Die Gartenlaube (1859)/Heft 31
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No. 31. | 1859. |
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Mit einem offenen Briefe in der Hand trat der praktische Arzt Marcus Herz in das Zimmer seiner Frau, welche wegen ihrer auffallenden Schönheit in Berlin bekannt war und allgemein gefeiert wurde. Auch in diesem Augenblicke, wo sie bereits ihr dreißigstes Jahr überschritten, gehörte sie noch zu den reizendsten Erscheinungen der Residenz. Die Zeit schien spurlos an ihr vergangen zu sein, und wenn man ihren schlanken, elastischen Wuchs, diese classischen Formen, die rosig angehauchten Wangen, das üppig dunkle Haar und besonders die hell wie Sterne leuchtenden Augen sah, so war man versucht, sie für weit jünger zu halten, als sie in der Wirklichkeit war. Trotz der Gewohnheit des Anblicks konnte der weit ältere Gatte sich dem überwältigenden Eindrucke dieser unvergänglichen Schönheit nicht entziehen, seine geistreichen, aber nichts weniger als schönen Züge belebten sich und über die gefurchte Denkerstirn glitt ein Strahl der Freude, welche jedes vollendete Werk der Kunst oder Natur in uns hervorzurufen pflegt. Wie gebannt blieb Herz in der geöffneten Thüre stehen, um sie nicht zu stören. Sie las und schien ganz versenkt in das Buch, welches sie in ihren Händen hielt. Es war dies „Werther’s Leiden“, das Evangelium der empfindsamen Herzen in jener Zeit. Ein Seufzer entrang sich der Brust der schönen Frau und in ihren strahlenden Augen schimmerte eine schnell wieder unterdrückte Thräne. Wer hätte sagen können, ob diese Zeichen der Trauer dem Helden des berühmten Romans oder ihrem eigenen Schicksale galten?
Henriette war die Tochter des jüdischen Arztes de Lemos und als ein Kind von zwölf Jahren nach der damaligen Sitte ihres Volkes mit dem fast dreifach so alten Doctor Herz verlobt. Ein Kind an Geist und Bildung, aber bereits in frühreifer Entwickelung des Körpers eine Jungfrau, reizend durch Schönheit und angeborene Anmuth kannte sie keinen anderen Willen, als den ihrer Eltern, die in patriarchalischer Weise über die Hand der unmündigen Tochter verfügten. Ihr genügte der Gedanke, daß sie jetzt geputzt an dem Arme ihres Bräutigams spazieren gehen und nicht mehr so früh aufzustehen genöthigt sein würde, um sie mit dieser Verbindung auszusöhnen. Sie hätte um diesen Preis den ältesten und auch häßlichsten Mann unter ihren Glaubensgenossen auf den Wunsch ihres Vaters geheirathet, wenn sie dadurch nur die Erlaubniß erkaufte, sich von einem Friseur ihr volles Haar ordnen zu lassen und ein neues, nach der letzten Mode gearbeitetes Kleid zu tragen; denn Henriette war, wie alle Töchter Eva’s, ein wenig eitel auf ihr hübsches Gesichtchen, dem nicht blos der Spiegel täglich Schmeicheleien sagte. Für ihren Verlobten empfand sie anfänglich weit mehr Respect, als Liebe; er galt für einen sehr gebildeten und sehr gelehrten Arzt, der sich bereits einer einträglichen Praxis zu erfreuen hatte. Wenn er mit seinen Krankenbesuchen fertig war, kam er jeden Abend in das Haus seiner Verlobten. Nie erschien er, ohne Henrietten ein interessantes Buch mitzubringen; er hatte dabei die Absicht, sich an ihr eine gebildete und für seine Stellung passende Frau zu erziehen. Dies gelang ihm auch ganz nach seinem Wunsche, da das junge Mädchen eben so geistreich und lernbegierig, als schön und liebenswürdig war. Sie machte die wunderbarsten Fortschritte, und der Lehrer durfte stolz auf seine talentvolle Schülerin sein.
Endlich, nach dreijährigem Unterricht, führte Herz seine Braut als Gattin heim; erst unter dem Trauhimmel und beim Wechseln der Ringe fühlte Henriette das ganze Gewicht des bedeutungsvollen Schrittes. Sie war die Frau eines weit älteren Mannes, den sie nur – achtete. – Aus der Beschränkung des elterlichen Hauses trat sie jetzt in eine ihr unbekannte und gefahrvolle Welt. Das Haus ihres Gatten wurde bald der Sammelplatz vieler geistreichen Männer, mit denen Herz durch ein gleiches Streben schon früher verbunden war. Berliner Notabilitäten, wie der Odendichter Rammler, der Professor Engel, der geniale Moritz, gehörten zu den Freunden des Hauses. Von dem Geiste des kenntnißreichen Arztes und der Schönheit seiner Frau angezogen, erweiterte sich dieser Kreis durch die Brüder Wilhelm und Alexander v. Humboldt, den verführerischen Gentz, den ritterlichen Grafen Dohna-Schlobitten, Friedrich Schlegel, den schon damals berühmten Schleiermacher und den liebenswürdigen Karl Laroche, den Sohn der bekannten Schriftstellerin, ein Apoll an jugendlicher Anmuth. – Es konnte nicht fehlen, daß diese meist jüngeren Männer nicht ungestraft sich der reizenden Herrin näherten; so Mancher von ihnen wurde von einer tieferen Leidenschaft ergriffen, unfähig, seine Flammen zu verbergen. Henriette war an derartige Huldigungen schon gewöhnt, und vielleicht schützte sie gerade das Bewußtsein ihrer siegreichen Persönlichkeit vor den vielfachen Versuchungen, denen sie ausgesetzt war. Einen besseren Anhalt fand sie jedoch in der patriarchalischen Sitte ihres Volkes, bei dem derartige Verirrungen der ehelichen Treue zu den Seltenheiten gehören, in der Achtung vor sich selbst und in dem rücksichtslosen Vertrauen ihres Gatten, der ihr in jeder Beziehung die vollste Freiheit gestattete.
Einen Ersatz für die Liebe, welche sie nur dadurch kennen lernte, daß sie Anderen diese Leidenschaft einflößte, bot ihr die Freundschaft mit den edelsten Geistern. Vor Allem knüpfte sie mit dem berühmten Schleiermacher einen Seelenbund, der erst mit seinem Tode endete und unter allen Verhältnissen sich ungetrübt erhielt, als ein Beweis, daß auch zwischen Mann und Weib diese [438] reinste aller Verbindungen bestehen kann, ohne die Grenzen der geschlechtlichen Sphäre zu berühren. – Aber die Bestimmung der Frauen und ihr eigentlicher Lebensberuf wurzelt in der Liebe zu dem Manne ihrer Wahl und zu ihren Kindern; kein anderes, noch so geistiges Verhältniß liefert ihnen einen Ersatz für dies wahre Glück. Henriette mußte Beides entbehren; der Himmel hatte ihr die Mutterfreuden versagt, und wenn sie auch ihrem Manne mit aufrichtiger Neigung zugethan war, seinen edlen Sinn und seine hohe Bildung achtete, so konnte ihr dieses einseitige Gefühl nicht genügen. Der Abstand der Jahre und die Verschiedenheit der Lebensanschauung mußten sich mit der Zeit immer mehr geltend machen. Herz gehörte vermöge seines Standes und seiner ganzen Erziehung jener älteren aufgeklärten Richtung an, welche in Lessing ihren großen Vertreter fand. Klar in Worten und Gedanken, Feind jeder Ueberschwenglichkeit und Schwärmerei der Sturm- und Drangperiode, wie der schon hier und da auftauchenden Romantik, geißelte er mit scharfem Spott und sarkastischer Schärfe diese neueren Erscheinungen, für die Henriette sich um so lebhafter erklärte, je verwandter sie sich ihnen im Gefühl einer unbefriedigten Sehnsucht fühlte.
Einer solchen Empfindung galt daher wahrscheinlich der Seufzer, mit dem sie jetzt „Werther’s Leiden“ aus der Hand legte, als sie Herz, noch immer an der Thür stehend, bemerkte.
„Warum kommst Du nicht näher?“ fragte sie im ruhigen Tone.
„Ich wollte Dich nicht stören. Du warst vertieft.“
„Ich habe wieder einmal den „Werther“ gelesen.“
„Auch ein Buch, für das ich kein Verständniß habe. Der schwächliche Charakter ist mir in der Seele zuwider. Ich stimme ganz Lessing bei, daß kein Grieche oder Römer sich aus so erbärmlichen Gründen das Leben genommen hätte.“
„Die Griechen kannten keine Liebe im Sinne unserer Zeit, – Doch wir wollen nicht wieder den alten Streit anfangen. Was bringst Du mir?“
„Einen Brief aus Frankfurt. – Lies und sage mir, wie Du über den Vorschlag denkst. – Mir scheint die Sache annehmbar, aber Dir gebührt um so mehr die Entscheidung, da die ganze Angelegenheit zu dem Ressort der Hausfrau gehört.“
Henriette nahm den Brief, welcher von einem Bankier aus Frankfurt am Main herrührte und die Anfrage enthielt, ob der Doctor Herz wohl geneigt wäre, gegen ansehnliche Bezahlung den Sohn desselben bei sich aufzunehmen und ihn während seiner medicinischen Studien in Berlin zu beaufsichtigen.
„Nun?“ fragte der Arzt, nachdem sie gelesen hatte.
„Es gibt da Manches zu bedenken,“ antwortete Henriette. „Wir wollen uns nicht übereilen,“
„Der Vater ist mir als ein respectabler Mann bekannt und das gebotene Geld nicht zu verachten. Die Summe würde Dein Wirthschaftsgeld ansehnlich vermehren und unserem ganzen Hauswesen zu statten kommen. Du weißt, daß wir leider genöthigt sind, einen großen Aufwand zu machen, da wir viel Leute bei uns sehen. Der Zuschuß wäre darum angenehm.“
„Aber der junge Mensch? Wir kennen ihn nicht, wissen nicht, ob er zu unseren Anschauungen, zu dem Kreise paßt, in dem wir leben. Ein Fremder kann die ganze schöne Harmonie stören. Auch dürfte ein so nahes und inniges Zusammenleben besonders für mich mit manchen Inconvenienzen verbunden sein.“
„Der junge Baruch, wie er heißt, ist höchstens sechzehn Jahre alt. Er könnte Dein Sohn sein, und einen solchen hast Du Dir ja oft gewünscht. Du wirst Mutterpflichten an ihm üben; das wird Dich beschäftigen und vielleicht Dir besser thun, als – im „Werther“ lesen.“
„Du hast Recht,“ entgegnete Henriette, keineswegs durch seinen Spott beleidigt. „Ich werde mich bemühen, dem jungen Manne die abwesende Mutter zu ersetzen. In diesem Lichte gesehen, erhält das Anerbieten für mich eine hohe Bedeutung. Ein neues, nie gekanntes Gefühl durchströmt mich jetzt, und je mehr ich dem Gedanken nachhänge, desto inniger befreunde ich mich damit. Kaum kann ich den Augenblick erwarten, wo „unser Sohn“ eintreffen wird.“
„Halt!“ spottete Herz in gutmüthigem Tone. „Deine lebhafte Phantasie geht mit Dir durch und ich kann ihr nicht nachkommen, um sie am Flügel zu ergreifen und sie wieder zur nüchternen Alltäglichkeit zurückzuführen. So seid Ihr Weiber, immer zwischen den Extremen schwebend, die geborenen Romantiker.“
Henriette lächelte selbst über den Eifer, mit dem sie sich in die neue Mutterrolle hineingedacht, nichtsdestoweniger war es ihr ganz Ernst damit. Ihr Gefühl war einmal lebhaft angeregt und unwillkürlich hoffte sie, in dem ihr noch völlig unbekannten Jünglinge einen Sohn zu finden, wie sie ihn sich schon lange gewünscht. Mit reizenden Farben malte sie sich das Bild im Stillen aus, um nicht von Neuem die Spottlust ihres Mannes hervorzurufen, welcher sich sogleich niedersetzte, um dem Bankier Baruch in Frankfurt zu schreiben, daß dessen Sohn ihm und seiner Frau willkommen sei.
Einige Wochen später langte der erwartete Pflegebefohlene wohlbehalten in dem Hause des Doctor Herz an. Mit neugieriger Theilnahme empfing Henriette „ihren Sohn“, wie sie ihn bereits halb im Scherz und halb im Ernst nannte. Ihre Erwartungen wurden allerdings einigermaßen enttäuscht; statt eines schönen Jünglings mit offenen und gewinnenden Zügen, sah sie eine kleine, magere Gestalt in nachlässiger Haltung. Das Gesicht trug nur zu sehr das scharfe, orientalische Gepräge, aber in den dunkeln, glänzenden Augen verrieth sich dem Beobachter kein gewöhnlicher Geist. Dazu kamen noch linkische Manieren, eine gewisse Schüchternheit, hinter der sich jedoch ein stolzes Selbstgefühl zu verbergen schien. Louis Baruch gehörte nicht zu jenen glücklichen Menschen, welche gleich beim ersten Anblick für sich einnehmen, man mußte ihn erst genauer kennen lernen, um ihn lieb zu gewinnen. Henriette war zu verständig, um sich von dem äußeren Eindrucke bestimmen zu lassen; sie nahm sich vor, den Ankömmling genauer zu beobachten, ehe sie über ihn ein entscheidendes Urtheil fällen wollte.
Um so mächtiger war aber die Gewalt, welche ihre Schönheit auf den siebzehnjährigen Jüngling ausübte; er stand vor ihr, geblendet und verwirrt von den Reizen, denen sich nicht so leicht ein Mann ungestraft nähern durfte. Wie vor einer Göttin wäre er am liebsten knieend hingesunken, um sie anzubeten. In dem unbedeutenden Körper lebte eine Feuerseele, und die schwache, eingesunkene Brust verbarg ein großes Herz. Diese plötzlich auflodernde Neigung, die vorläufig unbewußt in Louis schlummerte, sog die reichste Nahrung aus dem näheren Umgange mit ihr; hier lernte er erst ihre sich gleich bleibende Freundlichkeit, ihre Herzensgüte, mit Geist und Bildung wundersam gepaart, näher kennen. – Kein Wunder, daß er darüber zum Träumer wurde und zum Aerger des gelehrten Doctor Herz seine medicinischen Studien, welche dieser überwachen sollte, gänzlich vernachlässigte. Nicht diesem allein, sondern auch den übrigen Freunden des Hauses galt bald Louis als ein kleiner Faulenzer, der nichts lernen wollte und noch dazu bei gewissen Gelegenheiten einen entschiedenen Hochmuth zur Schau trug. Aber Henriette hatte sich einmal mit dem Gedanken vertraut gemacht, die Rolle einer Mutter zu übernehmen, und ihr Mutterauge glaubte da noch Tugenden zu sehen, wo die strengen Männer ihrer Umgebung nur Fehler entdeckten. Je genauer sie „ihren Sohn“ beobachtete, desto mehr wurde sie von dem plötzlichen Aufblitzen eines Geistes überrascht, der sich absichtlich vor Fremden zu verbergen schien. Es gab Momente, wo sie über die scharfe Beobachtungsgabe, den treffenden Humor und das tiefe Gemüth des jungen Baruch erstaunen mußte. Sie allein ahnte den Genius, der in ihm schlummerte, in der unscheinbaren Knospenhülle die Blüthe der Zukunft. Manche Aeußerung von ihm verrieth nicht nur seine geistige Begabung, sondern auch den festen, unbeugsamen Charakter eines Mannes in dem gebrechlich zarten Körper eines Jünglings. Um so mehr hielt sie es für ihre Pflicht, offen gegen ihn zu sein und ihm aufrichtige Vorstellungen über seine vermeintliche Trägheit zu machen.
