zu verwerthen und rasch zu verbrauchen.



[623]
Im Spreewalde.
Branitz und Muskau.
Ein illustrirter Ausflug von Ludwig Loeffler.
(Schluß.)

Das Cavalierhaus, die Ställe und Remisen sind in kleinem gothischen Styl erbaut, und die Gewächshäuser nicht besonders bemerkenswerth. Ueberhaupt sieht man in dem Ganzen noch die Anlage, zu deren Ausführung jedoch ziemlich bedeutende Kräfte verwendet wurden, während Einzelnes vollendet und unvergleichlich schön gehalten dasteht. Augenblicklich wird an einem See von nicht geringer Größe gegraben, aus dessen Mitte sich eine verhältnißmäßig große Erdpyramide erhebt. Man sagt, der phantastische „Verstorbene“ wolle dort ruhen nach Art der egyptischen Könige.

Branitz und ein Glas Cotbusser Bier ist wohl das Einzige, was dem Reisenden Absolution für die Sünde geben kann, einige Stunden in besagter Stadt zu verweilen. Als Beides daher zu dem Ueberwundenen gehörte, vertrauten wir uns dem Innern einer dickleibigen Postkutsche an, in dem die glühenden Strahlen der Nachmittagssonne und ein durcheinander wirbelndes Conglomerat von Staub und Fliegen einen recht unerquicklichen Aufenthalt erzeugten.

Gegen fünf Uhr hielt unser Kerker vor dem Posthause von Spremberg, und da uns selbst von befreundeter Seite der Kirchhof dieser Stadt empfohlen war, so durften wir doch eine solche liebevolle Aufmerksamkeit nicht unberücksichtigt lassen. Wir fanden ein würdiges Pendant zum Père-la-Chaise und Campo santo von Neapel. Wie dort, ist hier das Todtenfeld auf den Terrassen eines Berges gelegen, von dem man eine durchaus hübsche Aussicht auf Tausende von Pfählen (Beweise einer starken Tuchfabrikation) genießt. Eine halbverfallene Capelle, in der außer unzähligen an den Wänden hängenden Glaskasten mit Trauerbändern und Leichenkronen noch Bahren, Gießkannen und Gartenkörbe deponirt waren, steht auf der Spitze des Berges, umgeben von Gräbern und Denksteinen, deren Inschriften mich um den klaren Verstand der Einwohner von Spremberg in einige Besorgniß versetzten. Hier z. B. heißt es:

„So umdämmert uns die Kummerwolke
Oft im schönen Garten der Natur.“

dort:

„Uns umrauscht der Trennung Trauerflügel,“

oder es kann Jemand seinen Tod gar nicht mehr erwarten und singt:

„Vom Tod geweiht, traut die Unsterblichkeit!
Wir warten stets auf Dich begierig und bereit.“

oder auch äußert sich eine krankhafte Phantasie:

„Nun ruhst Du sanft im Schatten der Cypressen,“

in einem Klima, wo die Cypresse nur in Gewächshäusern fortkommt, und wo der einzige Schatten von versengten Grashalmen herrührt. Ja, ja! – es ist doch ein eigen Ding um die gesunde Vernunft! Weiter ließ uns Spremberg nichts zu wünschen übrig.

Gegen Abend verließen wir die Stadt in einem Einspänner, gezogen von einem jener abgetriebenen Geschöpfe, die der Italiener mit dem Ausdruck cavallo morto (todtes Pferd) bezeichnet, da er behauptet, daß das Thier bereits gestorben, und nur die leidige Gewohnheit die Maschine noch bewege. Die lange, schnurgerade Chaussee war staubig, mehrere vor uns herlaufende Wirbelwinde zeigten das Herannahen eines Wetters, und bald nöthigten uns einzelne schwere Regentropfen zu einer entschiedeneren Verpuppung und zu einer größeren Eile. Damit aber, mit der Eile, schien unser Freund an der Deichsel durchaus nicht einverstanden, und auf der Hälfte des Weges nach Muskau mußte sein Erzieher dem Gelüste des Zöglings willfahren. Eine einsame Waldschenke gab uns für einige Zeit Rast, und wir theilten das öde, von einem Dreierlicht trübe erhellte Zimmer mit zwei Kärrnern in blauen Kitteln und krummen Knieen, einem biederen Schäfer, dem Weisen der Gegend, und seinem Hunde Phylax, über dessen Geistesvermögen er sich ein Weiteres ausließ. Jede seiner Bemerkungen zeigte uns Nachdenken über gemachte Erfahrungen.

Wir setzten unsere Reise fort, und gegen elf Uhr klapperte das lose Hufeisen unseres Hochtrabers auf dem Pflaster der kleinen Stadt Muskau, dessen berühmter Park uns zu dieser Partie bestimmt hatte.

Besagter Park umgibt die reinliche Duodezstadt von allen Seiten wie der Kranz den Geburtstagskuchen, und als wir am nächsten Morgen den öden Platz vor unserm Hotel und das Frühstück genossen, gingen wir durch den unmittelbar neben uns gelegenen Eingang in denselben.

Ein ziemlich altes und nicht unbedeutendes Schloß mit zwei ernsten Thürmen und dick wucherndem Epheu tritt einem sofort entgegen. Hinter diesem führt aus einem neuen, architektonisch nicht besonders bemerkenswerthen Anbau eine Freitreppe unmittelbar auf den sonnigen, hügeligen und mit wundervollen Baumgruppen bepflanzten pleasure-ground. Zwei kolossale vergoldete Löwen auf den Treppenwangen unterbrechen nicht unschön das reiche Grün der Natur, während einige hellblau angestrichene Gitter Zeit und Ueberredungskunst verlangen, ehe man sich an ihre Farbe gewöhnt. Ein in einem Winkel verstecktes und von faulenden Pflanzenresten umgebenes Theater, wie auch der hier und dort sichtbare Mangel der Baumscheere deuten auf die weniger große Sorge hin, die man jetzt der Schöpfung des Fürsten Pückler widmet; ein Eindruck, der sich hauptsächlich nach dem Besuch des sauberen Branitz einstellt, später jedoch wieder verschwindet. Auf dem ersten großen Parkgrund, den man von einem Pavillon, der sogenannten Gloriette, vor sich hat, fehlte mir einiges Leben, und eine Anzahl Hirsche und Rehe würden vielleicht, wie auf den Besitzungen der englischen Gentry, diesen Zweck erfüllen. Der „Eichsee“, den man zunächst auf fortgesetzter Wanderung erreicht, ist zum Theil von einem Wäldchen hochstämmiger Eichen mittleren Alters umgeben, während uns ein anderer Theil des Parkes Bäume dieser Gattung zeigte, die möglicher Weise unsere Ureltern noch in Paletots von Thierfellen gesehen haben. Auch ihre Namen gehören jener Zeit der Götter und Riesen an, und eine „Hermanns-, Thor-, Odinseiche“ rechtfertigen denselben in seiner ganzen Größe. Die erste derselben hat 28 Fuß im Umfange und macht wohl den Eindruck, als ob an ihr das Schild von Thusneldens Gemahl schon gehangen haben möchte. Die Spalten der immer noch urkräftigen Rinde sind allein 3–4 Zoll tief.

