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Autor: Ludwig Ganghofer
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Titel: Der Klosterjäger
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aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 229–240
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Fortsetzungsroman in den Halbheften 8–18
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Der Klosterjäger.
Ein Hochlandsroman aus dem 14. Jahrhundert von Ludwig Ganghofer.


1.

Frühling im Bergwald! Er kennt die Blumen nicht, die der Lenz über die Wiesen des Thales streut, die lauen, linden Lüfte nicht, welche spielend durch die blühenden Hecken streichen, und nicht das liebliche Gezwitscher der heimgekehrten Schwalben, die unter gastlichem Dach ihre Nester bauen. Frühling im Bergwald — das ist Brausen und Sausen, Toben und Donnern, Sturm und Tod. Ueber dem Bergwald liegt der Winter wie ein grauenhafter Riese, und der Frühling, der ihn scheuchen will, muß kommen als ein gewaltiger Held, welcher töten und zerstören muß, bevor er bauen kann und neues Leben wecken aus eisigem Schlaf.

Hoch in dem steilen Gefels krachen ohne Unterlaß die stürzenden Lawinen, über die Halden fährt der stürmende Föhn mit dumpfem Sausen, mit seinem heißen Athem schnaubt er über den schwindenden Schnee, im Walde packt er die alten mächtigen Fichten und rüttelt sie, daß sie erbeben in ihrem Mark. Und was sie nur tragen an faulem und morschem Gezweig, das bricht er ab und führt es davon in jagendem Wirbel. Ein Nieseln und Gurgeln immer und überall, aus jedem Hange bildet sich ein springendes Bächlein, über alle Felsen plätschern die Wasser, zu denen der Schnee zerschmolzen ist, alle Wurzeln umspülen sie und sammeln sich in jedem Gerinn, in jeder Schlucht, und wachsen an zum tobenden, schäumenden Gießbach, der den Bergwald säubert von allem Unrath und Moder, jeden kranken schwachen Baum zerschmettert und nur bestehen läßt, was stark ist und gesund. Ueberall auch ein Rollen und Poltern die Felsblöcke, die der Frost des Winters von den Steinwänden abgesprengt hat und die gebettet lagen im Schnee, sie kommen ins Wanken und Wandern, wenn der Schnee zerrinnt, sie stürzen und sausen nieder durch den Bergwald in dröhnenden Sprüngen mit Krachen und Schmettern, und wo sie im Sturze die Erde treffen, da pflügen und wühlen sie den Grund, damit der überwinterte Same, den der Lenzwind ausweht, im Boden die frische Narbe finde…

Und in all diesem Stürmen, Rauschen und Brausen, inmitten dieses Kampfes, den der Frühling mit dem Winter führt, ein einsamer Mensch!

Rüstigen Ganges, mit halblauter Stimme ein Liedchen singend, schreitet er dahin über den vom Schnee schon halb entblößten Almenhang, eine schlanke, sehnige Gestalt — ein junges Antlitz mit kühn blitzenden Augen und einem lachenden Munde, um den sich der erste Flaum des blonden Bartes kräuselt. In schweren, eisenbeschlagenen Bundschuhen stecken die nackten Füße; Strümpfe aus ungegerbtem Rehfell, die Haare nach innen gewendet, umschließen die Waden, aus der kurzen verwitterten Lederhose ragen die nackten Kniee hervor, welche nicht aus Fleisch und Bein gebildet, sondern aus braunem Erz gegossen scheinen — rascher als die Sonne bräunt ja der Wiederglanz der weißen Schneefelder. Ein grobes Leinenhemd und ein aus zottigem Loden roh geschnittenes Wams umhüllen den straffen Körper. Ueber dem krausen Blondhaar trägt er die pelzverbrämte Lederkappe mit der Adlerfeder, am Gürtel ein kurzes Weidmesser und den kleinen Bolzenköcher, auf dem Rücken die plumpe schmucklose Armbrust mit fingerdicker Sehne und in den Händen führt er den langen, mit scharfem [230] Stachel versehenen Bergstock. Es ist Haymo, der Klosterjäger, der dem Propste Heinrich[1] von Berchtesgaden[2] die Hirsche, Gemsen und Steinböcke[3] hütet.

Vor Wochen schon, da der Schnee noch tief lag und im Marsche kaum zu überwinden war, hatte Haymo die Jägerhütte bezogen, hoch über dem grünen Bartholomäus-See[4], in einem weiten Felsenthal, das von den rothen Marmorwänden, die es rings umschließen, seinen Namen erhalten: „In der Röth’“.

Alltäglich, vom frühen Morgen bis zum späten Abend, machte Haymo seinen Hegergang; das war für ihn eine harte Zeit, er durfte keine Stunde rasten und mußte die Augen offen halten den ganzen langen Tag. Denn der strenge Winter hat das Wild vertraut und zahm gemacht, und die Raubschützen haben leichte Arbeit; in großen Rudeln ziehen die Hirsche schon früh am Abend auf die offenen Almen und erst am späten Morgen wieder zu Holz; die Gemsen stehen tief unten im Bergwald und sogar die scheuen Steinböcke trieb der Winter aus ihren unwegsamen Felsrevieren hernieder in die Nähe der verlassenen Almhütten. Da galt es, unermüdlich Wache zu halten, denn gerade dieses seltene, edelste Wild war von den Raubschützen am meisten bedroht.

