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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[421]

No. 30. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Volkesstimme.

Criminalgeschichte von J. D. H. Temme.
(Schluß.)

Als nach dem ersten Feuerrufe die Zelle, in der Ansos Szellwat mit mehreren Gefangenen faß, geöffnet war, hatten dieselben zum Zweck des Löschens und Reitens zusammengehalten; ihn jedoch hatte von dem Momente an kein Einziger wieder gesehen; er war verschwunden geblieben. Die später in dem Schutthaufen aufgefundenen männlichen Leichname waren sämmtlich erkannt; der seinige war nicht darunter. Er mußte also während des Brandes entkommen sein.

Auch Madline Lenuweit war seit dem Feuer spurlos verschwunden. Aber von ihr wurde vermuthet, daß sie in den Flammen ihren Tod gefunden habe. Eine Gefangene hatte sie während des Brandes gesehen; sie war in einem der langen Corridore des brennenden Gebäudes wie eine Wahnsinnige umhergerannt. Es schien, daß sie den Ausweg durch Rauch und Flammen nicht habe finden können. Die Gefangene hatte ihr zugerufen, sie hatte aber den Ruf nicht gehört; sie mußte die Besinnung verloren haben. In derselben Gegend wurde später unter den verbrannten Trümmern ein vollständig verkohlter weiblicher Leichnam gefunden. Erkennen konnte ihn Niemand; aber er konnte nur der ihrige oder freilich auch der einer gleichfalls seitdem vermißten Szamaitin sein.

Gleich nach dem Brande waren hinter Ansos Szellmat Steckbriefe erlassen worden, und zur Vorsorge auch hinter Madline Lenuweit; sie waren aber ohne Erfolg geblieben, – selbst da noch, als ich einige Jahre später nach Litthauen kam, und auch, als ich mehrere Jahre nachher aus der Provinz wieder versetzt wurde. – Die Geschichte von Ansos Szellwat und Madline Lenuweit hatte ich oft gehört und als eine vielfach interessante selbst in den Acten gelesen. Sie stand heute wieder lebendig vor mir. Um so lebendiger, je mehr die Angst mich ergriff, daß ich jetzt, nach Jahren, die Verbrecher wieder gefunden habe, daß Madline Lenuweit, die unglückliche Verführte, in dem Wagen vor mir sitze, das blasse, von Angst und Schmerz verzehrte liebende Weib, die Mutter des Säuglings, der an ihrer Brust schlummerte. Ich wagte nicht, sie anzusehen, um ihr meinen Verdacht nicht zu verrathen, und doch wollten meine Augen nicht von ihr lassen. Ich hatte hundert Mal die Namen Madline Lenuweit und Ansos Szellwat auf der Zunge, aber ich konnte sie nicht aussprechen. Und ich mußte es doch einmal. – Ich fuhr zwei angstvolle Stunden mit der unglücklichen Frau. Aber ihre Angst war noch größer, als die meinige. Wir kamen endlich in dem Dorfe an, in welchem Heimann gefangen gehalten wurde. Er befand sich noch in dem Gemeindehause, von der Menge bewacht. Aber diese hatte seit der Ankunft der schon vor mir eingetroffenen Gensd’armen, die mich angekündigt hatten, sich ruhig verhalten. Es muß hart kommen, wenn das deutsche Volk zur wirklichen Ausübung der Lynchjustiz greifen soll. Als ich versicherte, daß sofort schleunige und unparteiische Untersuchung erfolgen und den Schuldigen strenge Strafe treffen werde, wurde der Gefangene mir ohne alle weitere Widerrede ausgeliefert. Am eifrigsten für die Auslieferung sprach der kleine, alte Bauer, der zuerst bei mir den Verdacht der verübten Diebstähle auf Heimann zu lenken gesucht hatte. Er war mit vielen anderen Befohlenen da, und er hatte jetzt Muth, wie ein Löwe.

„Der Herr weiß Alles,“ versicherte er der Menge. „Ich habe ihm Alles mitgetheilt und wir können uns ruhig auf ihn verlassen. Der Dieb, der Räuber wird seiner Strafe nicht entgehen. Ja, Volkesstimme ist Gottesstimme. Und gezeichnet hat Gott den Menschen mit dem echten, richtigen Kainszeichen.“

„Ja,“ sprachen die Anderen ihm nach, „das Kainszeichen trägt er im Gesichte, und Volkesstimme ist Gottesstimme.“

Sollten sie Recht haben, wenn gleich nach einer ganz anderen Richtung hin, als sie meinten?

Ich verfuhr sofort mit der Untersuchung über den Vorfall der Nacht und nahm die Verhandlungen in dem Gemeindehause des Dorfes vor, streng nach den Vorschriften des Gesetzes. Namentlich mußten sämmtliche Personen, außer den jedes Mal zu vernehmenden, sich entfernen. Ich begann mit dem Verhöre des angeblich zuletzt Bestohlenen, Keller mit Namen. Er war ein kleiner, feiner, frommer, stiller, milder Mann. Man mußte ihn sehr genau und scharf ansehen, um in dem heilig gen Himmel empor oder demüthig zur Erde niederschauenden und daher jedes Menschen Blick meidenden Auge die tiefe, lauernde Verschlagenheit zu entdecken. War er der Dieb und nicht der Bestohlene, so hatte ich jedenfalls einen schweren Stand mit ihm.

„Sie sind heute Nacht bestohlen?“

„Ja, und dazu räuberisch überfallen.“

„Erzählen Sie den Hergang.“

„Ich habe mir mit Gottes Hülfe ein kleines Capital gespart. Die Welt ist schlecht; man hört überall von Diebstählen. Ich wohne hier allein, am Ende des Dorfes, da muß ich mein Geld verwahren, so gut ich kann; daher vergrub ich es in meinem Garten, an einer Stelle, an der kein Mensch Geld vermuthete; denn in meinem Hause konnte man es überall suchen.“

„Wo war die Stelle?“ unterbrach ich ihn.

„In einem Blumenbeete nahe am Hause. – Heute Nacht [422] nun wurde ich auf einmal wach. Meine Stube liegt nach dem Garten hin. Ich meinte, in dem Garten ein Geräusch zu hören, dicht unter meinem Fenster. Dort war das Beet, in dem ich mein Geld vergraben hatte. Ich sprang auf. Da sah ich einen Menschen, der in der Richtung von dem Beete fortlief. Ich erkannte ihn in der Dunkelheit nicht; aber er mußte mich bemerkt haben. Er lief fort und sprang über die Gartenhecke. Dann sah und hörte ich nichts mehr von ihm. Ich wartete noch eine halbe Stunde. Nun mußte ich aber wissen, ob ich bestohlen sei oder nicht. Ich ging in den Garten, nach dem Beete. Die Erde war aufgewühlt, an der nämlichen Stelle, an der ich mein Geld verborgen hatte. Ich mußte mich überzeugen, ob es noch da sei. Ich eilte in das Haus zurück, holte einen Spaten und grub die Erde weiter auf. Das Geld war noch da; ich hatte den Dieb unterbrochen. Aber es war einmal verrathen und ich nahm es zu mir, um es in das Haus zu tragen. In demselben Augenblicke erhielt ich einen Schlag in den Nacken, und der Beutel, in dem mein Geld war, wurde mir aus der Hand gerissen. Der Mensch, den ich vorher gesehen, mußte in der Nähe des Gartens geblieben und, als ich den Spaten holte, wieder hineingekommen sein. Während ich dann grub, hatte er sich an mich herangeschlichen, um mich des Geldes zu berauben. Nachdem er nun im Besitz desselben war, wollte er damit fortspringen, aber ich hatte ihn trotz des Schlages schon gefaßt, hielt ihn fest und rief um Hülfe. Er suchte sich loszureißen, aber es gelang ihm nicht; denn ehe er entkommen konnte, waren die Nachbarn da, und er mußte sich ergeben. Wir erkannten in ihm den Bauer Heimann. Das Geld wurde von den Nachbarn selbst noch in seinen Händen gefunden. Er hatte die freche, gottlose, aber, Gott sei Dank, einfältige Ausrede, ich hätte ihm das Geld gestohlen und er habe nur sein Eigenthum wiedergeholt.“

Das war die Erzählung des frommen Mannes. Sie war innerlich glaubwürdig, denn sie wurde mit allen Zeichen der Wahrheit vorgebracht. Ich selbst hätte, wenn ich nicht vor vier Nächten in dem Heimann’schen Hause gewesen wäre, in sie keinen gegründeten Zweifel setzen können, dagegen die Behauptung des Heimann, er habe nur sein ihm gestohlenes Eigenthum zurückholen wollen, für eine nicht seltene, aber in der That eben so freche, wie einfältige Diebesausrede halten müssen. Wie um so mehr fest und unerschütterlich mußte die Ueberzeugung der Leute sein, die in Keller nur den frommen, wohlthätigen Mann, in Heimann aber nur einen von Gott gezeichneten Dieb sahen! Die Ermittelung der Wahrheit mußte mir hier sehr schwer werden. Ich hatte bis jetzt nur wenige Fragen an den frommen Mann.

„In welcher Weise konnte an Heimann die Stelle verrathen sein, wo Sie Ihr Geld vergraben hatten?“

„Ich habe zuweilen in der Nacht, wenn ich mich allein glaubte, nach meinem Gelde gesehen. Der Spitzbube, der wußte, daß ich manchmal armen Leuten aus der Noth helfe, also Geld haben muß, mag schon lange um mein Haus herum spionirt haben.“

Die Angabe war glaublich.

„Seit welcher Zeit haben Sie das Geld draußen vergraben?“

„Seit einem halben Jahre, seitdem die vielen Diebstähle in der Gegend vorkommen.“

„Wie viel betrug die gestohlene Summe?“

„Gerade dreihundert Stück preußische Friedrichsd’or.“

„Lauter Preußische Goldstücke?“

„Es war kein fremdes darunter.“

„Seit wann hatten Sie die Summe liegen?“

„Ich habe sie schon vor neun Jahren mit hierher gebracht. Sie sollte mein Nothpfennig bleiben, der nicht angerissen wurde.“

Da mußte ich ihn haben. Es wäre ein kaum anzunehmender Zufall gewesen, wenn unter den dreihundert Goldstücken sich nicht ein einziges mit der Zahl eines der letzten acht Jahre gefunden hätte. Allein der fromme Mann war gewandt. Ruhig und unbefangen setzte er, fast ohne daß er sich unterbrochen hatte, hinzu:

„Aber ich habe eine Eigenheit; ich liebe die neuen, blanken Goldstücke, und wenn ich welche einbekam, so vertauschte ich damit ältere.“

Ich schritt zur Vernehmung Heimann’s. Es war auffallend, wie er mir gegenüber trat. Wer ihn nicht kannte, wer nichts von meinem Verdachte gegen ihn wußte, konnte in seinem Benehmen nur das Bewußtsein des schuldigen und auch seiner Ueberführung gewissen Diebes finden. Er war ängstlich, gedrückt und konnte mich nur scheu ansehen. Ich hielt ihn dennoch für unschuldig an dem Diebstahle, und von meinem früheren Verdachte in Betreff seiner früheren Verbrechen konnte er nichts wissen. Ich hatte ihn gegen keinen Menschen geäußert, am allerwenigsten gegen ihn oder seine Frau. Letztere hatte er übrigens seit gestern nicht wieder gesehen. Sein Benehmen war mir gleichwohl erklärlich und eine Bestätigung meines Verdachtes. Er war bei aller seiner Verschlagenheit, bei allen seinen Verbrechen muthig und rasch entschlossen und zugleich ein Mensch, in dem ein besseres Gefühl nicht ganz ausgestorben war. Schon jene Alles aufopfernde und Alles wagende Liebe für das Mädchen, das er verführt hatte, für seine Frau zeigte das. Solche Menschen können – ich hatte das oft erfahren – niemals lange dem Criminalrichter, dem Inquirenten gegenüber den Standpunkt des frechen Leugnens festhalten; ihr besseres Selbst trägt bald den Sieg über ihre Verbrechernatur davon. So war es unstreitig auch ihm früher ergangen. Er kannte sich. Schon das Gefühl, sich wieder in den Händen eines Inquirenten zu sehen, drückte, ängstigte ihn jetzt wieder. Allein ich inquirirte ihn nur über den Diebstahl, und er ermannte sich bald, denn hier fühlte er sich unschuldig.

„Sie werden beschuldigt, heute Nacht einen Raubanfall gegen den Einwohner Keller verübt zu haben.“

„Herr Director, darf ich jener Nacht erwähnen?“ fragte er und zeigte dabei auf meinen Protokollführer.

„Gewiß.“

„Ich hatte Ihnen damals gleich gesagt, daß ich Verdacht hätte, wer der Dieb sei.“

„Sie hatten es.“

„Ich hatte Ihnen auch meine Verdachtsgründe angegeben.“

„Ich erinnere mich.“

„Der Einwohner Keller war der Mann, von dem ich sprach. Um mich zu überzeugen, ob ich Recht hatte, habe ich seitdem Nacht für Nacht an seinem Hause auf Wache gestanden. Ich dachte mir, der alte Dieb, der für sich allein lebt und nichts verzehrt, sei auch ein alter Geizhals, der seine zusammengestohlenen Schätze sich besehen und nachzählen müsse. Das werde er nur des Nachts thun, wenn er sich allein und vor Störung sicher glaube. Ich wollte ihn dabei ertappen, ihn überfallen und so wieder zu dem Meinigen kommen. Auf einem anderen Wege hätte ich es nicht wieder erlangt. Zwei Nächte wachte ich vergebens. Heute Nacht kam es, wie ich gedacht hatte, doch nicht ganz so. Der Dieb hatte nicht gewagt, das gestohlene Gut in seinem Hause zu verwahren; er hatte es draußen in seinem Garten vergraben, freilich gerade unter dem Fenster, an dem er schlief. In der Nähe dieses Fensters wachte ich. Es war auch heute Nacht dunkel in seiner Stube, wie in den beiden Nächten vorher. Aber bald nach Mitternacht hörte ich leise eine Thür im Hause gehen. Gleich darauf kam der Alte heraus in den Garten. Ich dachte anfangs, er wolle durch den Garten auf neue Verbrechen ausgehen; aber er blieb in der Nähe des Hauses und ging blos bis unter das Fenster seiner Schlafstube. Er hatte einen Spaten bei sich und fing an, mit demselben in dem Beete unter diesem Fenster zu graben. Nun wußte ich, was er wollte. Ich hielt mich in meinem Versteck ruhig, bis er mit Graben fertig war. Er hob etwas aus der Erde hervor. Ich zweifelte nicht, daß es mein Geld sei. Jetzt sprang ich auf ihn zu, entriß ihm mein Geld und wollte nun damit fort, aber er hielt mich fest und rief um Hülfe. Auf diesen Hülferuf kamen die Nachbarn herbei, und ehe ich mich von ihm losmachen konnte, hatten diese mich gefangen.“

Diese Erzählung klang für Jeden, der das Vorhergegangene nicht kannte, völlig erfunden; mir war sie desto glaubhafter. Auch der Protokollführer schenkte ihr Glauben, nachdem ich ihm meine Abenteuer in dem Heimann’schen Hause mitgetheilt hatte. Allein hier, zumal für den Augenblick, kam es auf etwas Anderes an. Die noch immer draußen harrende Menge mußte von der Wahrheit überzeugt werden, und nicht blos, um sie für den Augenblick zu beruhigen. Unzweifelhaft lag, wenn ich das von mir selbst Erlebte zu den Acten gab, die Sache schon jetzt so, daß kein Gericht Heimann als den Dieb bestrafen würde. Gleichwohl erklärte das allgemeine, tief und fest eingewurzelte Vorurtheil des Volkes ihn für den Dieb. Dieses Vorurtheil hielt dann jenen Richterspruch für einen ungerechten. Der Glaube an das Recht erlitt eine tiefe Erschütterung, – das schwerste Unglück, von dem ein Land betroffen werden kann! Das geheime Verfahren in der verschlossenen Inquirentenstube war nicht geeignet, das Vorurtheil zu vernichten, die Wahrheit zur allgemeinen Kenntniß zu bringen. Und doch lag mir [423] Alles daran. Ich hatte zwar ein Mittel in der Hand: die an Ort und Stelle in dem Heimann’schen Garten von mir selbst aufgenommene Abbildung von dem Fuße des wahrscheinlichen Diebes. Ich hatte sie vorhin mit’ dem Fuße Keller’s nicht verglichen, um nicht dem vielleicht Unschuldigen einen kränkenden Verdacht zu zeigen. Ich mußte zuvor die Vergleichung an Heimann vornehmen. Ich that dies. Sie paßte nicht. Heimann hatte einen weit größeren Fuß. Der Keller’s war, wie flüchtige Blicke mich schon vorläufig überzeugt hatten, kleiner, und zu ihm konnte die Abbildung wohl passen. Aber wenn sie auch auf das Genaueste paßte, was hatte ich gegen das Vorurtheil der Leute damit gewonnen? Ihnen war es ja geradezu unwahrscheinlich, daß Keller bei Heimann gestohlen habe. Und wie gern und leicht bricht das einmal erwachte Mißtrauen über alle Schranken hinaus! Ich hatte die Abbildung für mich allein aufgenommen; kein Mensch war dabei zugegen gewesen. Ich selbst, ich am meisten, mußte in den Verdacht einer mein ganzes künftiges richterliches Wirken vernichtenden Parteilichkeit gerathen. Es war wohl nur ein glücklicher Zufall, der mir einen anderen Gedanken gab. Ich vernahm zunächst noch die Nachbarn Keller’s, die sein Hilferufen gehört hatten und als die ersten zu seiner Hülfe herbeigeeilt waren. Ich erfuhr von ihnen nichts Neues, nichts, was zur näheren Auskunft der Sache dienen konnte. Sie hatten in dem Keller’schen Garten, auf einem Blumenbeete unmittelbar am Hause, Keller und Heimann miteinander ringend angetroffen. Keller hatte Heimann gehalten, und Letzterer hatte bei ihrer Ankunft keinen Versuch weiter gemacht, zu entkommen. Keller hatte behauptet, Heimann habe ihm sein Geld geraubt; dieser dagegen hatte gesagt, daß Keller ihn bestohlen und er nur sein Eigenthum wieder geholt habe. Das Geld war in Heimann’s Händen gefunden worden. Die Leute waren empört über die freche Aussage des auf der That ergriffenen Räubers, der einen braven, allgemein geachteten Mann zum Diebe machen wollte. Die Empörung war eine allgemeine; doch hoffte ich, sie bald vernichten zu können. Keller hatte nach Beendigung seines Verhöres in dem Gemeindehause bleiben müssen. In seine Wohnung hatte ich gleich nach meiner Ankunft im Dorfe ein paar Gensd’armen zur Bewachung gesandt.