Wie groß die Kosten sind, die man zur Anlage und jetzigen Vollendung des Parkes verwendet, zeigen die Beispiele, daß ein Feldstein, um ihn vom Felde an seine im Garten bei einem Fließ angewiesene Stelle zu bringen, 136 Thaler, eine eiserne Brücke aber mit Sandsteinpfeilern circa 15–20,000 Thaler gekostet hat. Ueber letztere gingen wir in die große Gärtnerei (durch welche nicht unbedeutende Revenüen erzielt werden) und über die „Schluchtbrücke“ in einen zweiten, vom Schloß entfernteren Theil des bis jetzt ungefähr drei Meilen großen Parks.

An „Sara’s Walk“ vorüber, einem engen gewundenen und träumerischen Fußpfad durch das Dickicht der Schlucht, gelangten wir zu dem „Grab des Unbekannten“. Dasselbe befindet sich nahe einer der herrlichsten Aussichten über einen Theil der großartigen Anlagen, über fette Wiesen und dunkle Waldungen nach den im bläulichen Dufte schwimmenden Gebirgen Schlesiens, und ist ein Werk der Pietät des Fürsten. Seine Inschrift auf einem steinernen Kreuz neben dem Grabe, vor dem ein Steintisch und Bank, enthält die Geschichte. Sie lautet: „Die Gebeine des Unbekannten. Aufgefunden im nahen Dickicht, zwei Fuß unter der Erde, am 4. August 1832. Hier wieder zur Ruhe bestattet nach dreimal drei Tagen. Das Gerippe verrieth einen kräftigen jungen Mann. Dem gewaltsam eingeschlagenen Schädel fehlte kein einziger Zahn. – Requiescat in pace!“ – Würdiger und einfacher konnte dies Werk christlicher Liebe nicht ausgeführt werden. Warum nahmen sich die guten Spremberger hieran kein Beispiel?

Es war eine unendliche Ruhe in der mittäglichen Natur, als wir da saßen bei dem Grabe des Unbekannten und der großen Energie des genialen Aristokraten unsere Bewunderung zollten. Es war doch eine fast zurückschreckende Aufgabe, aus Sand, Fichtenwaldung und einem Flusse, der wie ein wüster Patron fortwährend sein Bett ändert, einen Park zu schaffen, der sich den vollendetsten Mustern dieser Art würdig zur Seite stellt; es ist doch ein Sieg der landschaftlichen Gartenkunst über eine rohe Natur, wie er nicht glänzender errungen werden kann. Nur Etwas vermißte ich in diesen bewundernswürdigen Anlagen: ein wenig mehr Bewässerung nämlich würde dem Grün des Rasens, ein paar Springbrunnen der Ueppigkeit des Ganzen förderlich sein. Es ist nur das Saftige der Farben, worin er den berühmten englischen Parks nicht ganz gleichkommt, während er dieselben in Bezug auf den darin entwickelten Kunstsinn entschieden übertrifft.

Und ein solches Werk, die Mühen von sechsunddreißig Jahren [624] konnte der Fürst verkaufen! konnte das zum Theil Vollendete verkaufen, um in einer andern Wüstenei von vorne anzufangen! Was ihn dazu trieb? – es muß die Nothwendigkeit gewesen sein, da, wie die Leute behaupten, nach Uebergabe der Besitzungen an den jetzigen Prinzen Friedrich der Niederlande ein schwarzer Mann auf weißem Roß um die Mitternachtsstunde die weiten Anlagen nach allen Richtungen durchstreift habe, der Fürst sich aber, trotz der freundlichsten Einladungen, seitdem noch nie wieder habe in Muskau blicken lassen.

Ueber einen ziemlich ansehnlichen Viaduct, welchen anbringen zu können, expreß eine Schlucht hervorgezaubert wurde, gelangten wir auf ein Plateau, die sogenannte Terrasse, von dem aus man noch einmal einen vollen Blick von oben auf den pleasure-ground hat, und verfolgten dann den Weg über die waldige Berglehne nach dem englischen Hause. Es ist dies eine Art Restauration in dem eleganten englischen Cottagestyl, wo wir, der vorgerückten Tageszeit wegen, unsern Vormittagsspaziergang beendeten. Einen dritten großen Theil des Parkes gaben wir auf und fuhren am Nachmittag statt dessen nach dem drei Stunden entfernten Jagdschloß.

Muskau. Das alte Schloß.

Hier fanden wir nicht das Erwartete. Eine ziemlich unfreundliche Dame, aber ein desto liebenswürdigerer Jagdhund empfingen uns auf den Stufen einer Dienstwohnung, die zu einem in modern-gothischem Styl erbauten kleinen Jagdschloß gehört. Von dem Hunde bekamen wir ungleich mehr Auskunft über die Sehenswürdigkeiten, als von der Dame, da ersterer durch seine Sprünge und sein Laufen anzudeuten schien, wohin wir unsere Richtung nehmen möchten, während letztere ihn dafür zurückrief und einsperrte. Der rund herum angelegte Park ist noch jung und wohl, wie die Gebäude, erst von dem jetzigen Besitzer geschaffen, dagegen trägt ein älterer Theil in demselben durchaus den Charakter eines Urwaldes an sich.

Muskau. Die Hermannseiche.

Ein wildes pêle-mêle von gigantischen Fichtenstämmen und Moos ist noch von dem Fürsten auf dieselbe sinnige Weise, wie die nächste Umgebung der Stadt, zu einer Art Park umgewandelt und eine Verbindung dieser beiden Anlagen durch Anpflanzungen herbeigeführt worden.

Wie nett obige Dame war, zeigte sich noch einmal bei unserer Abfahrt, da sie, als wir beklagten, den Holzthurm für die schönen Aussichten verschlossen gefunden zu haben, ziemlich kurz äußerte: „Den Schlüssel hätten Sie bekommen können.“ Jetzt war es natürlich zu spät.

Das sehr niedliche Bad von Muskau, eine architektonische Bijouterie und Lieblingsidee der früheren Fürstin, liegt in dem von uns am Morgen nicht besuchten Theil des Parks und nicht gar entfernt von einem Alaunwerk, dessen widrige Dämpfe gewiß oft, wie an jenem Tage, eine arge Belästigung der in der Nähe befindlichen Geruchsorgane werden.

Gegen Abend waren wir wieder zurück und zwar nur kurze Zeit vor dem Abgange der Post, mit welcher zu fahren wir beschlossen hatten. Eine unerwartete Anzahl von Reisenden nach der Eisenbahnstation Sorau hatte sich eingefunden, und nur diesen verdankten wir unsere Mitnahme. Wir kamen in den dritten Beiwagen, und die armen Pferde, welche uns so eben vom Jagdschloß nach Hause gezogen, mußten uns wieder weiter befördern gen Triebel.

Daß der jetzige prinzliche Besitzer der Herrschaft Muskau den Plan des Fürsten mit großem Eifer fortsetzt, beweisen die jungen, in Sand gepflanzten Baumanlagen, welche sich zu beiden Seiten der Chaussee noch weit hinaus erstrecken. Auf diese Weise ist es wohl möglich, daß in so und so langer Zeit das ganze 8½ Quadratmeilen umfassende Gebiet ein Garten wird.