„Warum studiren Sie nicht fleißiger?“ fragte sie ihn mit mütterlicher Freundlichkeit.
„Um nicht dumm zu werden,“ antwortete er mit dem ihm eigenthümlichen Lächeln.
„Ich räume Ihnen ein, daß die Wissenschaft ihren Ballast hat, aber auch dieser ist nothwendig. Wenn Sie erst am Ziele Ihres Weges und im sicheren Hafen sind, so können Sie getrost die unnöthige Ladung über Bord werfen. Ihr Vater wünscht, daß Sie etwas Tüchtiges lernen, um einmal ein guter Arzt zu werden.“
„Ein guter Arzt ist, wie Ihnen Herr Doctor Herz sagen wird, derjenige, der nichts thut. Ich bin also auf dem besten Wege.“
„Louis!“ drohte sie, unwillkürlich lächelnd. „Ich fürchte, daß meine Freunde Recht haben, die Sie für einen unverbesserlichen Faulenzer halten. Ich habe Ihnen mehr Ehrgeiz zugetraut. Wenn Ihnen die praktische Medicin nicht gefällt, so schlagen Sie die wissenschaftliche Laufbahn ein. Sie können Lehrer an einer Universität, Professor werden.“
[439] „Dazu muß ich mich erst taufen, Sie vergessen, daß wir Juden nicht einmal Privatdocenten werden, nicht einmal verhungern dürfen.“
Es lag eine so tiefe und schmerzliche Ironie in seinen Worten, daß Henriette betroffen schwieg und das Gespräch fallen ließ. Nichtsdestoweniger bekümmerte sie der Gedanke, daß ein so herrliches Talent durch eigene Schuld zu Grunde gehen sollte. Was ihr nicht geglückt, hoffte sie durch die Ueberredungskraft ihres Freundes Schleiermacher zu bewirken. Sie bat denselben, mit Louis ernsthaft zu sprechen und ihm seine bisherigen Abwege zwar schonend, aber eindringlich vorzustellen. Schleiermacher wies jedoch diesmal ihre Bitten mit sonst nicht gewohnter Strenge zurück. Dem thätigen, unermüdlich fleißigen Manne mußte diese träumerische Trägheit des jungen Baruch um so mehr zuwider sein, da er zugleich an ihm eine gewisse selbstgefällige Arroganz bemerkt zu haben glaubte.
„Wie soll man,“[1] sagte er ablehnend, „mehr Interesse an einem Menschen nehmen, als er selbst an sich nimmt? Er fängt gar nichts mit sich an, vertändelt seine Zeit, versäumt seine Studien, ruinirt sich mit Faulheit und sieht dies selbst mit der größten Gelassenheit an, und sagt immer: es wäre ihm nun einmal so, und wenn er sich zu etwas Anderem zwingen wollte, so wäre es ja dann doch nicht besser.“
„Sie urtheilen zu streng,“ antwortete Henriette begütigend. „Ich halte es für unsere Pflicht, den Irrenden auf den richtigen Weg zu führen. Wir müßten uns den größten Vorwurf machen, wenn er unterginge.“
„Ich weiß nicht, ob er untergehen wird; Mancher rettet sich aus diesem Zustande, aber in diesem Zustande ist nicht auf ihn zu wirken und kein Theil an ihm zu nehmen. – Schade ist es um ihn,“ setzte Schleiermacher milder hinzu, „wenn er in dem Gange bleibt, aber helfen kann ihm Niemand, wenn er sich nicht selbst hilft.“
Hätte Henriette oder ihr Freund nur die entfernteste Ahnung von dem eigentlichen Grunde dieser scheinbaren Trägheit des Jünglings gehabt, so würden sie gewiß auch das rechte Mittel gefunden haben; aber wie sollten sie bei dem siebzehnjährigen Baruch eine so glühende Leidenschaft für eine Frau voraussetzen, die mindestens seine Mutter sein konnte! Und doch liebte Louis seine reizende Wirthin mit der ganzen Gluth eines so jungen und empfänglichen Herzens. Alles Uebrige war ihm gleichgültig, wo nicht widerwärtig; er hatte nur Sinn für diese verzehrende Neigung, die um so heftiger wurde, je hoffnungsloser sie ihm selbst erscheinen mußte. Es ist aber eine bekannte Erfahrung, daß gerade auf die jüngsten Männer ältere und gereiftere Frauen eine unwiderstehliche Anziehungskraft auszuüben pflegen. Dazu kam noch die sentimentale Stimmung jener Zeit und die für die Gegenwart fast unbegreifliche Wirkung, welche Goethe mit seinem „Werther“ hervorgebracht; es gab damals eben so viel unglücklich Liebende, die über Selbstmord brüteten, wie jetzt „Unbefriedigte“ und „Zerrissene“.
Auch Louis Baruch wurde von der allgemeinen Krankheit jener Periode nicht verschont; er war schwermüthig und mit der Welt zerfallen, wie Werther, und sehnte sich nach dem Tode, welcher der Jugend so leicht und dem Alter so schwer erscheint. Seine Lage wurde mit jedem Tage drückender und unerträglicher für ihn. Zu jeder Stunde lebte er in der Nähe der geliebten Frau, die ihn mit immer sich gleichbleibender Freundlichkeit behandelte, und dennoch mußte er seine Leidenschaft sorgfältig verbergen, aus Furcht, sich lächerlich zu machen und durch ein vorschnelles Geständniß für immer ihres ihm unentbehrlichen Anblickes beraubt zu werden. Die glühendste Eifersucht bemächtigte sich seines Herzens, wenn er sie umschwärmt von jenen Männern sah, mit denen er sich in keiner Beziehung zu vergleichen wagte. War auch Henriettens Lebenswandel über jeden Verdacht erhaben, so konnte sie sich doch von Huldigungen nicht entziehen, die ihr von allen Seiten dargebracht wurden. Aber wie durfte er hoffen, neben dem geistreichen Wilhelm Humboldt, dem herrlichen Karl Laroche nur beachtet zu werden? Der bloße Gedanke jedoch, daß diese glücklicher sein könnten, brachte ihn zur Verzweiflung. Er hatte keinen Vertrauten seiner Leiden, als sein sorgfältig geführtes Tagebuch, das ebenfalls im Geiste jener Zeit der einzige Zeuge dieser wahnsinnigen Liebe war.
Ein neuer Unfall drohte ihm selbst die letzte Hoffnung zu rauben. Henriettens Mann, der Doctor Herz, begann zu kränkeln. Sein Zustand verschlimmerte sich von Tag zu Tag, bis er endlich seinen Leiden erlag. Seine Frau betrauerte aufrichtig den Verlust des edlen Gatten, dessen vollen Werth sie vollkommen zu würdigen wußte. Die noch immer reizende Wittwe hatte Rücksichten zu nehmen, und der junge Baruch befürchtete nicht ohne Grund, daß er nicht länger in ihrem Hause verweilen dürfte; aber er bat so dringend und zeigte ihr eine so treue Anhänglichkeit, daß sie gegen den Rath der Vorsicht in sein ferneres Bleiben willigte. Abgesehen von diesen Gründen mochte es ihr unter den keineswegs günstigen Umstanden, in denen Herz sie zurückgelassen, wünschenswert erscheinen, den wohlhabenden Pensionär zu behalten, da sie aus Pietät ihre Mutter und eine jüngere Schwester, Namens Brenna, noch zu sich genommen hatte, für die sie jetzt ebenfalls zu sorgen hatte. – Nach wie vor blieben ihr die Freunde treu; nur Schleiermacher lebte jetzt von ihr getrennt, da er einem Rufe als Prediger und Lehrer an der Universität zu Halle gefolgt war.
Der liebenswürdigen Wittwe fehlte es nicht an eben so ehrenvollen als vortheilhaften Anträgen von Seiten hochgestellter Männer, aber vorläufig wies sie dieselben zurück, indem sie entschlossen schien, keine zweite Ehe einzugehen. Unter den eifrigsten Bewerbern um ihre Hand befand sich auch der edle Graf Alexander von Dohna-Schlobitten. Weder sein hoher Rang, noch das Vorurtheil, da Henriette aus Rücksicht auf ihre strenggläubige Mutter noch immer Jüdin war und sich nicht taufen lassen wollte, hielten ihn zurück, ihr sein Herz und sein bedeutendes Vermögen anzubieten. Er ließ sich von ihrer wiederholten Weigerung nicht zurückschrecken und setzte mit unermüdlichem Eifer seine Bemühungen fort, in der Hoffnung, endlich durch seine Standhaftigkeit ihre Gegenliebe zu gewinnen. Dem armen Louis waren die Besuche des vornehmen Grafen nicht entgangen, und er zweifelte kaum an dem Erfolge. Sie in den Armen eines andern Mannes zu wissen, das überstieg seine Kraft. Seine Leiden hatten den höchsten Grad erreicht; das Leben war ihn, zur Last geworden, und nur im Tode hoffte er die Erlösung von seinen Qualen zu finden. Er wollte sterben wie Werther.
Zu diesem Zwecke suchte er sich Gift zu verschaffen; unter dem Vorwande, die Ratten und Mäuse in seinem Zimmer vertreiben zu wollen, ließ er sich aus der benachbarten Apotheke durch Henriettens Mädchen, eine Quantität Arsenik ausbitten. Zugleich überschickte er zehn Louisd’or, um eine frühere Rechnung für entnommene Arzneien zu bezahlen, obgleich dieselbe weit weniger betrug. Diese verdächtigen Umstände mußten dem klugen Mädchen um so mehr auffallen, da das verstörte Wesen des jungen Baruch ihr dabei nicht entgangen war. Sie hielt es daher für ihre Pflicht, zunächst Fräulein Brenna aufmerksam zu machen, die sogleich zu ihrer Schwester eilte, um sie von dem unerklärlichen Vorfall zu unterrichten. Henriette erschrak nicht wenig; vorläufig aber beobachtete sie ein tiefes Schweigen, indem sie sich vornahm, Louis genauer zu beobachten und nach dem Grunde dieses Selbstmordversuchs zu forschen. Einen Augenblick durchzuckte sie wohl der Gedanke, daß sie die Ursache sein könnte. Ehe sie aber einen entscheidenden Schritt thun konnte, mußte sie sich erst Gewißheit verschaffen. Auch diese wurde ihr bald zu Theil.
Eines Tages überbrachte ihr Brenna einen Brief von der Hand des jungen Baruch, den das Dienstmädchen beim Aufräumen seines Zimmers gefunden hatte. In glühenden Worten gestand darin der Unglückliche seine Liebe zu ihr; zugleich auch den festen Entschluß, seinem Leben auf gewaltsame Weise ein Ende zu machen. Was sollte sie thun?
Erschüttert las sie dies leidenschaftliche Geständniß; sie mußte ihn um jeden Preis zu retten suchen. Um ihn von jedem gewaltsamen Schritte zurückzuhalten, beschloß sie, ihn für diesen Abend nicht von ihrer Seite zu lassen; sie ersuchte ihn deshalb, sie in das Theater zu begleiten. Hier wohnten Beide der Vorstellung von Schiller’s „Don Carlos“ mit verschiedenartiger Bewegung bei. Unwillkürlich drängte sich ihnen die Aehnlichkeit ihrer eigenen Verhältnisse mit den Vorgängen der Bühnendichtung auf. Zu ergriffen, um darüber zu sprechen, verließen sie das Theater; so gelangten sie stillschweigend in ihre Wohnung. Hier wollte Baruch von seiner Begleiterin Abschied nehmen, um sich auf das ihm eingeräumte Zimmer zu begeben. Sie lud ihn ein, ihr zu folgen und noch eine Tasse Thee mit ihr zu trinken. Diese Aufforderung in später Nacht mußte ihn befremden; sein Herz pochte so stark, daß es ihm die Brust zu zersprengen drohte, sein Kopf schwindelte und nur mühsam behauptete er noch die nöthige Fassung. Sie hatte Mantel und Hut abgeworfen und stand nun vor ihm, beleuchtet von dem milden Lichte der Lampe, wie eine überirdische Erscheinung. [440] Die Aufregung, deren sie sich nicht zu erwehren vermochte, röthete ihre Wangen und verlieh ihren Augen einen höheren Glanz. Ihre Blicke ruhten voll Mitleid und weiblicher Theilnahme auf dem verirrten Jünglinge. Eine feierliche Würde schien sie zu umschweben und verlieh ihren sonst so freundlichen Zügen einen neuen, ungekannten Reiz. Nachdem sie den Thee nach ihrer Gewohnheit selbst bereitet und eingeschenkt, gab sie ihrer Schwester Brenna, welche zugegen war, einen Wink, worauf sich diese entfernte. Sie blieb mit dem Jüngling allein, der, von leisem Zittern ergriffen, kaum zu athmen wagte.
Tiefe Stille herrschte in dem Zimmer; sie selbst mußte erst nach Fassung ringen, ehe sie das wichtige Gespräch beginnen konnte.
„Louis,“ sagte sie nach einer erwartungsvollen Pause. „Ich habe den Brief gelesen, den Sie an mich in grenzenloser Verblendung geschrieben haben.“
„Und Sie zürnen mir nicht?“ fragte er erschrocken mit bebender Stimme und niedergeschlagenen Augen. „Sie verstoßen mich nicht?“
„Ich hätte Ursache, Ihnen ernstlich zu zürnen, aber –“
Röthe und Blässe jagte über seine Wangen, wie Verzweiflung und Hoffnung in seinem Herzen mit Blitzesschnelle wechselten. Er war bei ihren Worten von seinem Stuhle aufgesprungen, bald aber wieder zurückgesunken, mit beiden Händen sein Gesicht bedeckend.