Ich ließ den angeblich Beraubten wieder vorkommen. „Sie werden mich zu Ihrer Wohnung führen.“

„Sehr wohl, Herr Director.“

„Und die Stelle anzeigen, wo Sie Ihr Geld vergraben hatten.“ „Die Erde liegt dort noch umher.“

„Haben Sie in derselben Gegend noch mehr Geld oder Kostbarkeiten vergraben?“

Er zuckte eben so unwillkürlich wie unmerklich mit den Augen, aber er antwortete ruhig: „Das war mein ganzes Bischen Armuth.“ Ich ließ den alten kleinen Bauer vorkommen, der vor mehreren Abenden mich zuerst auf Heimann aufmerksam gemacht und heute das größte Wort geführt hatte. Keller mußte in der Verhörstube bleiben. Ich befragte das alte Bäuerlein. „Es ist ein Vierteljahr her, daß Ihr bestohlen seid?“

„Ja, Herr.“

„Nach Eurer Angabe sind Euch ungefähr achtzig Thaler gestohlen?“

„Achtzig Thaler, Herr, und ein goldener Ring.“

„In welchen Münzsorten war das Geld?“

„Es waren Thalerstücke. Zwei Mannsfelder Thaler waren darunter.“

„Wie hattet Ihr das Geld verwahrt?“

„Es lag in einem alten ledernen Beutel.“

„Ist der Beutel mit gestohlen?“

„Ja, Herr.“

„Wie sah der goldene Ring aus?“

„Es war der Trauring meiner seligen Frau, die Buchstaben F. K. waren hineingegraben.“

Der Einwohner Keller war während dieses kurzen Verhörs auffallend unruhig geworden. Er blickte fortwährend fromm zum Himmel empor und demüthig zur Erde nieder.

„Ihr begleitet mich zu dem Keller’schen Hause,“ fuhr ich zu dem alten Bauer fort.

„Wie der Herr befiehlt“

„Ihr könnt mir auch einen Gefallen thun.“

„Von Herzen gern, Herr.“

„Es werden noch mehrere Personen anwesend sein, die in letzterer Zeit bestohlen sind.“

„O, genug, Herr.“

„Ihr könnt sie mitbringen.“

„Sie werden mitkommen.“

„Laßt uns aufbrechen.“

Der angeblich Beraubte war noch einen Augenblick sehr blaß geworden, dann zeigte er auf einmal die größte Ruhe und Sicherheit? Wußte er sich wirklich sicher? Oder hatte er sich mit jenem stillen, halb verzweiflungsvollen Trotze bewaffnet, mit welchem der Verbrecher der drohenden Gefahr der Entdeckung gegenüber sich und Andere sicher zu machen sucht?

Wir brachen nach seiner Wohnung auf. Draußen vor dem Gemeindehause harrte erwartungsvoll die Menge. Der kleine alte Bauer war schon in sie hineingestürzt, mitzutheilen, daß ich zu der Wohnung des Beraubten wolle, und in meinem Auftrage seine ebenfalls bestohlenen Genossen zur Begleitung dahin aufzufordern. Eine brennende Neugierde verzehrte die sämmtlichen Anwesenden, was ich in dem Hause wolle, was die Bestohlenen dort sollten. Hunderte von Menschen folgten uns nach dem Hause. Das hatte ich gewollt. War ich auf der richtigen Spur, so konnte ich nicht Zeugen genug haben. Ich ging an dem Hause Keller’s vorbei und begab mich sofort in den Garten. Keller, der kleine Bauer, die anderen Bestohlenen mußten mir hineinfolgen. Die Menschenmenge mußte draußen bleiben. Sie kletterten neugierig auf die Hecken, in die Bäume der Nachbargärten. Sie wollten Alles sehen, was in dem Garten passirte, und sie sollten Alles sehen. Heimann hatte ich in dem Gefängnisse des Gemeindehauses unter Wache zurückgelassen. Ich ging mit den Personen, die mir in den Garten gefolgt waren, zu der Stelle, wo das Geld vergraben gewesen war. Sie war unmittelbar unter einem Parterrefenster des Hauses. Das Fenster gehörte zu der Wohnstube Keller’s, die ihm zugleich zum Schlafgemach diente. Es zog sich dort ein schmales Blumenbeet an dem Hause vorbei. Die Blumen waren sorgfältig gepflegt, und mehrere an kleine weiße Stäbe angebunden. Ich besichtigte zuerst den Platz, wo das Geld gelegen hatte. Es war nur ein kleines Loch in die Erde gegraben, die aufgeworfene Erde lag noch daneben. Das aufgeworfene Loch befand sich gleich rechts an einem Rosenstock. Der Rosenstock gehörte zu denjenigen Blumen, die an die kleinen, weißen Stäbchen angebunden waren.

„Dort war Ihr Geld vergraben?“ fragte ich den Eigenthümer des Hauses und des Gartens, indem ich auf das Loch zeigte.

„Ja, Herr.“

„Und Sie haben in diesem Garten, in diesem Beete, kein anderes Geld, keine sonstigen Kostbarkeiten vergraben?“ „Nein, Herr, ich sagte es Ihnen schon.“ Er sprach mit jener wirklichen oder ertrotzten Sicherheit.

Drei Fuß von dem Rosenstock stand ein Büschel Schwertlilien, sie waren gleichfalls an ein kleines weißes Stäbehen gebunden. Ich ging hin und winkte einen der Gerichtsexecutoren herbei. „Executor, nehmen Sie den Spaten.“

Einer der Gensd’armen, die ich zur Bewachung des Hauses hingeschickt, hatte den Spaten, mit dem das Loch gegraben war, in Verwahrung genommen, er gab den Spaten dem Executor. „Graben Sie hier ein Loch, Exccutor.“ Ich zeigte nach dem Büschel Schwertlilien.

Die Bestohlenen sahen mich und dann sich untereinander verwundert an.

„Was mag er wollen?“ fragten sie sich leise. Sie fragten es lauter.

„Was ich will?“ nahm ich mit erhöhter Stimme das Wort. „Der Mann, den wir Alle jetzt für den Dieb und Räuber halten, behauptet, nicht er, sondern dieser, den wir für den Bestohlenen halten, sei der rechte Dieb. Die Gerechtigkeit, ehe sie einen Menschen verurtheilt, fordert, daß Alles untersucht werde, auch Alles, was der Angeschuldigte behauptet, und sollte es Anderen noch so ungereimt klingen. Man ist ihm das schuldig. Seit einem halben Jahre sind in dieser Gegend mehrere Diebstähle vorgefallen. Ihr Alle vermuthet, und die Vermuthung hat viel für sich, daß überall eine und dieselbe Person der Thäter sei. Ist nun die Behauptung Heimann’s richtig, daß Keller ihm sein Gelo gestohlen habe, so hat Keller auch andere Diebstähle verübt. Dann muß sich ferner auch Folgendes finden: Wie der Dieb, um seiner Sicherheit willen, namentlich wenn bei ihm eine Haussuchung stattfinden sollte, jene [424] dreihundert Goldstücke hier in dem Garten vergraben hatte, wo kein Dritter sie vermuthen konnte, so wird er auch das übrige gestohlene Gut hier verborgen haben. Und wie das weiße Stäbchen, an das die Rose dort festgebunden ist, ihm zum Wahrzeichen für das Wiederfinden dienen konnte, so kann es auch mit den anderen Stäbchen der Fall sein. Graben Sie, Executor.“

Die Bauern wollten mich wohl kopfschüttelnd ansehen. Aber als sie dann den angeblichen Beraubten, Keller, ansahen, wie den frommen Mann unterdeß auf einmal alle seine Ruhe, all sein Trotz verlassen hatte, wie er leichenblaß geworden war, wie er zitierte, und wie er sogar vergaß, fromm zum Himmel und demüthig zur Erde zu blicken, da schüttelten sie die Köpfe nicht mehr, ihre Gesichter wurden bedenklich, sie wurden sehr still und sahen mit der gespanntesten Erwartung nach dem Executor mit dem Spaten. Und auch rund um den Garten, wo man meine Worte gehört hatte, war die tiefste, erwartungsvollste Stille eingetreten.

„Hier rechts von der Blume graben Sie, Executor.“

Ich sprach es laut, daß Alle es hören konnten. Der Executor grub. Keller wurde zusehends blässer, und ich um so sicherer, daß ich auf der richtigen Spur war.

„Drei Fuß rechts von der Blume, Executor. Gerade so weit war auch jenes Geld von der Rose entfernt.“

Keller konnte sich kaum noch aufrecht erhalten. Der Executor hielt an mit Graben.

„Was gibts?“

„Ich stoße auf etwas Hartes.“

„Graben Sie es los.“ Er grub weiter.

„Es ist ein Topf.“

„Nehmen Sie ihn heraus.“

Er holte einen Topf aus der Erde hervor und übergab ihn mir. Ich nahm den Deckel ab. In dem Topfe lag ein lederner Beutel, den ich herauszog. Er war gefüllt. Ich hielt ihn in die Höhe, daß Alle ihn sehen konnten.

„Mein Beutel!“ rief der alte kleine Bauer, der heute das größte Wort geführt hatte.

„Irrt Ihr Euch nicht?“

„Mein Beutel! Es müssen achtzig Thaler darin sein, gerade achtzig, in harten Thalerstücken, darunter zwei Mannsfelder Bergsegen.“

„Wir werden zählen.“

„Und auch mein Ring muß darin sein, wenn der Spitzbube ihn nicht anders untergebracht hat.“

Ich öffnete den Beutel und zählte das Geld, offen, laut, daß alle Anwesenden folgen konnten.

„Achtzig Thaler, gerade! Und hier sind auch die beiden Mannsfelder.“

Auf dem Grunde des Topfes lag noch ein zusammengewickeltes Papier, das ich gleichfalls vorzeigte.

„Das wird mein goldener Ring sein!“ rief der alte Bauer.

„Beschreibt ihn.“

„Der Trauring meiner seligen Frau, die Buchstaben F. K., müssen darin stehen.“

Ich öffnete das Papier. Ein goldener Trauring lag darin, er trug die Buchstaben F. K. Alle sahen es.

„Mein Ring!“ rief der Bauer.

Die Bauern um mich her standen wie erstarrt. Aber draußen an der Hecke des Gartens brach der Zorn, die Wuth des Volkes desto lauter, stürmischer, wilder los. Zu der Wuth gegen den endlich entdeckten wahren Dieb kam der Zorn, daß sie sich hatten täuschen lassen, daß sie einen Unschuldigen für den Dieb gehalten hatten.

„Der Heuchler, der Schleicher, der Räuber! Er muß gehängt werden! Der höchste Galgen ist für ihn noch nicht hoch genug!“

Der entdeckte Dieb stand vernichtet. Einen Augenblick noch wollte er einen Versuch der Rettung machen. Es war der letzte Versuch der Verzweiflung, der Strohhalm, nach dem der Ertrinkende greift.

„Ich weiß von nichts,“ stammelte er. „Das hat ein Anderer gethan, um mich unglücklich zu machen. Der Heimann selbst –“

Aber da sprang wüthend das kleine alte Bäuerlein vor. „Schurke, Dieb, Räuber! Hat er Dir auch die dreihundert Goldstücke hierher gebracht und hier, recht dicht unter Deinem Fenster vergraben?“

Das Argument war schlagend genug.

„Graben wir weiter,“ sagte ich. „Wir müssen noch mehrere Schätze finden.“

Aber der entdeckte Bösewicht konnte sich nicht mehr halten, und das Volk umher wurde lauter, drohender. Er mußte Gewalt gegen sich, die roheste Gewalt befürchten, wenn er fortfuhr, zu leugnen, und das weitere Nachgraben auch seine anderen Verbrechen herausstellte. Hatte er doch die Volkswuth in gleicher Weise gegen den unschuldigen Heimann aufzustacheln gewußt! Seine letzte Kraft war in ihm gebrochen.

„Ich will Alles bekennen!“ sagte er. „Ich habe auch die andern Diebstähle begangen, ich allein, und all das gestohlene Gut ist hier vergraben, neben den weißen Stäbchen.“

Es fand sich, wie er sagte. Er war ein alter, diebischer Geizhals.

Die Wuth des Volkes war befriedigt. Das Geständniß des Verbrechers hat eine magische Wirkung, es söhnt ihn mit sich und mit den Menschen aus. Das ist die Kraft des sittlichen Elements im Menschen.

Ich ließ den Verbrecher in das Gefängniß des Gemeindehauses abführen. Es konnte ohne Störung geschehen. Die Menge war sogar sehr still geworden. Jener Befriedigung war die Scham über das eigene Unrecht gefolgt, das sie einem Schuldlosen zugefügt hatten.

„Herr,“ trat verlegen das alte, kluge Bäuerlein auf mich zu, „Volkesstimme ist doch nicht immer Gottesstimme. Aber,“ fügte er, sich und die Anderen entschuldigend, bei, „warum trägt der Mensch das Kainszeichen im Gesicht? Denn das hat er, dabei bleibe ich.“

„Ja, das hat er,“ mußte ich unwillkürlich bestätigen. Und ich mußte mich zusammennehmen, um nicht ebenfalls laut hinzuzusetzen: „Und die Volkesstimme ist doch Gottesstimme.“

„Will der Herr den Bauer Heimann nicht freilassen?“ fragte mich der Bauer.

„Ich weiß es noch nicht.“

Die Leute sahen mich wieder erstaunt an. Sie mußten auch die Trauer sehen, die sich meiner jetzt mit doppelter Gewalt wieder bemächtigt hatte.

„Was ist es?“

„Geht nach Hause, Leute. Ihr habt heute den Sieg des Rechts gesehen. Vertraut immer dem Rechte. Es wird zuletzt immer siegen, wenn es auch noch so gewaltsam, noch so lange unterdrückt werden sollte, wenn selbst die es unterdrücken und zu tödten suchen, die es wahren und pflegen sollen. Geht jetzt Alle ruhig nach Hause. – Was hier noch weiter sein wird? Gott gebe, keine neuen Verbrechen.“ –

Sie gingen, ruhig, still. Auch ich ging still, sehr still, aber in mir war es desto unruhiger. Ich ging wieder einer der schwersten Stunden entgegen, die der Criminalrichter für sein Menschenherz hat.

Auch die Frau Heimann hatte ich in dem Gemeindehause zurückgelassen; ich begab mich dahin und ließ die Frau zu mir vorführen. Sie wußte schon, daß die Unschuld ihres Mannes erkannt, daß der rechte Dieb aufgefunden war. Das ganze Dorf wußte es ja. Sie trat mit einer stillen, demüthigen und doch so erhabenen Freude, den schlafenden Säugling auf dem Arme, zu mir ein, die Unglückliche!

Hätte ich nur das Kind aus ihrem Arme entfernen können!

Auf das Haupt einer Mutter den Todesstreich führen, während sie den Säugling auf den Armen trägt, davor bebt selbst der Mörder zurück. Das Amt ist kälter. Es muß es sein.

Das schöne, blasse Gesicht der Frau erblaßte tiefer, als sie den tiefen Schmerz in meinem Gesichte sah. Tauchte die nächste schreckliche Minute in ihrem Herzen auf?