In Sorau endete alle Poesie; der Klang der Worte „Berlin, zwei Zweiter“ schnitt sie ab wie mit kaltem Eisen.




Berliner Bilder.
Von E. Kossak.
7. Die Reactionäre.

Vorläufig ist allerdings die Zeit dahin, in welcher sich die zeichnende Kunst mit der Darstellung der politischen Parteien beschäftigte, allein nach dem Gesetze vom Umschwunge aller Dinge kann sie dereinst wiederkehren, und die Zeichner der Zukunft werden sich den Memoirenschreibern der Vergangenheit vielleicht dankbar verpflichtet fühlen für gewisse Aufzeichnungen und Winke, welche zum Besten der Culturgeschichte und Costümkunde benutzt werden können.

Wer heute die vor zehn Jahren angefertigten Schrift- und Zeichenwerke durchstudirt, bemerkt sicherlich, daß die meisten Abbildungen nur der demokratischen Partei gelten, und daß ihre Gegner höchstens durch die allgemeine Symbolik der Pickelhaube, die Physiognomie gewisser parlamentarischer Persönlichkeiten und das Attribut des Ministerstuhles dargestellt worden sind. Bekanntlich fällt dem Andenken des verewigten Buchhändlers Bassermann, eines Herrn [625] von gesänftigtem Constitutionalismus, der Ruhm zu, die sogenannte „Schreckensgestalt“ entdeckt zu haben, und es folgte seitdem eine lange Reihe von naturwissenschaftlich-politisch-artistischen Expeditionen nach den Thoren und Vorstädten von Berlin, um diese ethnographische Merkwürdigkeit zu studiren und dem Gedächtniß der Menschheit durch den Griffel aufzubewahren. So erhielt die freisinnige Partei durch ungerechtfertigte Verwechslung mit einigen Taugenichtsen mehrere häßliche Attribute, die erst jetzt ein wenig in den Hintergrund treten. Wäre jener geniale Entdecker nur etwas erfahrener in den Geheimnissen von Berlin gewesen, er hätte gewußt, daß alljährlich am 24. August auf dem sogenannten Stralauer Fischzuge ein socialer Congreß aller höheren Schreckensgestalten von Berlin stattzufinden pflegt, ohne daß damit die geringste politische Agitation verbunden ist, und die Polizei die dortige Bewegung nicht „niederzuhalten“, sondern vielmehr „aufrechtzuerhalten“ sucht, da die vorhandenen Vorräthe von Kartoffelbranntwein einen eigenthümlich lähmenden Zauber auf besagten Congreß ausüben. Durch die Niederlage der Demokratie entging damals die Reaction glücklich genug dem Schicksale, einen bestimmten Typus zu erhalten; die Männer des wohlgeölten, biegsamen Constitutionalismus waren zu arg eingeschüchtert, als daß einer von ihnen „die reactionäre Schreckensgestalt“ hätte entdecken sollen. Nichtsdestoweniger ist sie noch heute vorhanden und bietet sich dem Griffel des Zeichners in ungleich größerer Mannichfaltigkeit dar, als jemals die sogenannten Typen der Demokratie, nur daß Niemand es noch der Mühe für werth hält, das Auge auf sie zu werfen, sie zu lithographiren und abzudrucken.

Zum ersten Male lernten wir sie bei Gelegenheit der Grundsteinlegung der Gedenksäule vor dem Invalidenhause kennen. Mit einer Eintrittskarte zur Feierlichkeit versehen, zu welcher sich nur ein kleines, höchst exclusives Publicum versammelt hatte, wurden wir auf Grund eines schlichten, dunkelfarbigen Paletots, hirschlederner Handschuhe, einer schwarzen Halsbinde und eines handfesten Rohrstockes – es war kalt und der Boden mit Glatteis bedeckt – von dem wachhabenden Polizeibeamten nicht gleich auf die reservirte Tribüne gelassen, sondern unter einen Haufen schwarzer Gestalten gewiesen, die, von Weitem betrachtet, Gentlemen glichen, in der Nähe aber unverkennbar dem Mob näher als billig zu stehen schienen. Beinahe eine volle Stunde lang mußten wir in dieser Weise zubringen, hatten also vollauf Zeit und Gelegenheit, Beobachtungen anzustellen und uns fest einzuprägen. Wie bemerkt worden, waren alle diese Herren „schwärzlich“, wir sagen absichtlich nicht „schwarz“ gekleidet, da die Zähne der Zeit und Bürste, nebst dem ätzenden Strahle der Sonne, die Farbe und Haare des Tuches nicht zum vortheilhaften Ansehen desselben arg verändert hatten. Unter demselben Nachtheile litten ihre Hüte. Einige derselben schienen ihrem ehrwürdigen Ansehen nach Zeitgenossen jenes Hutes gewesen zu sein, den der schmachvolle Geßler zum Gruße auf einer Stange aufgehängt hatte, aber auch die jüngsten Exemplare waren offenbar in der Geschichte der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts wohl bewandert. Nebenbei verriethen viele Beschädigungen, welche nur durch Gewaltthätigkeiten verursacht sein konnten, daß nicht nur ihre geschichtlichen Bestrebungen, sondern auch ihr häusliches Leben ein unglückliches genannt zu werden verdiente. Fast aller Herren Hüte waren mit der Nationakokarde geschmückt, zeigten aber dennoch Spuren, daß sie ein oder mehrere Male durch kräftige Faustschläge über die Ohren derselben herabgeschlagen worden waren; ein Angriff auf die Würde des deutschen Mannes, der ihm lebenslänglich den Stempel der Komik aufdrückt. Zu den charakteristischen Kennzeichen der Versammlung gehörte ferner eine auffallende Niedergeschlagenheit. Sie erinnerte uns an einen bekannten englischen Kupferstich, auf welchem im Vordergrunde ein am Boden liegender Kantschu, im Hintergrunde eine Gruppe moralisch zerrüttet, verwirrt und struppig aussehender Hunde abgebildet ist, so daß unter denkenden Köpfen über den eben beendeten Vorgang kein Zweifel entstehen kann. Die Leibwäsche verdiente nicht, musterhaft genannt zu werden, indessen verlieh die Präcision, mit welcher alle Herren am Kinn glattrasirt waren, der ganzen Schaar einen gemeinsamen Anstrich. Der Berichterstatter fiel daher durch seinen dichten Bart, den er, nebenbei gesagt, nicht als politische Signatur, sondern als treffliches Schutzmittel gegen rheumatisches Zahnweh seit mehr als zwanzig Jahren trägt, der Schaar sehr unangenehm auf.