„Tödten Sie mich!“ rief er mit jugendlicher Schwärmerei. „Ich bin nicht mehr Werth, diese reine Atmosphäre mit Ihnen zu athmen!“
„Ich will Sie nicht tödten,“ antwortete Henriette mild, „sondern Sie heilen. Sie sind krank, mein junger Freund!“
„Zum Sterben krank!“ seufzte er tief.
„Glauben Sie mir, daß dies Uebel nicht unheilbar ist. Man stirbt nicht so schnell an gebrochenem Herzen, selbst wenn man auch ein Weib ist. Was ich aber einer Frau verzeihen kann, finde ich feig für einen Mann. Sie wollten Hand an sich legen. – Haben Sie auch daran gedacht, daß dieses Leben nicht Ihnen gehört?“
„Wem sonst?“
„Ihren Eltern, den Freunden, dem Staat und vor Allem der Menschheit.“
Bei diesen feierlichen Worten war Henriette aufgestanden; ihre schlanke Gestalt schien zu wachsen, ihre Züge leuchteten in überirdischer Glorie. Ihm war, da sie seine Hand ergriff, zu Muthe, als redete sein Schutzgeist mit ihm in dieser Stunde.
„Hören Sie mich ruhig an,“ fuhr sie mit gehobener Stimme fort. „Ich allein weiß, welch einen Geist Ihnen der Himmel verliehen. Ich glaube Sie richtiger zu kennen, als meine Freunde, als Sie selber sich kennen. Der Blick des Weibes sieht oft schärfer, als die meisten Männer; weil unser Horizont begrenzt ist und wir nicht in die Ferne schweifen, schauen wir klarer. Der Instinct des Herzens irrt oft weniger, als der sich überhebende Verstand, und die Liebe, ich meine jene göttliche Liebe, führt uns sicherer, als alle menschliche Klugheit. Darum hoffe ich mich nicht zu täuschen, wenn ich Ihnen eine große Zukunft prophezeie. Wollen Sie dieselbe einer thörichten Leidenschaft zum Opfer bringen, die noch dazu den Fluch des Lächerlichen an sich trägt? – Ihnen gegenüber bin ich eine alte Frau; ich könnte Ihre Mutter sein, wie ich eine solche Ihnen sein wollte. Sie selbst haben jenen Wahn mir benommen und das reine Verhältniß, von dem ich einst geträumt, zerstört. Sie haben mir einen großen Schmerz bereitet.“
„Können Sie mir verzeihen?“ fragte der Jüngling tief bewegt.
„Nur unter der einzigen Bedingung, daß Sie mir Ihr Wort geben, Ihrer thörichten Leidenschaft zu entsagen, daß Sie mir jetzt feierlich versprechen wollen, jeden ferneren Versuch gegen Ihr Leben für immer aufzugeben. Ich verachte den Selbstmord, weil er nur ein Beweis der moralischen Feigheit ist. Das Leben ist ein harter Kampf; nur erbärmliche Egoisten und Schwächlinge entziehen sich ihm, weil es ihnen an Muth gebricht. Ich habe Ihnen mehr Heroismus zugetraut.“
„Was soll aus mir werden?“ stöhnte Louis erschüttert, wenn auch noch nicht überzeugt.
„Ein Held des Geistes, der Kämpfer einer neuen Zeit. Sie werden diese Prüfung überstehen und als ein Mann daraus hervorgehen. Die Täuschung Ihres Herzens wird verschwinden und selbst der Schmerz, den Sie gewiß in diesem Augenblick empfinden, Ihnen zum Segen gereichen. Unter Leiden reift der Geist; er bedarf der Stürme, um festere Wurzeln zu schlagen. Ihr Talent wird sich entfalten, sobald Sie die träge Gefühlsschwärmerei von sich abstreifen; Ihr scharfer Witz wird, von der zurückbleibenden Wehmuth verklärt, sich zu einem milderen Humor gestalten, dessen weltbezwingende Macht Sie an sich selbst zunächst erproben sollen. Sie werden Ihre angeborene Kraft kennen, zu Ihrem eigenen und fremden Vortheil gebrauchen lernen. Dann kann die allgemeine Achtung und Anerkennung nicht ausbleiben. Mit Stolz werde ich mich selbst dieser großen Stunde erinnern, in der ich Sie der Welt erhalten und zurückgegeben habe.“
„Ich bin nicht ehrgeizig,“ antwortete der junge Mann mit trübem Lächeln.
„Aber Sie denken groß genug von der Menschheit, um für ihr Wohl zu leben und zu wirken.“
„Was kann ich für sie thun?“
„Kein Mensch ist so unbedeutend, daß er nicht eine Aufgabe in dieser Welt zu erfüllen hätte. Jeder Sterbende hinterläßt eine Lücke, die freilich nur das Auge eines Gottes sieht. Deshalb darf Keiner von dem ihm anvertrauten Posten freiwillig weichen, bevor die Stunde der Ablösung geschlagen hat. Sie fragen, was Sie thun können? Sie sind Jude! – Wohlan! Kämpfen Sie gegen das Vorurtheil, womit seit Jahrhunderten der blinde Religionshaß unsere Glaubensgenossen verfolgt. Verbreiten Sie unter diesen selbst Bildung und Aufklärung, befreien Sie die doppelt Geknechteten von dem Joche der Tradition und der Sclaverei des Talmuds. Erwecken Sie den besseren Geist in ihnen, und öffnen Sie ihr am Schacher klebendes und nur den Gewinn suchendes Auge für die edleren Güter des Daseins. Als Deutscher fühlen Sie, wie ich, die Zerrissenheit des Vaterlandes, die Entartung und den Druck der Mächtigen, die dumpfe Verkommenheit des größten Volkes, das die Sonne je erblickt. Welch eine herrliche Aufgabe für den Mann, das Nationalbewußtsein zu erheben, den Despotismus zu bekämpfen, den Bürgersinn von Neuem zu beleben! – Die ganze Menschheit hat ein Recht auf Sie, und mahnt Sie durch meinen schwachen Mund, das Ihnen von Gott verliehene Pfund nicht zu verbergen, sondern in ihrem Dienste zu gebrauchen. Für Wahrheit, Recht und Freiheit werb’ ich Sie im Namen dieser Menschheit an!“
Unwillkürlich hatte sich der Jüngling auf ihre Hand gebeugt, welche sie segnend auf seinem Haupte ruhen ließ.
Als er sich erhob, war eine wunderbare Veränderung mit ihm vorgegangen. Er schien um Jahre älter geworden zu sein; diese Stunde hatte ihn zum Manne gereift. Unaufgefordert überreichte er ihr das Tagebuch, welches er auf seinem Herzen trug. Sie nahm es, und las nicht ohne tiefe Rührung die glühenden Geständnisse, die nach Henriettens eigenem Ausspruch an Innigkeit und wahrem Gefühl Alles übertrafen, was der später so berühmte Mann nachträglich geschrieben und veröffentlicht hat. Aus übertriebener Vorsicht übergab sie vor ihrem Tode diese kostbaren Blätter den Flammen, welche dieses unschätzbare Document unrettbar vernichteten.
Louis Baruch verließ nach jener nächtlichen Scene Henriette und Berlin, um seine Studien in Halle fortzusetzen. Sie selbst hatte ihn an den berühmten Reil dringend empfohlen, in dessen Hause er freundlich wie ein Verwandter aufgenommen wurde. Mit mütterlicher Zärtlichkeit sorgte sie auch aus der Ferne für ihn, wie ihr deshalb mit ihrem in Halle damals angestellten Freund Schleiermacher geführter Briefwechsel beweist. Fortwährend nahm sie den lebhaftesten Antheil an dem Schicksal des jungen Mannes, der in der That ihre Prophezeiungen zur Wahrheit machen sollte.
Erst nach einigen Jahren sah sie ihn in Frankfurt am Main wieder; er war indeß ein berühmter und allgemein bewunderter Schriftsteller, ein Kämpfer für Wahrheit, Recht und Freiheit geworden. Er hieß zwar nicht mehr Louis Baruch, da er zum Christenthum übergetreten war und bei der Taufe den Namen Ludwig Börne angenommen hatte; dieser Name aber hatte in Deutschland einen guten Klang und einen Ruf, der mit jedem Jahre immer höher und höher stieg.
Als Henriette ihm beim Wiedersehen die Hand reichte und ihm dabei einige schmeichelhafte Worte über sein Talent und seine Berühmtheit sagte, spielte ein eigenthümliches, halb wehmüthiges, halb scherzhaftes Lächeln um seine Lippen.
„Das Alles danke ich Ihnen,“ rief der große Humorist, „aber ich weiß nicht, ob ich Ihnen danken soll. Der Preis, den ich dafür bezahlt, steht doch in keinem Verhältnisse zu dem, was ich damit gewonnen habe.“
Dabei küßte er die noch immer schöne weiße Hand der mütterlichen Freundin. Als sie dieselbe zurückzog, fühlte sie, daß eine Thräne darauf gefallen war.
[441]Dat Spinnweel schnürt, de Moder spinnt,
Bi’t Füür spoölt still hör lüttje Kind.
Dat Füür brannt hell, hell schient dat Lücht,
De Rook stiegt up, de Funke flügt.
Acht Ühr de olle Thoornklock brummt.
„Buuskeerl geit um, mien sötet Kind!
Man gau to Bedd’, ehr he di findt.“
Dat Kind waakt up, riwt d’Oogen unt:
„Hörst neet, dat Nabers Jann all reert?“ –
„Hett he denn all?“ fragt’t Kind verfährt. –
„Kumm gau, hier is dien Avendbrod;
Ick treck di uut, dann hest gien Noth.
Dann legg’ ick di in’t warme Nüst!“ –
Dat Spinnweel schnürt, de Moder spinnt
Un is vergnögt, warm slöpt hör Kind.[2]
C. Tannen.
Sandmann, wenn die Kinder schläfrig die Augen reiben, so heißt es der Sandmann komme und streue ihnen Sand in die Augen. – Buuskeerl, ein Kobold, Ungeheuer, um die Kinder damit zu schrecken, eine vermummte Person. – Spinnweel, Spinnrad. – Bi’t Füür, bei dem Feuer. – hör, ihr. – lüttje. klein. – Rook, Rauch. – Ühr, Uhr. – old, alt. – sötet, süßes. – Man gau to Bedd, ehr he di findt, Nur schnell zu Bett, ehe er dich findet. – dar buut, draußen. – Naber, Nachbar. – Jann, Johann. – all, schon. – reeren, weinen. – verfährt, erschreckt. – Ick treck di uut, ich ziehe dich aus. – gien, kein, keine. – foll, falte. – Nüst, Nest, Lager, Bett.
Die Hauptbewohner der Seen sind Hechte, Barse, Karauschen, Rothaugen, Schleien, Rebse und Brachsen. Der geschätzteste ist der Brachsen; er ist dem Karpfen sehr ähnlich, breit, kurz und platt, graurosa an den Seiten, auf dem Rücken braungrau gefärbt, wird mitunter 25 Pfund schwer und hat ein höchst wohlschmeckendes, zartes, festes Fleisch. Er ist sehr scheu und hält sich in großen Schaaren gesellig lebend auf dem Grunde der Seen verborgen. Wegen der Tiefe der letzteren ist er nicht anders, als mit sehr großen Netzen zu erlangen, da kleinere nicht bis auf den Grund reichen würden.
Um Aussicht auf einen ergibigen Fang zu haben, muß man sich eines Netzes von 1200 bis 2000 Fuß Länge bedienen, das viel Aehnlichkeit mit den großen Netzen der Meerfischer hat. Abgesehen von den Kosten, welche das Anschaffen eines solchen Apparates mit sich bringen würde, gehörte auch viel Uebung dazu, ihn zu handhaben; die Gutsbesitzer lassen daher die größere Fischerei selten von ihren eigenen Leuten ausüben, da es sich der Mühe kaum verlohnte, so viel Auslagen und Zeitverlust an einen zweifelhaften Erfolg zu ungeübter Fischer zu verwenden, welche mit Handnetzen ohnedies genug Fische für den gewöhnlichen Hausbedarf herbeischaffen. Für die große Fischerei traf man Verabredung mit Gesellschaften russischer Fischer, welche auf den ungeheueren russischen Seen Jahr aus Jahr ein ihr Gewerbe betreiben. Eine solche Gesellschaft zieht jetzt von Gut zu Gut, von See zu See, um für einen gewissen Antheil am Ertrage mit ihren eigenen Netzen zu arbeiten, und zwar stets im Winter, weil sie alsdann mehr [442] Muße hat und zu Schlitten sowohl ihre Geräthschaften leichter mit sich führen, als auch die etwa erworbenen Fische fortschaffen kann.
Ich verbrachte vor einigen Jahren einen Winter bei einem Freunde, dem Pächter eines großen Gutes in jenem Theile der Provinz, zu dem ein größerer See gehörte, welcher unweit des Hofes liegt. Schon seit mehreren Wochen erwarteten wir die russischen Fischer, endlich überbrachte uns eines Abends der Verwalter die Nachricht, daß sie angekommen seien. Ich hatte nicht Gelegenheit, sie sogleich zu sehen, doch vernahm ich, daß ihre Gesellschaft aus neun Männern und drei Frauen bestände. Nach altem Herkommen erhalten diese Leute auf jedem Gute, wo sie arbeiten, für die Dauer ihres Aufenthaltes Fourrage für ihre Pferde, sowie Wohnung, Verköstigung und Branntwein für sich selbst; dies wurde ihnen auch hier verwilligt und am anderen Morgen gingen sie an’s Werk.
Wir waren sämmtlich in einer gewissen Aufregung; einestheils machte dies die Unentschiedenheit darüber, wie der Fang ausfallen würde, welcher oft einen Werth von mehr als 1000 Rubel Silber haben kann; anderntheils ging es uns, wie der ganzen Umgegend, wir freuten uns auf das interessante und fremdartige Schauspiel. Der Erfolg konnte nur dann gut sein, wenn viele Brachsen gefangen wurden, weil diese sehr geschätzt und theuer bezahlt werden, die anderen Fische blieben vergleichsweise fast werthlos; es fragte sich also, ob wir Brachsen erhalten würden oder nicht. Umkreiste das Netz in der Tiefe eine Schaar dieser Fische, so konnten wir sie vielleicht in Menge haben; geschah dies nicht, so käme kaum einer herauf; letzteres war auf diesem See schon seit Jahren bei jeder Fischerei der Fall gewesen.