Eine Minute nur, aber die Vernichtung ihres ganzen Lebens! Eine Minute, die sie von ihrem Gatten, von ihren Kindern, von dem Säugling an ihrer Brust, die sie von dem Leben, von Allem riß, von Allem, nur nicht von den entsetzlichen Mauern des Zuchthauses! Ich konnte sie, ich konnte mich nicht länger martern.

„Heißen Sie Madline Lenuweit?“ fragte ich sie.

Ich hatte mir Gewalt anthun müssen, mit meiner zitternden Stimme die Worte auszusprechen.

Sie brachten einen furchtbaren Eindruck auf die Frau hervor. Sie sah mich starr an. Ihr ganzer Körper war erstarrt, nur die Hände, mit denen sie das Kind hielt, drückten sich krampfhaft zusammen.

„Und Ihr Mann,“ mußte ich unbarmherzig fortfahren, „heißt Ansos Szellwat?“

„Allmächtiger Gott!“ schrie sie.

Das Kind glitt aus ihren Armen; sie fiel nieder. Ich nahm das Kind auf.

[425] 

Der Marienfelsen auf Großskal bei Turnau in Böhmen.

[426] Sie sprang wieder empor. „Gnade, Gnade!“ rief sie. „Gott im Himmel, lieber, lieber Gott im Himmel, sei du gnädig!“ Sie warf sich zu Boden, und umfaßte meine Kniee. „Herr, Herr! lieber Herr! O, haben Sie Gnade, haben Sie Barmherzigkeit mit meinem Mann, mit mir, mit meinen Kindern!“

Es war ein entsetzlicher Augenblick. Es war mir, als müßte ich mit der Frau zusammenbrechen. Sie faßte sich. Das Weib, die Mutter, sie haben eine ungeheure Kraft in ihrem Herzen.

„Herr, Herr, Sie wissen Alles! Ja, wir sind die Verbrecher. Aber seien Sie barmherzig! Seien Sie gnädig! Gegen meinen Mann, wenn Sie es gegen mich nicht sein können. Er that ja Alles nur für mich, nur aus Liebe zu mir. Und er ist wieder so brav geworden. Wir waren fünf Jahre drüben über dem weiten Meere. Wie hat er gearbeitet, sich gequält, nur für mich! Für meine Tage wollte er sorgen, wenn er nicht mehr bei mir sein könnte. O, er dachte oft an diese Stunde, an das, was jetzt geschehen ist. Aber anders. Nur ihn, meinte er, müsse es treffen, er könne seiner Strafe nicht entgehen, er fühlte es. Sein schweres Verbrechen brannte ihn. Das Feuer! Und nur für mich hat er es begangen! Und er war so ehrlich geworden, so treu! Kein ungerechter Pfennig ist an dem Gelde, das er erworben, so sauer erworben hat. Und nur um meinetwillen ist er hierher zurückgekehrt. Ich konnte es in dem fremden Lande nicht mehr aushalten, so weit, weit weg. Ich mußte wieder näher bei der Heimath sein. Und ich habe ihn in das Unglück gebracht! – Herr, Herr, seien Sie barmherzig! Können Sie es denn nicht sein?“

Ich konnte es nicht sein. Aber ich konnte auch den Anblick des Unglücks, der Verzweiflung der Frau nicht mehr ertragen und ließ sie abführen, um – Zeuge einer neuen Verzweiflung zu werden!

Ich mußte auch ihren Mann, Heimann, Ansos Szellwat, vernehmen; er war noch in der Haft, in dem nämlichen Gemeindehause. Ich wollte ihn vorführen lassen, aber ich war selbst zu sehr angegriffen und mußte mich zuerst einige Minuten erholen; dann befahl ich einem Executor, den Bauer Heimann aus seinem Gefängnisse herbeizuholen.

Ich sollte nicht mehr Zeuge der Verzweiflung des Unglücklichen sein. Seine Frau war, als sie aus dem kurzen Verhöre zurückgeführt wurde, an seinem Gefängnisse vorbeigekommen und hatte ihm rasch durch die verschlossene Thür einige Worte in einer fremden, unbekannten Sprache zugerufen, in jener fremden Sprache, in der die Beiden, wenn sie sich ganz allein und unbelauscht glaubten, heimlich mit einander geredet hatten. Sie hatte ihm jetzt offen und laut darin zugerufen, Worte des Todes in den Lauten ihres Landes, ihrer Eltern, ihrer Kindheit, ihres Glückes, ihrer Herzen!

Als der Executor, der ihn zu mir führen sollte, die Thür seines Gefängnisses öffnete, fand er den Unglücklichen in dem Gefängnisse erhängt; er war schon eine Leiche.

Seine Frau, Madline Lenuweit, sollte den Gerichten ihrer Heimath ausgeliefert werden; aber ihr Herz war gebrochen. Jene Schläge waren für die seit Jahren leidende Frau vernichtend gewesen. Sie starb nach wenigen Wochen. –

Ist Volkesstimme immer Gottesstimme?




Der Marienfelsen auf Großskal bei Turnau in Böhmen.

Wie die Städte ihre Promenaden, so haben landschaftlich begünstigte Länder ihre Touristen-Bahnen mit einer Exclusivität gebildet, welche nicht immer in dem überragenden Reize der conventionell besuchten Punkte, sondern in mancherlei äußerlichen Begünstigungen, namentlich in bequemen Communicationsmitteln ihren Grund hat. Abseits von ihnen liegen oft die anmuthigsten und großartigsten landschaftlichen Formen, in die nur der Zufall den Schritt einzelner Wanderer leitet, bis die Verkehrsverhältnisse auch sie weitem Kreisen erschließen.

Das beiliegende Bild – der Marienfelsen auf Großskal – zeigt uns einen dergleichen Punkt aus vielen in einer bisher wenig bekannt gewordenen überaus schönen Gegend des an solchen sehr reichen Böhmerlandes. Der Standpunkt des Zeichners ist ein beschränktes Plateau auf einem etwa 180 Fuß hohen auf 3 Seiten isolirten, und nur von einer Seite bequem zugänglichen Felsen.

Rechts von demselben erblicken wir im Mittelgründe das Schloß Großskal. Nach ihm ist das ganze dem Freiherrn Johann von Aehrenthal gehörige Besitzthum genannt, in dessen weiten Wald- und Feldrevieren wir uns befinden. Der Name ist bezeichnend, denn Skála ist die czechische Benennung für Felsen; und in der That steht das auch historisch sehr bedeutende Schloß auf dem mächtigsten derselben in dieser interessanten Sandsteinformation.

Die Mitte des Hintergrundes beherrscht die auf mächtigen Basaltpfeilern stehende Ruine Trosky, – „Ich kenne,“ sagt Karl Julius Weber in seinem Deutschland: „doch wenigstens 100 Burgen, aber keine vereint mit dem Großen, Kühnen und Erhabenen soviel Abenteuerliches. Man weiß nicht, ist’s Spiel der Natur oder menschliche Kunst, wenn man die beiden Felsenkegel erblickt, jeder mit einer Burg auf dem Gipfel, durch eine Doppelmauer vereint.“

Die Trosky sind zwei abenteuerlich geformte, hohe und isolirte Basaltkegel, auf einer gemeinschaftlichen Basis, auf einem nicht unbedeutenden klippigen Felsenhügel ruhend und von fern in der That nicht unähnlich zwei schlanken Pyramiden, mit welchen man dieselben gern zu vergleichen pflegt. Mauerwerk verbindet ihre Sockel, Mauerwerk krönt ihre luftigen Spitzen. Weithin sichtbar thürmen sie in einer offenen, vielfach zerklüfteten Ebene nahe bei Turnau und Großskal empor, nahe der Großskaler „Felsenstadt“, deren imposante Gebilde immer mehr gewürdigt werden. Zwischen diesen Hauptpunkten breitet sich die Landschaft in dem malerischesten Wechsel von Fels, Wald und Wiese aus. Tiefe, dunkle Schluchten, von riesigen Felsen gebildet, führen plötzlich an ihren Ausgängen auf die üppigsten Wiesen, umsäumt wieder von einem Walde, der in gleicher Schönheit selbst in dem waldreichen Böhmen wenige seines Gleichen und vornehmlich etwas hat, was hervorgehoben zu werden verdient, einen vergleichsweise großen Reichthum an den in Europa stets seltener werdenden Tannen, zudem in Exemplaren von vollendeter Schönheit. Und scheut der Naturfreund die geringe Mühe nicht, auf den Fußpfaden, welche das ganze Revier durchziehn, einen der vielen günstigen Höhenpunkte zu ersteigen, so gewinnt er die reizendsten Fernsichten und Einblicke in das tiefe Walddunkel zu seinen Füßen. Daß dies herrliche Stück Landes früher selbst dem größten Theile der Bewohner Böhmens wenig bekannt wurde, hatte nur in Verhältnissen, wie die Eingangs erwähnten, seinen Grund; wenn es gleich nicht ganz erklärlich bleibt, daß bisher bei den Abbildungen merkwürdiger Punkte Böhmens das Schloß Großskal eine gar so geringe Berücksichtigung fand, da es doch am malerischen Effect in seiner Lage am Rande eines schroffen Felsens, umgeben von dunklen Schluchten mit den herrlichsten Baumformationen, fast unvergleichlich dasteht.

In neuerer Zeit hat der Ruf Großskal’s eine große Verbreitung gefunden; und hierzu mag vielleicht die hier im Jahre 1842 gegründete und bisher zahlreich besuchte Kaltwasserheilanstalt Wartenberg auf Großskal einiges beigetragen haben. Ihre Lage am Fuße des Bergabhanges, auf welchem sich die von uns geschilderte und abgebildete Gegend ausbreitet (die Originalzeichnung ist von einem Curgaste im Herbste des vorigen Jahres entworfen), macht es möglich, daß man von hier aus nicht nur in wenigen Stunden alle diese schönen Punkte, wie Waldstein, Bisker, Großskal, Trosky u. s. w., besuchen, sondern auch in Partien für einen halben oder ganzen Tag weitere Ausflüge machen kann; so z. B. nach dem Prachover Felsen bei Jičín[WS 1], nach dem durch seine Edelsteine berühmten Berg Kozakov, nach Turnau mit seinen Granatschleifereien, mittelst der Reichenberg-Pardubitzer Eisenbahn durch das schöne Iserthal nach den Felsenpartien des Rik und des reizenden Kleinskal, nach dem herrlichen, dem Fürsten Rohan gehörigen Schlosse Sichrov mit seinem großen Parke u. s. w.



[427]
O Straßburg, o Straßburg,
Du wunderschöne Stadt!
Sendschreiben an meinen Sohn, den preußischen Landwehrmann.
(Zweiter Brief. Schluß.)

Schon vorher war der berühmte General und Festungsbaumeister Vauban insgeheim nach dem Elsaß abgegangen. Louvois und Ludwig waren gleichfalls vorbereitet, dorthin zu reisen. Den Auftrag, Straßburg zu nehmen, hatte General Montclar erhalten; ein Heer von fünfunddreißigtausend Mann stand ihm zur Verfügung. Alles war für einen gewaltthätigen Schlag vorbereitet; merke aber wohl, wie in dieses nichtswürdige Gewebe auch noch wälsche Tücke und Hinterlist hineinspielen. Ludwig ließ, um die Straßburger recht sicher zu machen, durch den Residenten ein sehr verbindlich abgefaßtes Schreiben überreichen, in welchem er der Stadt seine ganz besondere Huld und Zuneigung ausdrückte. Unmittelbar nachher, mitten im Frieden, ohne irgend eine vorhergegangene Erklärung, am 27. September, überrumpelten französische Dragoner bei nächtlicher Weile die Zollschanze bei Straßburg, und damit begann die Ausführung des lang gehegten Planes.

So standen heuchlerische Versicherungen und Gewaltthaten neben einander. Kein Bürger Straßburgs täuschte sich mehr über die Absichten der Franzosen. Vom ehrwürdigen Münster erscholl sofort die Sturmglocke, die Bürger eilten aus dem Bett auf die Wälle, pflanzten noch mehr Geschütze auf und waren zur Vertheidigung entschlossen. Man sandte durch einen Trommelschläger ein Schreiben an den französischen Befehlshaber und fragte, weshalb er den Frieden gebrochen habe. Die Antwort lautete: Seine Majestät habe erfahren, die kaiserlichen Völker wollten die Stadt und den Rheinpaß besetzen, und das könne er nicht zugeben. Uebrigens, fügte er lügenhaft hinzu, werde er die Zollschanze nur ganz kurze Zeit besetzt halten. Als man ihm entgegnete, kaiserliche Truppen seien weit und breit nicht vorhanden und auf fünfzig Stunden im Umkreise kein kaiserlicher Soldat zu sehen, entgegnete er: auf Verhandlungen könne er sich nicht weiter einlassen, das sei Angelegenheit des Generals Montclar, der sich bald einfinden werde.

Die Aufregung und mit ihr zugleich die Wuth und Verzweiflung der Bürgerschaft stieg immer höher. Der Resident Frischmann wagte sich nicht aus seiner Wohnung, die Zünfte bedrohten den Rath mit Ermordung, weil sie mit richtigem Instinct vermutheten, er werde die Franzosen einlassen. Man wollte aus den straßburgischen Flecken und Dörfern einige tausend Landleute in aller Eile in die Stadt ziehen, aber Montclar hatte alle Zugänge abgesperrt; nur wenige Bauern schlichen sich durch und überbrachten in dieser „Angstnacht“ die Mittheilung, daß schon alle Ortschaften von den Franzosen besetzt, alle an den Kaiser und an den regensburger Reichstag gerichteten Briefe der Stadt von Louvois aufgefangen und unter lautem Gelächter der Officiere erbrochen worden seien.

Am 28. September, einem Sonntage, fing Montclar an, die Stadt zu berennen, und sagte den Abgeordneten derselben: Straßburg sei seinem Könige durch den westphälischen und den nimwegischen Frieden überlassen worden. Wenn dieser bislang noch nicht für gut befunden habe, sich seines Rechtes zu bedienen, so erfordere doch jetzt sein Interesse, daß er Straßburg nehme, denn er wisse, daß eine kaiserliche Truppenmacht in demselben sich festsetzen wolle. Er, Montclar, sei ein alter Freund der Stadt, und es solle ihm Leid thun, wenn sein liebes Straßburg sich durch Halsstarrigkeit in’s Verderben stürzen wolle. Morgen werde der Herr Marquis von Louvois mit der Hauptarmee ankommen, und die Straßburger möchten vernünftig sein. Der König wünsche, die Stadt bei ihren Freiheiten zu erhalten, sie durch Vermehrung ihrer Privilegien glücklich zu machen, aber die Bürger dürften sich nicht als rebellische Unterthanen gebehrden, sondern müßten der französischen Krone Treue geloben und halten.

So voll Lug, Trug und Unverschämtheit war dieser General Montclar, ein würdiger Diener seines Herrn.

Es erschien, der Gewalt gegenüber, lächerlich, daß die Straßburger seinen erlogenen Behauptungen die Wahrheit entgegenstellten; auch erwiderte er auf ihre Einwendungen weiter nichts, als daß er gekommen sei, des Königs Willen bekannt zu machen; es zieme sich für ihn nicht, darüber zu raisonniren. „Sie müssen sich platterdings unterwerfen, oder sich einer Execution gewärtig halten.“

Damit entließ er die Abgeordneten, welche in der Stadt Montclar’s Aeußerungen berichteten. Sogleich versammelten sich die dreihundert Schöffen, die Professoren der Universität, der Kirchenconvent, und auch der kaiserliche Resident wurde zur Berathung herbeigezogen. Die Zünfte stellten sich an den Lärmplätzen auf, Weiber und Kinder strömten in die Kirchen. An Truppen waren nur fünfhundert dienstfähige Söldner in der Stadt; diese, mit etwa dreitausend Mann waffenfähiger Bürger, reichten nicht aus, um die weitläufigen Festungswerke gegen ein Angriffsheer zu vertheidigen, das jetzt mehr als vierzigtausend Mann zählte. Man sah wohl, daß Straßburg verloren sei.

Am 29. September traf Louvois in dem benachbarten Illkirch ein, und ließ hochmüthig dem verächtlichen, weil verrätherischen, Rathe zu wissen thun, daß einige Abgeordnete zu ihm hinauskommen möchten; er werde ihnen im Auftrage seines Königs etwas eröffnen. Es kamen Abgeordnete, welchen der Mordbrenner genau mit denselben frechen und unwahren Behauptungen entgegentrat, die schon am Tage vorher Montclar geäußert hatte. Als die Abgeordneten dieselben als ganz unrichtig nachwiesen, ergrimmte Louvois, ließ jede Maske fallen und rief: „Ich verlange eine kurze deutliche Erklärung, ob Straßburg den König von Frankreich für seinen souverainen Herrn erkennen, seinen Soldaten die Thore öffnen und eine Besatzung einnehmen, oder ob die Stadt in einen Aschenhaufen verwandelt sein will.“ Er fügte hinzu, man habe lange genug Bedenkzeit gegeben, an der Sache selbst lasse sich nun einmal nichts ändern; der König wolle es so, und wenn man verstockt bleibe, dürfe man nicht ferner auf Gnade hoffen. Dann drehete er sich mit stolzer, verächtlicher Miene um und ließ noch fallen, daß man sich bis Mittag entschlossen haben müsse. Die Abgeordneten kamen in die Stadt zurück, in welcher ein ungeheurer Jammer sich erhob. Man war von Kaiser und Reich im Stiche gelassen, die Verräther drängten zur Uebergabe, und unter den Gründen, welche von anderer Seite geltend gemacht wurden, fiel einer am schwersten in’s Gewicht. Man sprach nämlich die Erwartung aus, daß das Reich unmöglich seinen „Hauptschlüssel“ auf die Dauer in den Händen des gefährlichsten Reichsfeindes lassen, also die französische Besitznahme nur vorübergehend sein werde.