Sie mied ihn, so viel sie konnte, und drängte sich gleich einer Schafheerde vor ihm, dem bärtigen Wolfe, ängstlich nach der andern Seite hin. Wir wußten damals nicht, was wir aus diesem Haufen von etwa achtzig bis hundert Männern machen sollten. Vieles in ihrer Gebehrdung sprach dafür, daß sie eine Corporation vorstellten, allein wir vermochten sie bei ihrem schäbigen Aeußeren nirgends in das sich versammelnde Publicum einzurangiren, welches überwiegend aus glänzend decorirten Generälen und hohen Staatsbeamten zu bestehen schien. Vorwaltend war der düstere Ton einer antiken Schusterhaftigkeit unter den niedergeschlagenen Herren. Sie glichen den unentwickelten Vorfahren jener niedlichen Fabrikanten, welche für uns so zierliche lackirte Stiefeln, Morgenschuhe und Gamaschen verfertigen, und mochten überwiegend zu den ehrwürdigen Ueberresten der „Altflicker“ gehören. Der Versuchung, hinter das Geheimniß zu dringen, war nicht länger zu widerstehen. Ein alter Herr schien am meisten geeignet, angeredet zu werden, denn ihm ragte eine unersättliche Tabaksnase aus dem Antlitz in das irdische Jammerthal. Wir präsentirten ihm die gefüllte Dose, und ein versöhnliches Lächeln zog über seine Gesichtszüge, als er seinen Appetit befriedigt hatte.

„Darf ich Sie vielleicht fragen, bester Herr, zu welcher Behörde, oder zu welchem Vereine alle diese Herren gehören, unter welche ich zufälliger Weise durch die Anweisung des Polizeibeamten gerathen bin?“

Die Frage erschien dem alten Herrn so wunderlich, daß er anfangs gar keine Antwort darauf fand, dann griff er in die Tasche, zog eine platte, aber nicht kleine, kreisartig gerundete Flasche hervor, that einen tiefen Zug, wischte mit dem Aermel des schwärzlichen Frackes den Mund und sagte beruhigt:

„Sie sind wohl nicht von hier, sonst würden Sie uns kennen; wir sind der Treubund!

Leider schnitt der Anfang der Festlichkeit die weitere Unterhaltung ab, ein Herr in guten Mannesjahren, mit der Decoration eines mittleren Ordens, näherte sich dem Haufen und gab ihm das Zeichen, die hinteren Plätze der Tribüne zu besteigen. Die schwärzlichen Trauergestalten suchten unverzüglich eine Art zwei Mann hoher Front herzustellen, machten die ausgespannten Regenschirme zu und setzten sich in Reihen in Marsch nach der Treppe. Wir aber schlossen uns der trübseligen Compagnie an und bedauerten nur, keinen geschickten Zeichner in der Nähe zu haben, um einige dieser verkümmerten Gestalten der Merkwürdigkeit wegen zu copiren.

Politische Kenner werden sofort bemerkt haben, daß besagte Reactionäre sich noch keiner vollständigen Siegesgewißheit erfreuten und noch schwer unter dem Drucke lästiger Erinnerungen litten; sonst hätten sie sich nicht durch einen Bart im Gesichte eines ganz unpolitischen, harmlosen Mannes einschüchtern lassen. Mehrere Jahre später sollten wir wieder ein Rudel Reactionäre, aber unter ganz veränderten Umständen antreffen. Von Demokratie war nicht mehr viel die Rede, selbst die der Zeitungen ihrer Parteifarbe war so verschossen, wie ein rothgefärbtes Hutband nach einer Gebirgsreise. Alle furchtsamen Personen hatten sich die Bärte abgeschnitten, oder doch militärisch zugestutzt und gekürzt; die Reaction war dick und fett geworden und schlug sich selbstbewußt auf den Bauch. Ihr Novembermann, der Minister, stand in voller Blüthe. Er war nahe daran, in seinen untergebenen Kreisen eine Art Volksthümlichkeit zu erlangen, hätte nicht sein etwas napoleonisch markirter Gesichtsausdruck ein schweres Gegengewicht in die Wagschale gelegt. Dennoch gab es Orte, wo man ihn wie den großen Buddha verehrte. Namentlich war da eine Bierkneipe, in welcher er fast den einzigen Gegenstand der Unterhaltung bildete. An einem Abende hatte sich der Minister nämlich in dem Incognito Harun Alraschids, Josephs des Zweiten oder des kleinen Corporals eingefunden und sich an dem Tische der versammelten Bürger ein Glas Weißbier einschenken lassen. Anfangs war er bei seinem mehr als schlichten Aeußern den reactionären Philistern nicht aufgefallen, und auch aus seiner Unterhaltung hatte Niemand auf einen ungewöhnlichen Mann, am allerwenigsten aber auf einen Staatsmann schließen können, denn der Unbekannte hatte gesprochen, wie im Parlamente, wenn er von den Revolutionären in Schlafrock und Pantoffeln, oder von der lahmen Ziege, von der entnervenden Lectüre des Montesquieu oder dem Vogel Phönix „Preußen“ redete, schlicht und recht, ohne rednerischen Schmuck, ein Mann, dessen Tagearbeit nicht in Maulwerk und Sprechenismus besteht. Als er aber schied, hatte er sich dem Wirthe zu erkennen gegeben. Dieser goß die Bierneige des Ministers nicht in den Topf, woraus die Biersuppen für die Gäste gekocht werden, sondern vertheilte den Balsam tropfenweise an die Reactionäre, [626] machte aus dem Glase eine politisch-patriotische Reliquie und stellte sie als heiliges Symbol hoch an einem Orte auf, wo ihr Anbetung gezollt werden konnte. In der Kneipe aber bildete sich ein besonderer Cultus, ein Orden der rothen Reaction, des Weißbiers, der Eisbeine und bairischen Würste. Wie bei den Mohamedanern heißt es hier allabendlich: Allah il Allah, aber nicht Mohamed war sein Prophet, sondern der kleine schwarzköpfige Minister. Auch die Physiognomie dieser frommen Reactionäre zeichnete sich sehr aus. In ihr lag schon die selbstbewußte Ruhe des politischen Sieges.

Die versammelten Männer durften sich der errungenen Trophäen freuen, ihre Würste mit Sauerkraut in vollkommener Sicherheit essen, daß nicht zwischen dem fetten Bissen und dem offenen Maule Generalmarsch geschlagen, bei einem Minister Volksbesuch abgestattet und eine ungesetzliche Rede unter freiem Himmel gehalten würde. Als politisch unverdächtige Wesen, wie sie Cäsar bei Shakespeare um sich haben wollte, waren sie Alle wohlbeleibt und von bürgerlich wohlhabendem Anstrich. Von jenem verkümmerten Schuhflickerthum war nicht die geringste Spur zu bemerken. Hatten die oben beschriebenen armen Kümmerlinge sich einem reactionären Vereine angeschlossen, um Hoffnung auf Erwerb zu erhalten, sich hochgestellten Gönnern zu empfehlen, vortheilhafte Verbindungen mit gutgesinnten Kutschern, Portiers, Jägern und Lakayen anzuknüpfen, so sah man diesen behäbigen Herren an, daß ihr geregelter Erwerb und nahrhaftes bürgerliches Geschäft durch die Beruhigung der beweglicheren Elemente des Staates wiederhergestellt und neu befestigt worden war. Sie sprachen in der Tonart biederer Grobheit von ihren Erwerbszweigen und Speculationen, und bekümmerten sich merkwürdiger Weise nicht im Mindesten um Politik. Hätte man ihnen genügende Garantie gewährt, daß sie auch in einer rothen Republik ihr Leder verkaufen, ihre Strumpfwaaren anfertigen, ihren gebrannten Kaffee absetzen könnten, sie wären sofort daran gegangen, die gläserne Reliquie zu zerschlagen. Sie waren Reactionäre, weil sie am besten mit der Reaction fuhren. Den fremden Beobachter, der sich kühnlich neben die alten Stammgäste setzte und jene Merkwürdigkeit betrachtete, sahen sie deshalb auch nicht scheel an oder rückten vor ihm bei Seite; es that ihnen anscheinend wohl, ausnahmsweise von einem Gaste beehrt zu werden. Im Ganzen trat in ihnen sogar etwas von dem moralischen Eunuchenthum hervor, welches dem Constitutionalismus von seinen Gegnern vorgeworfen wird, und wahrscheinlich gab es damals schon manchen Unschlüssigen unter ihnen, der seitdem von dem Novembermanne abgefallen ist und den Finanz- oder Kriegsminister als Deputirten gewählt hat. Das Aeußere dieser Herren trug einige philiströse Würde zur Schau. Je weniger Entschlossenheit der Ansichten sie besaßen, und je mehr sie darauf angewiesen waren, sich an eine starke Partei zu lehnen und von ihr gängeln zu lassen, desto männlich selbstständiger gebehrdeten sie sich. Da die Staatsmänner und Minister von heute nicht mehr den historisch großartigen Anstrich der Diplomaten des vorigen Jahrhunderts besitzen, so zeigten sie, wie sie an einer langen ungedeckten Tafel saßen, einige Aehnlichkeit mit den derzeitigen lebenden Inhabern der Stühle am Ministertisch in der Kammer.