Ein „Stainpokh“ war ja die wandelnde Apotheke; die gerippten Hörner, die Hornschalen der Füße, das getrocknete Blut, welches im Volksmund „Schweißbluh’“ genannt wurde, und besonders die „Herzkhreizl“, jene kleinen, knochenähnlichen Gebilde, die im Herzen des erlegten Thieres gefunden werden, alles an ihm war wunderbar heilsam wirkende Arzenei, welche von Herren und Bauern mit theurem Gelde bezahlt wurde. Wohl standen schwere Strafen auf der Erlegung solch eines Wildes, Kerker und Peitsche, Verlust der rechten Hand, sogar der Tod – denn der Raubschütze war vogelfrei, und der Jäger durfte ihm, wenn er ihn auf frischer That ertappen konnte, allen Rechtes den Bolz in die Kehle jagen. Aber alle Bolzen treffen nicht, dachten die Raubschützen, der hohe Gewinn verlockte sie, und so kam es, daß Haymo schon in der ersten Woche seiner Hegezeit den Abgang zweier Steinböcke vermerken mußte. Als unwiderlegbare Zeugen des geschehenen Raubes hatte er im Schnee die Schweißfährten der erlegten Thiere und die Fußspuren des Räubers gefunden, die sich im tieferen, schneefreien Bergwald verloren. Als am Ende der Woche ein Laufbube des Klosters dem Jäger frischen Mundvorrath gebracht hatte, schickte Haymo mit dem Buben diese schlimme Nachricht hinunter ins Thal, in banger Sorge, wie Propst Heinrich, der an seinem Weidgehege und besonders an dem edlen Steinwild eine ritterliche Freude hatte, diese Botschaft aufnehmen würde.

Und die ganze folgende Woche hindurch gönnte er sich keine Ruhe mehr, in der Nacht kaum einen kurzen Schlaf, und es war ihm nicht zu verdenken, daß ein zornflammendes Wort von seinen Lippen flog, so oft er nur in seinem öden Bergrevier die Fährte eines menschlichen Fußes spürte. Nur eine Gesundheit, so jugendfrisch und eisern wie die seine, konnte diese aufreibenden Strapazen überdauern. Wenn er nach tagelangem Marsche heimkehrte in seine Blockhütte, dann lag ihm wohl die bleierne Müdigkeit in allen Gliedern; aber er brauchte sich nur auf sein Lager zu werfen, und es fiel auch schon ein fester, traumloser Schlaf über seine jungen Augen, der ihn erquickte, wenn er auch nur wenige Stunden währte und immer wieder unterbrochen wurde. Denn Haymo hatte sich, um in diesem schweren Schlummer das erste Grauen des Morgens nicht zü verschlafen, einen Wecker erfunden. Er band sich mit einer Lederschnur einen schweren Stein an den Arm und legte, wenn er sich auf die Wolfsdecke streckte, diesen Stein so lose auf die Holzkante seines Lagers, daß er bei der leisesten Erschütterung zu Boden gleiten mußte. So oft dann Haymo im Schlummer sich bewegte, weckte ihn der fallende Stein. Lag in der Hütte, wenn er erwachte, noch die finstere Nacht, dann stellte Haymo den Wecker wieder zurecht und schlummerte weiter. Doch wenn er sah, daß draußen vor dem kleinen Fenster die Sterne zu erblassen begannen, dann sprang er auf, wusch sich am rinnenden Quell, dessen eiskaltes Wasser vor der Hütte plätscherte, nahm sein karges Frühmahl ein und wanderte hinaus in den vom Föhn durchrauschten Frühlingsmorgen. Noch waren die Nächte kalt, und es währte immer eine Weile, bis Haymo das Frösteln aus seinen Gliedern brachte; aber der rasche Gang auf beschwerlichem Wege machte gar bald sein Blut lebendig, frische Röthe färbte wieder seine jungen Wangen, und seine Augen blitzten hell wie Wasser, in das die Sonne scheint.

Je wilder ihn der Frühlingssturm umrauschte, desto freier und wohler wurde ihm zu Muthe. Und wenn sich der Morgen, an dem er das zu Holze ziehende Wild nicht stören und scheuchen durfte, zum vollen Tage wandelte, sang er wohl, um der in seinem Innern stürmisch treibenden Lebenskraft einen Ausweg zu schaffen, mit hallender Stimme ein Lied in den Saus und Braus, der ihn umgab, der steigenden Sonne entgegen, die mit ihrem funkelnden Gold die schneebedeckten Kuppen der Berge überschmolz. Dann freilich, wenn die Jägersorge, die ihn all diese Tage her bedrückt hatte, wieder sein Herz beschlich, wurde er gar stille, stieg lautlos empor von Höhe zu Höhe und schickte die spähenden Augen in die Runde.

Da hatte er nun wieder einen schweren Tag hinter sich. Auf dem Heimweg zur Hütte begann er die Ermüdung hart zu spüren; in all diesem tobenden Sturm, in all diesem Schnee und rinnenden Gewässer war es ja kein Marsch zu nennen, den er gemacht, vielmehr ein Kampf um jeden Schritt. Wohl dämmerte schon der Abend, aber solange noch ein Schimmer von Licht über den Halden schwebte, durfte er nicht an die Heimkehr in seine Hütte denken. Auf der hohen Bergrippe, zu welcher er just emporstieg, wollte er den Anbruch der Nacht erwarten

Als er die Höhe betrat, winkte ihm, scharf abgehoben vom rothglühenden Abendhimmel, ein mächtiges Kreuz entgegen; ein Dächlein war darüber gespannt, in den Querhölzern steckten die Nägel, aber das Bild des gekreuzigten Erlösers fehlte; die frommen Almbauern hatten es wohl im späten Herbste vom Kreuz genommen, damit es nicht leiden möchte von der Unbill des Winters, von Schneedruck und Lawinen.