Der Rath bat in Anbetracht seiner „Ew. Excellenz bekannten Gesinnungen“ um Aufschub bis zum 30. December Mittags, weil er die Bürgerschaft zu befragen habe und sie auf das Unabänderliche vorbereiten müsse. Nachdem die Sachen einmal so weit gekommen waren, blieb dieser freilich keine Wahl mehr; nur allein die Schneiderzunft, wie ich schon hervorhob, erklärte sich bereit, bis auf den letzten Mann zu kämpfen, und wollte von keinem Vergleich und von keiner Unterwerfung unter den Reichsfeind etwas wissen. Von ehrlichen Leuten wurden damals manche Gründe hervorgehoben, welche eine Uebergabe als unvermeidlich erscheinen ließen. Zuerst das alte, klägliche und leider wahre Lied, daß man vom Kaiser keine Hülfe erhalten habe, auch in größter Bedrängniß eine solche nicht erwarten dürfe; ferner seien die Festungswerke, aus Mangel an Geldmitteln, in nicht vollkommenem Zustande. Durch die langjährigen Quälereien der Franzosen sei der Wohlstand der Kaufleute wie der Handwerker völlig untergraben worden; die Stadt habe keinen Credit mehr und deshalb die Besatzung entlassen müssen, als sie derselben am nöthigsten bedurfte; es seien nicht einmal Leute genug vorhanden gewesen, die Wälle zu besetzen; ein Widerstand, der unter so kläglichen Umständen doch nicht von Erfolg sein könne, werde die Stadt nur völlig zu Grunde richten, und Ludwig der Vierzehnte so wie so seinen Willen erreichen.

Ich habe schon gesagt, daß Straßburg als Festung eine reine Jungfrau geblieben war. Weder Karl der Kühne von Burgund noch Heinrich der Zweite von Frankreich, noch die Schweden während des dreißigjährigen Krieges hatten dasselbe erobert. Nun, von Kaiser und Reich verlassen, von Verräthern gedrängt, von der Noth bezwungen, öffnete es seine Thore. Es schloß am 30. September eine Capitulation mit dem Mordbrenner Louvois, der Vollmacht hatte, die Stadt Straßburg „unter Seiner Majestät Gehorsam anzunehmen.“ Dieser bestätigte ihr (auf dem Papier, [428] wohl verstanden) alle Privilegien, auch die kirchlichen, denn Straßburg war protestantisch; nur das Münster sollte den Katholischen wieder eingeräumt werden. Die Bürgerschaft sollte von allen Contributionen befreit sein. Daß diese Capitulation nicht gehalten, sondern sofort verletzt wurde, versteht sich bei Menschen wie Louvois und Ludwig dem Vierzehnten von selbst. Zu den Unterzeichnern gehörten von Zedlitz und Güntzer.

Am 30. September 1681 um vier Uhr Nachmittags rückten funfzehntausend Franzosen in Straßburg ein; das alte Bollwerk Deutschlands befand sich in Ludwig’s Händen! Dem Reiche war, wie man damals schon ganz richtig sagte, damit eine „unheilbare Wunde“ geschlagen. Aber weshalb hat dasselbe eine Stadt, an welcher ihm so viel gelegen sein mußte, ganz vernachlässigt und nicht alle seine vereinigten Kräfte aufgeboten, um sie sich zu erhalten?

Du siehst, lieber Alfred, welche Sünden und Fehler ein starkes Deutschland wieder gut machen muß, welche geschichtliche Gerechtigkeit es einst zu üben haben wird.

Was geschah in Straßburg nach der Besitznahme durch die Franzosen? Zu den schlimmsten Reichsverräthern gehörte Franz Egon von Fürstenberg, der katholische Bischof der Diöcese, welcher nicht in der protestantischen Stadt, sondern in Zabern wohnte. Er hatte, sammt seinem Bruder Wilhelm, seit Jahren als bestochener Söldner in Ludwig’s Interesse gearbeitet. Am 4. October mußten die Bürger den Eid der Treue ablegen; am 20. zog Egon von Fürstenberg unter dem Schall französischer Pauken und Trompeten in die evangelische Stadt ein, gefolgt von seiner Klerisei, und nahm Besitz von der Münsterkirche. Ludwig selbst eilte herbei, um das Kleinod, nach welchem er so lange gierig gestrebt und das er endlich geraubt hatte, persönlich zu besichtigen. Jener verrätherische Egon empfing den „königlichen Mordbrenner“, denn das war Ludwig, am großen Portale und dankte ihm, daß er durch des Königs Arm wieder in den Besitz der Arche gekommen sei, aus welcher die Ketzer seine Vorgänger vertrieben hätten. Dann fügte der „grauköpfige Schurke“, wie die Straßburger diesen Bischof nannten, die schamlosen Worte hinzu: „Ich kann mit dem alten Simeon sagen: Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen.“ Der Heiland dieses grauköpfigen Bischofs war der bluttriefende Verfolger der Hugenotten, der König, welcher das Elsaß und die Pfalz mit Mord und Brand verwüstete.

Am 1. April 1682 starb dieser Bischof Franz Egon von Fürstenberg.

Sein „Heiland“ war von den Straßburgern mit eisiger Kälte aufgenommen worden; alle Bemühungen, sie auch nur zu vereinzelten Lebehochrufen zu vermögen, scheiterten; seine eigenen Soldaten mußten Vive le Roi schreien. Der „große“ Ludwig verließ die Stadt in sehr übler Laune und ließ sie fühlen, was es hieß, einem so eiteln und kleinlichen Könige nicht zu schmeicheln. Zunächst wurden die Verräther belohnt. Güntzer erhielt die Stelle eines Syndicus und Kanzleidirectors, „weil er bei der Unterwerfung der Stadt großen Eifer für den königlichen Dienst und – das Beste der Stadt bewiesen habe.“ Zwei andere Verräther erhielten goldene Ketten im Werthe von dreitausend Livres.

Ludwig’s Buhlerin, die Maintenon, die frömmelnd war und von den Jesuiten gelenkt wurde, brauchte keine Anstrengungen zu machen, um ihren königlichen Liebhaber zur Verkürzung der Privilegien Straßburgs zu bewegen. Auf ihren Betrieb wurden die Katholiken auf Kosten der Protestanten begünstigt, die Stadt mußte ein königliches Abonnement von hunderttausend Livres zahlen; dreihundert städtische Kanonen und für fünfzehntausend Mann Waffen wurden sammt allem Kriegsgeräthe von den Franzosen weggenommen. Auch die Weinkeller wurden von den Siegern als Eigenthum betrachtet. Gleich im Jahre 1682 strömten katholische Geistliche und Mönche in Menge herbei, namentlich Jesuiten, Kapuziner, Antoniter, Johanniter; der Bischof verlangte die Rückgabe einer Anzahl von Kirchen und Stiftern, und der protestantischen Bürgerschaft wurde die Zumuthung gestellt, am 15. August an einer katholischen Procession zu Ehren des Königs sich zu betheiligen; dadurch werde sie ihre Unterthanentreue beweisen, und Seiner Majestät Huld und Gnade erwerben. Sie nahm an der Procession nicht Theil. Ludwig’s Absicht ging dahin, die ganze Stadt der evangelischen Lehre abwendig zu machen; wer zum Katholicismus übertrat, erhielt manche Begünstigungen; er war z. B. drei Jahre lang von Abgaben und Truppenauflagen befreit, eben so lange durfte ihn kein Gläubiger verfolgen oder auch nur Zahlung verlangen; er wurde bei Besetzungen von Aemtern bevorzugt. Die Rechte der Stadt wurden so schamlos verletzt, daß hingegen kein evangelischer Prediger Proselyten annehmen durfte; gemischte Ehen wurden verboten, die Protestanten sahen sich gezwungen, die katholischen Festtage mit zu feiern; alle unehelichen Kinder von Protestanten mußten katholisch getauft werden; wenn ein Theil eines protestantischen Ehepaars katholisch wurde, mußten alle Kinder desselben, welche noch nicht communicirt hatten, katholisch werden. In jedem Dorfe, in welchem sich auch nur sieben katholische Familien befanden (und wo dergleichen nicht waren, schickten die Jesuiten hin, so viel als nöthig erschien), mußte ihnen das Chor der Kirche eingeräumt werden, und die Kircheneinkünfte fielen ihnen zur Hälfte zu, während die Protestanten für katholische Pfarr- und Schulhäuser sorgen mußten; endlich konnte kein Protestant im Elsaß, das doch zur überwiegenden Hälfte evangelisch war, Amtmann, Amts- oder Gerichtsschreiber, Schultheiß oder Fiscal werden. Schon 1687 befahl ein Erlaß Ludwig’s, daß in dem protestantischen Straßburg alle Stadtämter und Ehrenstellen zur Hälfte mit Katholiken besetzt werden sollten, natürlich „ohne der Gewissensfreiheit irgend Eintrag zu thun.“ Im Jahre 1686 wurden den Protestanten abermals drei Kirchen weggenommen, und die protestantischen Stiftsfrauen wurden dermaßen gepeinigt und geärgert, daß 1698 die letzte Administratorin, Henriette Vitzthum von Eckstädt, ihre Würde niederlegte, „weil sie wegen allzuviel Aergerniß dieselbe nicht mehr behalten konnte.“ Der König bedrängte den Magistrat so lange, bis derselbe ihm mit dem Frauenstift St. Stephan ein freiwilliges Geschenk machen mußte.

Der Wunsch, wieder mit Deutschland vereinigt zu werden, war dringend, aber vergeblich. Denn im Ryswicker Frieden (October 1697) wurde Straßburg vom Reiche definitiv an den französischen König abgetreten.

Die unwillkommene Ehre, aus einer Reichsstadt zu einer französischen Provinzial- und Kriegsstadt degradirt zu werden, mußte von vorne herein in jeder Beziehung sehr hoch bezahlt werden. Der Bau neuer Kasernen für die Franzosen kostete 800,000 Livres, eine Wohnung für den Intendanten 60,000, ein Mehlmagazin für die Soldaten 70,000, ein Spital für die Soldaten 120,000, dem Hofe mußte ein „freiwilliges“ Geschenk (don gratuit) von 300,000 und 1694 abermals ein solches von 160,000 Livres gezahlt werden; also in wenigen Jahren anderthalb Millionen, und binnen achtzehn Jahren 3,315,000 Livres! Straßburg hatte ferner, in Folge königlichen Befehls, die Generalität, die Kasernen, Spitäler, die zweiunddreißig Wachtstuben mit Holz und Licht zu versorgen, die Wälle zu unterhalten „und die vornehmsten königlichen Beamten durch ansehnliche Geschenke sich geneigt zu machen.“ Vergiß nicht, daß die Stadt ohnehin ausgesogen und tief verschuldet war.

Auf solche Weise ist Straßburg in französische Gewalt gekommen, und seitdem ist der Herrscher in Paris auch Gebieter am Oberrhein. Die alte deutsche Grenze läuft auf dem Kamme der Vogesen, und ehe diese für Deutschland nicht wieder gewonnen ist, kann für uns von einer Sicherstellung gegen Frankreich keine Rede sein. So lange die Franzosen das Elsaß behalten, werden sie auch nach Belgien und den Landen am mittlem und untern Rhein gieren; sobald die wirkliche natürliche Grenze, nämlich die uralte, geschichtliche, volksthümliche Sprach- und Gebirgsscheide wieder auch unsere politische Grenze wird, kann Ruhe eintreten. Erst dann ist wieder ein vernünftiges, volksrechtliches Verhältniß da.

Im heutigen Elsaß ist seit zweihundert Jahre Vieles verwälscht worden; ich glaube, daß die Elsässer, die sich nun einmal, wenn auch schwer, an Frankreich gewöhnt haben, anfangs nur widerwillig bei uns sein würden; aber darauf kommt vorerst nichts an. „Es nimmt ein Kind der Mutter Brust nicht gleich von Anfang willig an, doch bald ernährt es sich mit Lust.“ Was ihnen Napoleon bietet, würden sie freilich bei uns nicht haben: keine Censur, keinen Zwang, keine unerschwinglichen Steuern, auch keine hohle Gloire. Ludwig der Vierzehnte hat sie nicht nach ihren „Sympathien“ gefragt, als er sie raubte; man braucht auch heute nicht nach Sympathien zu fragen, wenn man wiedernimmt, was einst entfremdet wurde. Die Sympathien finden sich von selbst, und die Rückführung natürlicher Verhältnisse trägt ihre Berechtigung in sich selbst.

Freilich, es wird keine leichte Arbeit sein, den geraubten Schatz [429] wieder zu erwerben, und vielleicht fließt noch viel Wasser den Rhein hinab, bevor es dahin kommt, daß kein Franzose mehr seine Rosse aus den Fluthen dieses unsers herrlichen Stromes tränkt. Aber von Basel bis Emmerich muß über kurz oder lang der Rhein wieder auf beiden Seiten deutsch sein. Ohne das ist ein freies Deutschland mit der ihm gebührenden Machtstellung unmöglich, und von einem wirklichen Gleichgewicht kann erst dann in Europa die Rede sein, wenn die geschichtlichen Begehungs- und Unterlassungssünden unserer Vorfahren durch unsere That kraft wieder gut gemacht sind.

Die Geschicke mögen noch oftmals auf- und abschwanken, und auch was die nächste Zeit bringt, vermag Niemand zu sagen; aber bei einem deutschen Kriege mit Frankreich steht der Kampf preis fest: das Elsaß mit Straßburg. Und dieser Preis ist der Mühe Werth.

Wehrleute, haltet gute Wacht! Und Du, Alfred, wirst Deine Schuldigkeit thun !




Die Vögel als Wetterpropheten.
Von Dr. A. E. Brehm.

Bei Mittheilung der merkwürdigen Beobachtungen eines unserer Freunde über die Vorausahnung der Witterung durch die Spinnen versprach ich, noch ähnliche nähere Beobachtungen über einige andere Thiere mitzutheilen. Nachstehendes mag gewissermaßen als eine Fortsetzung jener Skizze angesehen werden.

Es ist eine anerkannte Sache, daß die Thiere wirklich eine klarere Voraussicht der eintretenden Witterung besitzen, als der entweder zu wenig auf das Wetter achtende oder die Einwirkungen desselben nicht scharf genug erkennende Mensch. Die Landleute und namentlich die Schäfer, welche viel mit den Thieren verkehren, verstehen sich gewöhnlich ausgezeichnet auf die in Voraussicht des Kommenden erfolgenden Kundgebungen derselben:

„’s kommt Regen, Fährmann. Meine Schafe fressen
Mit Begierde Gras und Wächter scharrt die Erde,“

sagt der Hirt,

„Die Fische springen, und das Wasserhuhn
Taucht unter. Ein Gewitter ist im Anzug,“

der Fischer im Tell. An dem wilden Herumspringen der Rinder, welches man hier und da „Brieseln“ nennt, erkennen Erfahrene, daß an demselben Tage ein Donnerwetter sich entladen wird; durch den niedrigen Flug der Insecten, den man durch den tiefen Strich der Schwalben wahrnehmen kann, ebenso auch durch das erpichte Blutsaugen der Bremsen und Schnaken wird eintretender Regen verkündet. Vor einem Gewittersturm in den Tropen sind, wie ich vielfach beobachtete, alle Thiere äußerst erregt, wenn auch noch kaum ein Wölkchen am Himmel steht; lange Zeit vor dem Ausbrechen des gewaltigen Naturkampfes verkriechen sie sich bereits. In ähnlicher Weise benehmen sie sich vor Erdbeben. An die bekannte Thatsache, daß die Frösche gewöhnlich schon zwölf bis vierundzwanzig Stunden vor einem Regen lebhaft schwatzen und quaken, oder daß sie in ihren krystallnen Kerkern den höchsten Punkt zu erklettern streben, wenn gutes Wetter kommen will, brauche ich wohl kaum zu erinnern.