Andern Morgens fuhr ich zum See hinab, dessen jenseitiges Ufer von einem Walde aus Laubhölzern und Rothtannen begrenzt ist, die sich am steilen Abhange stufenweise emporthürmen. Der bereifte Wald gab den Hintergrund zu einem fremdartigen Gemälde ab. Je naher ich kam, desto deutlicher trat es hervor.
Ich muß hier vorausschicken, daß die erwähnten Russen, durch langjährige Erfahrung belehrt, sehr genau die ergibigsten Stellen der von ihnen besuchten Seen kennen, daß sie daher nur an solchen Stellen ihre Züge veranstalten und jeden See in eine bestimmte Anzahl von Zugbezirken eintheilen. An einem Tage werden nur drei Züge gethan; da jeder Zug mit den Vorbereitungen drei Stunden wegnimmt, so fällt bei den kurzen Wintertagen der Anfang des ersten und das Ende des letzten Zuges ohnehin in die Dunkelheit.
Dicht vor dem waldigen Ufer prasselte auf dem See ein Feuer, zu welchem von einem Gestell aus Stangen ein großer, berußter Kessel an einer eisernen Stange herniederhing, von blauem Rauch umwirbelt, der in lustig tanzenden Wölkchen in die Morgenluft aufstieg. Die Frauen saßen am Feuer, Zwiebeln schälend und Fische abschuppend, drei große, kräftige Gestalten mit plumpen, rothen Gesichtern; sie trugen rothe oder gelbe Kopftücher, bis an die Hüften reichende Schafspelze, mit der grauen Lederseite nach außen, und darunter kurze bunte Röcke, während sie bis zu den Knieen mit derben Mannsstiefeln bekleidet waren. Sie sangen bei der Arbeit eines jener Volkslieder mit klagender, tremulirender Melodie, welche sich in den höchsten Tönen bewegt.
In der Nähe standen drei niedrige, nach hinten zu in breite Flügel auslaufende Schlitten, wie man sie im Winter überall auf den russischen Heerstraßen sehen kann; diese hier hatten zum Transport der Geräthschaften gedient. Auf dem einen lag ein zottiger, gelbbrauner Hund mit bereiftem Fell, der aufmerksam mit gespitzten Ohren zu meinem eben stillhaltenden Fuhrwerk herüberschaute. – Etwas weiter ab befand sich eine starke Winde mit horizontaler Welle, an welcher die Endstücke von zwei Tauen befestigt waren, letztere lagen selbst zu beiden Seilen in regelmäßige Windungen aufgerollt auf dem Eise; etwa fünf Schritte vor der Winde war ein wohl zehn Fuß in’s Geviert haltendes Loch in das Eis gehauen, wo soeben das mächtige Netz hineingelassen wurde. Auf jeder Seite standen drei Fischer, je zwei von ihnen ließen das in kurzen Zwischenräumen am Rande mit fußgroßen Steinen versehene Netz in’s Wasser herab, zwei andere hielten beständig ein kleines Stück desselben gerade gespannt in den Händen, die beiden letzten achteten darauf, daß die in großer Ordnung übereinander geschichteten Netzflügel nicht im Entfalten verwirrt wurden, und reichten den in der Mitte Stehenden nur so viel davon hin, als die Vordersten in’s Wasser ließen; Alles ging taktmäßig, rasch und vorsichtig. Endlich war das Garnwerk vom Eise verschwunden, nur noch die an starken Hölzern befestigten Enden beider Flügel schwammen auf dem Wasser, und diese Querhölzer waren mit den Anfangsstücken der erwähnten Taue umwunden. Jetzt brachten die Fischer zwei lange Stangen herbei, welche vorn gabelförmig getheilt waren, und schoben jene Querhölzer in die Gabeln hinein. In einem Kreise von mehr als 1000 Fuß Umfang befanden sich, von dem großen Loche nach beiden Seiten divergirend, einige zwanzig kleinere, etwa zwei Fuß im Durchmesser haltende Oeffnungen in der Eisdecke, je fünfzig Fuß von einander entfernt; ihre Bestimmung sollte mir sogleich klar werden. Es gingen nämlich zwei Fischer nach den zunächst sich gegenüberliegenden kleinen Löchern und erwarteten dort das Erscheinen der Netzenden, welche ihnen vom Hauptloche aus mit langen Stangen unter dem Eise zugeschoben wurden; natürlich mußten die Flügel dieselbe Richtung einhalten. Sobald die Gabelspitzen in den Eislöchern erschienen, wurden sie von den wartenden Fischern erfaßt und auf dieselbe Art zu der nächsten Station hingeschoben, wo schon andere Leute aufmerkten. Unterdeß leiteten die Frauen an der großen Oeffnung das regelmäßige Abwickeln der Taue, das ganze Verfahren ging seinen sicheren Gang, von Strecke zu Strecke drangen die Flügel vor und beschrieben allmählich den vorgezeichneten Kreis, bis zuletzt die Parteien an den beiden der Winde gegenüberliegenden Oeffnungen angelangt waren. Damit war die Hauptarbeit gethan, Tau und Netz lagen auf dem Grunde des etwa sechzig Fuß tiefen See’s, die Leute eilten zur Winde und der Zug begann. Er mußte den ganzen Seeabschnitt umgrenzen und Alles mitnehmen, was sich in seinem Bereiche fand. Schon knarrte die Winde und langsam umwickelten beide Taue den Wellbalken.
So eben fuhr mein Freund mit seiner Frau und zwei liebenswürdigen Töchtern den Abhang zum See hinab; eine Menge anderer Leute fanden sich nach und nach ein, Gutsschreiber, Handwerker, Pächter aus der Nachbarschaft, auch der russische Pope und mehrere Handelsjuden, sowie Bauern, Weiber und Kinder fehlten nicht. Alle Augenblicke kündete das Schellengeklingel die Ankunft neuer Zuschauer an. Bald machte sich auch der Speculationsgeist, in Gestalt des Wirthes vom nahen Kirchenkruge, bemerkbar; er erschien mit einem hochbepackten Schlitten, schlug einen Schenktisch, besetzt mit diversen Getränken und allerlei Speisen, auf dem Eise auf und fand bei dem kalten Wetter auch genug begierige Abnehmer. Ein buntes Treiben entfaltete sich auf dem See, die vielen kleinen Schlitten, an welchen die Pferde in der Kälte ungeduldig stampften und mit den Schellen klingelten, standen etwas abseits gegen den Wald hin; um den Schenktisch tummelte sich ein Haufe kauender und trinkender Menschen unter lautem Geschwätz und Gelächter, komisch plumpen Ansehens in ihren großen Schafs-, Wolfs- oder Schuppenpelzen mit verschiedenfarbigen Ueberzügen und rothen oder blauen Wollshawls umgürtet, hohen Pelzstiefeln und Pelzmützen. Die Handelsjuden wanden sich geschäftig durch den Knäuel, diesem oder jenem von ihren Waaren anbietend; der Bauernhaufe stand beisammen, in beliebter lässiger Weise redend und qualmend, und stach durch seine grauen langen Wollenkittel von den Andern ab; es mochten wohl im Ganzen über hundert Menschen da sein.
Nach einer halben Stunde waren die Taue aufgewunden und die Querhölzer der Netzflügel erschienen über dem Wasser. Sofort verließen die Russen ihre Winde, um das Netz zu erfassen und kunstgerecht heraufzuziehen. Jetzt zog auf jeder Seite ein Mann etwa drei Fuß Netz aus dem Wasser senkrecht und straff hervor, der Hintermann empfing dies Stück und übergab es dem Letzten, welcher Alles wieder in regelmäßige Lagen aufschichtete. Schon befanden sich auf jeder Seite an vierhundert Fuß Netz auf dem Eise, hin und wieder zappelte in einer der weiten Maschen ein Rothauge oder ein Weißfischchen, die ersten unglücklichen und unbeachteten Opfer, aber es mochte doch wohl noch das letzte Viertel des Netzes unten in der Tiefe sein, als die Fischer ihre drei unbeschäftigten Cameraden und die Frauen zu Hülfe riefen und nun die ganze Gesellschaft gewaltig zu ziehen begann.
Alle Welt drängte sich jetzt näher heran, das Netz schien gewaltig schwer, die Fischer stellten sich zu sechs, mit dem Rücken gegen den Wald gekehrt, an einen Flügel desselben, der Aelteste stieß einen rauhen Schrei aus, ähnlich dem Rufe der Matrosen beim Emporwinden einer Last, die Andern wiederholten ihn im Chor, bei jedem Rufe kam das Netz stoßweise vielleicht um einen Fuß lang herauf, schoß aber wieder fast eben so weit in’s Wasser zurück. Es mußte eine mühselige Arbeit sein, denn allmählich wurden die Leute sehr erhitzt, Einer nach dem Andern schleuderte seine Fellmütze durch Schütteln mit dem Kopfe zu Boden, die Frauen rissen ihre [443] Kopftücher ab, von den blaurothen Gesichtern rann der Schweiß, obgleich wir zehn Grad Kälte hatten. Um fester anzufassen, ließ jetzt dieser, dann jener einen Augenblick das Netz los und tauchte seine Hände, die bis über die Ellenbogen in schwarzledernen Stülphandschuhen staken, in’s Wasser. Vorwärts ging’s; stramm angestemmt, in äußerster Kraftanstrengung nach hinten zurückgelehnt, wuchtete diese Reihe stämmiger Gestalten die Last empor, dann ließen die 24 braunen Fäuste plötzlich los, um im Nu ein Stück tiefer anzupacken. Die Männer waren hohe, derbe Gesellen mit starkknochigen, tiefgebräunten Gesichtern, langbärtig, langhaarig, einige flachsblond, andere schwarz, der Meister schon eisgrau; die Frauen erwähnten wir schon. Aehnlich, wie diese, waren auch die Männer bekleidet, nur mit breiten schwarzen Pumphosen, die in die Fellstiefeln hineinreichten, und Fellmützen, die Pelze jedoch waren ganz gleich. Wild und trotzig sahen sie Alle aus und mochten es wohl auch sein, das hörte man an den rauhen Flüchen, die sie einander zuriefen, wenn einer momentan nachließ, das brachte das Gewerbe voll Beschwerden mit sich, welches sie jeder Witterung und vieler Gefahr aussetzte.
Immer kürzer und langsamer ziehen sie an, ihre Erschöpfung zeigt sich in der wankenden Bewegung der Beine, im Zittern der Arme. Die ermüdete Brust hebt sich schnell und schwer, der Athem keucht, die Augen quellen hervor, die langen Haare kleben zu Striemen zusammen. Zornig flucht der riesenhafte Meister, ihm funkelt’s wild unter den buschigen Brauen, mit doppelter Macht faßt er in die widerstrebenden Maschen. Jetzt gilt es ja, denn der Kessel[3] kommt herauf; augenblicklich verlassen mehrere ihre Plätze und gehen zur anderen Seite des Loches hinüber, denn da der Kessel rund ist, so muß er von allen Seiten zugleich angefaßt werden. Die Spannung ist nicht gering, das Wasser geräth in unruhig wallende Bewegung, hier und da tauchen Flossen und Schwänze von größeren Fischen auf, jetzt endlich ein breiter brauner Rücken, und dort wieder einer, eine ganze Menge!
„Brachsen, Brachsen, Hurrah!“ rufen die aufgeregten Zuschauer, Ueber das Gesicht meines Freundes geht ein zufriedenes Lächeln, denn ein reicher Zug steht zu erwarten.
Ein solcher wurde denn auch gethan; je mehr der Kessel herauf kam, desto deutlicher zeigte sich das. Noch lag die Hauptmasse in der Tiefe, noch konnten sich die betrogenen Wasserbewohner in ihrem gewohnten Elemente bewegen, aber in immer engeren Grenzen. Große Hechte erschienen auf der Oberfläche, wie Schlangen schossen sie mit ihren schlanken Leibern in gewandten Windungen umher, um sogleich wieder vermeintlichen Schutz in der Fluth zu suchen; phlegmatisch dahinschwimmend regten sich die trägen Brachsen, gewaltige Barse mit rothen Flossen tauchten dazwischen auf und eine Masse kleiner, silberschuppiger Fische sprang in jedem Augenblicke in die sonnenhelle Luft, so daß ein beständiger Tropfenschauer durch ihr Aufschnellen und Niederfallen unterhalten wurde. Doch auch diese karge Freiheit sollte den Ueberlisteten entzogen werden. Die Fischer riefen jetzt mehrere Bauern zu Hülfe, unter großem Geschrei wurde der Sack von allen Seiten emporgezogen, und nach einigen Minuten lag ein zappelnder, springender, schimmernder Haufe von Fischen jeder Größe auf dem Eise. Das war ein Zug! Wie sich ergab, waren über zweihundert fünf- bis zwölfpfündige Brachsen, an fünfzig große Hechte und einige Scheffel anderer Fische gefangen worden.
Nach altem Brauch hatte der Fischerälteste das Recht, von jedem Zug zuerst drei Schaufeln voll für sich abzunehmen. So griff er denn auch jetzt mit seiner breiten und tiefen, einer großen Schöpfkelle gleichenden Schaufel in die wimmelnde Thiermasse hinein, und wußte sehr gewandt sich einige der größten Brachsen scheinbar absichtslos herauszuholen. Außerdem erhielt er ein Drittheil vom Ertrage der Fischerei.
Ein arges Gedränge entstand. Jeder wollte die schönen Fische beschauen und bewundern; dies benutzten die kleinen Bauerjungen zur Entfaltung einer besondern Industrie. Jeden Augenblick, wo die Fische weniger bewacht wurden, schoß ein solcher Bube pfeilgeschwind auf diese los, und prakticirte sich ein paar der kleineren in das linnene Quersäckchen, das er an einem Band über die Schulter hangen hatte. Die kleinen Spitzbuben waren dabei sehr gewandt und entschlüpften fast immer, weil die Umstehenden sie gewähren ließen, war ja doch an den paar Fischchen nichts gelegen; fiel aber einer den Fischern in die Hände, so thaten diese ihm auch nicht viel, sie warfen ihm nur die Pelzmütze in’s Wasser, wo er sie zum großen Jubel des Volkes wieder herausholen mußte.
