Die Eroberung des Brotes/Die Dezentralisation der Industrieen

Textdaten
Autor: Pjotr Alexejewitsch Kropotkin
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Titel: Die Dezentralisation der Industrieen
Untertitel:
aus: Die Eroberung des Brotes, S. 148-156
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1919
Verlag: Der Syndikalist
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Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer: Bernhard Kampffmeyer
Originaltitel: La conquête du pain. Paris 1892
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Cornell-USA* = Commons
Kurzbeschreibung:
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[148]

DIE DEZENTRALISATION DER INDUSTRIEN

I.[WS 1]

Beim Ausgang der Napoleonischen Kriege war es England fast gelungen, die in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts aufblühende Industrie zu erdrücken. Es blieb Herr auf den Meeren und ohne ernsthafte Konkurrenten. Es nutzte diese Lage aus, um sich ein industrielles Monopol zu schaffen; und indem es seinen Nachbarn die Preise für die Waren diktierte, die es nur allein fabrizieren konnte, häufte es Reichtümer über Reichtümer auf und wußte seine privilegierte Situation und alle Vorteile gründlich auszubeuten.

Doch als die bürgerliche Revolution des vergangenen Jahrhunderts die Leibeigenschafft abgeschafft und in Frankreich ein Proletariat erzeugt hatte, nahm die Großindustrie, einen Augenblick in ihrem Laufe gehemmt, einen neuen Anlauf und Aufschwung. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hörte in Folge dessen Frankreich auf, England für manufakturelle Produkte tributpflichtig zu sein. Heute ist Frankreich selbst ein Exportland geworden. Es verkauft an das Ausland für mehr als eine halbe Milliarde Manufakturprodukte, und zwei Drittel dieser Waren sind Stoffe. Man schätzt, daß gegen drei Millionen Franzosen in der Exportidustrie und im Handel tätig sind.

Frankreich ist also nicht mehr der Tributär von England. Es hat vielmehr auch seinerseits gesucht, sich das Monopol für gewisse Zweige des Welthandels zu verschaffen, nämlich für Seiden- und Konfektionswaren; es hat ungeheuren Gewinn daraus gezogen, doch steht es jetzt auf dem Punkt, dieses Monopol auf immer zu verlieren, ebenso wie England auf dem Punkt steht, seines Monopols der Baumwollwaren verlustig zu gehen.

*

Geht man weiter nach Osten, so findet man, daß sich die Industrie auch in Deutschland eingebürgert hat. Vor 40 Jahren war Deutschland für fast alle Produkte der Großindustrie ein Tributär Englands und Frankreichs. In unseren Tagen ist dem nicht mehr so. Im Verlauf der letzten 25 Jahre und besonders seit dem Krieg 1870–71 hat Deutschland seine Industrie von Grund auf umgestaltet. Seine größeren Fabriken sind heute schon mit den besten Maschinen ausgestattet; die neuesten Schöpfungen industrieller Kunst, welche Manchester auf dem Gebiete der [149] Baumwollwarenproduktion, oder Lyon auf dem der Seidenspinnerei aufzuweisen hat, werden in den neuen deutschen Fabriken verwertet. Wenn es zweier oder dreier Generationen von Arbeitern bedurfte, um die modernen Maschinen Lyons oder Manchesters zu schaffen, so übernimmt Deutschland diese in ihrer ganzen Vervollkommnung. Seine technischen Schulen, angepaßt den Bedürfnissen der Industrie, liefern dieser eine Armee intelligenter Arbeiter, praktischer Ingenieure, die mit der Hand wie mit dem Kopf zu arbeiten wissen. Die deutsche Industrie beginnt heute auf denselben Punkt zu kommen, auf den Manchester und Lyon nach fünfzigjährigen Anstrengungen, Versuchen und Irrungen gelangt sind.