Jedenfalls ist es gar nicht unwichtig, wenigstens den Versuch zu machen, durch Beobachtung des Betragens der Thiere die kommende Witterung zu ergründen. Daß man daraus mehr lernen kann, als aus dem gläubigen Hangen an den beliebten Mondschwärmereien, ist ebenso richtig, als es gewiß ist, daß sie sich weit besser auf Wetterprophetenthum verstehen, als der biedere Professor Stiefel in München, welcher seinen gläubigen Lesern „einen guten Stiefel zumuthete, und mit seinen Voraussagungen schmählich Fiasco machte. Der Instinct der Thiere ist so eine eigene Sache, mit welcher es den Forschern geht, wie mit so vielen anderen geistigen Kräften; man kennt ihn ganz genau oder – leugnet ihn vollständig, weiß aber in dem einen Falle nicht recht, wie viele von den wirklich beobachteten Thatsachen, die ihn zu beweisen scheinen, man auf seine Rechnung setzen, in dem andern nicht, welcher Ursache oder Kraft man diese Thatsachen zuschieben soll. Gewöhnlich wird angenommen, daß das Thier durch eine große Empfindlichkeit des Nervensystems in den Stand gesetzt werde, sich dem Kommenden gemäß einzurichten und daß die meisten instinctmäßigen Handlungen desselben hiervon abzuleiten seien: aber diese Annahme erscheint insofern gewagt, als die Empfindlichkeit der Nerven der bezüglichen Thiere nicht auf Stunden und Tage, sondern auf Wochen und Monate hinausreicht, d. h. daß sich die Thiere auf Ereignisse vorbereiten, welche erst Wochen und Monate später eintreten sollen, und daß sie – was mir noch viel merkwürdiger scheint – den Luftdruck- und Wärmemesserstand ihres Nervensystems so gar vortrefflich zu deuten wissen. Ich bekenne meine Unwissenheit hierin, gestehe aber zugleich, daß mir ein derartiges Feingefühl der thierischen Nerven mindestens eben so wunderbar vorkommen will, als eine Geisteskraft, welche in ihrem dunklen Drange das Thier zu seinem Heile leitet. Mag man übrigens die Sache fassen, wie man eben Lust hat, so viel steht fest: die Thiere verstehen sich besser auf die kommende Witterung, als wir; wir können also von ihnen lernen, wenn wir auf sie achten wollen. Damit habe ich genug gesagt und darf nun getrost einzelne meinem Thema gemäße Beobachtungen von meinem Vater und mir folgen lassen.

Die besten Wetterpropheten dürften unter allen Thieren die Vögel sein; wenigstens sind sie diejenigen, welche unserer Beobachtung am zugänglichsten sind. Denn wenn es auch sicher richtig ist, daß man einen strengen Winter zu erwarten hat, wenn sich die Regenwürmer tief in den Boden vergraben, oder die Roßameisen sich in die tiefsten Gänge ihrer Wohnung zurückziehen, oder die Wicklerraupen sich besonders dicht in Blätter einspinnen, so erfordert doch die Erforschung dieser Thatsachen mehr Arbeit, als ich meinen Lesern zumuthen kann. Die Beobachtung der Vögel dagegen hat eben keine besonderen Schwierigkeiten. Man sieht oder hört sie kommen und gehen, ohne daß man sich gerade sehr mit ihnen beschäftigt; und die ganze Kunst, aus ihrem Betragen auf die Witterung zu schließen, beruht einfach darin, ein wenig mehr auf sie zu achten, als man sonst zu thun pflegt. Einige Beispiele werden dies beweisen.

Wenn ein strenger Winter bevorsteht, sagt mein Vater, gestützt auf seine mehr als fünfzigjährigen Beobachtungen, erscheinen die nordischen Zugvögel ungewöhnlich häufig an den Küsten der Nord- und Ostsee und gehen oft tief in das Land hinein. Man sieht dann auf den weit von der Küste entfernten Seen und Teichen Sumpf- und Wasservögel, welche in Jahren daselbst nicht vorgekommen sind. Selbst der Zug der nordischen Landvögel ist dann viel häufiger, als in anderen Jahren. Wenn die Drosseln und Ziemer, Edel- und Bergfinken sehr unruhig sind, beim Vogelheerde nicht gut thun, wie die Vogelsteller sagen, dann kommt stürmische Witterung; eilen sie sehr, so daß sie sich zum Fressen kaum Zeit nehmen, dann ist frühzeitiger Schnee zu erwarten. Die nordischen wilden Gänse bleiben auf den getreide- und wasserreichen Ebenen unseres Vaterlandes, so lange sie sich von der Wintersaat nähren können. Brechen sie aber auf und ziehen nicht blos bei Tage, sondern auch des Nachts, dann kann man auf einen baldigen Schneefall rechnen, welcher ihnen die Saat unzugänglich machen wird. Sicht man hingegen im December noch viele Edelfinken und einzelne Feldlerchen in Nord- und Mitteldeutschland, dann ist kein strenger Winter zu erwarten.

Auch der Zug der Saatkrähen ist wohl zu beachten. Gewöhnlich verlassen sie unser Vaterland zu Ende des November oder zu Anfang des December. Im vorigen Herbste aber wanderten sie schon im October von uns weg und thaten sehr recht daran, denn der ungewöhnlich frühe und im November strenge Winter hätte ihnen alle Nahrung entzogen.

Noch mehr aber läßt das Betragen der Vögel im Frühjahre die Beschaffenheit der künftigen Witterung errathen.

Im Frühjahre 1817 waren die nordischen Bergfinken, in Thüringen Buchfinken, an anderen Gegenden unseres Vaterlandes Quäker genannt, in nie gesehenen Schaaren auf unsern Feldern und wollten, wie die nordischen Ziemer, gar nicht wegziehen. Das Frühjahr war aber auch eins der ungünstigsten, welches wir erlebt haben. [430] Wir hatten jedoch im Frühlinge der Jahre 1816 und 1817 noch andere Anzeichen von der nassen Witterung derselben. Die Eisvögel brüten gewöhnlich uns am nächsten in den steilen Stellen der Saalufer. Im April 1816 und 1817 aber legten sie ihre Nester oberhalb Oberrenthendorf an den schroffen Ufern der dort sehr kleinen Roda an. Meine Vermuthung. von kommenden Ueberschwemmungen traf ein, denn diese waren so arg, daß die Saale übertrat und dadurch alle an ihren Ufern befindlichen Eisvögelnester zu Grunde gerichtet haben würde. An den Ufern der kleinen Roda aber konnte das Anschwellen des Wassers sie nicht erreichen.

Etwas Aehnliches erlebten wir im Frühjahre 1843. Im März erschienen auf unsern Bergebenen die Kiebitze und schlugen ihre Wohnung daselbst auf. Darauf schloß ich auf ein nasses Frühjahr und hatte mich nicht geirrt. Der Regen fiel so häufig und befeuchtete die Felder unserer Berghöhen so sehr, daß die Kiebitze hinlängliche Nahrung auf ihnen fanden, während die Ufer des Frießnitzer und Tautendorfer See’s, die gewöhnlichen Brutplätze unserer Kiebitze, so überschwemmt wurden, daß nicht ein einziges Kiebitznest unversehrt geblieben wäre. In demselben Frühlinge verkündete eine andere Erscheinung die Nässe des Frühjahres und Sommers. In den Umgebungen Renthendorfs lebten im April jenes Jahres sechs Paar Thurmfalken (Rüttelgeier). Sie begatteten sich, legten ihre Eier aber nicht in den Horst, sondern ließen sie fallen, zwei Paar ausgenommen, welche einen Horst bauten und Junge ausbrüteten. Aber das Aufziehen derselben gelang ihnen nicht, denn die ungewöhnliche Nässe hatte Tausende von Insecten, die Hauptnahrung der Thurmfalken, vernichtet. Sie konnten in jenem Frühjahre kaum so viel Futter auftreiben, als zur Erhaltung ihres eigenen Lebens nöthig war, und mußten ihre Jungen sterben lassen. Die in dem einen Horste gingen sehr frühe zu Grunde, die in dem andern, als sie zu kielen anfingen. – Auch das Auftreten der Wiesenknarrer (Wachtelkönige, Schnerze) in unsern an Riedgras reichen Thälern oder in unsern Kleeäckern bedeutet gewöhnlich ein nasses Jahr; denn in trockenen bewohnen sie die mit Niedgras bedeckten Niederungen unseres Vaterlandes.

Wie nun die Vögel nach dem Aufgeführten nasse Jahre andeuten, ebenso zeigen auch manche Wasservögel trockene Frühjahre an. Naumann erzählt davon ein merkwürdiges Beispiel. Nicht weit von Ziebigk, dem durch Naumann weltberühmten Wohnorte desselben, brütete vor vielen Jahren eine Graugans, die Stammmutter unserer Hausgänse, ihre Eier in einem großen Teiche aus. Beide Eltern führten ihre Jungen, sobald sie etwas herangewachsen waren, in einen viel kleineren Teich, was nicht geringe Verwunderung erregte. Das Räthsel löste sich indessen bald. Der ungewöhnlich heiße und an Regen arme Juni jenes Jahres trocknete den großen Teich, den Brutort der Gänse, aus, konnte aber den kleinen Teich, den jetzigen Aufenthaltsort der Graugänse, seines Wassers nicht berauben und gab der ganzen Gänsefamilie hinlängliche Nahrung. Wie sicher hatte der Instinct diese Vögel geleitet!

Im Jahre 1832 reiste ich nach Berlin und freute mich sehr, auf der Rückreise mit meinem verstorbenen Freunde, dem großen Ornithologen Freiherrn von Seyffertitz auf Ahlsdorf, eine und die andere Jagd auf dem eine Stunde langen Ahlsdorfer Bruch zu unternehmen; allein da, wo sonst Tausende von Enten lagen, jagten wir einen Fuchs auf und schossen einen Hasen, denn der Bruch war gänzlich ausgetrocknet. Mein Freund sagte mir, er habe schon Anfangs Mai gewußt, daß der Bruch austrocknen würde; denn im April seien die Fische durch die Abzugsgräben nach der schwarzen Elster gezogen und die Enten und Wasserhühner seien, wie im Mai die später ankommenden Wasser- und Krampfstrandläufer, Rohr- und Teichhühner, sowie die schwarzen Seeschwalben, davon geflogen. Wenn das geschehe, könnte man jeder Zeit mit Gewißheit auf einen sehr trockenen Sommer rechnen.

Auch aus dem Brüten der Seeschwalben kann man auf die Beschaffenheit der Frühlings- und Sommerwitterung schließen. Nisten sie auf den in den Strömen liegenden niedrigen Sandinseln, dann kann man mit Sicherheit ein trockenes, von Ueberschwemmungen freies Jahr erwarten. Brüten sie aber auf hohen Sandbänken oder gar auf etwas hohen Uferstellen, so sind Ueberschwemmungen sehr zu befürchten.

Nasse Sommer kann man ferner aus der geringen Eierzahl der Kerbthierfresser bestimmen. Im Jahre 1843 z. B. legten die gemeinen Fliegenfänger anstatt fünf bis sechs Eier nur zwei, höchstens drei, und hatten wirklich gerade genug mit Erziehung der aus denselben geschlüpften Jungen zu thun.

Es wäre leicht, noch eine Reihe ähnlicher Beobachtungen hier mitzutheilen; ich glaube aber, schon mit dem Vorstehenden den Weg angezeigt zu haben, welchen man gehen muß, um eine möglichst hohe Stufe des Prophetenthums zu erreichen. Diesen Gegenstand weiter zu verfolgen, dürfte gewiß von Nutzen sein. Naturforscher, Naturfreunde, Land- und Forstwirthe sind die rechten Leute, derartige Beobachtungen anzustellen; und höchst wahrscheinlich haben schon viele Leser der so außerordentlich verbreiteten „Gartenlaube“ solche gemacht. Sie möchte ich ersuchen, dieselben entweder selbst zu veröffentlichen oder mir mitzutheilen; ich würde dadurch in den Stand gesetzt werden, eine ohne Zweifel höchst wichtige und interessante Zusammenstellung derartiger werthvoller und oft nur Wenigen bekannter Erfahrungen veröffentlichen zu können.




Originalmittheilungen vom Kriegsschauplatze.
III.
Geruch von Montebello. Besuch des Schlachtfeldes von Palestro. Scene in Mailand.

Wenn wir unter friedlichen Menschen im bürgerlichen Leben eine Leiche sehen, wohl gar einen Gemordeten, und den Mörder vor Gericht, auf dem Richtplatze, kann sich Niemand so leicht eines Grauens und Schauders erwehren. Ein Todter! Ein Gemordeter! Es ist immer etwas Entsetzliches. Aber täglich Hunderte von Verstümmelten und Todten um uns, – das ist bald etwas ganz Anderes. Man gewöhnt sich an die Schrecknisse des Krieges und nimmt die Hunderte und Tausende von Niedergeschmetterten, selbst wenn man sie sieht, als etwas Unvermeidliches, das sich von selbst versteht. Selbst das furchtbare, qualvolle, massenhafte Absterben der Verwundeten scheint für die Umgebung, wie für die Leidenden und Sterbenden zu einer Art von Geschäft zu werden, das man mit möglichst kaltem Blute ansehen und überwachen müsse. Ich habe in Alessandria lange Karawanen von Verwundeten und unterwegs Gestorbenen aus der Schlacht von Montebello ankommen sehen, genug Stoff für die erschütterndsten und grausigsten Romanscenen eines ganzen Jahrhunderts, aber die leicht Verwundeten sangen, rauchten und lachten dabei, wie Leute, die lustige Waaren auf den Jahrmarkt bringen. Sie wanden sich und rangen und jammerten herzzerreißend auf ihren Bahren, andere lagen ganz still und starr und waren todt, die leichter Verwundeten daneben aber, die noch gehen konnten, hinkten und lachten daneben und rauchten und sangen, und machten ihre humoristischen, gut gemeinten Bemerkungen über die ganz still Gewordenen. Ein Zuave mit einem ganzen und einem zerschmetterten Bein spielte den förmlichen Lustigmacher unter ihnen.

Nach Montebello selbst fand ich keinen Zutritt; ich ward von einer unerbittlich zurückstoßenden, unüberwindlichen Macht weit fort getrieben: von dem Geruch der Gefallenen, die hundertweise in hastig gegrabene viereckige Gruben dicht über einander bis oben eingepackt und nur locker mit einer dünnen Schicht Erde bedeckt worden waren, so dünn, daß, wie mir ein Mann unterwegs erzählte, ein Platzregen über Nacht Köpfe mit flatternden Haaren, hervorragende Arme und Beine enthüllt hatte, so daß grimmig entstellte Gesichter mit weißen, todten Augen gen Himmel starrten. Wie ich später hörte, hat der König von Sardinien gegen bedeutende Extra-Belohnung mehrere hundert Leute aus der Umgegend gewonnen, und die Todtengruben mit Erdhügeln bedecken lassen.

Von einem englischen Correspondenten begleitet, machte ich mich zu Fuß auf nach dem Schlachtfelde von Palestro. Wagen waren für keinen Preis zu bekommen, und die Eisenbahnen sind überall umher aufgerissen oder durch Regen, Märsche, Schanzen unbrauchbar geworden.

Der allgemeine Verlauf der Doppelschlacht bei Palestro wird [431] Ihnen aus den Zeitungen bekannt sein. Ich beschränke mich daher auf Gesehenes und Erlebtes, als ich das Schlachtfeld acht Tage später unter brennender Sonne und verschmachtet in Staub und Verwüstung zu Gesicht bekam.

Palestro ist ein unbedeutendes Dorf in der Mitte zwischen Novara und Mortara unweit des Sesia-Flusses und eines sogenannten Canals, den ich aber als Sartiranische Höhle (Cavo di Sartirana) in seiner bösartigen Stromschnelle und düstern Umgebung würdig der schauerlichen Scene fand, die über 300 Oesterreichern das Leben kostete.