Die Fische wurden nun abgetheilt, der größere Gutsantheil in Säcke verpackt und zum Hofe geschickt, und dem alten Russen sein Drittheil übergeben, womit er auch sogleich einen Handel etablirte. Käufer waren in Fülle vorhanden, alle Welt begehrte ein leckeres Fischgericht. Am lüsternsten darnach zeigten sich die Schacherjuden. Ein Fisch ist für diese armen, mäßigen Menschen ein Königsessen. Mit welchem Eifer handelten sie um einen Hecht, ein paar Barse, ein Schüsselchen Weißfische! Wenn Russen und Juden mit einander handeln, gibt es gewiß einen Wettkampf von Schlauheit und Zungenfertigkeit; so auch hier: eine ganze Weile zankten sich sich, bis endlich Freund Itzig freudestrahlend sein Fischchen in den schmutzigen Leinbeutel steckte und abzog, träumend von den gastronomischen Genüssen, welche ihm bald die eigene küchengewandte Hand bereiten würde. Es währte nicht lange, so hatte der Russe seinen ganzen Vorrath verkauft, und beorderte seine Leute zu den Vorbereitungen eines zweiten Zuges. Diesen warteten wir jedoch nicht ab, denn trotz der Pelze und Pelzstiefeln machte der kalte Wintertag sein Recht geltend, wir waren durchfroren, besonders die Damen; auch nahete schon der Mittag, so ging’s denn wieder in die Schlitten, und heimwärts klingelten unsere Glöckchen. Die meisten Leute eilten zum Kruge, um den zweiten Zug abzuwarten.
Oben auf dem Ufer angekommen, blickte ich noch einmal zum See zurück; den abschüssigen Pfad erklimmte eine lange Reihe von Schlitten, deren Glocken die ganze Luft mit Geläute erfüllten, ein Klang, der gar lustig anzuhören ist und belebend auf die Seele wirkt. Unten brannte noch immer das Feuer, hob sich der weißgraue Rauch zierlich vom bereiftem Forste ab, drängten Bauern durcheinander, während weiter hinaus die Fischer neue Löcher in’s Eis hieben. Ein prächtiger Wintertag! Diese kalte, reine Luft stimmt den Nordländer so heiter, macht ihn so frisch, wie nach einem Bad in einem klaren Gebirgsbach, stählt den Körper, erquickt den Geist. Darum lieben wir auch den alten grimmen Recken mit den Eiszapfen im Bart, dem Schneemantel und Krystallpanzer, schauen ihm keck in’s Gesicht und suchen ihn auf im weißen Feld, im beschneiten Waldrevier.
Als es Nacht wurde und der Vollmond Tageshelle über die Landschaft ergoß, forderte mich mein Freund auf, nochmals zum See zu fahren, um den letzten Zug anzusehen.
Ueber die weite, beschneite Eisfläche flogen wir wieder dahin. Nach Osten hinaus zog sie sich unabsehbar in die Weite, dort verschwamm die leuchtende mit dem Horizont; drüben ragte geisterhaft weiß der träumerische Waldeshang in den sternbesäeten Himmel auf, es war eine unendliche Ruhe in diesem Bilde. Aber lauter und lauter kamen die Rufe der arbeitenden Fischer und die Stimmen schwatzender, lachender Zuschauer zu uns herüber, je mehr wir uns näherten. Nun waren wir angelangt, Bauern nahmen unsere Pferde in Empfang, man machte uns Platz, wir konnten Alles übersehen. Eine Menge dicker, brennender Kienspähne, von den Umstehenden hoch emporgehalten, erleuchteten die Scene; ihr dunkelrothes, flackerndes Licht contrastirte seltsam mit dem milden Mondesglanz, auf dem bewegten Wasser zitterten zu gleicher Zeit silberne und purpurne Reflexe. Wir waren gerade zu rechter Zeit gekommen, denn schon tauchten einzelne Fische auf, und bald zeigte sich die ganze Masse der Gefangenen. Diese gewährten einen prächtigen Anblick. Ein Blitzen und Schimmern spiegelnder Fischkörper erfüllte das Netz; wie die Tausende durcheinander wühlten, brach es immer wieder an zahllosen Stellen hervor; es war, als ob ein mächtiger Schatz aus der Tiefe gehoben sei, aber jedes einzelne Silberstück Leben und Bewegung erhalten hätte und noch im letzten Moment dem glücklichen Schatzgräber tückisch entfliehen wollte.
Auch das Mal war der Zug ungemein ergibig, doch verblieb dem Aufseher die Theilung; wir begaben uns bald nach Hause. Noch zwei Tage währte die Fischerei und brachte einen ungewöhnlich reichen Ertrag; dann zogen die Russen weiter zum nächsten Gute, welches einen See besaß.
Zum Schlusse will ich noch erwähnen, daß man ein paar Mal mit glücklichem Erfolge kurz vor dem Zuge ganz glühende Steine in die Eislöcher versenkt hat; dieses Mittel scheucht die Brachsen an die Oberfläche und läßt sie leichter in’s Netz gerathen.
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Von der Nothwendigkeit der Uebungen im mündlichen Vortrage noch zu reden, wäre überflüssig, da die Sache wohl von Niemandem in Abrede gestellt wird, und eine gewisse Fertigkeit des mündlichen Vortrages in unseren Schulen zu erzielen, zumal in jüngster Zeit, von Behörden und Schulmännern als ein nothwendiges Bedürfniß öfters anerkannt worden ist. Um so erfreulicher muß daher die Wahrnehmung sein, auch in weiteren Kreisen einen Gegenstand besprochen zu sehen, auf welchen die Aufmerksamkeit der pädagogischen Welt besonders in den letzten Jahrzehnten ungetheilt gerichtet ist. Wenn wir daher dem geehrten Hrn. Einsender und der Redaction unsern aufrichtigsten Dank für die gegebene Anregung sagen, so erlauben wir uns zugleich, einige ebenfalls auf Erfahrung gegründete Bemerkungen jenem Vorschlage hinzuzufügen.
Zunächst sei uns einleitend die Erwähnung gestattet, daß Debatten der Art, wie ihnen der Hr. Einsender in England und Amerika beizuwohnen Gelegenheit hatte, im Modernen Gesammtgymnasium zu Leipzig bereits seit mehreren Jahren stattfinden und daß hierbei zufällig außer anderen auch nicht einer der angeführten Stoffe unbesprochen geblieben ist. Jedoch nicht ohne gehörige Vorbereitung. Die Vorbereitung aber zu dergleichen Debatten geschah durch Uebung im Declamiren und im freien Vortrage. Diese beiden Seiten der Vorbereitung aber als nothwendig und zweckdienlich hinzustellen, sei uns in Folgendem gestattet.
Wenn der geehrte Herr Einsender dem Declamiren zunächst nicht allein allen Nutzen abspricht, sondern auch die „Folgen desselben“ als nachtheilig hinstellt und am Schlusse seiner Anregung das Declamiren „einzig und allein als Gedächtnißübung“ betrachtet wissen will, so können wir damit keineswegs übereinstimmen und erlauben uns zur Rechtfertigung des Declamirens auf ein Büchlein, „Der mündliche Vortrag kurz dargestellt für Lehrende und Lernende von Dr. M. Zille“, hinzuweisen. Nachdem der Verfasser die drei Haupttheile des Vortrages: die Aussprache, die Betonung und die Handlung ausführlich besprochen, sagt er über den Werth des mündlichen Vortrages weiter:
„Aus den bisherigen kurzen Bemerkungen über die Kunst des Vortrages als dessen selbst geht im Allgemeinen hervor, daß dieselbe viel Nachdenken, viel Mühe und Sorgfalt erfordert; aber man muß auch bedenken, daß dieselbe alle Mühe reichlich belohnt, daher in der That aller Mühe Werth ist.
„Die Kunst des Vortrages nimmt den ganzen Menschen, Geist und Körper, in Anspruch und betheiligt beide bei vielfältiger Kraftanwendung zur ebenmäßigen, übereinstimmenden Darstellung eines lebendigen, schönen Ganzen. Verstand, Gefühl und Vorstellungskraft müssen lebhaft thätig sein und sich sodann dem ganzen Körper und jeder seiner Bewegungen mittheilen, um das schöne Kunstwerk eines guten Vortrages zur Erscheinung zu bringen. Diese vielseitige Kraftübung erfordert große Sorgfalt und Genauigkeit im kleinsten einzelnen Stücke und muß doch auch zugleich einhellig, wohlgemessen zusammenstimmen, um ein größeres Ganze zu erzeugen. Der klare, deutliche Gedanke muß sich mit der regsten Empfindung und mit der lebhaftesten Vorstellung vereinigen; Gedanke, Empfindung und Vorstellung müssen sich sodann weiter körperlich, anschaulich gestalten; Alles muß zusammenwirken im Dienste des Schönen. Schiller’s großer Gedanke einer ästhetischen Erziehung wird bei der Kunst des Vortrages schon in der Kinderwelt zur Wahrheit. Die künstlerische Darstellung des Schönen erzieht zunächst die Menschen zur Liebe des Schönen und gibt ihnen Anleitung, das Schöne zu empfinden und es selbst auch im Leben tatsächlich darzustellen.
„Um ein Gedicht gut vortragen zu können, müssen die Kinder dasselbe allseitig durchdringen, durchdenken, durchempfinden und mit der lebhaftesten Vorstellung erfassen und sodann Alles unmittelbar anwenden und bethätigen. Je mehr sie sich den ganzen Inhalt eines Gedichtes in allen seinen einzelnen Theilen zum geistigen Eigenthum gemacht haben, desto besser werden sie es vortragen. Sie müssen den ihnen vorliegenden fremden Gegenstand ganz in sich aufnehmen, um ihn sodann ganz und vollständig wiedergeben zu können. Der Vortrag übt sie daher in der gespanntesten Aufmerksamkeit, in dem regsten Fleiße, in der strengsten Genauigkeit. Dazu übt sie der Vortrag in guter, feiner Sitte, in edlem Anstand, in maßvoller Haltung und Bewegung des Körpers. Sie lernen durch den Vortrag Befangenheit, Schüchternheit und Unbeholfenheit überwinden und sich mit Leichtigkeit und Sicherheit bewegen.
„Durch die Uebungen des Vortrages lernen sodann unsere Kinder unser mustergültiges Schriftthum in seiner Schönheit und Herrlichkeit kennen; sie werden wahrhaft in dieses Heiligthum unseres Volkes eingeweiht, da sie die vorzutragenden Gedichte genau durchforschen und dieselben selbstthätig verarbeiten und anwenden. Sie lernen sich dieser schönen Gestaltungen erfreuen und laden auch ihre Mitschüler zu solch hohem, freudigem Genusse ein. In dieser Beziehung ist der Vortragsunterricht die Blüthe des ganzen deutschen Sprachunterrichtes; er erhebt von der Betrachtung der Formen zum Genuß des geistigen Inhaltes, lehrt diesen erkennen, werthschätzen und genießen.
„Machen sodann die Kinder gute Fortschritte in der Kunst des Vortrags, so werden die Leistungen besonders der geübteren Schüler auch einen werthvollen Beitrag zur Erhöhung der geselligen Freude liefern. Im engeren Familienkreise, ja auch in größeren geselligen Kreisen wird man die kleinen Vorträger gern vernehmen und sich nicht nur an ihnen, sondern auch an dem, was sie vortragen, erfreuen.
„Ein großer Theil unseres Schriftthums, die ganze erzählende Dichtung, ist im Grunde noch ein todter Schatz, begraben in schwarzen Buchstaben, die blos gelesen werden. Lebendig wird dieser Schatz erst, wenn die erzählenden Gedichte vorgetragen, kunstgemäß erzählt werden. Darum möge die Kunst des Vortrages nicht nur in, sondern auch außer der Schule, nicht nur von Kindern, sondern auch von Erwachsenen geübt werden; man wird sich dadurch einen neuen Kunstgenuß verschaffen und über die geselligen Kreise und dadurch auch über das Leben überhaupt eine edle, erhebende Weihe ausgießen.
„Zu jeder Art öffentlicher Rede ist endlich der Vortrag die erste, unerläßlichste Vorübung. Gar manchem öffentlichen Redner merkt man es deutlich an, daß er sich wenig oder gar nicht im Vortrag geübt hat: ist auch die Aussprache so ziemlich richtig, so fehlt doch die Deutlichkeit, die verständige Hervorhebung der wichtigsten Worte, sowie der gehörige Wechsel der Töne; die ganze Rede wird in unaufhaltsamer Hast ohne Halt- und Ruhepunkte zu Ende gejagt; endlich ist zuweilen die Haltung und das ganze Gebehrdenspiel des Redners ungebehrdig. Möchten doch alle Redner stets des Demosthenes eingedenk sein, der den Vortrag für die Hauptsache der Beredsamkeit erklärte! Je mehr die öffentliche Rede unter uns gepflegt werden wird, desto mehr wird man auch der Kunst des Vortrages sorgsame Aufmerksamkeit zuwenden müssen, um leichtverständlich, wohllautend, mit anschaulicher Lebendigkeit und eindrucksvoll sprechen zu lernen!“
Soviel von der Nothwendigkeit vorhergehender Uebungen im Declamiren als Vorbereitung zum Debattiren.
Nicht minder wichtig dürfte die zweite Seite der Vorbereitung sein, die Uebung im freien Vortrage. Denn ohne eine hinlängliche Fertigkeit im mündlichen Vortrage von bereits (natürlich vom Schüler selbst) ausgearbeiteten, wohl überdachten niedergeschriebenen Aufsätzen erlangt zu haben, ist ein erfolgreiches Debattiren, für den deutschen Redner wenigstens, wohl kaum denkbar. Wohl möglich, daß betreffs der Form des Vortrags Engländer und Franzose in Folge des der Logik gemäßen Satzbaues ihrer Sprachen weit weniger Schwierigkeiten zu bekämpfen haben, als die deutsche Sprache dem mündlichen Vortrage in den Weg legt.
Hindert aber der eigenthümliche Satzbau unserer Sprache, welche dem Redner nicht so leicht jene biegsame und für das leichte, rasche Spiel der Conversation passende Constructionsweise des Franzosen gestattet, einerseits die Geläufigkeit der Rede, so bewahrt er uns eben auch andererseits vor jenem bequemen Hin- und Herreden über Dinge, das sich auch äußerlich anlernen läßt, und wodurch allzuleicht Kaffeehausschwätzer, die viel und gern sprechen, weil ihnen das Sprechen leicht und geläufig ist, gebildet werden.