Haymo zog die Kappe und sprach ein kurzes Gebet. Dann ließ er sich zu Füßen des Kreuzes nieder, lehnte sich an den Stamm, verschlang die Hände hinter dem Haupte und blickte still umher mit müden Augen, die sich schon dem Schlummer entgegensehnten. In kurzen Stößen, bald sich dämpfend, bald wieder anbrausend mit verstärkter Macht, sauste der Föhn über ihn hinweg. Die Zweige der Krüppelföhren, mit denen die Höhe bewachsen war, duckten sich in gleichmäßiger Welle vor jedem anrauschenden Windstoß und hoben sich, wie aufathmend, langsam wieder empor. Gegen die steil aufragenden Felswände hinan zog ein mehr als hundertjähriger von Stürmen und Lawinen stark gelichteter Lärchenwald, dem die Nähe des Kreuzes seinen Namen gegeben … er hieß „der Kreuzwald“. An so manchem Morgen war Haymo schon zu diesem Wald emporgestiegen, um den ersten Balzruf eines Auerhahns zu erlauschen. Aber der stolze, einsiedlerische Vogel, dieser gefiederte Liebessänger der Berge, mochte wohl den Frühlingsmorgen noch zu frostig finden, um den Sang seiner heißen Liebe zu beginnen.

Zur Linken der Kreuzhöhe breitete sich das weite Felsenthal aus, an dessen jenseitiger Grenze, von einzeln stehenden Fichten überschattet, die Blockhütte des Jägers stand und daneben das größere Balkenhaus, in welchem Herr Heinrich und der Klostervogt zu nächtigen pflegten, wenn sie pirschen kamen. Zur Rechten der Kreuzhöhe lag ebenfalls ein weites Thal, in welchem dichte Gruppen der Zwergföhre mit wirrem Geröll und grasbewachsenen Stellen wechselten, zu deren schüchtern sprossendem Grün das Steinwild um diese frühe Jahreszeit gerne auf Aesung zog. Der Kreuzhöhe zu Füßen dehnte sich der mächtige Bergwald, der das vom Schnee schon völlig entblößte Almenland umschloß und dann, umschleiert schon vom dunklen Abendschatten, sich niedersenkte in die Tiefe, in welcher der See gebettet lag.

Haymo konnte von der Stelle aus, an welcher er saß, den See nicht gewahren, auch nicht das weite Klosterland im Thal. Die tiefer liegenden Bergrücken wehrten seinem Auge den Niederblick. [231] Aber rings umher in weiter Runde bot sich ihm ein Bild von unnennbarer Schönheit. Uebergossen von der rothen Gluth der sinkenden Sonne ragten die gewaltigen Schneeberge empor über das dunkle Meer der Wälder; dem Jäger zur Linken die wilden Tauern und die beiden Riesenzacken des Watzmann, zur Rechten der stolze, unwegsame Göhl, und in der Ferne, von bläulichem Schattenduft umwoben, stiegen die scharfgezahnten Lattenwände und die plumpen Massen des Unterberges in den golddurchleuchteten Abendhimmel. Denn wenn auch der Föhn mit Brausen alle Lüfte füllte, so trübte doch kein Wölklein den frühlingsklaren Himmel, um die Zinnen der Berge flatterte keine Nebelflocke, und ohne Dunst und Schleier lag das tiefere Gelände.

Unter langen Athemzügen hob sich Haymos Brust. Bei all dem stillen Schauen, mitten in Sturm und Wehen, befiel es ihn wie träumender Halbschlummer. Dann jählings erwachte er und fuhr betroffen auf, beinahe berührt von abergläubischem Schreck.

Ein junges Mädchen stand vor ihm, ihn betrachtend mit großen, staunenden Augen.

Er hatte den Hall ihrer nahenden Schritte nicht vernommen, er hatte sie nicht emportauchen sehen über den Rand der Höhe … plötzlich stand sie vor ihm, als wäre sie aus den Lüften getreten. Und in ihrem schlanken zarten Wuchse, mit dem blassen feingeschnittenen Gesichtchen und den tiefen Räthselaugen, umflattert von den schwarzen Strähnen des gelösten Haares, und in dem dünnen rothen Röcklein, das der Sturmwind peitschte, war sie wohl einer jener Elfen zu vergleichen, die in den Tiefen der Berge hausen und zuweilen an das Licht der Erde steigen, um ein Menschenkind zu beglücken mit ihren Gaben.

Und sie trug ja auch ein Körbchen in der kleinen Hand! Was dieses Körbchen wohl bergen mochte? Funkelndes Geschmeide, Perlen, edle Steine?

Haymo fühlte, wie ein heißer Schauer ihn durchrann. Nun aber mußte er lächeln. Denn des Mädchens plumpe Schuhe und die ärmlichen Lappen des Gewandes hatten in Wahrheit doch wenig Elfenhaftes. Haymo erhob sich.

„Dirn’? Was willst Du hier?“

Sie schwieg und betrachtete ihn noch immer mit einem halb scheuen, halb traulichen Blick.

„Dirn’! Rede doch! Woher kommst Du?“

„Von dort!“ sagte sie mit einer leisen weichen Stimme und deutete nach der steilen Schneehalde, welche sich hoch über dem Kreuzwald gegen die starrenden Felswände emporzog.

„Von dort?“ wiederholte Haymo und überflog mit einem ungläubigen Blick die zarte Gestalt des Mädcheus. Dort oben war es ein mühsames und gefährliches Gehen. Ein falscher unsicherer Tritt auf dem von Thauwasser und Föhnwind glattgewaschenen Schnee, und es ging bergab in sausender Fahrt – wohin? Das blutige Bild, welches Haymo auf diese stumme Frage vor seinen Augen auftauchen sah, weckte ein seltsam bedrückendes Gefühl in seiner Brust, und er sagte mit hastender Stimme. „Dirn’! Das war ein böser Weg! Sei froh, daß Du heil zurück bist.“

Sie schüttelte das Köpfchen und lachte – ein rechtes, hellklingendes Kinderlachen.