Daraus ergibt sich, daß Deutschland, da es am eigenen Herd alles ebensogut fabriziert, von Jahr zu Jahr seine Importe aus Frankreich und England verringert. Es ist sogar schon deren Rivalin für den Export nach Asien und Afrika geworden, und was noch mehr sagen will, sogar schon auf den Märkten von Paris und London. Die Leute mit engem Gesichtskreise werden sicherlich gegen den Vertrag von Frankfurt zetern; sie werden die deutsche Konkurrenz durch winzige Differenzen in den Eisenbahntarifen erklären; sie werden sagen, daß der Deutsche für einen Hungerlohn arbeitet usw. usw. Doch diese Leute halten sich nur an die nebensächlichen Punkte einer jeden Frage und übersehen die großen historischen Fakta. Es ist unbestreitbar, daß die Großindustrie – ehemals das Privilegium von England und Frankreich – auch im Osten festen Fuß gefaßt hat; sie hat in Deutschland ein junges, energisches Volk und eine intelligente Bourgeoisie gefunden, die ihrerseits profitgierig genug ist, um sich gleichfalls am Exporthandel zu bereichern.

*

Während Deutschland sich von der englischen und französischen Bevormundung emanzipierte und selbst seine Baumwollwaren, Stoffe, Maschinen – alle Manufakturprodukte in einem Wort – für sich fabrizierte, verpflanzte sich die Großindustrie auch nach Rußland, wo die Entwickelung der Manufaktur eine um so überraschendere ist, als sie erst kürzlich daselbst Boden gefaßt hat.

In der Epoche der Abschaffung der Leibeigenschaft (im Jahre 1861) hatte Rußland fast gar keine Industrie aufzuweisen. Alles, was es an Maschinen, Schienen, Lokomotiven, Luxusstoffen gebrauchte, kam aus dem Occident. Zwanzig Jahre später besaß es schon mehr als 85 000 industrielle Etablissements, und die Waren, welche sie lieferten, hatten ihren Wert vervierfacht.

Der alte Werkzeugapparat ist verschwunden und durch einen neuen ersetzt. Fast den gesamten Stahl, den Rußland heute verbraucht, zwei Drittel der Kohle, alle Lokomotiven, alle Waggons, alle Schienen, fast alle Dampfboote verdankt es heute schon seinem eigenen industriellen Fleiß.

Das Land, das – um mit den Oekonomisten zu reden – dazu bestimmt war, ein ackerbautreibendes zu bleiben, dieses Rußland ist ein [150] industrielles geworden. Es bezieht fast nichts mehr von England, sehr wenig noch von Deutschland.

*

Die Oekonomisten machen die Zölle dafür verantwortlich – doch die Manufakturprodukte werden in Rußland zu dem gleichen Preise wie in London verkauft. Das Kapital kennt kein Vaterland: deutsche wie englische Kapitalisten im Gefolge von Ingenieuren und Zwischenmeistern ihrer Nationen haben die Manufakturen nach Rußland und Polen verpflanzt, die heute gegen die besten Manufakturen Englands mit Produkten erster Qualität konkurrieren. Man schaffe die Zölle ab, und die Manufakturen der heutigen protektionistischen Länder werden nur dadurch gewinnen. In diesem Augenblick sind englische Ingenieure sogar im Begriff, den Tuch- und Wollenexporten des Occidents den Gnadenstoß zu geben: sie wandern nach dem Süden Rußlands und errichten dort große Wollwaren-Manufakturen[WS 2], die mit den vervollkommnetsten Maschinen Bradfords ausgestattet sind, – in zehn Jahren wird Rußland nur noch englische Tuche und französische Wollzeuge als Muster importieren.

*

Die große Industrie schreitet indes nicht allein nach dem Orient fort: sie verbreitet sich auch über die südlichen Halbinseln Europas. Die Ausstellung in Turin von Jahre 1884 hat der Welt die Fortschritte der italienischen Industrie vor Augen geführt, und verhehlen wir es uns nicht: der Haß zwischen der französischen und italienischen Bourgeoisie hat keinen andern Ursprung als ihre industrielle Rivalität. Italien emanzipiert sich von der französischen Oberherrschaft; es macht den französischen Kaufleuten im Mittelmeer und im Orient Konkurrenz. Deswegen und aus keinem andern Grunde wird eines Tages an der italienischen Grenze Blut fließen – es müßte denn gerade die Revolution das Vergießen dieses kostbaren Blutes verhindern.