Weit interessanter, als diese beiden Gattungen von politischem Krummholz sind die höheren Reactionäre, welche der Forscher noch heute an einigen exclusiven Orten der Residenz findet. Wir meinen die alten Junker und solche gutsituirte Bürgerliche, welche es zu sein wünschten, und sich deshalb zu jenen halten. Allen Männern und Jünglingen, welche Morgens oder Abends Verlangen nach einer kräftigen Herzstärkung aus den Kellereien des Bacchus oder Gambrinus tragen und dazu ein vortreffliches Gericht essen wollen, können wir die „reactionäre Kneipe“ aus eigener Erfahrung angelegentlich empfehlen. Niemand braucht darum seine politische Meinung zu verleugnen, aber wir wollten ihm doch rathen, wenn das Local besetzt ist, sie wenigstens zu verschweigen, falls sie der Fahne des Ortes nicht entspricht. Er könnte sonst auf eine ungemein heftige manuelle Weise aus der Versammlung entfernt werden. Zunächst muß Jedem die Stellung des Wirthes zu den Gästen auffallen. Sie ist durchaus patriarchalisch correct und die eines Mannes, der Alles daran setzt, um selbst mit zeitweiligen eigenen Opfern die Gesellschaft zufrieden zu stellen und an sein Haus zu fesseln.

So macht an einem runden Tische, in dem Kreise alter Herren, ein Graukopf ein etwas bedenkliches Gesicht über den Rothwein. Alsbald wird der Wirth citirt und der unzufriedene Graukopf ihm mit Pathos vorgestellt. Man unterwirft die Weinsorte einer strengen Kritik und beruhigt sich erst, als eine genaue Untersuchung der Flasche und des Pfropfens ergiebt, daß letzterer durch ein Mißgeschick, wie es selbst im besten Keller vorkommen kann, etwas schadhaft gewesen sei und dem Rebensaft einen Beigeschmack verliehen habe. Der Wirth nimmt daran keinen Anstoß, weil er weiß, daß nirgends in der Welt treuere und ausgiebigere Kunden gefunden werden, vorausgesetzt, daß man ihnen stets das Beste liefert. Dafür genießt er aber auch ein großes Vertrauen unter den alten Herren, und es kommt vor, daß sie sich zusammenthun und ihm eine ansehnliche Summe Geldes zur Erweiterung des Geschäftes mit geringen Zinsen vorschießen. Andere Gesellschaft, als eine aristokratisch und reactionär zusammengesetzte, sehen sie dagegen in dem Locale nicht gern. Der Ton der eigenen Unterhaltung ist stets etwas gereizt und verbittert, hat aber diese unangenehme Klangfarbe erst seit dem Jahre 1848 angenommen. Vorher lebte der Gutsbesitzer und Wollzüchter, der active und pensionirte Officier, der Arzt und Geistliche adliger Kreise in einem Zustande idyllischer Unschuld; die Kreuzzeitung war damals noch nicht begründet. Erst durch dieses Blatt wurde ihnen Allen der Staar gestochen und klar gemacht, was hienieden in Preußen gut und böse sei. Jetzt haben sie Alle eine politische Meinung gewonnen und den Frieden der Seele verloren; jener Zeitungsengel hat sie aus dem Paradiese mit dem Flammenschwerte des Zuschauers vertrieben. In ihren Augen ist die Erde nur von Seraphim, den Reactionären, und Dämonen, den Revolutionären, bevölkert. Gegen Letztere muß durch Polizeimaßregeln, Verbote, Beschränkungen des Vereinsrechtes, Landräthe, Wahlumtriebe und kleine Kreisblätter, diese wilden Aepfel des Baumes der literarisch-politischen Erkenntniß, unausgesetzt ein Vertilgungskrieg geführt werden. Die alten Herren sind daher immer auf Seiten der äußersten Gewalt in allen Ländern und ganz gegen Volksbildung, da sie sich durch lange Erfahrung und persönlich überzeugt haben, daß der Staatsangehörige mit einem äußerst geringen Maße derselben verhältnismäßig glücklich leben kann. Menschen, die ihre Namensunterschrift durch drei Kreuze ersetzen müssen, gelten ihnen natürlich mehr, als jene großen Männer, die ihren Namen durch die Feder unsterblich gemacht haben; ja, sie sehen in diesen die noch heute fortwirkende Ursache sämmtlicher Revolutionen.

Alles, was in den fünf Welttheilen und auf den sie umgebenden Gewässern geschieht, erfahren sie nur aus dem genannten einflußreichen Journal, welches von ihnen deshalb auch schlechtweg „die Zeitung“ genannt wird. Wenn vornehme Personen, selbst von fürstlichem Geblüt, den Grundsätzen der Reaction abtrünnig werden, rechnen sie dieselben unbedenklich unter die Revolutionäre und verleihen ihnen allerlei Spitznamen, die immer mit einem seltsamen höhnischen Schmunzeln leise ausgesprochen werden. Für feinere Parteiunterschiede haben diese alten Herren keinen Sinn und verabscheuen Jeden, der ihr Programm nicht bis auf das letzte Komma unterschreibt. Kommt eine etwas liberalere Richtung an das Ruder, so verfallen sie in den sogenannten „Staatsschmerz“, ein Leiden, bei welchem ihnen bei jedem freisinnigen Lüftchen Alles im Leibe wehe thut und sie den Untergang des Vaterlandes fürchten läßt. Der Wirth fühlt sich dabei ungemein wohl. Sie verzehren während dieser Krankheit mehr gebratene Speisen und hitzige Getränke, denn je, und versammeln sich häufiger als sonst, um einander ihr tiefes Leid zu klagen. Die militärisch zugestutzten Schnurr- und Backenbärte herrschen in diesen Reunionen vor, und in die Wehklagen über den Verfall des Staates mischen sich nicht selten unwillige Aeußerungen über Zurücksetzung im Avancement. Die Erwähnung des Programmes von Eisenach vermag bei einigen Rigoristen sofortige Gesichtszuckungen hervorzurufen, und gegen die deutsche Einheit nähren sie in sich denselben Abscheu, welchen nach der Naturgeschichte die Hunde gegen den Gedanken einer Union mit dem Katzengeschlechte hegen sollen.