„Aber was hast Du nur dort oben gesucht?“

„Schneerosen,“ erwiderte sie und lüftete den Deckel an ihrem Körbchen, welches zur Hälfte angefüllt war mit jenen zarten, weißen Blüthen, die so schön und auch so kalt sind wie ein Wintermorgen. Dann wieder blickte das Mädchen lächelnd zu dem Jäger auf. „Es war eine rechte Plage. Seit dem Morgen bin ich auf den Füßen und habe doch kaum so viele Blumen gefunden, daß sie reichen für ein kleines Kränzlein. Wir sind ja schon spät im Jahr, die meisten Stöcklein haben schon verblüht.“

„Und für wen sind diese Rosen?“

„Für das heilige Grab unseres lieben Herrn. Uebermorgen ist Charfreitag.“

Eine Weile schwiegen sie. Haymo blickte zu dem leeren Kreuz empor; dann wieder sah er in die Augen des Mädchens und fragte:

„Wer bist Du?“

„Ich bin die Gittli[5]! Und Du?“

„Der Klosterjäger!“

„Der neue?“

„Ja! Und wo bist Du zu Hause, Dirn’?“

„Drunten – im Klosterdorf.“

Haymo erschrak. „Aber Dirn’! Wie willst Du den Heimweg finden? Heute noch? Das ist ein Weg, den Deine Füße nicht wandern in fünf Stunden. Und es wird eine finstere Nacht.“

„Ich weiß eine Sennhütte, von hier ein halbes Stündlein, dort will ich nächtigen.“

„Du wirst frieren! Die Nächte sind kalt.“

„Frieren?“ lachte sie. „Das Heu macht warm!“

Und da sie sich schon zum Gehen wenden wollte, nahm sie rasch ein paar Schneerosen aus dem Körbchen und schob sie zwischen die beiden eisernen Nägel, welche im Fußbalken des Kreuzes staken. Einen stummen Gruß nickte sie dem Jäger noch zu, dann fing sie mit der Hand das flatternde Haar, wand es um den Hals und huschte davon. Ein paar Schritte nur, und sie war in die Thalsenkung niedergetaucht

Haymo stand und wartete; es währte lange – dann sah er sie weit drüben im Steinthal zwischen den Büschen wieder zum Vorschein kommen; ihr rothes Röcklein schimmerte noch hell aus dem sinkenden Dunkel. Nun blieb sie stehen und schaute zurück, so glaubte Haymo. Aber es dämmerte wohl schon zu sehr, als daß er auf diese weite Strecke ihr Thun noch hätte genau unterscheiden können. Jetzt war sie schon so klein wie ein rothes Käferchen in dunklem Buschwerk … und nun verschwand sie.

Doch Haymo stand noch immer und blickte den Weg entlang, den sie gegangen. Dann athmete er tief auf, und sein Blick fiel auf die weißschimmernden Blüthen am Kreuze.

Schneerose! Du echte Blume der Berge! Nicht minder schön und lieblich als die rothglühende Almenrose des Sommers und noch geheimnißvoller als der Sammetstern des Edelweiß. Schneerose! Wenn der Winter seinen weißen Mantel über alle Berge wirft, wenn alles Blühen erstirbt und alles Wachsthum entschlummert, dann regt sich die keimende Kraft in den tiefgesenkten Wurzeln dieser einzigen Pflanze, als wäre sie bestellt zur Hüterin des Lebens, damit es nicht ganz erlösche in der toten Zeit zwischen Herbst und Frühling. In frostiger Oede sprossen ihre Blätter, und zwischen Schnee und Eis entfalten sich ihre weißen Blüthen. Und wenn zur Winterszeit der Tod durch die verschneiten Hochlandsthäler wandert und ein unschuldig Kind berührt mit seiner kalten Hand, dann klimmt die weinende Mutter empor zu den schimmernden Schneehalden und windet ihrem entschlafenen Liebling die weißen Rosen zum Kranze, als Sinnbild des ewigen Lebens.

Schneerose! Das ist Leben und Tod zugleich! Denn die Wurzeln dieser Pflanze bergen einen geheimnißvollen Saft, der kranke Herzen gesunden läßt und bleiche Wangen wieder färbt. Für jenen aber, der diese Arzenei zu gierig genießt, wird sie zum tödlich wirkenden Gifte.

„Zwei Tröpflein machen roth,
zehn Tropfen machen tot!“

So sagt der Volksmund – und während das sinkende Dunkel den weißen Rosenschimmer am Kreuze zu verschleiern begann, murmelte Haymo dieses Sprüchlein vor sich hin, als überkäme ihn die Ahnung, daß die Zeit nicht fern wäre, in welcher ihm „zwei Tröpflein“ gar nöthig würden.

Ueber allen Bergen war der rothe Schein erloschen; ein grauvioletter Duft ließ Himmel und Erde ineinanderschwimmen. Zu Haymos Häupten dunkelte schon die Nacht; nur fern im Westen zog sich über den Horizont noch ein grünlichgelber Lichtstreif, in den der gezackte Grat der Lattenwand sich schwarz hineinzeichnete.

Der Bergwald und die Gießbäche rauschten, dumpf sauste der Föhn, und durch die wirbelnde Luft hernieder funkelten mit unruhigem Glanz die erwachenden Sterne.




2.

Wohl eine Stunde hatte Haymo in der Nacht zu wandern um seine Hütte zu erreichen. Als er dem Blockhaus näherkam, gewahrte er staunend, daß durch die halb offene Thür und das kleine Fenster der röthliche Schein eines Herdfeuers leuchtete. Wer war zu Gast gekommen? Er beschleunigte seine Schritte. [232] Vor der Thür stellte er den Bergstock ab, dann trat er in das Blockhaus.