Eine solche Besorgniß aber möchte wohl nahe liegen, sobald [445] ohne gehörige Vorbereitung, d. h. ohne vorhergehende Uebung im Vortrage eines bereits niedergeschriebenen Aufsatzes sogleich zum freien (extemporanen) Vortrage geschritten wird. Vor oberflächlicher Geschwätzigkeit aber soll uns eben eine ernste und gründliche Redezucht bewahren. Und eben darum kommt auch bei uns jener Grundsatz der Alten „Stylus optimus decendi magister“ zu reellster Anerkennung. Den Styl aber auf alle Weise zu üben, soll Aufgabe der Schule sein, und dieselbe soll durch Bildung des Styles eben das Möglichste beitragen zur Bildung der Redefertigkeit, zur Bildung von Rednern; wenn auch damit keineswegs gesagt sein soll, „daß die Lehrer für die Leistungen der Schule (und der künftigen Redner) in Hinsicht des mündlichen Vortrags verantwortlich sein können.“ Denn nicht gegen alle Hindernisse des Gedeihens der Beredsamkeit bei uns und in unsern Tagen mit Erfolg anzukämpfen, ist dem Lehrer möglich. Dahin aber gehört u. a. „die tiefeingewurzelte Gewöhnung unserer Zeit an die Mittheilung durch Schrift und Druck;“ und die Druiden des alten Galliens waren nachdenkende Philosophen, wenn sie nicht gestatteten, daß ihre Zöglinge das, was sie zu lernen hatten, sich aufschrieben, sondern ihnen Alles mündlich beigebracht und dem Gedächtnisse eingeprägt wissen wollten, und wenn sie dies aus dem Grunde nicht gestatteten, den Cäsar ihnen beimißt: „quod non velint eos, qui discant, literis confisos, minus memoriae studere etc.“[5]
Zu jenen Hindernissen aber gehört ferner der gewaltige Unterschied unserer neueren, der Beredsamkeit weniger günstigen politischen Verhältnisse, denen des alten Griechenlands z. B. gegenüber, wo der Rhapsode:
– Mit dem lebenden Wort horchende Völker entzückt,
Der vom Himmel den Gott, zum Himmel den Menschen gesungen
Und getragen den Geist hoch aus den Flügeln des Lieds.
Zu jenen Hindernissen eines glücklichen Gedeihens deutscher Beredsamkeit dürfte wohl auch nicht mit Unrecht gerechnet werden der Mangel an eigenen Universitätslehrstühlen – oder Docenten für diesen Unterrichtszweig, welche die neuere deutsche Literatur zum Gegenstande ihrer Vorlesungen machen sollten.
Das merkwürdigste Product Preußens, und eins der bemerkenswerthesten Naturerzeugnisse überhaupt, ist der Bernstein. Derselbe – auch Börnstein, Agtstein und Aitstein genannt, von den altdeutschen Wörtern „börnen“ und „aiten“, welche „brennen“, resp. „gebrannt sein“ bedeuten – war bereits im grauen Alterthum bekannt. Die „hochbusigen“ Trojanerinnen nicht minder, als die Frauen der hellenischen Helden, welche auf den „geflügelten, langgestreckten“ Schiffen gekommen waren, Ilium zu verderben, schmückten sich mit Bernstein-Korallen. Beide, Trojaner und Griechen, erhielten den Bernstein von den Phöniciern oder Phöniken, den Briten der alten Welt. Dieselben holten den Bernstein von der Küste, an welcher er noch heutigen Tages am häufigsten gefunden wird, von der preußischen. Die Mythe ließ den Bernstein aus den Thränen entstehen, welche die Schwestern Phaëtons vergossen, als dieser illegitime Sprößling des Helios bei seinem kecken Versuche, mit dem Sonnenwagen zu kutschieren, ein schreckliches Ende genommen. In Pappeln verwandelt, die am Ufer des Eridanus standen, verhärteten, gleich den Leibern der holdseligen Jungfrauen, auch die Thränen, welche sie (jedenfalls in ansehnlichen Quantitäten) geweint, und wurden zum Bernstein.
Unter „Eridanus“ verstanden die Hellenen zur Zeit Homer’s den heutigen Po, ihre Nachkommen einen Fluß, der in die Nordsee mündet (etwa Maas, Schelde oder einen der Rheinarme), und erst etwa um die Zeit von Christi Geburt - also zu einer Zeit, wo Sidon und Tyrus, die einstigen Metropolen Phöniciens, bereits Trümmer waren und das Volk der Phöniken nur noch in der Geschichte lebte - erfuhr man den wirklichen Fundort des Bernsteins, die „Nehrung“ genannte, sandige Vorküste Westpreußens. Hier lebt übrigens noch heutigen Tages der Name „Eridanus“ fort, nur corrumpirt in „Radaune“, welchen Namen ein 9 1/2 Meilen langer Nebenfluß der Weichsel (oder eigentlich der Mottlau), welcher oberhalb Danzig in diese fällt, führt.
Lange hielt man den Bernstein, wie auch seine Bezeichnung als „Stein“ andeutet, für ein Mineral; neuere Untersuchungen haben jedoch erwiesen, daß er unzweifelhaft vegetabilischen Ursprungs und den Pflanzenharzen beizuzählen ist, obschon ihm einige Eigenschaften derselben abgehen. Wahrscheinlich floß er aus einem zur Gattung der Coniferae gehörigen Nadelholzbaune, welcher bei einer der mehrfachen Erdumgestaltungen untergangen ist. Daß dies zur Zeit der Tertiär- Formation (dritten Umgestaltung der Erdoberfläche), also in der Periode der Braunkohlenbildung, geschehen sei, nahm man früher allgemein an; Professor Göppert in Breslau hat jedoch nachzuweisen sich angelegen sein lassen, daß nicht schon in jener Urperiode, sondern erheblich später, nämlich bei der vorletzten oder letzten Erdumwälzung, die Bernsteinbildung vor sich gegangen sei. Hierfür spricht vorzüglich der Umstand, daß die häufig in Bernstein eingeschlossen gefundenen kleinen Thiere, meist Insecten, mit den heutigen Tages lebenden entweder identisch oder doch im Wesentlichen übereinstimmend sind.
Der Bernstein hat sonach, trotz seiner immerhin schon recht ehrwürdigen Bekanntschaft mit den Phöniciern, kein sehr hohes Alter im Sinne der geologischen Wissenschaft, welche bekanntlich nicht nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten, sondern nach Jahrtausenden zählt. Sein häufiges Vorkommen gerade unter diesen nordischen Breiten zu erklären, nimmt man an, daß er ein Baumharz ist, welches, äußerst dünnflüssig und schnell verhärtend, in reicher Fülle sich aus einem fichtenartigen Baume ergoß, der, als die nordischen Gegenden, die das heutige Preußen bilden, noch ein milderes Klima hatten, hier und in einem großen Theile des gegenwärtigen Ostseebettes weit sich ausdehnende Wälder bildete, welche zerbrochen und begraben wurden, als vom hohen Norden her gigantische Fluthen mit Eismassen hereindrangen, Alles verwüsteten und gleichzeitig das warme Klima in ein kaltes verwandelten. Uebrigens kommt der Bernstein nicht blos an den Küsten und im Flachlande Ost- und Westpreußens – wenn schon hier vorzugsweise – sondern auch in Pommern, Schlesien, dem südlichen Schweden und Norwegen, ja auch, allerdings nur sehr sporadisch, an den Küsten von Sizilien und Südfrankreich vor.
Seinem Fundorte nach ist der Bernstein entweder See- oder Landbernstein; ersterer wird vornehmlich durch Schöpfen, letzterer durch Ausgraben an der Küste und im Innern gewonnen. Das Schöpfen wird zu jeder Jahreszeit betrieben und folgendes Verfahren dabei beobachtet. Wenn der durch Sturm oder sonstige Wellenerregung vom tiefen Seegrunde losgerissene, vom Seetang getragene Bernstein sich dem Ufer nähert, so gehen die „Schöpfer“ – meist rüstige Fischer, die aber mehr der „goldenen Gabe des Meeres“ (dem Bernsteine), als ihrem eigentlichen Gewerbe vertrauen – sobald sie das ankommende Kraut bemerken, in grobe wollene Röcke oder lederne Cuirasse gekleidet, mit Handnetzen oder Käschern, die an ziemlich langen Stangen befestigt sind, bis über die Brust in die See hinein und schöpfen, mit ihren Netzen tief nach dem Grunde des Meeres hinfahrend, den Bernstein sammt dem Tang (einer unliebsamen, aber unvermeidlichen Zugabe) auf, nähern sich dem Strande und werfen Beides an’s Land. Hier werden von Weibern und Kindern sorgfältig die Bernsteinstücke vom Kraute abgelesen und nach Hause getragen, während die Männer sich meist zum nächstgelegenen Wirthshause begeben und dort Bacchus, dem Sorgenbrecher, in ganz abscheulichem Kartoffelfusel Libationen darbringen, die, je nachdem Neptun den „Zug“ gesegnet, mehr oder minder reichlich ausfallen.
Dies ist die gewöhnliche Art, in welcher dem Meere sein fossiler Reichthum abgenommen wird. Minder groß, wenn auch keineswegs ganz unerheblich, ist das Quantum Bernstein, welches Poseidon freiwillig den „Landratten“, diesen Geschöpfen seines Bruders Jupiter, zum Besten gibt, oder, in minder mythologischer Redewendung, [446] was die Ostsee bei Nord- und Westwinden an die ost- und westpreußische Küste wirft. In der einen wie in der andern Hinsicht ist übrigens die Westküste Samlands, die eigentliche „Bernsteinküste“ Preußens, die vom nassen Elemente begünstigste; etwas minder reich ist der Strand von Danzig, desgleichen die frische Nehrung und die Nordküste des Samlands, noch weniger die kurische Nehrung und Hinterpommern, und am unergibigsten die Küsten von Kurland in Rußland und Schonen in Schweden. An allen übrigen Küstenstrecken, wo überhaupt Bernstein noch angetroffen wird, kommt derselbe nur ganz sporadisch vor.
Die zweite Art der Bernsteingewinnung ist die durch Nachgraben. Man sucht sich an dem Strande jene Stellen aus, wo durch Unterwaschung ein Theil der Ufer herabgestürzt ist, so daß die schroffe, stehengebliebene Wand die Schichtung der Erdarten deutlich erkennen läßt. Wo braune Streifen auf das Vorhandensein von Braunkohlenlagern hinweisen, oder wo sich blaue Thon- und ockerfarbene Kieselschichten zeigen, da darf man auch Bernsteinlager erwarten. Da die Strandhügel meist lockeres Geschiebe bilden, so schafft man sich zunächst eine sichere Grube, indem man das Gerölle am Strande wegräumt, dann den Fuß des Strandhügels untergräbt, damit ein Stück Uferrand herabrutscht, dessen Erdmasse man am Meere aufschichtet, um sie als Wall gegen dasselbe aufzuführen. Es bildet sich dadurch eine halbkreisförmige Vertiefung, deren Wände man schräg absticht, um das Nachfallen der Erde zu verhindern. Darauf gräbt man von oben den Grubenrand ab, während andere Arbeiter das Herabgefallene ringsum zu einer Umwallung der Grube aufthürmen, die nun gereinigt, weiter vertieft und geebnet wird. Da sich nicht selten über dem Bernsteinlager Grundwasser zeigt, so muß dieses fortgetragen werden, worauf man das übrige Wasser in kesselartige Vertiefungen leitet, die Grube mit einem Pfahlwerk umgibt, Reisig dazwischen flicht und jede Lücke sorgsam mit Gras und Moos zustopft.
Nachdem diese mühsamen Vorarbeiten beendet sind und die Grube „fix und fertig“ ist, stellen sich die Bernsteingräber in eine Reihe, treiben ihre Eisenmeißel vorsichtig, damit sie die etwa vorhandenen Bernsteinstücke nicht zerstoßen, etwa drei Fuß tief in den Boden und heben langsam eine dünne Erdlage ab. Vor dem „Stecher“ steht ein „Abnehmer“ in der Grube, der sorgfältig Acht hat, ob der Erstere auf Bernstein gestoßen ist. Größere Stücke hebt der Abnehmer sorgfältig heraus und umwickelt sie mit nassen Lappen, damit sie nicht, was sonst geschähe, an der Luft zerspringen. Hat man eine Erdschicht abgegraben, so sticht man noch eine zweite ab und gräbt dann so weit in den Rand der Grube, als dies möglich, ohne ein Einstürzen der überhängenden Erdmasse herbeizuführen, weshalb auch Aufseher („Ausgucker“) unausgesetzt die Risse oberhalb der Grubenwand beobachten. Erst wenn man die Ueberzeugung gewonnen, daß in einer Grube nichts mehr zu finden ist, verläßt man dieselbe, um an einer anderen Stelle, ähnlich den californischen und australischen Goldgräbern, sein Heil auf’s Neue zu versuchen. Was den Gewinn anbetrifft, so geschieht die Theilung gewöhnlich in der Art, daß von demselben ein Drittheil der Inhaber des Bodens bekommt, auf welchem gegraben wird; ein zweites Trittheil erhalten der oder die Unternehmer der Gräberei und das dritte endlich wird den Arbeitern zur Vertheilung unter sich übergeben, die aber noch überdies einen kleinen festen Wochenlohn aus der Tasche des „Grabeherrn“ (Unternehmers) empfangen und von ihm, wenn er die Grube besucht, mit Tabak und Bier – Branntwein wird von den Bernsteingräbern, im Gegensatz zu den Bernsteinfischern, meist verschmäht – regalirt werden. Die Realisierung des ergrabenen Gewinnes geschieht meist in der Weise, daß der „Grabeherr“ die sämmtlichen gefundenen Stücke, nach einem vorher zwischen ihm, dem Grundeigentümer und den Arbeitern vereinbarten Preise, an sich bringt und den anderen Betheiligten die ihnen zukommenden Beiträge baar auszahlt. Das, was er von den Bernsteinhändlern und Bernsteindrehern (so heißen die Bearbeiter des Bernsteins) über den von ihm selber gezahlten Preis erhält, bildet einen zweiten Bestandtheil seines Gewinnes aus dem von ihm unternommenen Speculations-Geschäfte; denn ein solches ist das Bernsteingraben immer mehr oder weniger.
Der Preis des Bernsteins wird vorzugsweise bedingt durch die Größe, außerdem durch Farbe und Form der Stücke und ihre größere oder geringere Durchsichtigkeit. Der vollkommen durchsichtige Bernstein ist in der Regel am meisten geschätzt. der durchscheinende („Bastardbernstein“) der am häufigsten vorkommende und der undurchsichtige der am mindesten werthvolle. Von ihm gibt man im Occident dem milchweißen, im Orient dem blaßgelben den Vorzug.