Wir könnten auch die rapiden Fortschritte Spaniens auf dem Wege zur Großindustrie erwähnen. Aber beschäftigen wir uns lieber mit Brasilien. Hatten die Oekonomisten Brasilien nicht für die Ewigkeit dazu verdammt, Baumwolle als Rohstoff[WS 3] zu exportieren und von Europa die verarbeitete Baumwolle zu importieren? Vor zwanzig Jahren gab es in Brasilien allerdings nicht mehr als neun elende kleine Baumwollen-Manufakturen mit im Ganzen 385 Spindeln. Heute hat es deren 46; fünf unter ihnen allein verfügen über 40 000 Spindeln und werfen jährlich 30 000 000 Meter Baumwollenzeug auf den Markt.

Sogar Mexiko macht sich daran, Baumwollenwaren zu fabrizieren, anstatt Sie von Europa zu importieren. Und was die Vereinigten Staaten anbelangt, so haben sie sich längst von der europäischen Oberherrschaft befreit. Die Großindustrie hat sich daselbst in enormer Weise entwickelt, sie hat über die Europas den Triumph davongetragen.

Doch Indien ist es, das den Anhängern von der Spezialisation der nationalen Industrien das eklatanteste Dementi geben muß.

[151] Man kennt diese Theorie: – Die Kolonien sind den großen europäischen Nationen ein Bedürfnis. Diese Kolonien liefern dem Mutterland die Rohprodukte: die Baumwollenfaser, die Naturwolle, die Gewürze usw. Und das Mutterland sendet dafür die Manufakturprodukte, die Brennmaterialien, das alte Eisen in der Form von veralteten Maschinen – kurz alles, dessen es selbst nicht bedarf, das ihm wenig oder nichts kostet, und welches es nichtsdestoweniger in den Kolonien zu einem sehr hohen Preise verkauft.

Dieses war die Theorie, und lange Zeit ist sie auch in Praxis umgesetzt worden. Man gewann große Vermögen in London und Manchester, während man Indien ruinierte. Gehet einmal in das indische Museum von London, und Ihr werdet daselbst unerhörte, unsinnige Schätze erblicken, die in Kalkutta und Bombay von englischen Kaufleuten zusammengerafft worden sind.

Indes andere Kaufleute und andere Kapitalisten, gleichfalls Engländer, kamen auf die sehr natürliche Idee, daß es praktischer wäre, die Bewohner Indiens direkt auszubeuten, anstatt von England jährlich für 5 oder 6 Hundert Millionen Francs zu importieren.

Anfangs hatte man eine Reihe von Mißerfolgen zu verzeichnen. Die indischen Weber – Künstler in ihrem Handwerk – konnten sich nicht in dem Mechanismus der Maschinen zurechtfinden. Die Maschinen, die man von Liverpool gesandt hatte, taugten nichts; außerdem mußte man dem Klima Rechnung tragen, sich den neuen Bedingungen erst anpassen, was heute alles geschehen ist. Heute wird das englische Indien eine mehr und mehr drohende Rivalin der Manufakturen des Mutterlandes.

Heute besitzt Indien 80 Baumwollen-Manufakturen, die fast 60 000 Arbeiter beschäftigen, und im Jahre 1885 hatten diese mehr als 1 450 000 Tonnen Baumwollenzeug fabriziert. Sie exportieren jährlich nach China, nach dem holländischen Indien und nach Afrika – für fast 100 Millionen Francs – von demselben weißen Baumwollenzeuge, welches man die Spezialität Englands nannte. Und während die englischen Arbeiter feiern und dem Elend anheimfallen, sind es die indischen Frauen, die gegen eine tägliche Abfindung von 50 Pfennigen mittels Maschinen die Baumwollenzeuge verfertigen, die in den Häfen des äußersten Orients verkauft werden.