Es war ein kleiner Raum, den er betrat. Die Balkenmauern des Hauses waren auch die Wände der Stube; mit dürrem Moose waren die Ritzen zwischen den Balken verstopft. Neben der Thür durchbrach ein kleines Fenster die Blockwand. Der niedere, aus Felsbrocken roh gemauerte Feuerherd nahm fast den vierten Theil des Raumes ein; an der Wand neben dem Herde stand das plump gezimmerte Bett, angefüllt mit Heu, darüber eine Wolfsdecke, ein Kissen aus Rehfell und ein großes, rauhhaariges Stück Loden; rings an den freien Wänden entlang lief eine Balkenbank, in der Ecke neben dem Fenster stand der klotzige Tisch. An der Wand noch ein kleiner Schrein zur Aufbewahrung des Mundvorrathes, über dem Herde zwei gekreuzte Stangen zum Trocknen der durchnäßten Kleider, neben der Thür zwei Holzzapfen für die Armbrust und das Wehrgehäng, ein Brett mit mancherlei Geschirr, in der Ecke über dem Tisch ein Kreuz, dessen welker Blumenschmuck ebenso gebräunt war wie alles Gebälk; denn der Rauch des Herdfeuers hatte immer ein langes Weilen in der Stube, bis er durch die Ritzen der Blockwand und des Daches seinen Weg ins Freie fand.

Vor dem Herde, auf welchem ein helles, heftig knisterndes Feuer flackerte, stand, mit der dampfenden Pfanne beschäftigt, der Laufbube des Klosters, ein etwa fünfzehnjähriger Bursch, hager und sehnig, mit einem verschmitzten stulpnasigen Gesicht, die braunen Haare kurz geschoren; er war mit einem rauhhaarigen Wams bekleidet, das in Schnitt und Länge fast einer Kutte glich.

Als Haymo unter die Thür trat, grüßte ihn der Bube nur mit einem Nicken des Kopfes und einem blinzelnden Blick. Vom Heubett aber erhob sich eine rundliche Gestalt, ein Mönch in der schwarzen Ordenstracht der Augustiner, das wohlgenährte Bäuchlein umschlungen von breitem Ledergurt; die genagelten Bundschuhe, welche schon am Feuer zum Trocknen standen, hatte er durch Strohpantoffel ersetzt. Er trat auf Haymo zu, die Fäuste in die Hüften gestemmt; seine kleinen Augen zwinkerten, der Mund bewegte sich wie kauend, und über der knopfigen Nase und den kugeligen Backen lag eine Purpurgluth, welche nicht allein vom Wiederschein des Feuers herrührte.

„Willkommen, ehrwürdiger Vater!“ grüßte Haymo und zog die Kappe.

Walti, der Laufbub, kicherte zu diesem Gruße; der Mönch aber lachte aus vollem Halse: „Also Du bist der Haymo, unser neuer Jäger?“

„Ja.“

„Glaub’ ich nicht! Glaub’ ich nicht!“

„Ja doch, ich bin es!“ stotterte Haymo verlegen.

„Du? Du willst ein Jäger sein? Ui jei![6] Mit Dir hat Herr Heinrich was Schönes aufgegabelt. Du willst ein Jäger sein? Ein Jäger muß Augen haben! Verstehst Du? Du aber hast Augen wie eine Blindmaus! Da – schau her!“ Lachend beugte der Mönch das Haupt und zeigte den Scheitel, der mit struppigen Haarbüscheln bewachsen war und keinen Schimmer einer Tonsur gewahren ließ.

Nun lachte auch Haymo; und Walti, den fettglänzenden Eisenlöffel schwingend, schrie dem Jäger ins Ohr, als hätte er einen Tauben vor sich: „Das ist ja nur der Frater Severin, unser Gärtner!“

O Spott des Namens! Severinus, das heißt zu deutsch „der Strenge“, „der Ernsthafte“ – und dieses Gesicht dazu und dieses Bäuchlein, welches vor Lachen wackelte, daß Frater Severin sich auf die Holzbank niederlassen mußte, um Athem zu finden!

„So? So? Ihr seid ein Frater?“ sagte Haymo, sein Wehrgehäng von der Hüfte schnallend. „Nun, dann seid mir doppelt willkommen!“ Und lächelnd streckte er seine Rechte hin.

Severin faßte sie mit der einen Hand, während er die andere schalkhaft drohend erhob. „Du! Du! Wenn ich das dem Guardian verrathe, daß Dir ein Pater die halbe und ein Frater die doppelte Freude macht, dann setzt es was!“ Er wollte weiter sprechen; doch aus der Pfanne, die über dem Feuer hing, stieg plötzlich ein zischender Dampf. „Walti, Du Rabenthier!“ schrie er erschrocken und stürzte dem Herde zu. „Richtig! Laßt der Kerl uns das Futter anbrennen, als wär’s eine Seel’, die der Teufel schmort! Her mit dem Löffel!“ Er riß dem Buben den eisernen Zinken aus der Hand und begann die rauchende Speise mit einem Eifer umzuwenden und durcheinander zu stoßen, daß ihm bald die hellen Schweißtröpflein über die dicken Backen rannen.

Haymo sah ihm eine Weile zu, dann nahm er die Armbrust von der Schulter und rieb mit einem Lederlappen die von der feuchten Luft erweichte Sehne solange, bis sie warm und trocken wurde. Als er die Waffe über den Holznagel hängte, trug Frater Severin die dampfende Pfanne zum Tische.

„So, Ihr Knospen, her zum Futter!“

Sie reihten sich um den Tisch, dem das Herdfeuer genügende Helle gab, und sprachen ein kurzes Gebet. Und wirklich – Frater Severins schmunzelndes Gesicht wurde ernst für eine Minute. Kaum aber hatte er das Amen von den Lippen, da strahlte er schon wieder, und sein Löffel war der erste in der Schüssel.