Nachdem wir auf zusammengebundenen Räder- und Wagenruinen über die Sesia geflößt worden waren, fanden wir nach dreistündigem Schwitzen und Suchen die ersten Spuren des Schlachtfeldes. Ganze unabsehbare Flächen üppigen Weizens waren niedergetreten, und nur hier und da standen einige Halme und Gruppen unversehrt empor. Lange Weingefilde lagen niedergeschmettert von Geschützen und Schüssen, durcheinander geknetet von schweren Kanonenrädern und Pferdehufen. Angesichts des Dorfes zwischen zwei Hügelrücken mit reichem Laubwerk fanden wir den Boden mit Stücken von Rädern, Ruinen von Gewehren und Säbeln, von Uniformen und Mützen, von Lederzeug und menschlichen Gliedern (in halbverwestem Zustande) dichter und dichter besäet. Felder und Bäume, Gruben und Hecken, Grenzmarken, Zäune, Alles lag wüst und trostlos durcheinander, verwischt und verwirrt, gebrochen und entstellt – ein entsetzlicher Anblick, der freilich von den Eindrücken im Dorfe selbst bald als unbedeutend und respective idyllisch verdrängt ward. Palestro besteht aus einer einzigen Straße von Häusern, Gehöften und Hütten, die zuweilen dicht, wie Kuchen mit Rosinen, mit Kugeln und Löchern übersäet waren. Mehrere Dächer waren von Kanonenkugeln oder Bomben ganz heruntergerissen und lagen in zerstückelten Haufen umher. In dem Innern der weiß angestrichenen Stuben, namentlich in einigen, dichte Spuren von Bajonnetstichen, Schlägen und Hieben und von rothem, rothem Menschenblut, das stellenweise noch nicht trocken in großen Flächen auf dem Boden lag, und aus lebendigen Leibern gegen die Wände gespritzt war. Es war nicht nur ein Straßenkampf, sondern eine Schlächterei Einzelner in den Zimmern und Höfen gewesen, wie uns der an einer Hand zweifingerige Zuave, der hier verwundet und als Cicerone geblieben war, in dramatischer Schilderung, aber im schlechtesten Gascogner Französisch anschaulich zu machen suchte. Hernach führte er uns auf das eigentlich entscheidende Schlachtfeld rechts vom Dorfe, von wo die Geschlagenen flohen. Tornister, Czako’s, Gürtel, Stücken Lederzeugs, Brodbeutel, Degenscheiden, Fetzen von Uniformen, Schuhe, Halsbinden lagen wie gesäet umher in dem hohen, zu zwei Dritttheilen niedergetretenen Weizen. Sie flohen bis an den tiefen, dunkeln, reißenden Fluß, genannt Il Cavo di Sartirana und stürzten sich, hart verfolgt, in dessen reißende Wellen, von denen sie in eine dicht von Bäumen überschattete Stromschnelle gerissen wurden, um hundertweise zu ertrinken.

Das Feld war sehr ungünstig, zerschnitten in nasse Reisfelder mit Bewässerungsgräben, kleinen Flüssen, Teichen und Fußsteiggewinden, so daß die Entfaltung von Angriffscolonnen so gut wie unmöglich war. Die Bersaglieri und Sardinier aber drängten dessen ungeachtet den Feind bis in die Straße von Palestro, wo er festen Fuß faßte, so daß die Oesterreicher beinahe wie in antiken und vorschießpulverigen Zeiten Mann gegen Mann verzweifelt kämpften und Schritt für Schritt auf der Straße, Haus für Haus im Innern niedergeschlagen wurden und niederschlugen, bis sie endlich über Massen Verwundeter und Todter hinausgedrängt waren.

Diese Straßenkampfscenen und „Hauskriege“ waren zum Theil so entsetzlich und blutig, so fanatisch und unbarmherzig, wie die grausamsten Einzelnheiten in Revolutionskämpfen. Der Zuave erzählte eine solche Menge fabelhafter Details rasch durcheinander, daß ich mich kaum eines einzelnen Falles genau erinnern würde, ohne ihn mit andern zu vermischen oder unsicher zu werden.

General Zobel hatte Befehl, am folgenden Tage Palestro wieder zu nehmen. Der Angriff ward Morgens neun Uhr eröffnet. General Salo rückte mit seiner Brigade gegen den stromschnellen sogenannten „Sartirana-Canal“ vor, während eine andere Colonne über die Brücken des Gamara-Canals und der Cavo Scotti sich hinter die erste Linie der Sardinier herandrängte und sie mit schrägem Feuer zurückwarf. Jetzt mußte das dritte Zuaven-Regiment vor. Es postirte sich hinter eine lange Reihe von Pappel- und Weidenbäumen, bis es von Oberst Chabran plötzlich im Sturmschritt am Canale entlang gegen den Feind gehetzt ward, um ihm in die Flanke zu fallen. Sie wurden mit einem dichten Kartätschenhagel empfangen und in’s Wasser getrieben, wo sie wehrlos von dem sichern Rohre der Tyroler Schützen decimirt wurden. Die Tyroler hatten in dem hohen Getreide am Canale entlang versteckt gelegen. Bis an die Schultern im Wasser und vom Ufer her von sichern Kugeln umzischt, kamen sie doch wieder auf’s Trockene und zum Siege. Sie stürzten sich triefend und wüthend wie Wölfe auf die Oesterreicher zum Bajonnet- und Faustkampfe. Letztere retirirten und suchten eine neue Position auf günstigerem Boden zu halten. Aber von hier wurden sie von den Bajonneten der Zuaven ebenfalls vertrieben und fliehend beinahe eine Meile weit verfolgt, bis sie eine einsame Meierei zu einem Haltpunkte zu machen versuchten. Schon war ihre Artillerie in voller Thätigkeit. Aber mit katzenartiger Gelenkigkeit liefen auch hier die Zuaven gleichsam zwischen den Kanonenkugeln hindurch und erstachen die österreichischen Artilleristen zum Theil neben ihren Geschützen, welche nun in die Hände der Sieger fielen. Noch nicht gesättigt, sprangen sie hinter den Fliehenden her, bis diese, vom Sartirana-Canal (Stromschnelle) aufgehalten, tatsächlich im Rücken angefallen und bajonnetirt wurden. So blieb den noch Lebenden nichts Anderes übrig, als sich in das dunkele Gewässer zu stürzen, in welchem über dreihundert Mann ertranken. Noch am 5. Juni, als wir diese Stelle besuchten, wurden Leichen herausgenommen, die am Ufer wie verzweifelt Lebende sich zu bewegen schienen, als sie von den anprallenden Wellen auf- und abgeschaukelt wurden.

Nach der Schlacht, als alle Gefahr vorüber war, erschien der Civilisations-Kaiser auf der blutigen Stätte und lobte die Zuaven, die meist alle verwundet waren, wegen ihrer Tapferkeit und erbeuteten Kanonen und der Lorbeeren, wofür Se. Majestät sich ein Monopol gesichert zu haben scheinen. Die verkrüppelten Zuaven konnten ihre Kanonen nicht ziehen. Die Pferde waren alle todt oder zuckten sterbend umher. Jetzt bekam ein Corporal den Einfall, gefangene Kroaten vor die Kanonen zu spannen. Diesen blieb nichts Anderes übrig, als dem befehlenden Sieger zu gehorchen, so daß sie die Kanonen, mit den am schwersten verwundeten Zuaven auf ihnen, in’s französische Lager zogen.

Dies ist ein Blick in eine untergeordnete Schlacht. Wie viele blutigere stehen schon in den Zeitungen geschildert, jede eine Aufschwellung des Ungeheuers, das mit jedem Siege sich länger und breiter über den Frieden und die Freiheit Europa’s ausstreckt, eine Art menschen fressender chinesischer Drache! Wenn er nur in China oder wenigstens eine Fabel wäre!

Soweit unser Correspondent. Daß der Krieg auch freundlichere, fast gemüthliche Genrebilder bietet, beweist uns eine Scene aus Mailand, deren Thatbestand vielen unserer Leser wahrscheinlich schon aus den Zeitungen bekannt ist. Unser Illustrateur hat diese Scene in gewohnter geistreicher Weise zur Darstellung gebracht, und wir lassen zur großen Sicherheit die Mittheilung nochmals folgen, da sie im Drange der überhäuften Zeitungslektüre der letzten Zeit leicht der Erinnerung entschwunden sein könnte.

Nachdem die Oesterreicher Mailand geräumt hatten, stand mitten in der tiefaufgewühlten, lärmenden, tobenden Stadt, welche mit dreifarbigen Fahnen und Blumen sich schmückte, um die Franzosen zu empfangen, auf einem weiten Platze ein Trupp kroatischer Soldaten. Sie hatten sich verirrt und wissen nicht ein, nicht aus in der großen weiten Stadt, deren Sprache sie nicht kennen. Sie halten kurzen Rath und beschließen, sich zu wehren. Sie bilden ein Carré, um gegen alle Seiten hin gedeckt zu sein, laden ihre Gewehre und erwarten mit trotzigen Mienen, was das Schicksal über sie verhängt haben mag. Der Anblick des kleinen, aber unverkennbar entschlossenen Häufleins flößt der großen Masse des johlenden Volkes Respect ein und Niemand wagt es, sie anzugreifen oder zu beleidigen. So mögen sie etwa eine Stunde gestanden haben, als sie einen österreichischen Stabsarzt, Namens H., bemerkten. Sofort eilten einige von den Soldaten auf ihn zu, theilten ihm in wenigen Worten ihre Verlegenheit mit und baten ihn, sie aus der Stadt herauszuführen. Der Stabsarzt erklärte sich bereit, stellte sich an ihre Spitze, zog den Säbel und commandirte „Marsch!“ Die energische Haltung, welche die Soldaten zeigten, ihr festes Auftreten scheint mißverstanden worden zu sein, denn alsbald entstand Lärm und Geschrei, als gelte es, einen Angriff abzuwehren. Die Folge davon war, daß man hier und da anfing, aus den Fenstern auf die kleine Truppe zu schießen. Die Sache drohte eine mißliche

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Gemüthliche Kriegsscene in Mailand.

Wendung zu nehmen. Die Soldaten wollten mit ihren Kugeln antworten, und nur mit Noth konnte H. sie davon abbringen, der kalten Blutes die gefährliche Situation überblickte. Da, in dem kritischsten Momente, fliegt eine Thüre auf und eine ganze Schaar plaudernder, lachender, schreiender Mädchen verläßt die Schule. Sie kümmern sich weder um die Verbündeten, noch um die Oesterreicher, und laufen munter an den Kroaten vorüber. In diesem Augenblicke wendet H. sich um, richtet einige Worte an die Soldaten, diese fahren auseinander, fallen über die Kinder her und – jeder nimmt eins von ihnen auf den Arm. Die Kleinen sind erschreckt, doch einige Worte des Arztes und mehr noch die freundlichen Gesichter der Kroaten beruhigen sie. So ziehen die Soldaten weiter, in der Rechten das Gewehr, auf dem linken Arme die Knospe einer reizenden Italienerin der Zukunft tragend. Die Volksmenge, welche Zeuge dieser Scene war, ist im ersten Augenblicke entsetzt. Bald jedoch erräth man die Absicht des Führers der Soldaten, man ist angenehm überrascht, man lacht, man applaudirt, man ruft Evviva! In allen Straßen wird der interessante Zug auf’s Freundlichste aufgenommen und unbehelligt gelangt die kleine Truppe, gefolgt von einer Schaar Neugieriger, vor’s Thor. Hier küßt jeder Kroate sein kleines Schätzchen, und die niedlichen Italienerinnen scheinen dagegen nicht protestiren zu wollen. H. kauft Kirschen und Melonen, beschenkt die Kinder reichlich und mit artigen Knixen empfangen sie das Präsent. H. bittet schließlich die anwesenden Mailänder, die Kinder heimgeleiten zu wollen, und zieht dann mit seinen Schutzbefohlenen weiter.“



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Skizzen und Naturbilder aus Mittel- und Südliefland.
Nr. 1. Fischerei.

In einem Lande, das bei einer ausgedehnten Meeresküste zugleich eine beträchtliche Anzahl fischreicher stehender und fließender Gewässer besitzt, wird die Fischerei eine Erwerbsquelle genannt werden können, deren Ausnutzung den Bewohnern im Allgemeinen sowohl einen bedeutenden Zuschuß an Nährstoffen sichern, als auch einem Theile derselben, den Fischern, das Hauptmittel zu ihrer ganzen Existenz verschaffen, endlich einen nicht gering anzuschlagenden Einfluß wenigstens auf den inneren Handelsverkehr ausüben muß.

Das so eben Ausgesprochene gilt auch für Liefland; seine Westgrenze bildet die Ostsee, in seinem Gebiete befinden sich viel Seen und Flüsse, die eine große Masse trefflicher Fische hergeben, welche fast nur im Lande verzehrt werden, durch ihren Ein- und Verkauf wird zugleich ein starker Geldumsatz erzielt, während schließlich eine Anzahl von Handeltreibenden in dem hierdurch bestimmten Geschäftszweige zu arbeiten vermag.

Dies Alles würde jedoch für eine Besprechung der liefländischen Fischerei nicht maßgebend sein, wenn nicht von der Art und Weise, wie einige Zweige derselben betrieben werden, Interessantes und, wie wir glauben, für viele Leser Neues zu berichten wäre.

Wir berichten vorerst Einiges über die Küstenfischerei, weiter unten soll dann besprochen werden, wie das Gewerbe bei uns auf den Flüssen und Landseen betrieben wird. – Die Ostseefischerei beginnt im Frühling, sobald das Küsteneis durch Sonne, Sturm und Regen entfernt wurde und die letzten Schollen aus den Flüssen in’s weite Meer hinausgeschwommen sind; denn jetzt erst erwärmt sich das seichtere Strandwasser allmählich und lockt die Fische, welche im Winter die wärmeren Tiefen der hohen See aufsuchten, wieder in die Nähe des Landes. Die Strandbauern haben schon lange diese Zeit herbeigewünscht, welche ihnen neuen Erwerb bringt, den ganzen Winter hindurch lebten sie kümmerlich von ihrem Ersparten und von der Feldernte des vorigen Jahres, welche aber an vielen Orten wegen der Unfruchtbarkeit des sandigen Küstenstriches schlecht genug ausfällt; an einigen Stellen sind die Leute sogar gezwungen, den nackten Dünensand mit großen Mengen Tangs zu bedecken, welchen sie einige Zeit faulen lassen und alsdann mit Hafer oder Gerste besäen, wobei natürlich nicht viel herauskommt. – Die Art und Weise, wie sie die Fischerei betreiben, bietet kaum Unterschiede von Belang im Vergleich mit der Fischerei an deutschen Ostseeküsten, doch ist bei uns das Meer an feineren Seefischen ziemlich arm; nur Schollen gibt es in großer Menge, während der Hering sehr selten ist, dagegen besuchen zwei seiner Verwandten unsere Seeufer in mächtigen Schaaren, der Strömling und der Brätling.

Der Strömling hat in der Gestalt viel Aehnlichkeit mit dem Hering, wird aber nur sechs bis zehn Zoll lang und hat eine mehr silberweiße Farbe, die auch auf dem Rücken wenig in’s Blaue spielt. Die ersten Strömlinge, welche im Mai auf die Märkte gebracht werden, sind besonders groß und fett und werden für eine Delicatesse angesehen; der Fisch wird überhaupt am besten geräuchert verspeist, er ist in anderer Zubereitung nicht so schmackhaft. Die späterhin gefangenen Strömlinge sind viel kleiner, dafür nimmt aber ihre Menge zu und wächst oft in’s Erstaunliche. Die Fischerbauern pflegen sie alsdann einzusalzen und in Tonnen zu verpacken um sie, sobald die Zeit der Fischerei vorüber ist, also im Winter, weit in’s Land hinein zum Verkaufe zu führen. Zwischen den Strandleuten und den näher wohnenden Landbauern existirt an manchen Orten eine Art Tauschhandel; Letztere pflegen dort zur Fangzeit an den Strand zu kommen und den Fischern sowohl Salz mitzubringen, als auch beim Einpökeln zu helfen; dafür erhalten sie einen Antheil vom Salzfisch und liefern noch im Herbste den Fischern eine angemessene Quantität an Korn.

Der Brätling ist ein drei bis fünf Zoll langes, sehr zartes, silberglänzendes Fischchen mit bläulichem Rücken, welches nur gleich nach dem Fange, also am Strande selbst, frisch verzehrt werden kann, da es gar zu leicht verdirbt; zu Markte wird er nur gesalzen gebracht. Der Fisch wird in großer Menge gefangen und bildet einen ziemlich wichtigen Handelsartikel, namentlich für Reval, Esthlands Hauptstadt, in welcher man ein geheim gehaltenes Verfahren kennt, ihn in einer pikanten Sauce vorzüglich gut einzumachen, so daß er sich, an einem kühlen Orte aufbewahrt, Jahre lang eßbar erhält und selbst mit der Zeit an Wohlgeschmack gewinnt. Diese sogenannten Revaler Külloströmlinge oder Küllos, auch in Deutschland unter dem Namen der russischen Sardellen bekannt, werden weithin verschickt und stehen ziemlich hoch im Preise. Schon in Riga kostet ein mit Küllos gefülltes, etwa ein preußisches Quart haltendes Glas an zwanzig bis fünfundzwanzig Neugroschen. In früheren Zeiten erschienen manchmal arme esthländische Studenten in Dorpat mit einer Wagenladung eingemachter Küllos, von deren Erlös sie die Kosten ihres dortigen Aufenthaltes bestritten.

Trotz des großen Verbrauches ist doch an Strömlingen und Brätlingen keine Abnahme zu bemerken, eine desto größere an Lachsen. Vor einigen hundert Jahren gab es in Riga so viel Lachse, daß in der damaligen Stadtverordnung sich ein Paragraph vorfindet, welcher den Herrschaften ausdrücklich vorschreibt, ihre Dienstboten nicht mehr als zwei Mal in der Woche mit Lachs zu beköstigen. Heutzutage dagegen ist der Lachs schon so ziemlich ein Luxusessen geworden, denn obgleich man in guten Jahren noch immer einen Lachs von fünfundzwanzig Pfund für wenig mehr als zwei Thaler kaufen kann, so steigt doch der Preis für einen eben so schweren Fisch andererseits wohl auf zwölf bis sechzehn Thaler. Dem geräucherten Dünalachs kann man an Wohlgeschmack und schöner Farbe höchstens den besten Rheinlachs an die Seite stellen; man räuchert ihn in kleinen, halb offenen Hütten, indem man feuchtes Stroh auf glühende Kohlen schüttet und die leicht besalzenen Stücke des zertheilten Fisches eine Nacht lang in diesem Qualme hängen läßt.