Kurz, der Tag ist nicht mehr fern – und die intelligenten Industriellen verheimlichen es sich nicht – wo man nicht mehr wissen wird, was man mit den „Armen“ tun soll, welche ehemals in England die Baumwolle für den Export spannen. – Doch dies ist nicht alles: aus sehr glaubwürdigen Berichten geht hervor, daß Indien nach Verlauf von 10 Jahren auch keine einzige Tonne Eisen mehr aus England beziehen wird. Man hat die Schwierigkeiten, die sich zuerst für die Verwendung resp. die Verarbeitung der Kohle und des Eisens Indiens boten, überschätzt, und jetzt erheben sich an den Küsten des indischen Ozeans zahlreiche Eisenwerke – Rivalinnen der englischen Eisenwerke.

Die Kolonie macht dem Mutterlande mit ihren Manufakturprodukten Konkurrenz, das ist das Phänomen, das der Oekonomie des neunzehnten Jahrhunderts so recht eigen ist.

[152] Und warum sollte sie es nicht tun? Was mangelt ihr daran? – Das Kapital? Das Kapital ist überall zu finden, wo es Hungerleider auszubeuten gibt. – Das Wissen? Das Wissen kennt keine nationalen Grenzpfähle. – Die technischen Kenntnisse des Arbeiters? Der erwachsene indische Hindu sollte zurückstehen hinter den 92 000 Knaben und Mädchen unter 15 Jahren, die gegenwärtig in den Textilmanufakturen Englands beschäftigt sind?

II.

Nachdem man einen Blick auf die nationalen Industrien geworfen hat, wäre es vielleicht nicht minder interessant, die Spezialindustrien einer gleichen Betrachtung zu unterziehen.

Nehmen wir z. B. die Seide, ein in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts vorzugsweise französisches Produkt. Man weiß, daß Lyon das Zentrum für die Verarbeitung der Seide war, die man anfangs nur im Süden Frankreichs baute, welche man aber allmählich auch in Italien, Spanien, Oesterreich, dem Kaukasus und Japan aufkaufte, um sie in Lyon zu verarbeiten. Auf die 5 Millionen Kilo Rohseide, die man im Jahre 1875 in der Gegend von Lyon zu Seidenstoffen verarbeitete, kamen nur 400 000 Kilo französischer Seide.

Doch da Lyon mit importierter Seide arbeitete, warum sollte es da die Schweiz, Deutschland, Rußland nicht ebenso machen? Die Seidenspinnerei entwickelte sich allmählich in den Dörfern um Zürich. Auch Basel wurde ein großes Zentrum für Seidenfabrikation. Die Behörden des Kaukasus forderten Frauen von Marseille und Arbeiter von Lyon auf, nach dort zu kommen und den Georgiern die vervollkommnete Zucht der Seidenraupe und den Bauern des Kaukasus die Verarbeitung von Rohseide zu Stoffen zu lehren. Auch Oesterreich blieb nicht untätig. Und Deutschland errichtete mit der Hülfe von Lyoner Arbeitern große Seidenfabriken. Die Vereinigten Staaten taten das Gleiche in Paterson.

Und heute ist die Seidenindustrie weit entfernt, eine speziell französische Industrie zu sein. Man fabriziert Seidenstoffe in Deutschland, Oesterreich, den Vereinigten Staaten und England. Die Bauern des Kaukasus weben im Winter die Seidenstoffe zu einem Preise, bei dem die Hausweber von Lyon ohne Brot bleiben würden. Italien versendet Seide nach Frankreich; und Lyon, welches in den Jahren 1870–1874 für 460 Millionen Francs Seide exportierte, exportiert heute nur noch für 233 Millionen Francs. Bald wird Lyon nur noch die besten Qualitäten nach dem Ausland versenden oder einige Neuheiten – die dann den Deutschen, Russen und Japanern als Muster dienen werden.