Einige Bissen hatten sie gegessen, da legte Severin hastig den Löffel nieder und hielt den beiden anderen die Hände fest. „Halt! Wir haben das Beste vergessen! Walti! Her mit der Güte Gottes!“

Der Bub sprang auf und holte aus einem Zwerchsack eine bauchige Thonflasche herbei. Bedächtig löste Frater Severin den Rindenpfropf und schob dem Jäger die Flasche hin. „Sollst den ersten Schluck haben – Klosterbier!“ Und er schnalzte mit der Zunge.

Haymo that einen langen Zug. „Ja, Frater, da merkt man die Güte Gottes!“

Walti kicherte und Frater Severin lachte. „Hörst Du, was er gesagt hat! Güte Gottes!“ Er gab dem Buben einen Puff in die Seite und vertiefte sich in die Flasche. Dann wieder zu Haymo gewendet, rief er: „Ich will Dir’s verrathen! Weißt Du, ich bin kein böser Mensch. Wenn ich in meinem Chorstuhl kniee und zu dem da droben bete, dann schlag’ ich an meine Brust und fühle, daß ich ein armer Sünder bin. Aber dann in Garten, Keller und Küche, da redet man auch gern wieder von irdischen Dingen. Dem Pater Guardian, aber gefällt das nicht. Und darum haben wir uns eine Sprache erfunden – weißt Du – ein fester Brotlaib, der heißt bei uns ‚eine gute Seele‘, solch ein Krug, das ist die ‚Güte Gottes‘, und eine alte Flasche Wein, das ist ‚des Himmels höchste Huld‘. Und weißt Du, was die ‚wahre Andacht‘ ist? Eine gebackene Forelle! Und das ‚Labsal der Betrübten‘? Ein gesulzter Hecht! Ui jei! Du solltest nur einmal den Pater Guardian sehen, wie zufrieden er lächelt, wenn er uns von so frommen Dingen reden hört – wenn ich etwa sage: ‚Ach, heut’ wurde mir des Himmels höchste Huld zutheil!‘ oder: ‚Ach, wie bin ich erfüllt von wahrer Andacht!‘“

So plauderten und lachten sie weiter, ließen die Flasche kreisen und thaten sich gütlich an ihrem bescheidenen Mahl. Als Walti dann den Tisch räumte, sagte Frater Severin zu Haymo: „Neugierig bist Du aber gar nicht; fragst nicht einmal, weshalb wir gekommen sind!“

„Ich freue mich, daß Ihr da seid! Was kümmert mich alles andre?“

„Du sollst morgen hinunter ins Kloster und Deiner Christen Pflicht genügen!“

„Das thät’ ich gerne! Wer aber hütet, bis ich wieder komme, meine Gemsen und Steinböcke?“

„Ich!“

„Ihr?“ lachte Haymo lustig auf.

„Ja, ich – was sagst Du?“ jammerte Frater Severin. „Herr Heinrich meinte, der faule Winter hätte mir zu wohl angeschlagen. Nun soll ich mir ein paar gute Pfündlein aus der Kutte laufen! Das wird eine böse Sache werden!“ In banger Sorge befühlte er die Stelle seines Gurtes. „Aber Du, Du kannst Dich auch freuen, wenn Du morgen hinunterkommst. Neulich, als der Walti mit Deiner Botschaft herunterkam, da gab es ein Donnerwetter – ui jei! Weißt Du … Herr Heinrich ist ein frommer, seelenguter Mann, aber wenn es sich um verlorene Seelen und Steinböcke handelt, dann kann er schelten wie ein rechter Türke! Weißt Du, was er sagte? Er sagte: ‚Zwei Böcke in einer Woche … wenn das so fortgeht, steck’ ich den Burschen unter die Klosterknechte und schick’ einen andern, der wachsamere Augen hat und sich besser versteht auf die Hut des Gewildes.‘ Ja, das sagte er.“

[234] Haymo erblaßte. Das hatte ihn ins Herz getroffen, denn er hing am Weidwerk und an den schönen freien Bergen wie ein Blatt am Baum, welches welken und sterben muß, wenn es der Wind vom Aste reißt. Er brachte kein Wort hervor; nur die Fäuste stieß er auf den Tisch und biß die Lippen übereinander.

Als Frater Severin gewahrte, was er angerichtet hatte, streichelte er dem Jäger die zitternde Faust und sagte begütigend: „Nun, nun, so schlimm wird es ja nicht gleich werden, den Herrn Heinrich brauchst Du nicht zu fürchten. Wenn er auch manchmal ein wenig aufbraust … Worte, Haymo, Worte! Komm’ Du morgen nur hinunter, stelle Dich fest auf Deine Füße, schau ihm frei ins Auge – und alles ist gut! Und wenn Herr Schluttemann, der Klostervogt, ein Hagelwetter losläßt, so nimm es nicht ernst und schüttle den Pelz! Weißt, der speit halt Feuer, weil ihm Frau Cäcilia gehörig einheizt. In seiner Vogtstube hängt ein Bild – hast es gesehen? Der heilige Georg, der den Drachen ersticht! Ich mein’, da sollte eher ein Bild hängen: der Drache, der den heiligen Georg ersticht, doch nicht mit der Lanze, sondern mit einer Blutwurst!“

Er wollte weiter sprechen. Aber vom Herde her klang die Stimme des Buben „Frater Severin!“

„He?“

„Wißt Ihr, wen ich heute gesehen hab’ in aller Gottesfrüh’?“

„Wen?“

„Den Schwarzen! Drunten am See, unter einer Fichte saß er und flickte an einem Netz, als wär’ er nicht der Pater Fischmeister, sondern ein höriger Knecht! Und als ich vorüberging, machte er Augen gegen mich wie Feuer, richtig zum Fürchten! Das ist einer!“

„Das ist freilich einer!“ wiederholte Frater Severin. Und um den Jäger von seinen trüben Gedanken loszureißen, fragte er ihn: „Hast Du ihn nie gesehen – drunten am See?“

Haymo schüttelte den Kopf.