[627]
Was ist Farbe?

Unzähliges gibt es, was Jeder zu wissen glaubt, ohne doch auf Befragen Rechenschaft davon geben zu können. Man baut seine Sätze aus Worten, wie der Maurer sein Haus aus Steinen, ohne viel darnach zu fragen, was man eigentlich für Steine hat, wenn sie nur in die Mauer passen. Da wird denn oft ein Wort in schiefem Sinne angewandt. Ist es nun auch nicht zu verlangen, daß Jeder alle Worte von Grund aus kennen soll, so ist es doch von großer Wichtigkeit, die Wörter eingehender zu betrachten, welche Verschiedenes zugleich bedeuten. Man geräth in die schlimmsten Irrthümer, wenn man ein vieldeutiges Wort überall in demselben Sinne verstehen will. Das Wort Farbe ist ein solches und die Untersuchung seiner verschiedenen Bedeutungen um so wichtiger, als sich daran Betrachtungen aus der Natur- und Seelenlehre knüpfen, die für jeden einigermaßen Gebildeten von höchstem Interesse sein müssen. Denn sie werfen ein helles Licht auf eine große Classe von Naturerscheinungen, die wir für gewöhnlich gedankenlos hinnehmen, ohne über ihr Wesen weiter nachzudenken. Die Wissenschaft aber hat die Aufgabe, diejenigen, deren Denken und Forschen im praktischen Leben zu sehr in Anspruch genommen ist, um sich eingehender mit den Natur- und Seelenerscheinungen beschäftigen zu können, wenigstens auf das Wichtigere in klaren Umrissen aufmerksam zu machen, damit sie im Stande sind, mit der allgemeinen Bildung fortzuschreiten und den geistigen Anforderungen ihrer Zeit zu genügen.

Blau, roth, gelb etc. sind Farben, aber wir sehen diese Farben unter sehr verschiedenen Verhältnissen. Wenn die Wolken im Abendrothe glühen, so wissen wir wohl, daß dabei das Roth auf ganz andere Weise entsteht, als wenn sich unsere Wange bei der Erhitzung roth färbt oder das Eisen im Feuer rothglühend wird. Die Wolken sind nicht eigentlich roth, doch haben sie das Vermögen, das Licht der Sonne, wenn es sie unter bestimmten Verhältnissen trifft, in rother Färbung zurückzustrahlen; unsere Wangen röthen sich, indem die Aederchen, welche dicht unter der Haut liegen, sich reicher mit dem roth durchscheinenden Blute füllen; das Eisen hat die Eigenschaft, durch starkes Erhitzen rothleuchtend zu werden. So ließen sich viele Beispiele anführen, um zu zeigen, auf wie verschiedene Weise dieselbe Farbe zu Stande kommen kann. Aber Farbe ist nur wo Licht ist, ja das Licht selbst erscheint uns fast immer in einer gewissen Farbe, wenn man nicht etwa ohne Grund sagen will, Weiß sei keine Farbe, Selten haben wir Lichtempfindungen, die uns nicht zugleich einen farbigen Eindruck machen. Die Sonne, wenn wir ihren Anblick ertragen können, erscheint uns zuerst als ein reinweißer Körper, der dann in Folge der Ermüdung unseres Auges und durch die ergossenen Thränen hindurch eine gelbe oder röthliche Färbung annimmt; die Blitze haben meist eine blaue oder grüne Färbung; das Feuer der Flamme erscheint bald gelblich, bald röthlich, bald bläulich, bald weiß; und es bleiben als farblose Lichterscheinungen eigentlich nur diejenigen übrig, welche zu flüchtig oder zu schwach sind, um uns eine bestimmte Farbe zur Empfindung zu bringen. Farben sind also farbiges Licht, Was roth, blau etc. ist, muß Jeder wissen, es läßt sich eben nicht weiter beschreiben, wohl aber kann man nach den Gründen fragen, welche das ursprünglich weiße Tageslicht ändern, sodaß es uns von verschiedenen Körpern mit verschiedener Farbe zurückgestrahlt wird.

Alles Licht, das wir bei Tage sehen, kommt von der Sonne, ihre Strahlen beleuchten die Dinge theils unmittelbar, theils beleuchtet wieder eines das andere, da das Licht die Eigenschaft hat, von Körpern, welche nicht ganz durchsichtig sind, zurückgestrahlt zu werden. Der ganze Himmel z. B. würde uns schwarz erscheinen, wenn nicht die zahllosen sonst unsichtbar kleinen Wasserbläschen, welche die Luft erfüllen, vom Sonnenlicht erleuchtet würden, sodaß sie gleich einem dünnen leuchtenden Wolkenschleier sich vor das lichtlose Dunkel des Himmels legen. Häufen sich diese Wasserbläschen in größerer Menge an, so erscheinen sie uns als Wolken, welche, von der Sonne beschienen, das reinste und hellste weiße Licht geben können. Verschwänden eines Tages alle Wasserbläschen aus unserm Luftkreise, so würde der Himmel schwarz sein und nur die glühende Sonnenscheibe leuchten. In südlichen Gegenden, wo die Luft reiner ist, erscheint auch der Himmel dunkler, und auf hohen Gebirgen nähert sich das Blau desselben mehr und mehr dem Schwarz, weil die Wasserbläschen an Zahl abnehmen, je höher wir hinaufsteigen. Man sagt gewöhnlich, die Luft selbst sei blau, und meint z. B., die fernen Berge erschienen uns nur darum blau, weil eine sehr große Luftschicht zwischen ihnen und unserm Auge liege, wie ja auch das Meerwasser in Menge farbig erscheint, während ein Glas voll farblos ist. Die Luft ist durchsichtig, d. h. die Sonnenstrahlen gehen durch dieselbe hindurch, ohne ihren Weg sehr abzuändern, sie werden nicht zurückgeworfen, wie von den Wasserbläschen, welche wie Millionen winzige Monde im erborgten Sonnenlicht leuchten und dadurch den ganzen Himmel hell machen. Nun könnte man meinen, wie der weiße Meeresgrund durch das blaue Wasser hindurch blau erscheint, so könnte auch die weißliche Dunstschicht der Wasserbläschen nur darum blau erscheinen, weil wir sie durch die blaue Luft hindurch sehen. Dann aber müßte auch die Sonne einen bläulichen Schein haben, was nie der Fall ist, vielmehr erscheint sie blendend weiß, wenn man den Muth hat, genau hineinzusehen. Die Luft ist so wenig blau, wie sie roth ist, wenn sich Abends der Himmel im Westen roth färbt; alle Farben des Himmels entstehen durch das verschiedene Zurückstrahlen des Sonnenlichts von den Wasserbläschen des Dunstkreises. Ganz ähnlich wie das Blau des Himmels entsteht das Blau des Auges. So wenig sich in unserm Luftkreise etwas eigentlich Blaues findet, so wenig enthält das blaue Auge irgend welchen blauen Farbestoff; die Farbe entsteht vielmehr dadurch, daß sich ein dünnes, weißliches Häutchen, die sogenannte Regenbogenhaut, vor die dunkle, mit schwarzbraunem Farbestoff ausgelegte Augenkammer spannt. Dies dünne Häutchen erscheint vor der schwarzen Augenkammer blau, wie der feine Dunstschleier des Luftkreises blau erscheint vor dem lichtlosen Weltenraum; oder wie der zarte Nebel, der Abends über der Erde liegt, die dunklen Berge oder einen fernen Wald blau färbt. Schon der Wasserkunst, der aus einer brennenden Cigarre aufsteigt, erscheint bläulich auf einem schwarzen Hintergründe; doch ist mit dem Dunste nicht der Rauch zu verwechseln, welcher durch feine Aschetheilchen eine schmutziggraue oder selbst bräunliche Färbung hat und sich zu dem Versuche wenig eignet.