Ebenso ist es mit allen anderen Industrien. Belgien hat nicht mehr das Monopol der Tuche, man macht sie jetzt auch in Deutschland, Rußland, Oesterreich und den Vereinigten Staaten. Die Schweiz und der französische Jura haben nicht mehr das Monopol der Uhrenfabrikation; man macht sie überall. Schottland raffiniert nicht mehr den Zucker für Rußland: man importiert russischen Zucker nach England; Italien, obgleich es weder Eisen noch Kohle hat, schmiedet sich selbst seine Panzerschiffe und fabriziert selbst die Maschinen für seine Dampfboote; die chemische[WS 4] [153] Industrie ist nicht mehr ein Monopol Englands; man macht Schwefelsäure und Soda heute überall. Die Maschinen aller Art, die in der Umgebung von Zürich fabriziert werden, zeichneten sich auf einer der letzten Weltausstellungen vor allen übrigen aus: die Schweiz, die weder Eisen noch Kohle hat, stellt bessere und billigere Maschinen als England her – das ist, was von der Theorie des Austausches der Produkte zwischen den verschiedenen Ländern und vom Mutterland[WS 5] zur Kolonie übrig bleibt.

*

Also die Tendenz für die Industrie – wie für alles Uebrige – heißt Dezentralisation.

Jede Nation findet es heute vorteilhaft, im eigenen Lande den Ackerbau mit einer großen Anzahl der verschiedensten Fabriken und Manufakturen zu kombinieren. Die Spezialisation, von der die Oekonomisten so viel gesprochen haben, war gut, um einige Kapitalisten zu bereichern: aber sie hat kein Recht mehr zu bestehen, und es bringt im Gegenteil nur Vorteil, wenn jedes Land, jeder abgeschlossene geographische Bezirk selbst sein Getreide, sein Gemüse baut und selbst die Manufakturprodukte, deren es bedarf, herstellt. Diese Vielseitigkeit ist die beste Gewähr für eine hohe Entwicklung der Produktion. Und sie wird resultieren aus den wechselseitigen Wettbestrebungen aller fortschrittlichen Elemente. Die Spezialisation bedeutet Stillstand.

Der Ackerbau kann nur neben der Industrie prosperieren. Und sobald irgendwo eine Fabrik ersteht, so müssen in deren Umgebung noch viele andere verschiedenster Art angelegt werden, damit sie, sich gegenseitig unterstützend und eine die andere durch ihre Erfindungen anstachelnd, gemeinsam einer ständigen Entwicklung entgegengehen.

III.

Es ist einfach unsinnig, Getreide, Wolle und Eisen zu exportieren und dafür Mehl, Tuch und Maschinen zu importieren, – nicht allein, weil der Transport unnütze Kosten verursacht, sondern auch, weil ein Land, welches keine entwickelte Industrie hat, gezwungenermaßen auch im Ackerbau zurückbleibt, weil ein Land, das über keine großen Hüttenwerke zur Anfertigung des Stahles verfügt, auch in allen übrigen Industriezweigen zurückstehen muß, weil endlich Zahlreiche industrielle und technische Kapazitäten ohne Verwendung bleiben.

In der Welt der Produktion steht heute alles in einem innigen Zusammenhang. Die Landwirtschaft ist nicht mehr möglich ohne Maschinen, ohne großartige Bewässerungsanlagen, ohne Eisenbahnen, ohne Düngerfabriken. Und um jene den Oertlichkeiten entsprechenden Maschinen, jene Eisenbahnen, jene Bewässerungsmittel usw. usw. zu haben, muß sich ein gewisser Erfindungsgeist, eine gewisse technische Geschicklichkeit entwickeln, welche sich nicht heranbilden können, solange die Hacke oder die Pflugschar die einzigen Instrumente der Landwirtschaft bleiben.