„Heuer um die Weihnachtszeit haben sie uns den hergeschickt von Passau. Warum? Ich weiß es nicht! So ’was erfährt ja unsereiner nie! Er soll aus fürstlichem Geblüt sein. Aber da drinnen …“ er pochte auf seine Brust, „da muß es gar finster ausschauen bei dem! Ganze Tage lang ist er im verschneiten Klostergarten auf und ab gewandert wie ein Gespenst. Und jetzt im Frühjahr, da haben sie ihn zum Pater Fischmeister gemacht und an den See geschickt. Drunten, weißt Du, wo es herausgeht über den Wildbach, in dem öden Winkel zwischen Felsen und See, da haust er in seiner Klause … und könnt’ es so gut haben in seiner Klosterstube! Mutterseelenallein! Freilich, umsonst heißt er nicht Pater Desertus, der ‚Einsam‘! Meinst Du, er duldet einen Knecht in seiner Nähe? Draußen im Seedorf müssen sie sitzen und dürfen nur kommen, wenn er sie ruft mit seiner Glocke.“

Haymo hörte nur mit halbem Ohr. Als Frater Severin das merkte, rüttelte er den Jäger am Arme. „Aber so rede doch auch ein Wort! Das ist ja langweilig, so stumm zu hocken wie eine Raupe im Kohl! Komm’ her! Trink’ einen Schluck! Und dann erzähl’ mir! Wo bist Du denn eigentlich her?“

„Aus Sankt Benedikti Buren!“[7]

„Wo Herr Heinrich vor Wochen zu Gast war?“

„Ja! Er fand Gefallen an mir und nahm mich mit.“

„Da hat er recht gehabt! Ich hätt’ es auch so gemacht! Sag’, sind Deine Eltern Klosterleute?“

Haymo senkte das Haupt, und seine Stimme zitterte. „Mein Vater war Senn; bei einem bösen Wetter hat ihn der Blitz erschlagen, und meine Mutter ist drüber gestorben aus Gram.“

„Armer Teufel!“ murmelte Frater Severin und wollte des Jägers Hände fassen.

Haymo aber erhob sich und verließ die Stube. Draußen umfing ihn die finstere Nacht. Lange stand er an den Stamm einer Fichte gelehnt, die unter dem stoßenden Föhn erzitterte bis in die Wurzeln. Er blickte empor zu den Sternen. Aber er sah ihr Funkeln und Leuchten nicht; die Bilder der Vergangenheit, traurig und froh, zogen an seinem Auge vorüber: die stürmische Nacht, da man den Vater brachte als einen stillen Mann; der Morgen, an welchem man die Mutter tot auf ihrem Lager fand; der schöne Abend, da ein Klosterknecht den zehn jährigen Buben zum Pater Wildmeister in das Jachenthal brachte; die erste Bergfahrt, der erste Schuß in die Scheibe und der erste in das Herz eines stattlichen Hirsches; und dann die frohen Jahre hoch oben im freien Revier der Berge, mit all ihren Jägersorgen und Jägerfreuden … bis zu diesem letzten Abend, an welchem das Mädchen mit den Schneerosen so plötzlich vor seinen Augen stand, selbst einer Schneerose vergleichbar, schlank und schön wie eine Elfe.

„Gittli!“

Weich und leise kam der Name von Haymos Lippen. Seine Blicke bohrten sich in die Nacht. Aber dort unten, wo der rauschende Bergwald den Almenhang und jene Hütte umschloß, in welcher das Mädchen Schutz gesucht für diese Nacht … dort unten war alles schwarze Finsterniß.

Schlief sie schon? Und ob sie wohl träumte? Und fror sie nicht im Schlummer? Sennhütten sind ja nur gebaut für den warmen Sommer; handbreite Lücken klaffen oft in den roh gefügten Balkenwänden, und es fährt der Sturm hindurch, zudringlich und kalt. Da wäre wohl der Schläferin ein wärmendes Fell, eine schützende Decke gar willkommen.

Haymo eilte in die Hütte. Das Feuer auf dem Herde war fast erloschen; nur ein dünnes Flämmlein schlug noch aus den zerfallenden Kohlen. Im Herdwinkel hatte sich Walti auf die warmen Steine gestreckt, und im Heubett schnarchte Frater Severin auf dem Wolfsfell und hielt die Lodendecke bis an das Kinn gezogen. Was der gute Frater wohl sagen mochte, wenn Haymo ihn weckte und zu ihm spräche. „Gieb das Fell her und die Decke, die kleine Gittli friert!“

Haymo seufzte, und leise, um die beiden anderen nicht zu wecken, ließ er sich auf den Herdrand nieder. Da sah er, daß der Laufbub die Augen noch offen hatte.

„Walti!“ sprach er ihn flüsternd an. „Nicht wahr, Du kennst alle Leut’ im Klosterdorf?“

„Ja!“ gähnte der Bub.