Wir haben also gesehen, daß uns Vieles blau erscheint, ohne blau zu sein. Der Grund liegt, wie erwähnt, darin, daß das weiße Sonnenlicht unter bestimmten Umständen seine Farbe ändert. Jede Wasserflasche, welche in der Sonne steht, vermag diese Aenderung zu zeigen; ein dahinter gehaltenes Papier zeigt farbige Streifen gleich einem kleinen Regenbogen. Zur genauem Untersuchung dieser Lichtänderungen benutzt man ein sogenanntes Prisma, d. h. ein dreikantig geschliffenes Stäbchen aus Glas oder einem andern durchsichtigen Körper. Läßt man einen Sonnenstrahl durch eine kleine Oeffnung in ein sonst dunkles Zimmer fallen und durch eine Kante des dreikantigen Stäbchens gehen, so gibt er, wenn man ihn mit einem weißen Papier auffängt, eine buntstreifige länglichrunde Lichterscheinung; die Farben folgen ganz wie im Regenbogen aufeinander: roth, orange, gelb, grün, blau, violett. Die Naturforscher erklären diese Aenderungen des Lichtes auf folgende Weise:

Schon längst wußte man, daß die Töne, die wir vernehmen, durch Schwingungen der uns umgebenden Luft vermittelt werden. Eine Claviersaite, welche durch Anschlagen der Taste erzittert, setzt durch die regelmäßigen Stöße, die sie auf die Luft ausübt, diese in Schwingung, welche sich bis in unser Ohr fortpflanzt und daselbst die Hörnerven trifft. Ganz ähnlich verhält es sich nach Angabe der Naturforscher mit dem Lichte. Wie die Töne durch Schwingungen der Luft erzeugt werden, so das Licht durch Schwingungen eines noch weit feineren Stoffes, des sogenannten Licht-Aethers, der die Lichtwellen auf ähnliche Weise fortpflanzt, wie die Luft die Schallwellen. Es ist dies freilich nur eine Annahme; da sich indeß die meisten Lichterscheinungen daraus erklären und ableiten lassen, so hat man alle Ursache zu glauben, daß die Annahme der Wahrheit nahe kommt.

Man nimmt nun weiter an, daß jeder Farbe eine besondere Art der Aetherbewegung entspreche, wie ja auch jedem Tone eine andere Art der Luftbewegung entspricht. So hängt z. B. die Höhe eines Tones von der Schnelligkeit ab, mit welcher die Schwingungen der Luft aufeinander folgen. Ein Ton, welcher um eine Octave höher ist als der andere, zählt doppelt soviel Schwingungen in derselben Zeit. In ähnlicher Weise zählt ein violetter Lichtstrahl in einer Secunde mehr Aetherschwingungen, als ein rother Strahl. Das Sonnenlicht soll aus verschiedenen farbigen Strahlen zusammengesetzt [628] sein, und in dieser Zusammensetzung dem Auge als weiß erscheinen; im Prisma aber sollen sich die einzelnen Strahlen von einander sondern und dadurch das farbige Lichtbild hervorrufen. Man hat sogar auf Grund genauer Untersuchungen berechnet, wie viel Schwingungen jede Lichtart in der Secunde macht; so muß der Aether 750 Billionen Schwingungen in der Secunde machen, um die Erscheinung der violetten Farbe hervorzurufen, während das Roth schon durch 500 Billionen Schwingungen erzeugt wird. Seit nun die Physiker berechnet haben, daß jeder Farbe eine bestimmte Art der Aetherbewegung entspricht, hat man sich gewöhnt, unter Licht und Farbe im physikalischen Sinne überhaupt nur Aetherbewegungen zu verstehen, und man verwechselt nun häufig beide Bedeutungen. Ganz ebenso nennt der Physiker gewisse Wellenbewegungen der Luft Töne und gewisse Zustande des Stoffes Wärme, während doch Töne und Wärme im Grunde nichts anders sind als Empfindungen. Es ist sehr wichtig, auf den Unterschied aufmerksam zu machen, weil eine Menge falscher Ansichten allgemein verbreitet sind, die nur in dieser Verwechslung ihren Grund haben.

Wir machen unsre Beobachtungen von der Außenwelt mit Hülfe der äußern Sinne, d, h. die Sinne sind die Pforten, durch welche die Kunde von den Dingen der Außenwelt zu unsrer Seele gelangt. Wenn wir von Sinnesempfindungen reden, so sind das Empfindungen unsrer Seele, die durch eines unsrer Sinneswerkzeuge vermittelt worden sind. Ganz falsch aber ist es, zu glauben, die Sinnesempfindung sitze in unseren Sinneswerkzeugen selbst.

Bei jeder Empfindung haben wir dreierlei zu unterscheiden: erstens die äußere Ursache der Empfindung, zweitens die Veränderung, welche die äußere Ursache in unsern Sinneswerkzeugen und in den Nerven hervorruft, welche die Sinneswege mit der Seele in Verbindung setzen, drittens die eigentliche Empfindung, d. h. einen bestimmten Vorgang in unsrer Seele. Daran reiht sich viertens gewöhnlich ein Urtheil, vermöge dessen wir uns eine Vorstellung von der äußeren Ursache unserer Empfindungen machen. Wählen wir ein bestimmtes Beispiel. Wir sehen den Mond; das Sonnenlicht, d. h. eine Bewegung des Lichtäthers, welche von der Sonne ausgeht, hat sich bis zum Monde fortgepflanzt und ist von diesem aus wieder bis zur Erde gelangt. Hier trifft die Bewegung als Mondlicht unser Auge, durchläuft dasselbe und kommt bis zu der im Hintergrunde unsres Auges ausgespannten Nervenhaut. Die feinen Enden der Sehnerven erleiden in Folge des Bewegungsanstoßes eine Aenderung, welche sich im Grunde ebenfalls auf eine Erzitterung, Schwingung oder sonst welche Bewegung seiner feinsten Theilchen zurückführen läßt. Von diesem Vorgange in den Nervenenden des Auges erhält die Seele dadurch Kunde, daß die Nervenfäden, welche vom Auge zum Gehirn laufen, innerlich erregt werden und diese Erregung, welche wahrscheinlich in einem galvanischen Strome besteht, bis in’s Gehirn fortleiten, wo dann die Seele zur Lichtempfindung angeregt wird, in Folge deren wir das leuchtende Bild des Mondes erblicken.