Nach seiner Größe, dem vorzüglichsten Werthtmesser, zerfällt der Bernstein in „große“ und „kleine“ Waare. Die große Waare, die auch „Sortiment“ heißt, zerfällt 1) in „Großbernstein“, d. h. in Stücke von 1/3 Pfund und darüber, je nach Form und Farbe mit 40 bis 60 Thalern per Pfund bezahlt; bei Stücken jedoch, die ein volles Pfund erreichen, mit 100 Thalern und darüber: 2) in „Zehner“, Stücke von 5 bis 9 Loth, 25 bis 30 Thaler per Pfund im Preise; 3) in „Dreißiger“, Stücke von 2 Loth an, mit 14 bis 18 Thalern das Pfund bezahlt; und 4) in „Czacken“, Stücke von 1 Loth an, das Pfund 7 bis 10 Thaler. Die kleine Waare zerfällt in „Grundsteine“, d. h. Stücke, die zwar noch nicht ein Loth (Haselnuß-Größe) erreichen, aber doch die Größe einer Bohne, und 1 1/6 bis 1 1/2 Thlr., und in „Knibbel“, nur erbsengroß, welche mit 2/3 bis 3/4 Thlr. das Pfund bezahlt werden. Sämtlich hier aufgeführte Preise gelten jedoch nur für den durchsichtigen Bernstein; der blos durchscheinende ist nur halb, der undurchsichtige kaum ein Drittheil so viel werth. Aus den „Knibbeln“ werden, trotz ihrer Kleinheit, noch Perlen gedreht; sie gehören daher noch zu den „Arbeitssteinen“. Was noch kleiner ist, eignet sich zu solchen nicht mehr und wird, als „Abgang“, das Pfund für wenige Groschen verkauft und zur Bereitung von Bernsteinfirniß, Bernsteinöl und Bernsteinsäure verwendet, oder, der kleinste und schlechteste, zu Räucherungen benutzt. Bernsteinsäure und Bernsteinöl gelten als reizende, nervenstärkende, auch als krampfstillende, schweiß- und harntreibende Arzneien; Bähungen von Räucherbernstein sind bei Gicht, Gliederreißen und Rheumatismus häufig mit Vortheil angewendet worden. Bernsteinfirniß gibt einen schönen, glänzenden, dabei wasser- und luftdichten Ueberzug für Holzwerk ab.
Der Bernstein bildet einen wichtigen Ausfuhrartikel des preußischen Küstenlandes, namentlich nach dem Oriente, und vormals in noch größerem Maße, als gegenwärtig. In früheren Zeiten kamen türkische, armenische und griechische Handelsleute nach Ost- und Westpreußen, den Bernstein hier theils verarbeitet, theils roh einzuhandeln und den türkischen, wie den Ländern des noch ferneren Ostens und Südens zuzuführen, wo er theils als Frauenschmuck getragen, theils zu Räucherungen verwendet wird, da namentlich die Perser, Chinesen und noch andere Orientalen den Geruch des Bernsteins jenem der aromatischen Stoffe vorziehen, an denen das Morgenland so reich ist, und seinen Duft bei religiösen Festen und Gastmahlen nur ungern missen. Heutzutage hat sich der levantinische Bernsteinverkehr insofern geändert, als die Orientalen nicht mehr nach Preußen kommen, sondern preußische, namentlich Danziger israelitische Kaufleute diesen Handel an sich gezogen haben. Danzig ist und war schon seit Jahrhunderten unbestritten das größte Emporium für den Bernsteinverkehr. Ist derselbe auch nicht mehr so schwunghaft, als früher, so ist er doch immer noch sehr belangreich. Im vorigen Jahre wurden seewärts aus Danzig, nach Ausweis der officiellen „Schiffsabrechner-Liste“, nicht weniger als 1028 Ctr. roher und verarbeiteter Bernstein, sowie Bernsteinchemikalien (z. B. 14 Ctr. Bernsteinöl) ausgeführt; der meiste ging nach Holland, welchem ausschließlich die Versorgung von Hinterindien, den indischen Inseln, China und Japan mit Bernsteinschmuck und Bernstein-Präparaten, die dort viel begehrt werden, obliegt. So beträchtlich auch schon der Werth ist, den jene 1029 Centner repräsentieren, so bilden sie jedoch keineswegs den ganzen Export, vielmehr geht mindestens eben so viel binnenwärts aus Danzig nach Polen, Rußland, den rumänischen Ländern und der Türkei.
Wie Danzig noch heut das Hauptemporium, so war es früher auch der Ort, wo der meiste Bernstein und am künstlichsten verarbeitet wurde; in letzterer Beziehung ist es jedoch gegenwärtig von Paris ansehnlich überflügelt. Dort wird jetzt viel Bernstein geschliffen, und zum Theil zu unverhältnißmäßig hohen Preisen nach Deutschland zurückgeführt. Da der Bernstein im Vergleich mit anderen Harzen eine sehr bedeutende Festigkeit hat, so wird er auf vielfache Weise bearbeitet. Enorme Mengen von Korallen zu Halsbändern gehen nach der Türkei, den Donauländern, Egypten; von letzterem Lande aus auch nach Sudan, Nubien und Abyssinien, wo sie von den Sklavenhändlern nur zu häufig benutzt werden, um gegen sie Sklaven für die Haus- und Feldwirtschaft der trägen Moslem und Favoritinnen für seinen Harem einzutauschen. Für Indien werden eigens große, platte, unförmliche Korallen gefertigt, [447] zum Halsschmuck für die in den Pagoden aufgestellten Götzenbilder eines Brama, Wischnu, Schiwa, Buddha etc. Auch sehr viel bernsteinerne Pfeifenspitzen gehen nach dem Orient, da nur aus diesen die Moslemim rauchen dürfen, indem der Koran die Berührung der Lippen der Gläubigen mit Theilen todter Thiere (wie Horn, Schildpatt) untersagt.
Neben diesen Hauptartikeln verfertigt man aus den größeren Bernsteinstücken noch Kreuze, Herzchen, Dosen, Becher, Ringe, Flöten, Thiergruppen zu Nipptischaufsätzen, ganze Schachspiele etc. Bernsteindreher gewöhnlicher Art treiben ihr Gewerbe mehr handwerksmäßig, nach Art der gewöhnlichen Drechsler, mit einfachen, mangelhaften Werkzeugen; Kunstdrechsler und Bildschnitzer dagegen, die mit Feile, Meißel und Grabstichel umzugehen wissen, liefern die zierlichsten Waaren, die oft zu hohen Preisen verkauft werden und nicht selten den Kunstcabineten zum Schmuck gereichen.
Bei dem hohen Werthe, den der Bernstein noch gegenwärtig hat und früher noch im erhöhteren Maße besaß, lenkte er schon frühzeitig die Augen der jeweiligen Landesherrschaft auf sich. Der Deutschherrenorden erklärte bald, nachdem er seine Herrschaft bis zur samländischen Küste ausgebreitet hatte, also im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts, den Bernstein für ein „Regal“ und sein unbefugtes Ansammeln mit der Todesstrafe. Die Oberaufsicht und Verwaltung dieses Regals übertrug die aus dem 14. Säculum stammende „Bernstein-Ordnung“ dem Ordensmarschall in Königsberg, und aller gefundene Bernstein mußte an die von ihm bestellten Schaffner („Ordensschäffer“) abgeliefert werden. Der Orden trieb den Alleinhandel mit dem Bernstein und versandte diesen, da er anfänglich auf seinem eigenen Gebiete aus Argwohn keine Bernsteindreher duldete, roh an seine Comptoire in Lübeck und Brügge. Sein Monopol erlitt einen bedeutenden Stoß, als im Thorner Frieden von 1466 ganz Westpreußen der Herrschaft des Ordens verloren ging, und wohl ein Drittheil der Bernsteinküste, nämlich die frische Nehrung, dem neuentstandenen Freistaate Danzig zufiel.
Diese strebsame, schon damals handelsmächtige Republik, in der man rücksichtlich des Bernsteinregals liberaleren Anschauungen huldigte, machte dem Alleinhandel des Ordens mit Bernstein bald eine um so erfolgreichere Concurrenz, als man in Danzig auch mit Geschick und umfassenden Mitteln an die Verarbeitung des gewonnenen Bernsteins ging; was denn den ersten weltlichen Herzog in Preußen, Albrecht von Brandenburg, welcher (1525) den hochmeisterlichen Mantel mit dem fürstlichen Hermelin vertauschte, veranlaßte, auch in seinem Gebiete die Verarbeitung des Bernsteins zu gestatten. Auch erlaubte er (was schon etwas früher im Danziger Gebiete gestattet worden) das Nachgraben nach Bernstein; und so kamen denn hier um 1558 die ersten Bernsteingräbereien auf. Doch mußten dieselben eine gewisse Steuer an den Herzog entrichten, und das Sammeln des Strandbernsteins blieb nach wie vor durch strenge Strafen geschütztes Regal der Krone. Zusätze zur Bernsteinverordnung verboten im Jahre 1582 Jedem, ohne Ausnahme des Standes, ohne Paß an die Küste zu kommen; Galgen wurden längs des Strandes errichtet, und die beim verbotenen Auflesen an’s Land geworfener Bernsteinstücke Ertappten daran ohne Weiteres aufgeknüpft, vom vermutheten Bernsteindieben und Hehler aber durch Peitsche und Folter Geständnisse erpreßt.
Der „große Kurfürst“, Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1640–1688), welcher anfänglich eine mildere Praxis beobachten zu wollen schien und ziemlich viel für das Aufkommen des Bernsteindrechslergewerbes in seinem preußischen Herzogthume that, verordnete später, daß alle confirmirten Strandbewohner und diejenigen, welche ihres Gewerbes halber die Küste besuchten, schwören sollten, keinen Bernstein entwenden zu wollen. Alle über achtzehn Jahre alten Personen beiderlei Geschlechts mußten diesen Eid leisten. Die Strafen wurden festgestellt: für Entwendung eines Pfundes Bernstein auf neunzig Gulden (preußisch) Buße oder entsprechende Freiheitsentziehung; bei zwei Pfund der doppelte Strafgeld- oder Haftbetrag; bei drei Pfund 270 Gulden Buße, Staupenschlag und zehnjährige Verweisung aus dem Küstenbezirk; bei vier Pfund gleiche Geldbuße, aber neben dem Staupenschlag auch Pranger und außerdem lebenslängliche Landesverweisung; bei fünf und mehr der Strang und doppelter Ersatz des Genommenen. Bei „besonders erheblichen“ (d. h. 25 Pfund und mehr betragenden) Diebstählen konnte unter Umständen sogar auf das Rad erkannt werden! Das bloße unbefugte Betreten des Strandes kostete 12 bis 18 Gulden, und zog im Wiederholungsfalle ein- bis dreijährige Verweisung aus dem Küstenbezirk nach sich.
So barbarische Gesetze und der unnatürliche Zwang, welchem die Strandbewoher unterworfen waren, konnten nur demoralisierend auf diese wirken. Sie reizten, nach dem alten Erfahrungssatze: „Nitimur in vetitum!“ zu heimlicher Entwendung und riefen eine rohe, tiefwurzelnde Erbitterung hervor, der so mancher Strandwächter zum Opfer fiel. Die zahlreichen Galgen auf den Höhen der Seeberge und wiederholte Ableistung des „Strandeides“ vermochten dem verbrecherischen Gelüste nur wenig Einhalt zu thun. Bernsteinentwendung galt den auf niedriger Kulturstufe stehenden Küstenbewohnern nicht als Unrecht. Ihr Raisonnement lautete: „Das wilde Wasser wirft den Stein aus; er ist ein Strandsegen, darum gehört er uns Strandleuten, und ihn behalten, ist kein Diebstahl.“
Mit dem Beginn des 18. Jahrhunderts wurden die Strafen ein wenig gemildert; auf den Strang sollte fortan nur erkannt werden, wenn mehr als eine Vierteltonne entwendet, und wenn dabei „der Dieb gemeinen Standes war.“ Dagegen wurden die Strandvisitationen genauer regulirt. Alle drei Jahre sollten sie von der Danziger Grenze an bis hinter Memel abgehalten werden; die Strandinsassen mit Söhnen und Knechten mußten dabei erscheinen, den Strandeid leisten, ihre Käscher inspiciren lassen, und bei etwaigem Zuwachs des Vermögens sich genau darüber ausweisen, ob derselbe nicht etwa von dem Verkauf heimlich aufgelesener Bernsteinstücke herrühre.
1762, nach dem Aufhören der russischen Occupation Ostpreußens, wurden die Strafen menschlicher. Auf den Tod und Landesverweisung sollte nicht mehr, auf Staupenschlag nur noch dann erkannt werden, wenn der Dieb sich bei seiner Ergreifung an der Person des Strandreiters vergriffen hatte; immer aber warteten noch Gefängniß bei Wasser und Brod, und in schwereren Fällen langjähriges Zuchthaus mit „Willkomm“ und „Abschied“ des überführten Bernsteindiebes; des Fremden aber, der sich ohne Legitimationskarte an den Strand wagte, wartete der „spanische Mantel“ (eine Art Zwangsstuhl) und Gefängniß. Dabei ward noch der Strandeid durch einen Zusatz geschärft, welcher Kinder zur Denunciation ihrer Eltern verpflichtete!! Dieser traurige, widernatürliche Zustand dauerte bis in die neueste Zeit; denn obwohl 1807, bei der Verpachtung des Bernsteinregals an einige Kaufleute, die gehässigen Visitationen und die Verpflichtung der Strandbauern zum Schöpfen und Transportiren des Bernsteins aufhörten, blieb doch der Verkehr am Strande noch immer unter rigoröser Ueberwachung. Erst das Jahr 1837 brachte eine Umkehr der bisherigen Verhältnisse, indem den Strandbewohnern selbst die Nutzung des Bernsteinregals in Pacht gegeben wurde. Damit hörte denn auch für das Publicum die bisher noch immer bestandene Beschränkung in dem Betreten und Benutzen des Strandes auf, und erst von dieser Zeit her datirt der zahlreiche Besuch von Kranz, Neukuhren und den anderen Seebädern an der samländischen Küste. Der Staat zieht jetzt allerdings weniger Gewinn aus seinem Bernsteinregale, aber dieses pecuniäre Minus wird reichlich aufgewogen nicht nur durch die sittliche Hebung der Küstenbevölkerung, sondern auch selbst pecuniär durch manche Einnahmen, die ihm durch die gestiegene Frequenz der Strandbäder erwächst.
Zum Schluß des Artikels sei noch eines Versuches gedacht, den vor ein paar Jahren der Professor Göppert in Breslau gemacht, Bernstein künstlich herzustellen. Er hielt Fichtenharz nebst Fichtenzweigen drei Monate lang in warmem Wasser von 65–80 Grad. Das Harz roch dann nicht mehr terpentinartig, sondern angenehm balsamisch, wodurch es also dem Bernstein schon näher kam; aber es löste sich noch in Spiritus auf, was der Bernstein nicht thut. Ein anderes Harz, Venetianischer Terpentin, mit Zweigen des Lärchenbaumes ein volles Jahr hindurch fortwährend unter warmem Wasser gehalten, verlor auch die Auflösbarkeit zum Theil, kam also dem Bernstein noch näher; eine Wahrnehmung, welche die Physiker wohl zu noch weiteren Experimenten und Herstellungsversuchen führen wird.