Von der eigentlichen Flußfischerei bietet der Neunaugenfang den großen Vortheil, daß er vorzugsweise im Winter vorgenommen werden kann, und zwar ist er am bedeutendsten in der Düna, weniger wichtig in den kleineren Flüssen. Im Sommer fängt man die Neunaugen mitunter auf eine eigenthümliche Weise. Man durchbohrt Wände und Boden eines hölzernen Kastens mit trichterförmigen Löchern, deren innere Mündung gerade nur so groß ist, daß der Fisch bequem hineinschlüpfen kann, legt ein Stück nicht mehr ganz frisches Fleisch in den Kasten, verschließt denselben und versenkt ihn darauf an einer Stelle des Flusses, wo sich Neunaugen aufhalten. Diese schlüpfen alsbald durch die Löcher in den Kasten und saugen sich in großer Menge an das Fleisch an; nach einigen Stunden wird dann der Apparat hervorgeholt und die Fische, welche sich manchmal so fest an das Fleisch angesogen haben, daß man sie mit Gewalt davon entfernen muß, herausgenommen. Auf gleiche Weise kann man auch Krebse fangen.

Der Winterfang der Neunaugen beginnt, sobald das Eis so stark geworden ist, daß es einen Menschen zu tragen vermag, etwa um die Weihnachtszeit. Alsdann begeben sich die Fischer mit Aexten auf den Fluß und befreien durch Aushauen einen Platz von 4–5 Fuß Breite und oft mehr als 100 Schritt Länge vom Eise. Sobald dies geschehen ist, beginnt das Einsenken der Fangkörbe. Diese sind aus langen Weidengerten zusammengeflochten, haben die Gestalt eines Zuckerhutes, sind gegen fünf Fuß lang, haben vorn eine zwei Fuß breite Mündung und laufen nach hinten in eine feste Spitze aus. Sie werden, an lange Stangen befestigt, mit der Oeffnung gegen die Strömung gekehrt, in’s Wasser hinabgelassen und zwar dort, wo dieses nicht sehr tief ist und recht rasch fließt. Sobald ein Korb an seinem Platze ist, wird die dazu gehörige Stange über dem Eise mit einigen Holzstücken befestigt, damit sie nicht von dem Wasser unter das Eis gezogen, vielmehr auch der Korb in wagrechter Lage erhalten werde. Allmählich füllt sich die ganze offene Stelle mit einer langen Reihe neben einander versenkter Körbe, deren Stangen, aus der Ferne gesehen, einen Zaun zu bilden scheinen. In der Nähe von Riga, bei dem Gute Dahlen, werden die meisten Dünaneunaugen gefangen, dort ist die ganze Fläche der daselbst fast 1500 Schritt breiten Düna mit vielen Reihen solcher Neunaugenfänge besetzt, eine gefährliche Einrichtung für diejenigen Reisenden, welche, wie es bei schlechter Landbahn vorkommt, zu Schlitten auf dem Strom nach Riga fahren, wobei in dunkler Nacht die Pferde leicht in die Eislöcher gerathen können. Bei starkem Froste friert die Oeffnung in einer Nacht wieder fest zu, wo dann die Fischer, welche stets des Abends die Körbe versenken, natürlich am andern Morgen sie erst wieder auseisen müssen, um sie emporziehen zu können.

Die Neunaugen, welche sich gern an flachen, strömigen Stellen [434] aufhalten, kommen von oberhalb gegen die Körbe zu, bei welchen das Wasser wegen des ihm entgegenstehenden Hindernisses noch reißender wird. Sie werden alsbald in die Körbe hineingerissen und haben nicht Kraft genug, sich aus dem spitzen Ende, wo die Gewalt am größten ist, wieder hervorzuarbeiten.

In manchen Jahren finden sich diese Thiere in unglaublicher Menge ein, mehr als ein alter Fischer hat uns erzählt, wie zu Zeiten der Fluß durch sie als eine lebendige, wimmelnde Masse erschienen sei, so daß man sie mit den Händen oder mit Schöpfkellen zu Hunderten habe aus dem Wasser holen können.

Frisch gebraten oder gekocht, geben sie eine sehr unverdauliche Speise ab, der größte Theil des Fangs wird daher von den Fischern auf besondere Weise zubereitet, ehe sie ihn in den Handel bringen. Nachdem man die Neunaugen über starkem Kohlenfeuer auf großen, vergitterten Eisenrosten scharf gebraten, wobei sie einen abscheulichen, brenzlich-thranigen Geruch verbreiten, verpackt man sie schichtweise in große neue Holzgeschirre, auf jede Schicht einiges Salz streuend. Ist das Geschirre gefüllt, so kommt auf die oberste Schicht Fische ein Bret, welches man mit großen Steinen beschwert. Nun läßt man das Ganze ruhig einige Tage stehen; in dieser Zeit wird durch das Gewicht der Steine aus den Neunaugen ein Theil ihres Fettes und Saftes herausgepreßt, und bildet mit dem Salze eine Sauce, welche ihnen einen vortrefflichen Geschmack mittheilt. Dreißig Stück so zubereiteter Fische bezahlt man bei den Bauern selbst mit 10–12½ Ngr. Es werden ihrer im Ganzen jährlich gewiß einige Millionen gefangen.

Weniger großartig und vortheilbringend, aber viel unterhaltender ist das Fischstechen und das Hechtschießen. Mit dem zuerstgenannten beschäftigen sich die Dünabauern und wohl auch andere Liebhaber von solchen Dingen, besonders in kalten Spätherbstnächten. Obgleich in dieser Zeit schon starke Nachtfröste einzutreten pflegen, verweilen doch die Leute bis ein und oft auch zwei Uhr des Nachts auf dem Wasser.

Nahe der Spitze eines kleinen Ruderbootes wird ein erhöhter Holzrost angebracht, welchen man mit Erde bedeckt, um darauf ein helles Feuer von Holzkohlen und trocknem Reisig zu unterhalten; ganz vorn an der Spitze steht der Fischer, einen Stab haltend, an dessen unterem Ende ein scharfes, mit Widerhaken versehenes Eisen befestigt ist; außer dem Fischer ist noch ein zweiter Mann da, welcher, je nachdem das Wasser tiefer oder flacher ist, bald mit einer Stoßstange, bald mit kurzen Rudern das leichte Fahrzeug geräuschlos fortbewegt. Ringsum glänzen die Lockfeuer über dem Strom, in der Ferne wie rothleuchtende Sterne, näherzu mit flackernder Gluth, die in nebligen Nächten dem Scheine einer Feuersbrunst täuschend ähnlich sieht, bei klarem Wetter dagegen Streifen blutfarbigen Lichtes auf die düstere Fluth legt. Die Nacht ist sehr finster, desto heller durchleuchtet die Flamme bis auf ziemliche Tiefe einen kleinen, der Bootspitze zunächst liegenden Theil des Stromes. Vom Glanze angelockt, gleiten die Fische von allen Seiten in dies helle Revier hinein, immer näher, mit langsamem Flossenspiel, die Köpfe zur seltsamen Helle richtend. Aber über den Rand geneigt, lauert regungslos mit erhobener Waffe der Fischer, bis sich in sicherer Nähe eine lohnende Beute zeigt; blitzschnell fährt dann das Eisen in das aufzischende Wasser und versenkt sich in den Körper des auserlesenen Opfers.

Das Hechtschießen wird im Frühling vorgenommen. Sobald die Zeit des Hochwassers vorüber ist, kommen die großen Hechte gern auf flache, leicht überschwemmte Inselchen, wenn diese an warmen Tagen unter der Mittagssonne ruhen, um unter jungen Wasserpflanzen sich zu sonnen; oft liegen die Fische dann an so seichten Stellen, daß sie mit dem Rücken fast über das Wasser hervorragen.

Stromabwärts, ohne Ruderschlag, nur manchmal leise gesteuert, naht ein Boot, worin ein paar Schützen verborgen sind; es lenkt auf einen dieser Holme zu und fährt dicht an ihm vorüber, während die Jäger nach den Hechten spähen, welche eben so scheu als schnell sind. Haben sie einige große Bursche entdeckt, so gilt es, schnell zu schießen und zwar unter einem gewissen, nicht zu stumpfen Winkel, weil sonst die Schrote vom Wasser abprallen würden. Wird ein Hecht erlegt, so kümmert man sich wenig darum, daß man oft tüchtig waten muß, um des Flossenwildes habhaft zu werden, denn ein glücklicher Schuß ist sehr schwer und die Freude um so größer, wenn er gethan wird.

Was die Landseefischerei anbetrifft, so ist auch diese sehr bedeutend, besonders auf den großen Seen esthnisch Lieflands, dem Wirzjerw und dem Peipus, welcher letztere jedoch nur zum Theil zu Liefland gehört. Sie versorgen das ganze umliegende Land mit frischen, mehr aber noch mit kleineren Salzfischen. Der Nebs, ein schlankgebauter, 6–10 Zoll langer, wahrscheinlich dem Geschlechte der Lachse zuzuzählender Fisch, kommt sehr zahlreich im Peipus vor, von wo ihn die an diesem See in Dörfern wohnenden russischen Fischer nach Dorpat und weiter in’s Land hinein bringen. Er hat ein fettes, festes, grätenloses Fleisch von vorzüglicher Güte und schmeckt fast wie geräucherte Sprotten.

Die zahlreichsten Seen besitzt Liefland in seinem südöstlichen Theil, wo auch seine ausgedehnteste Bodenerhebung vorkommt. Das Land hat dort einzelne größere Hochplateaus bis zu 800 Fuß über dem Ostseespiegel und viele Hügelketten, zwischen welchen Thäler liegen, in denen die Seen enthalten sind, welche meist einen lieblichen Anblick gewähren. Ihre Ufer sind mit Laub- und Nadelwald, mit blumenreichen Wiesen, zerstreuten Landgütern und Bauerhöfen, an einzelnen auch mit Ruinen aus der Ritterzeit geschmückt, was den verschiedenen Wasserbecken eine anziehende Einfassung gibt. In einigen liegen bewaldete, flache oder bergige Inseln, andere sind rings von schroffen Wänden umgürtet und werden erst sichtbar, wenn man dicht an das Ufer herantritt. Eine reiche Flora schöner, seltener, aus Deutschland mitunter fast verschwundener Land- und Wasserpflanzen findet sich an und auf den tiefen, stillen Seespiegeln und gewährt dem vom einsamen Naturleben gefesselten Botaniker eine reiche Ausbeute.

Bereiset man diesen anmuthigen Theil unserer Provinz, so hat man beständig Gelegenheit, sich an der wechselnden Scenerie der Landschaften zu erfreuen. Bald führt der Weg durch Laubwälder, bald durch Nadelgehölz bergauf, bergab; dann wieder windet er sich in ein Gewirr baumloser Hügel hinein, über welche die Heide ihren graugrünen Teppich gebreitet hat oder in denen sich Getreidefelder in verschiedenen Schattirungen von Grün hinziehen, mit dunkelbraunen, aufgepflügten Aeckern wechselnd. Seitwärts thun sich tiefe, walderfüllte oder wiesengrüne Schluchten auf, durchfurcht von schnellfließenden Bächen, oder ein See blickt wie ein großes, blaues, feuchtschimmerndes Auge zu uns empor. Zuerst verschleiert noch Baumwuchs den breiten, hellen Wasserplan, aber wie wir weiter an ihm entlang fahren, rollen seine Ufer sich immer ferner auf, erschließen sich stets neue, lauschig waldumrauschte Buchten. Von einer Hügelkuppe erblicken wir drei, vier Seen zugleich, dann senkt sich der Weg wieder in neues Gehölz, oder freies Feld erscheint, Häuser und Hütten, Edelhöfe und Kirchen tauchen auf, bleiben hinter uns zurück, während wir munter weiterrollen und uns der anmuthigen Bilder freuen.

In den vielen klaren, kalten Bächen findet man sehr große Forellen, Schmerlen und Krebse. Echte Perlen führende Muscheln, deren Fang in früherer Zeit Monopol der Krone war, sind jetzt nicht mehr so zahlreich, als sonst, jedoch noch immer in mehreren dieser Berggewässer anzutreffen.

In die größeren Flüsse und Flüßchen wandert zur Laichzeit der Lachs ein, durch die Düna aus der See aufsteigend, und prächtige Aale, oft von fünf bis sechs Pfund Schwere, werden in einigen zu Tausenden mit Aalwehren gefangen.

(Schluß folgt.)




Berliner Bilder.
Von E. Kossak.
5. Von den Friedenssoldaten.

Jenem großen niederländischen Maler rühmte man als eine außerordentliche Kunst nach, er habe durch einen Strich das Bild eines weinenden Kindes in das eines lachenden verwandeln können. Wer sich darüber zu ungewöhnlichen Lobsprüchen des Meisters angeregt fühlen konnte, dem mag das chamäleontische Farbenspiel des Lebens ein tiefes Geheimniß geblieben sein, denn wer nur einen scharfen Blick [435] in die Natur gethan, der mußte die Wahrheit des volksthümlichen Wortes über die Kinder erkennen und bestätigen, daß bei ihnen „Lachen und Weinen in einem Sacke“ befindlich sei. Die Malerkunst zur Darstellung dieses Processes braucht keine sonderlich große zu sein. Das Leben stellt stets seine schärfsten Contraste neben einander, und in der Poesie spielt der Humor die Rolle des Rubens, durch einen leisen Strich ein mit Zähren bethautes Angesicht in ein lachendes zu verwandeln.

Versuchen wir daher, mit schüchterner Hand in dieser bitterbösen Zeit aus den Schaaren der sich von allen Seiten ansammelnden Kämpfer einige Gestalten auszusuchen und bei ihnen den genannten umwandelnden Strich anzubringen. Fern sei es von uns, tapfern Kriegern zu nahe zu treten, mit einer heiligen vaterländischen Sache ruchlos Spott zu treiben; aber wir erblicken nichts Strafbares darin, unter den wirklichen Soldaten die sogenannten Friedenssoldaten auszusuchen und zu zergliedern.

Glücklich derjenige, welcher mit einem Talent geboren, zur Ausübung desselben auf Erden berufen ist! So etwa sagt Goethe an einer Stelle, die noch nicht durch allzuhäufiges Citiren zu einer literarischen Fuhrt ausgetreten ist. Der Friedenssoldat befindet sich nicht in der vom Dichter als glücklich gepriesenen Lage. Er ist entschieden für die Werke des Friedens geboren und soll doch auf Grund der preußischen Militairverfassung tapfere Thaten des Krieges verrichten. Durch dreijährige Dienste in der Garde für Heldenthum herangebildet, ein Meister im Parademarsch, eingeweiht in die tiefe Wissenschaft der militairischen Grüße, ein vollendeter Künstler in der Reinigung des Riemenzeuges, mit dem üppigen Genuß des Commißbrodes vertraut, ist er erst vor einem Jahre aus der Linie entlassen und jetzt wieder als Kriegsreservist einberufen, um gegen den Retter der Gesellschaft unter Waffen zu treten. Johann war nie mit ganzem Herzen bei der Fahne. Aus zarterem Stoffe schuf ihn die Natur, und schon frühe lernte er die Süßigkeit einer bürgerlichen Abhängigkeit kennen, die nichts von Uniform weiß, sich mit einer sackleinenen Schürze, einen Strauchbesen und einem kleinen Handwagen begnügt, Johann war nur für die Berliner Hausknechtschaft geboren, seine Brust war nicht hoch genug gewölbt für militairischen Ehrgeiz. Nur einen sehnsüchtigen Wunsch hatte er während seiner Dienstzeit genährt, aber vom Schicksal war ihm die Gewährung versagt worden. Befreiung von dem Zündnadelgewehr und die Belehnung mit dem Posten eines Officierburschen, dahin zielte sein Streben, allein Johann näherte sich hinsichtlich der Größe und leider auch des Verstandes dem Format des berühmten Murphy, mithin konnte das Bataillon seiner persönlichen Repräsentation nicht entbehren und fesselte ihn für drei Jahre an die Fahne. Als sein Triennium auf der „hohen Schule der Preußen“, wie der berühmte Reactionair, Herr von Kleist-Netzow, die Armee in einem Augenblicke patriotischer Congestionen nach dem Kopfe nannte, vollendet war, trat Johann aus den exclusiven Kreisen der Gardegrenadiere in das bürgerliche Leben zurück. Ruhmsucht störte nicht seine Träume; so gelassen, wie jener alte Römer vom Schlachtfelde hinter den Pflug zurücktrat und Rüben baute, schied Johann aus der Caserne und ward wieder Hausknecht.