[154] Um das Feld gut kultivieren zu können, um ihm jene erstaunenswerten Ernten zu entlocken, welche der Mensch das Recht hat, von ihm zu fordern, müssen das Eisenwerk und die Manufaktur – viele Eisenwerke und Manufakturen – in seiner unmittelbaren Nachbarschaft ihre Rauchwolken ausstoßen.

Die Mannigfaltigkeit der Beschäftigungen, die Verschiedenheit der Kapazitäten, welche daraus hervorgehen und sich zu einem gemeinsamen Ziele ergänzen – das ist die wahre Gewähr des Fortschritts.

*

Und jetzt stellen wir uns einmal eine Stadt, ein Territorium vor, groß oder klein – dies ist von geringer Wichtigkeit – das seine ersten Schritte auf dem Wege der sozialen Revolution macht.

„Nichts wird sich ändern“ – hat man uns bisweilen gesagt. – „Man wird die Werkstätten, die Fabriken expropriieren, man wird sie zu nationalem oder kommunalem Eigentum erklären; – und Jeder wird dann zu seiner gewohnten Arbeit zurückkehren.“

Nein. Die soziale Revolution wird sich nicht mit dieser Einfachheit vollziehen.

Wir sagten schon einmal: Möge morgen in Paris, in Lyon oder irgend einer anderen Stadt die Revolution ausbrechen, möge man morgen in Paris oder sonstwo Hand an die Fabriken, die Häuser oder die Bank legen – die gesamte gegenwärtige Produktion wird durch diese Tatsache eine totale Veränderung erleiden.

Der internationale Handel mit seiner Zufuhr fremdländischen Getreides wird stillstehen, die Zirkulation der Waren und Lebensmittel wird gelähmt sein. Und die in Aufruhr befindliche Stadt oder das Territorium werden die gesamte Produktion von Grund aus reorganisieren müssen. Scheitern sie dabei, ist es ihr Tod. Sind sie glücklich dabei, so heißt es eine Revolution in der Gesamtheit des ökonomischen Lebens jenes Ortes.

*

Die Zufuhr der Lebensmittel läßt nach, und die Konsumtion hat sich vermehrt. Drei Millionen Franzosen, welche ehemals für den Export arbeiteten, feiern gezwungenermaßen; tausend Dinge, welche man heute in fernen Ländern und benachbarten Gegenden produziert, langen nicht mehr an; die Luxusindustrie ruht vor der Hand, – was werden die Bewohner tun, um bis zur nächsten Ernte zu essen zu haben?

Es ist klar, daß diese große Masse vom Boden seine Nahrung fordern wird, wenn die Magazine erschöpft sind. Es wird gelten, die Erde zu kultivieren: in Paris selbst und in seinen Umgebungen ländliche und industrielle Produktion zu kombinieren, tausenderlei kleine Handwerke, die Luxusindustrie aufzugeben, um das Dringlichste, das Brot zu schaffen.

Die Bürger werden zu Landbebauern werden müssen. Nicht jedoch in der Gestalt des Bauern, welcher sich hinter dem Pflug abquält, um mit ungeheurer Mühe gerade seine Nahrung zu gewinnen, nein, sondern [155] indem er die Prinzipien der intensiven Landwirtschaft und der Gartenkultur verwertet und sie mittels verbesserter Maschinen, welche der Mensch erfunden hat und erfinden kann, in großem Maßstabe anwendet. Man wird Landbau treiben, aber nicht wie das Lasttier von Cantal – der Goldarbeiter des Temple würde sich dafür schön bedanken, – man wird die Landwirtschaft reorganisieren, nicht in zehn Jahren, sondern sofort, inmitten der revolutionären Kämpfe, unter Strafe, dem Feinde zu unterliegen.

Man wird es als intelligenter Mensch tun müssen, seine Hülfe bei der Wissenschaft suchend, und sich für diese angenehme Arbeit zu freudigen Scharen vereinigend, gleich denen, welche vor hundert Jahren das Märzfeld für das Fest der Föderationen zubereiteten – für eine Arbeit voller Genüsse, wenn sie sich nicht über das Maß hinaus verlängert, wenn sie von wissenschaftlichem Gesichtspunkt organisiert wird, wenn der Mensch seine Werkzeuge verbessert und neue erfindet, und wenn er das Bewußtsein hat, ein nützliches Glied der Gemeinschaft zu sein.