So werden auch alle andern Sinneswahrnehmungen durch gröbere und feinere Bewegungen vermittelt, welche die Enden unsrer Sinnesnerven treffen. Daß unser Tasten auf Bewegungen beruht, ist Jedem von selbst verständlich; daß das Hören durch regelmäßige wellenförmige Luftbewegungen veranlaßt wird, wurde schon erwähnt. Ganz ähnlich, wie die Lichteindrücke von den unendlich schnellen und kleinen Erzitterungen des feinen Lichtstoffes herrühren, scheint auch den Wärmeempfindungen die Erzitterung der Theilchen eines Wärmestoffes zu Grunde zu liegen. Kurz Alles, was in unsre Sinne kommt, ist Bewegung. Durch diese Bewegungen werden die Sinnesnerven erregt, welche Erregung, so innerlich und unmerklich sie auch ist, sich zuletzt doch auch auf eine feine Bewegung der kleinsten Nerventheilchen zurückführen läßt; diese feinen Nervenbewegungen sind es, welche endlich die Seele zur Empfindung des sinnlichen Eindrucks bringen. Wie der Schlag des Klöppels die Glocke erklingen, wie der Bogen die Saite ertönen macht, so nöthigt die Erregung der Nerven die Seele zur Empfindung, und wie der Ton der Saite von der Art des Bogenstriches abhängt, so auch die Empfindung der Seele von der Art der Nervenerregung. Es ist eine sehr verbreitete Ansicht, daß die Empfindung des Lichtes im Auge, die Empfindung des Schalles im Ohr sitze u. s. w. und der Sprachgebrauch begünstigt diesen Irrthum, da wir zu sagen pflegen: mein Auge erblickte, oder mein Ohr vernahm etwas. Ist man sich klar bewußt, daß jede Sinnesempfindung nie in einem Sinnesorgan, sondern stets in der Seele vor sich geht, so kann man wohl dem bildlichen Sprachgebrauche folgen; wer dies jedoch nicht bedacht hat, macht sich leicht eine ganz falsche Vorstellung von dem Verhältniß der Sinne zur Seele. Die Sinne können nicht empfinden, dies vermag nur die Seele. Auch darf man sich nicht, wie Einige thun, die Seele gleich einem luftigen Wesen den ganzen Körper durchdringend denken, so daß sie im Auge eben so gegenwärtig wäre, als im Hirn, man muß vielmehr einen Theil des Hirns als denjenigen denken, welcher allein in unmittelbarer Wechselbeziehung mit der Seele stehe; etwas Näheres über diesen Theil des Hirns, über seinen Sitz, seine Ausdehnung, oder ob er im Grunde nur ein Punkt im Hirn sei u. s. w. läßt sich freilich nach dem jetzigen Stande unsres Wissens noch nicht angeben. Daß aber die Seele nicht im Auge gegenwärtig sei und daß im Auge überhaupt keine Empfindung entstehen könne, beweisen Fälle von Blindheit, welche in Folge einer krankhaften Veränderung des sogenannten Sehnerven entstehen. Dieser Nerv ist ein Bündel feiner Nervenfasern, welche von der Nervenhaut des Auges durch den knöchernen Schädel ins Gehirn treten. Wird diese Nervenleitung an irgend einer Stelle ihres Verlaufes durch eine krankhafte Veränderung unterbrochen, so erfährt die Seele nichts mehr von den Lichteindrücken im Auge. Thiere, denen diese Nerven durchschnitten werden, sind auf der Stelle blind, obgleich ihre Augen ganz unverletzt geblieben. So ist also das Auge nichts Anders, als ein Apparat, in welchem die Lichtbewegungen in eine Nervenerregung umgesetzt werden; es ist ein Telegraphenbureau, wo unsre Außenwelt die Depeschen ausgibt, die sie unsrer Seele zu melden hat, und das Auge weiß von dem Inhalt der Depesche ebensowenig, als der elektrische Apparat des Telegraphisten, die Nerven wissen davon so wenig, wie die Telegraphendrähte, sie sind bewußtlose Werkzeuge, und nur der Seele erschließt sich der Sinn. Aus alledem ist klar, daß Licht und Farbe nur für die Seele da sind; daß es ohne bewußte Seelen gar kein Licht und keine Farbe auf der Welt gäbe, sondern nur Aetherschwingungen, die eben nur Schwingungen sind und kein Licht, keine Farben. Daher hat der Physiker eigentlich Unrecht, wenn er jene Schwingungen Licht nennt, und ihre besonderen Arten Farben.

Wenn Jemand mit dem Bogen die Saiten der Violine streicht, so haben nur die Saiten den Ton, nicht aber auch der Bogen; ebenso hat nur die Seele Farben, nicht auch der Lichtstoff, dessen Bewegung unserer Seele die Farben entlockt, wie der Bogen den Saiten die Töne. Freilich hängt der Ton mit vom Bogenstriche ab, sowie die Farbenempfindung von der Art der Lichtstoffbewegung; so wenig die kunstvolle Bogenführung einem plumpen Steine Töne entlockt, eben so wenig erregt die Lichtstoffbewegung in bewußtlosen Wesen eine Farbenempfindung. Licht ist also eine Seelenregung, welcher eine bestimmte Stoffbewegung außer uns entspricht; Farbe ist farbiges Licht, also auch eine bestimmte Art der Seelenregung. Dies ist die eigentliche Grundbedeutung des Wortes Farbe. Will man nun auch gewisse Arten der Lichtstoffschwingungen, welche gewissen Farben entsprechen, so nennen, so darf man dabei nie vergessen, daß dies nur im übertragenen Sinne geschehen kann. Dies wäre denn die zweite Bedeutung des Wortes Farbe, d. h. die physikalische Bedeutung. Dazu kommt noch eine dritte Bedeutung, die chemische. Wir unterscheiden farbige Dinge von gefärbten Dingen. Farbig sind diejenigen, welche eine ursprüngliche und durchgehende Farbe haben, gefärbt sind die, welche ihre Farbe durch Färben erhalten haben, sei es nun, daß dies Färben nur in einem vorübergehenden Verhalten! der Lichtstrahlen begründet sei, wie das Röthen der Abendwolken, sei es, daß wirklich ein Farbstoff übertragen worden ist. Solche Stoffe, welchen eine bestimmte Farbe eigenthümlich zukommt, welche man daher zum Färben anderer Stoffe benutzt, sind aber farbige Stoffe, Farbestoffe oder kurzweg Farben. Dies ist die dritte Hauptbedeutung des Wortes Farbe. Ich übergehe den bildlichen Gebrauch des Wortes, denn er kann nicht leicht zu Mißverständnissen führen. Dahin gehört es, daß man von der Farbe eines Tones, einer Empfindung etc. spricht. Jeder weiß, daß ein Ton ebenso wenig Farben haben kann, als eine Farbe Töne, und doch versteht Jeder, was damit gemeint ist. Denn man benutzt sehr allgemein die Bezeichnungen der Eindrücke des einen Sinns, um die eines andern näher zu charakterisiren.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.