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Aus der geheimen Geschäftswelt Londons. Ein schöner Morgen in der Mitte der Badesaison. Hotel zweiter Classe in Margate, dem nächsten, populärsten oder vielmehr plebejesten See-Badeorte der Londoner Familien, die in Stand und Casse den höchsten unter den niederen, oder den niedrigsten unter den höheren Ständen bilden: kleinere Groß-Kaufleute, größere Kleinhändler oder Shopkeepers, auch wohlhabend gewordene Arbeiter- oder ärmer gewordene reiche Familien, Künstler und Schriftsteller dritter Classe, Eltern mit zu viel heirathsfähigen Töchtern, anständige Junggesellen, denen es an Damengesellschaft fehlt, und so Summa Summarum eine Art Heirathsbureau am Strande des Meeres. In dem Hotel zweiter Classe sitzen eine große Menge junger Damen, denen es bisher an der nöthigen Herrenbekanntschaft fehlte, so daß sie Alle noch hoffen und sich über die Schwestern moquiren, die bereits ihren Mann gefunden.
An diesem schönen Septembermorgen hatte Laura ihren Mann gefunden: Mr. Thomson. Welche Aufregung, welches Kritisiren, welche Conjecturen unter den getäuschten, sitzengebliebenen Damen!
Kaum vor einer Woche waren Mr. Thomson und sein aristokratischer Freund Fortescue angekommen, und schon war Alles vorbei, denn Niemand hatte einen Augenblick geglaubt, daß der aristokratische Freund auch mit Heirathsgedanken umgehe. Die Art von Menschen, zu welcher Fortescue gehörte, war zu sehr bekannt, als daß sich eine Dame auf ihn hätte Hoffnung machen sollen. Diese Zugvögel, die bald hier, bald da herunterkommen, um hier ein Hippchen, dort ein Häppchen aufzupicken, und dann rasch, wie sie gekommen, fortfliegen, diese Kuckuks von einzelnen Herren ohne ein eigenes Nest, sind zu bekannt und kenntlich, als daß Mutter oder Töchter je auf einen solchen fahnden sollten. Aber Mr. Thomson, der geheimnißvolle, simple Mr. Thomson, ließ schon am ersten Tage keinen Zweifel mehr übrig, daß es ihm lediglich und ganz geschäftsmäßig um eine Frau zu thun sei. Er war schweigsam, formell und steif, dick und stark, ein Gefangener in seinen Feiertagskleidern, befangen und auf eine etwas ungeschickte Weise vornehmthuend, also ein Kaufmann aus der City. Auch hielt man ihn sofort für reich und deshalb für einen Gentleman, obgleich manches Gemeine an ihm, namentlich ein unheimliches, nervöses Zwinkern mit den Augen, sehr für das Gegentheil sprach. Wie konnte er unter diesen Umständen so schnell eine Braut finden? und noch dazu eine der schönsten und geistreichsten? Fortescue, der Aristokrat, war der Zauberer. Wenn bei Tische, am Strande, auf Spaziergängen ein Lord oder Bischof oder Millionär genannt ward, pflegte er zu bemerken: „Ich kenne ihn nicht, aber mein Freund Thomson hat seine Bekanntschaft gemacht, glaub’ ich,“ ohne dabei den Freund Thomson, dicht neben ihm, zu fragen. Zuweilen spielte er auch auf Freund Thomson’s Privatresidenz, dessen Besitzungen und Kunstschätze an, ohne sich auf bestimmte Angaben einzulassen. Bemerkte man auf Spaziergängen eine seltene Blume, warf der Aristokrat Fortescue wie bei Seite die Frage hin: „Thomson, Sie haben ja wohl ein Dutzend Varietäten davon in Ihrem Gewächshause?“, ohne daß Thomson deutlich antwortete.
So wurde Thomson, der dicke, gemeine, steife Thomson, berühmt gemacht und zu einer beneidenswerthen Partie erhoben. Die Damen und „zahlreichen Familienväter“ vollendeten, was noch fehlte, ganz nach dem üblichen System günstiger Vorurtheile. Seine Steifheit war Würde, seine Unbeholfenheit Bescheidenheit, seine Schweigsamkeit vornehme Zurückhaltung, sein Augenzwinkern versteckter Witz und Humor. Zwar blieben noch manche bedeutende Zweifel und Mysterien, aber das erhöhte den Reiz nur. Aus den halben Andeutungen und geheimnißvollen Anspielungen des Aristokraten Fortescue reimten sich scharfsinnige Tanten und Mütter folgende Schlüsse zusammen: Thomson hat ein Engros-Geschäft in der City, eine Villa, eine Residenz mit Garten, Treibhaus, Weinkeller u. s. w. in einer reichen, heitern Vorstadt, wie jeder City-Kaufmann, als solcher 800 bis 1000 Pfund jährliches Einkommen, wenn nicht mehr, und ist Willens, sich hier eine Lebensgefährtin zu wählen. – Niemand hatte je eine bestimmte Versicherung für diese ermittelten Thatsachen vernommen, aber die Badegesellschaft war darüber einig. Zweifel galt für Verleumdung. Die seltsamen Winke und Andeutungen des Aristokraten Fortescue waren zu festen Mauern der Ueberzeugung geworden.
Mr. Thomson hatte von nun an blos noch die Wahl. Die jungen Damen waren immer in seiner Nähe, und die älteren in schrecklicher Nähe der Dreißig (darunter und darüber) drängten sich nicht selten einander thatsächlich zurück, um Mr. Thomson’s Rath und Entscheidung über wichtige Tagesfragen einzuholen. Der Kampf wüthete mehrere Tage zweifelhaft, bis er endlich plötzlich entschieden und entschlossen war. Laura Crompton, die beste Sängerin und schönste Sirene der Badegesellschaft, eine der fünf Töchter eines simplen Mr. Crompton, war eines Morgens plötzlich seine Braut. Niemand wußte, wie’s gekommen war, Niemand erfuhr es, da Mr. Crompton mit Familie und Schwiegersohn schon am Tage nach der Verlobung abreiste. Auch der Aristokrat Fortescue war verschwunden.
Genaue Nachfragen der Zurückbleibenden ergaben, daß die Hochzeit schon nach vierzehn Tagen gefeiert werden sollte. Liebe aus Badeorten ist Treibhauspflanze, nicht stark genug, lange Wind und Wetter im Freien zu ertragen. Und so kniete das Liebespaar an einem trüben Octobermorgen vor dem Altare einer Kirche, um sich durch das unlösliche Band der Ehe aneinander zu fesseln, „bis der Tod sie scheide“. Diese Zwei, mühsam sich überredend, daß sie nun Eins seien, fuhren, beneidet von ledigen Dienstmädchen und alten Jungfern, umjubelt von Neugierigen und im Gefolge der Familie Crompton und ihrer Angehörigen, aus der Kirche zum Hochzeitsschmauße, wo Mr. Thomson in feurigen Reden gepriesen und das von Gott vereinte Paar mit Glückwünschen überschüttet ward. Es folgte die übliche englische „Honigmondreise“, die aber der eifrige City-Kaufmann auf vierzehn Tage abkürzte, weil er nicht länger im Geschäft entbehrlich sei. Der noch übrige Honig mußte in der Villa des reichen Kaufmanns, draußen im Westen von London, Kensington, genossen werden. Die Villa war reizend mit ihren neuen Meubles und Ornamenten und Ziergärtchen rings herum. Die junge Frau hielt sich für glücklich. Es fehlte ihr an nichts. Der Mann ging, wie jeder große Geschäftsmann Londons, um zehn Uhr in’s Geschäft, kam gegen sechs Uhr wieder, aß und trank gut, wurde immer liebenswürdiger und mittheilender und spielte den generösen Wirth gegen alle ihre Verwandten. Aber wo blieben die Seinigen? Der zärtliche Ehegatte wußte Fragen nach seinen Angehörigen und seinen Geschäftsangelegenheiten stets auf geschickte und liebenswürdige Weise auszuweichen. Dies spannte freilich ihre Neugierde um so höher. Außerdem fühlte sie mit der Zeit ein Recht, in diese Geheimnisse eingeweiht zu werden. Sie war öfter in Verlegenheit gekommen, wenn sie nach den persönlichen und Geschäftsverhältnissen ihres leiblichen Gatten gefragt worden.
Nach drei Monaten konnte sie diese Ungewißheit nicht mehr ertragen. Sie beschloß, selber Forschungen anzustellen, um zunächst wenigstens zu ermitteln, wo und welcher Art das Geschäft ihres Mannes sei. Als sie eines Morgens von ihm für den Tag heiter Abschied genommen, hüllte sie sich, sobald er die Thür geschlossen und gegangen, in einen dicken Shawl und Schleier und folgte ihm so, daß sie fern genug blieb und ihn doch stets in den Augen behielt. In Piccadilly und besonders am Strand wurde das Gedränge von Wagen und Menschen so arg, daß sie öfter in Gefahr kam, seine Spur zu verlieren. Aber sie hielt ihn fest. Nur als er im Strand die merkwürdigsten Manövers begann, bald stehen blieb, bald vorwärts schoß, bald scheu um sich sah, durch Wagengedränge auf die andere Seite flüchtete, dann wieder herüber u. s. w., wurde es ihr peinlich Angst um’s Herz, theils vor Entdeckung ihres Planes, theils vor dem Geschäft ihres Mannes. Ein dunkeles, aber sicheres Gefühl sagte ihr, daß ihr Mann kein respectables Geschäft treiben könne.
Endlich schoß er rasch in eine der engen, zum Theil verrufenen Nebenstraßen, die vom Strand nach der Themse und in die „Adelphi-Bogen“ hinunterführen, und verschwand mit einem unheimlichen Sprunge durch die offene Thür eines kleinen schmutzigen Hauses, die sich plötzlich hinter ihm schloß, wie in einem Intriguen-Lustspiel auf dem Theater.
Laura, heiß und aufgeregt von physischer und moralischer Bewegung, von Neugier und Angst, daß sie in ihrer demüthigenden Situation entdeckt werden könnte, fühlte in ihren zitternden Knieen und Pulsen eine Anwandlung von Ohnmacht. Sie hielt sich an einer Säule fest und stand da in dumpfer Betäubung, unschlüssig, beinahe unbewußt, bis nach einer Viertelstunde die Thür sich wieder öffnete und drei Figuren langsam und feierlich heraustraten. In dem Einen erkannte sie sofort, obwohl in Lumpen, den Aristokraten Fortescue wieder. Den Zweiten hatte sie nie gesehen. Diese Zwei führten und trugen in der Mitte einen elenden blinden und lahmen Bettler in Lumpen. Die Arme hingen ihm wie abgestorben herunter. Die Beine waren in dicke Lumpen gewickelt und schleppten sich jämmerlich unter dem Körper hin. Sein blasses Gesicht war entstellt, die blinden Augen zwinkerten jämmerlich in die Luft, um einen Strahl Lichtes zu erhaschen. Die blinden Augen zwinkerten – Laura schnappte nach Athem, ihr Hirn schien sich zu drehen. Sie wandte sich mit einem Schrei ab und schloß die Augen. Die zwinkernden Augen des blinden und lahmen Bettlern ließen keine Spur von Zweifel mehr zu. Diese Gewohnheit, Blindheit zu heucheln, war zu individuell und eigenthümlich. Mr. Thomson’s Geschäft gehörte zu den in London sehr mannichfaltigen: durch täuschend erkünstelte, auffallende, Schrecken und Mitleiden erregende Gebrechen Geld zu machen. Mr. Thomson war ein berühmter Kunst-Bettler.
Wallenstein. Der Zug des österreichischen Armeecorps unter dem Befehl des G.-F.-M. Grafen Clam-Gallas durch Sachsen und Baiern nach dem Kriegsschauplatze erinnert an den berühmten Vorfahren dieses Feldherrn, den kaiserlichen General Grafen Gallas im dreißigjährigen Kriege, den Feind und Gütererben des Herzogs von Friedland, und an diesen selbst, welcher seit der durch Schiller erfahrenen eigenthümlichen Namensumtauschung, statt mit seinem eigentlichen Namen Waldstein, mit dem dichterisch erfundenen Wallenstein belegt zu werden pflegt, und endlich an jene böse Zeit, in welcher Oesterreich in ähnlicher Kriegsnoth steckte, wie heute.
Der Name Wallenstein, in so fern praktisch, weil er nur dieses eine Individuum bezeichnet, war lange ein geächteter, und erst die Geschichtsforschung der Neuzeit ist ihm gerecht geworden. Die Gartenlaube brachte in Nr. 50. des Jahrganges 1857 in dem Aufsatze „des Friedländers Schloß“ ein ziemlich düsteres Bild des berühmten und berüchtigten Kriegshelden. Ihre Unparteilichkeit gestattet, auf eine mildere Auffassung dieses vielbesprochenen Charakters hinzudeuten. Aus einem kleinen, gut geschriebenen, in der Baumann’schen Buchhandlung in Wunsiedel erschienenen Buche: „Wallenstein und sein letzter Tag in Eger, von O. V. Richter“, worin der Friedländer mit historischer Kritik unparteiisch beurtheilt wird, gewinnt der Leser die wohlthuende Ueberzeugung, daß der Mann lange nicht so schlimm war, als er ausgeschrieen worden ist. Das werthvolle Büchlein ist auch denen zu empfehlen, welche beim Besuch der böhmischen Bäder Eger berühren und sich das Haus, worin Wallenstein ermordet wurde, und die Ruinen des Schlosses zeigen lassen. Das „in der Geschichte schwankende Charakterbild“ Wallenstein’s gewinnt hier an Festigkeit und menschlicher Färbung. Die Geschichte übernimmt ihr von der Poesie zeither verwaltetes Amt, „ihn unserem Herzen näher zu bringen“. Es ist ein schöner Triumph der Wissenschaft, ein Ungeheuer verbannt und dafür einen Menschen eingeführt zu haben.
- ↑ Wörtliche Aeußerungen von Schleiermacher über den jungen Börne.
- ↑ Als Probe aus den plattdeutschen Gedichten von C. Tannen.
- ↑ Der Kessel ist ein weiter Sack, welcher vom mittelsten, breitesten Stück des Netzes abgeht und sich nach hinten verengt. In diesen müssen beim allmählichen Emporziehen des Netzes zuletzt alle gefangenen Fische hineingerathen.
- ↑ Vergl. „die freie Rede“ von Fr. Gerstäcker in Nr. 26. d. Bl.
- ↑ Selbstverständlich hielten sie wohl auch diesen Grundsatz beim Geschichtsunterrichte fest – ein beschämendes Spiegelbild für die gegenwärtige Art desselben in Frankreich!