*

Man wird Landbau treiben. Man wird dann tausend Dinge produzieren, welche wir nur vom Ausland zu beziehen gewohnt sind. Und vergessen wir nicht, daß für die Bewohner des aufrührerischen Territoriums „Ausland“ alles heißt, was ihm nicht auf dem Wege der Revolution gefolgt ist. In den Jahren 1793 und 1871 war schon die Provinz das Ausland, begann es schon vor den Toren von Paris. Der Kornaufkäufer von Troyes hungerte die Sansculotten von Paris ebenso gut oder noch besser aus, als die germanischen Horden, welche von den Verschwörern von Versailles auf den französischen Boden gerufen worden waren. Man wird lernen müssen, dieses Auslandes zu entbehren. Und man wird seiner entbehren können. Frankreich erfand den Rübenzucker, als der Rohrzucker in Folge der Kontinentalblockade zu mangeln begann. Paris fand in seinen Dunggruben das Salpeter, als man es nicht mehr von anders woher beziehen konnte. Sollten uns unsere Großväter, welche kaum die ersten Worte der Wissenschaft stammelten, überlegen sein?

Eine Revolution ist mehr als der Sturz einer Regierung. Es ist das Erwachen der menschlichen Intelligenz, die Verzehn-, Verhundertfachung des Erfindungsgeistes, es ist das Morgenrot einer neuen Wissenschaft – der Wissenschaft eines Laplace, Lamarck und Lavoisier! – Es ist eine Revolution mehr noch in den Geistern als in den Institutionen.

Und man spricht uns davon, in die Werkstatt zurückzukehren, wie wenn es sich darum handelte, nach einem schönen Spaziergang in einem herrlichen Wald in sein Heim zurückzukehren?

*

Die Tatsache allein, daß man an dem bürgerlichen Eigentum gerüttelt hat, schließt schon die Notwendigkeit ein, das gesamte ökonomische Leben, in der Werkstatt, auf dem Bauplatz, dem Felde von Grund auf zu reorganisieren.

[156] Und die Revolution wird es tun. Möge Paris nur einmal während eines oder zweier Jahre in der Revolution sein und sich durch die Helfershelfer der bürgerlichen Ordnung von der ganzen Welt isoliert befinden, und Millionen von Intelligenzen in dieser Stadt der Kleinhandwerke, welche den Erfindungsgeist anstacheln, Intelligenzen, welche die große Fabrik glücklicherweise noch nicht abgestumpft hat, werden der Welt zeigen, was das Gehirn des Menschen vermag, ohne vom Weltall etwas anderes zu verlangen, als die Bewegungsenergie der Sonne, welche dieses erleuchtet, des Windes, der allen Schmutz fortkehrt, und der tätigen Kräfte des Bodens, welchen wir mit Füßen treten.

Man wird dann sehen, was die Anhäufung dieser immensen Mannigfaltigkeiten sich gegenseitig ergänzender Handwerke auf einem Punkt und der belebende Geist einer Revolution vermögen, um jene zwei Millionen intelligenter Wesen zu ernähren, zu kleiden, in Wohnungen zu bergen und mit allen möglichen Luxusgegenständen zu überhäufen.

Man braucht keinen Roman darüber zu schreiben. Was man schon kennt, was man schon erprobt und als praktisch befunden hat, genügte, um dieses zu vollbringen, unter der Bedingung indessen, daß es befruchtet und belebt würde von dem frischen Hauche einer Revolution, von dem spontanen Aufschwung der Massen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Kapitelzählung fehlt
  2. Vorlage: Wollwaren- Manufakturen
  3. Vorlage: Rohsoff
  4. Vorlage: chemiche
  5. Vorlage: Mutterand