Die Mobilmachungsordre hat ihn als den verlobten Bräutigam einer Vestalin in den reifsten Jahren, einer perfecten Köchin in einem vornehmen Hause, betroffen. Die culinarische Kunst seiner Geliebten macht ihm außerordentliche Freude, noch mehr ihr während einer langen und rechtschaffen zurückgelegten Laufbahn zusammengebrachtes Capital in städtischen Obligationen von anderthalbtausend Thalern. Das edle Paar war bereits einig geworden, einen Bierkeller nebst freiem Verkauf von Victualien anzulegen, also ein Geschäft, das seinen Mann so sicher nährt, als eine Plantage in Louisiana, und meistens mit dem Besitze eines dreistöckigen Hauses endet. Das Vorrücken der französischen Armee an die Minciolinie hat diese rosigen Hoffnungen zerstört, Johann muß wieder dem Kalbfelle folgen und Albertine sich entschließen, weiter zu kochen, zu backen und Früchte einzumachen. Johann sitzt am letzten Abende in der Küche und labt sich an einem Hühnchen, das eigentlich für Albertinens Gebieter gemeuchelt worden ist.

„Ich vermache Dir alle meine Civilkleider, wenn ich todtgeschossen werde,“ seufzt der wackere Friedenssoldat, „aber ich denke, es wird nicht so weit kommen. Mein Entschluß ist gefaßt; so wie es losgeht, lasse ich mir gleich gefangen nehmen, das ist das Beste!“

„Thue das, Johann,“ sagt die perfecte Köchin, „es ist das Vernünftigste. Deine Sache ist es nicht, Dich für das Vaterland todtschießen zu lassen, ein guter Preuße sucht sein Vaterland zu loben; alles Andere hat gar keinen Sinn, Dich geht der Mincio und der Rhein gar nichts an, denn Du bist ein Kind der Spree.“

Johann hört diese Entwicklung einer echt weiblichen Philosophie schweigend an, und nur das Knirschen seiner Zähne, mit denen er die Gebeine des gebratenen Vögleins zermalmt, scheint den in seiner Seele schlummernden Zorn über die Trennung von der beleibten Geliebten zu verrathen.

Wenige Zimmer weiter, im Innern des Hauses, finden wir einen anderen Friedenssoldaten von feinerer Extraction. Am Theetisch den Eltern gegenüber liegt in einem sammetnen Lehnstuhle der jüngste Sohn vom Hause, ein Dandy im strengsten Style dieser berühmten Schule. Er hat bisher allen scharfsinnigen Heirathsplänen der beiden Alten erfolgreich widerstanden und die stolze Freiheit eines Junggesellen bewahrt. Während die älteren Herren Brüder an lauter reiche Frauen verheirathet sind und im Verein mit dem eigenen Vermögen die glänzendsten Geschäfte machen, auf welche selbst das letzte Jahr der europäischen Pleite keinen sonderlich nachtheiligen Einfluß ausgeübt hat, kostet er dem Papa jährlich die Zinsen eines hohen Capitales. Im ersten Range der Oper hat er einen festen Sitz, sein Rappe kostet beinahe zweihundert Louisd’or, er gibt im Winter ein halbes Dutzend Diners und Soupers, wird von jüngeren Schauspielerinnen der Zugänglichkeit seiner Börse wegen sehr hochgeschätzt und läßt seine Leibwäsche in Paris anfertigen. Isidor ist eine imposante Erscheinung durch ein gewisses jugendliches Embonpoint und seinen quer über den Schädel, bis tief in den Nacken gescheitelten schwarzbraunen Krauskopf. Die Berliner Kaufmannschaft könnte auf ihn stolz sein, wenn sie nicht unglücklich genug wäre, sich in den nächsten Tagen von ihm trennen zu müssen. Der Beklagenswerthe flattert gleich dem Ritter Posa an einem langen, doch unzerreißbaren Seil. Schon vor Jahren, in jenem tiefen Manteuffel’schen Frieden der Demüthigung Preußens, der bis auf einige kleine Unbequemlichkeiten einem falschen goldenen Zeitalter glich, wurde Isidor in einer schwachen Stunde von militairischem Ehrgeize ergriffen. Die schlanken Taillen, die glänzenden Uniformen, die kunstvolle Sprache oder „Spräche“ der Gardecavallerie hatte er längst bewundert und, da der Civilstand seinem übersättigten civilen Ehrgeize keine Reizmittel mehr bot, im Stillen überlegt, ob er nicht eine ähnliche Stellung in der Landwehrcavallerie bekleiden könne, die ihm jährlich vierzehn Tage lang gestattete, sich in der saubersten Uniform den liebenden Damen und bewundernden Stutzern der Residenz zu zeigen. Da er gedient hatte und nicht allein Geld im Ueberfluß besaß, sondern, was im Militair eigentlich die Hauptsache zu sein pflegt, auch bereitwillig und mit dem natürlichen Anstande eines reichen Jünglings auszugeben verstand, wurden seiner Promotion als Secondelieutenant in der Landwehrcavallerie keine Schwierigkeiten entgegengesetzt. Mit einigen Gardeofficieren, die mit seiner Prüfung amtlich beauftragt worden waren, fand bei genügendem Hochheimer 1846, aus des Herrn Papa’s Kellereien, ein Disputatorium über die Theorie größerer Reitergefechte und die Führung des Pferdes statt, und der Candidat ging schließlich mit blanken Epauletten aus der gelehrten Unterhaltung hervor. Ein Lieutenantsschmauß, mit dem verglichen der gewöhnliche Doctorschmauß der armen studirten Leute eine Mahlzeit à la Ugolino im Hungerthurme ist, feierte den Tag der Einkleidung, und die geheimen Memoiren in Isidors Einnahme- und Ausgabebuch sprechen von manchem Darlehn, das wir, da es nicht immer wiedergegeben wurde, mit dem passenderen, wenn gleich gemeineren Namen „Pump“ bezeichnen möchten.

In den seligen Friedenszeiten gereichte die Lieutenantscharge dem tapferen Isidor unbedingt zum physischen und moralischen Vortheile. Die Landwehrübungen stellten in seinem Leben, wenn er jährlich gewaltsam aus dem bequemen Civil und von der väterlichen fetten Tafel gerissen wurde, die wirksamste Badereise gegen Unterleibsleiden vor. Das bei Manövern nicht immer zu vermeidende Commißbrod reinigte seinen müßig gewordenen Magen, er ritt seinen elegant gerundeten Wanst um zehn Pfund leichter, wurde wieder für Ballet, Champagner und Damenunterhaltung empfänglicher und fühlte sich durch das Bewußtsein von zweierlei Tuch sittlich gehoben. Allein seine Begeisterung für das Reiterleben ging keineswegs so weit, um daraus eine Lebensbestimmung zu machen. An der Melodie und dem Texte des berühmten Gesanges: „Was blasen die [436] Trompeten? Husaren heraus!“ hat er nie künstlerisches Wohlgefallen gespürt. Nachdem ihm die Ordre zugegangen, sich bei seinem Truppentheile an einem bestimmten, nicht mehr entfernten Tage zu stellen, fühlt er eine zärtliche Neigung zu dem stummen ledernen Rosse, das ihn bei seinem schriftlichen Kampfe mit Coursen und Wechseln getragen hat. Rozinante wurde von dem Ritter aus der Mancha, Babieça vom Cid nicht mehr verehrt, als der arme Sitzbock mit blanken messingenen Nägeln nach dem Befehle zur Mobilmachung. Der Anblick seines stolzen Rappen verursacht Isidor Herzweh, er muß ihn von einem gleichgültigen alten Stallmeister der diätetischen Regel gemäß spazierenreiten lassen, der Ton der Wieprecht’schen Trompeten im Thiergarten macht ihn nervenschwach, er ahnt den Ausbruch der Kriegsscheu. Diese Geisteskrankheit überfällt nur den bemittelten Friedenssoldaten. Er vermag die Farben der Uniform nicht mehr zu ertragen, phantasirt über die Freiheiten von Nordamerika und muß sogleich mit Sitzbädern oder kalten Abreibungen behandelt werden, wenn er nicht ganz unfähig zu ordentlichen Geschäften werden soll.

Eine höchst eigenthümliche Classe der Friedenssoldaten bilden viele Verheirathete. Zum ersten oder zweiten Aufgebot der Landwehr gehörig, und vielleicht schon seit einigen Jahren unter das Ehejoch gebeugt, scheinen sie an Wehrlosigkeit und Mangel an Muth mit den Invaliden in der bekannten Posse „Die sieben Mädchen in Uniform“ auf einer Stufe zu stehen. Sie stöhnen Tag und Nacht unter der Tyrannei des Pantoffels, weder Domitian und Nero, noch Onkel und Neffe Napoleon flößten ihren gequälten Unterthanen solchen Schrecken ein, als unseren Männern ihre geliebten Weiber. Der unschuldige Besuch des bairischen Bierquells in ihrer Gegend, die Theilnahme an einer abendlichen Partie Boston, Whist oder Billard ist ihnen strenge untersagt; das Weib ihrer Wahl und Qual gestattet nur die Entfernung von Hause, wenn es, an den Arm des Dulders gehängt, mitgehen darf; sie genießen nicht den freien Gebrauch ihrer Gelder, und müssen sich eine fortwährende Controle der Ausgabebücher gefallen lassen. Bei den alljährlichen Controleversammlungen der Landwehr sehen die Officiere sie als die unnützesten Soldaten an; man fürchtet sogar, daß sie mit ihrer niedergeschlagenen Gemüthsstimmung das ganze Bataillon demoralisiren könnten. Wie gering ist die Menschenkenntniß unter den Officieren der activen Armee!

Kaum haben diese geknechteten Charaktere die Ordre der Einstellung zur Mobilmachung in der Tasche, so findet ein furchtbarer Umschlag im Innern statt. Die bevorstehende Subordination unter die strengen Kriegsgesetze erscheint ihnen wie eine himmlische Erquickung, eine Befreiung von der häuslichen Sclaverei. Niemand kann zween Herren dienen, also schütteln sie das Weiberjoch im Hause vom Halse, um einem ungleich milderen Gebieter, ihrem künftigen Kriegsbefehlshaber, zu gehorchen. Nach Jahren scharfer Internirung entfernt sich gleich am ersten Tage der ergrimmte Friedenssoldat Abends um die siebente Stunde, ohne officielle Anzeige bei der Frau Gemahlin zu machen, und kehrt erst gegen Mitternacht heim. Natürlich erwartet sie ihn bei hellbrennender Lampe in dem feierlichen Raume der Putzstube. Auf jeden Exceß dieser Art muß bekanntlich gleich ein nächtliches Standrecht gehalten werden. Wer vermöchte aber ihr Erstaunen zu schildern, als endlich der Gatte, der Theure, Arm in Arm mit einem halben Dutzend anderer Einberufener, in militärischem Marsche nach Melodie und Rhythmus des Preußenliedes nach Hause kommt, ihm ein Vivat von seinen Begleitern gebracht wird, während er, nicht ohne einige Mühe in Betreff der Auffindung des Schlüsselloches, die Hausthür öffnet, und als Abschiedsgruß noch ein nachträglicher Trommelwirbel mit den Fäusten auf dieser durch einen begeisterten Cameraden erschallt. Sie öffnet ihm selber die Thür des Quartiers und empfängt ihn mit den Worten: „Was fällt Dir ein, Theodosius? Du gehst aus, ohne es mir angezeigt, mich um Erlaubniß gefragt zu haben! Du bleibst bis Mitternacht fort! Du kommst mit singenden Taugenichtsen selbst singend nach Hause! Du leidest, daß auf der Hausthür gewaltsam getrommelt wird! Was ist aus Dir geworden?“

Bei dieser Rede überkommt den sich moralisch bessernden und aufraffenden Friedenssoldaten eine namenlose Wuth, er stützt die Hände auf den runden Klapptisch und ruft mit hohem Pathos:

„Was mir einfällt? Frauenzimmer, das will ich Dir sagen! Vor Freuden außer mir bin ich, daß ich endlich fortkomme und mit dem Schießprügel abziehe. Wir wohnen in einer stillen, trockenen Gegend, aber Du hast in den letzten Jahren ein wahres Cayenne für mich daraus gemacht. Lieber will ich doch selbst unter dem Sicherheitsgesetz stehen, als unter Deiner Willkürherrschaft. Ein Unterofficier im achten Landwehrregiment soll Dich noch fragen, ob er ausgehen darf! Gerechter Himmel, was hat man sich von der eigenmächtigen Person im Laufe der Zeiten Alles gefallen lassen? aber es soll anders werden, ganz anders. Lieber will ich täglich mit afrikanischen Tirailleuren kämpfen, als mit Dir. Da kann Einem doch nichts Unangenehmeres begegnen, als daß man todtgeschossen wird, und das passirt jedem Menschen nur einmal, aber mit Dir zusammen, muß man täglich hundert Kartätschenladungen von Redensarten und Klagen über nervöse Kopfschmerzen aushalten, und kann sich nicht einmal zur Wehr setzen, Du weiblicher Turco!“

Die Wirkung dieser Rede ist furchtbar. Die Gattin stürzt in das dunkle Nebenzimmer und den Abgrund eines Lehnstuhls, sie bricht in Weinen und Wimmern aus, sie articulirt die bekannten Molltöne des gebrochenen Herzens, endlich endigt sie mit einem unheimlichen Röcheln, aber Theodosius kehrt sich an keinen dieser häuslichen Symphoniensätze. Er kennt sie aus genügender Erfahrung, der reichlich genossene St. Julien, die Kriegsordre in der Tasche, die Hoffnung auf Befreiung, auf einen herrlichen Soldatentod machen ihn fest. Mit dröhnendem Tritt begibt er sich in sein Arbeitszimmer, schließt und riegelt sich ein und schläft, als Vorschule der künftigen Bivouacs, auf dem Sopha bis an den lichten Morgen den Schlaf des gerechten und freigewordenen Landwehrmannes, nicht den des geknechteten Friedenssoldaten.

Einen sehr wehmüthigen Gegensatz zu diesem tugendhaften Bürger bildet der alte Obrist, der noch wenige Monate vor der Mobilmachung in seiner Galauniform mit dem Stolze eines Prätorianers spazieren ritt. Wenn man ihn auf dem hohen Braunen vorübergaloppiren sah, so mußte man für die Truppenabtheilung zittern, gegen welche er seine Bataillone führen würde. Schenkel und Waden des Heroen waren von einer prallen Rundung, das dunkle Haupthaar und der Schnurrbart glänzten von Narden und Weihrauch, mächtig hielt die Faust die Zügel des Rosses, furchterweckend klirrte der herabhängende Säbel. Nichtsdestoweniger gehört dieser aufragende Mann unter die Friedenssoldaten. Seine sanfte Seele steckt nur in einem steifen Uniform- und Commandofutterale, in Wattirung, Steifleinen und lackirtem Leder; die Haare sind mühselig gefärbt, die Haltung wird durch eine Schnürbrust unterstützt. Der Held schlägt ein wenig das Clavier, arbeitet an einer Eiersammlung, hört gern in Gesangvereinen zu und leidet unmenschlich an der Gicht. Diese Friedensmomente in seiner psychischen Zusammensetzung würden ihn bei seiner unbestrittenen Ehrenhaftigkeit nicht abhalten, sich den Strapatzen eines Feldzugs zu unterziehen, wenn die Frau Obristin nicht ein entschiedenes Wort darein spräche. Sie beweist ihm, daß er auf dem Paradeplatz für das Vaterland genug gethan, daß die Menge ausländischer Orden auf seiner Brust darthue, wie seine Verdienste nicht nur von dem Landesherrn, sondern auch von fremden Monarchen anerkannt würden, daß es in den gehörigen Jahren die Pflicht älterer Herren sei, jüngeren Cameraden die Gelegenheit zum Avancement zu bieten, und bewegt ihn, sein Abschiedsgesuch einzureichen. Er wird ohne Weiteres pensionirt, und es bleibt von ihm nichts übrig, als der Schatten eines Friedenssoldaten. Die kriegerische Würde knickt in der Civiltracht zusammen, aber auch der geistige Theil des alten Menschen schleppt sich nach Entfernung des Dienstspaliers nur noch am Boden hin. Die Ausstopfung der Gliedmaßen, die Colorirung des Haares und Schnurrbartes wird aufgegeben, das Sammeln von Eiern, der Besuch von Chorübungen hört auf, der alte Herr trägt keine Orden mehr und sinkt so tief, daß er sich bis zum Besuch von Kaffeehäusern und Conditoreien herabläßt, allerlei Zeitungen liest, mehrere geographische Problemkarten vom Kriegstheater für wenige Groschen kauft und die heftigsten Streitigkeiten zu Gunsten Napoleons auskämpft. Das Schrecklichste, was einem denkenden Menschen begegnen kann, ist dem Alten geschehen. Da alle Möglichkeit zu Schuhriegelei seiner Nebenmenschen in der Caserne aufgehört hat, ist er, um sich zu entschädigen, ein Schwärmer für den Retter der Gesellschaft geworden.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Jiun