„Kennst Du eine junge Dirn’ mit Namen Gittli?“

„Wohl wohl,[8] das ist die Müllerstochter am Seebach drunten, ein festes Weibsbild mit blonden Zöpfen, dick wie mein Arm.“

„Nein, die mein’ ich nicht … eine andere!“

„Halt! Ja! Die Krämerdirn’! Haymo, die hat Batzen und kriegt ein Haus. Aber schielen thut sie und einen Buckel hat sie auch! Pfui Teufel!“

„Die mein’ ich auch nicht … eine andere!“

„Eine andere? Gittli? Ich weiß keine mehr!“

„Besinne Dich!“

„Wie soll sie denn ausschauen?“

Haymo neigte sich über den Herd; seine Augen leuchteten, und von seinen Wangen strahlte die Gluth der Kohlen zurück. „Schlank und fein wie ein junges Lärchenstämmlein, flink wie ein Reh, ein Gesichtlein, so weiß wie die Schneerose, und Augen, so schön und tief wie der See.“

Walti glotzte den Jäger an und schüttelte den Kopf. „Nein, die kenn’ ich nicht! So eine giebt’s gar nicht bei uns im Dorf. Die müßt Ihr draußen in Salzburg suchen oder im reichen Hall, in den Herrenhäusern!“ Er ließ sich gähnend zurücksinken in den Winkel, richtete sich aber gleich wieder auf. „Halt! Eine fällt mir noch ein! Ja, die heißt auch Gittli. Aber das ist ja noch gar keine Dirn’! Die ist ja mit mir in die Klosterschul’ gegangen! Ein kleberes[9] Ding! Hat Augen wie eine Wildkatz’ und Haare so schwarz wie des Teufels Großmutter! Die könnt Ihr nicht meinen.“

Haymo lächelte. „Nein, die mein’ ich freilich nicht! Wer ist denn ihr Vater?“

„Sie hat keinen; bei ihrem Bruder haust sie! Das ist einer! Dem geh’ ich aus dem Weg! Neulich, wie die Glocke zum Essen läutete, hab’ ich sein Kind umgerannt. Da hat er mir die Ohren schier aus dem Kopfe gerissen! Der Teufel, der ungute! Es mag ihn aber auch keiner im Dorf. Er ist ein Auswärtiger. Vor zehn Jahren ist er zu uns gekommen, weiß nicht, woher. Drunten im Salzhaus ist er Sudmann, und sein Häusl ist ein Klosterlehen … jaaa!“ Laut gähnend drehte sich Walti auf die Seite.

[235] Haymo lehnte sich gegen die Blockwand, flocht die Hände um das emporgezogene Knie und träumte mit offenen Augen.

Auf dem Herde erlosch die Gluth, Frater Severin schnarchte, und draußen stürmte der Föhn um das kleine Balkenhaus, daß es oft erzitterte in allen Fugen.




3.

Es war nach den schweren Mühen des Tages keine bequeme Rast, welche Haymo auf dem Herdrand hielt. Und dennoch schlief er tief und fest. Nach stillen Stunden weckte ihn ein Windstoß, der gegen die Hütte fuhr, als wollte er sie hinwegtragen in die Lüfte. Auch Walti erwachte; sogar Frater Severin stellte das Schnarchen ein und warf sich auf die Seite.

Haymo verließ die Hütte, um sich an der Quelle zu waschen; der Stand der Sterne zeigte die zweite Morgenstunde. Als er zurückkehrte, hatte Walti ein Feuer entzündet. Frater Severin aber schnurrte schon wieder im Schlaf wie die Säge in einer dürren Fichte.

Heute brauchte Haymo kein Frühmahl, denn er mußte nüchtern bleiben für den Tisch des Herrn. Er schnallte das Wehrgehäng um die Hüfte, warf die Armbrust auf den Rücken und drückte die Kappe über das krause Gelock. Aus dem Schreine nahm er eine ältere Armbrust hervor und einen Bolzenköcher und reichte beides dem Buben, dessen Augen aufblitzten, als er nach der Waffe griff.

„Kannst Du schießen?“

„Auf hundert Schritte treff’ ich wohl einen Baum!“ sprudelte es über Waltis Lippen.

„Gut! Laß den Frater schlafen! Du aber geh, wenn der Morgen graut, und übernimm die Hut!“

„Welchen Weg soll ich machen?“

„Hinüber zur Kreuzhöh’, dann hinauf durch den Wald bis unter die Wände und immer an den Wänden fort … aber nimm Dich in acht vor den Lahnen[10] und spring’ nicht thalwärts, wenn Du sie rollen hörst über Dir, sondern drück’ Dich an die Wand! Zu Mittag such’ Dir einen Platz in der Sonne und raste. Dann hinunter zum Seegrat und durch den Almenwald herauf. Um Pirschzeit mußt Du wieder oben sein beim Kreuz; dort warte, bis es finster wird. Und wenn Du einen Steinbock siehst oder ein Rudel Gemsen, dann halte Dich still und scheuche mir das Wild nicht! Hörst Du? Und wenn Dir einer begegnet, der nichts hier oben zu schaffen hat, dann zeige, daß Du ein richtiger Bub’ bist, und ruf’ ihn an! Es ist Klostergut, das Du hütest!“

Walti nickte nur; aber sein Gesicht brannte, und fester schlossen sich seine Hände um die Armbrust.

„Und nun behüt’ Dich Gott! Und grüß’ mir den Frater Severin!“

Leise, um den Schlafenden nicht zu wecken, verließ Haymo die Hütte. Draußen lag noch die tiefe Nacht mit ihrem Sturm und ihren Sternen. Rüstigen Ganges folgte er durch das rauhe Steinfeld dem thalwärts führenden Jägersteig. Nach einer Stunde erreichte er den dumpf rauschenden Almenwald. Er wanderte durch die Finsterniß, die ihn zwischen den Bäumen umgab, so sicher dahin, als wär’ es heller Tag. Manchmal hörte er flüchtendes Hochwild brechen und Steine kollern. Auf einer Blöße zog ein Uhu mit rauschendem Flügelschlag über ihn hinweg.

Nun theilte sich der Weg; der eine Pfad führte über die bewaldeten Wände steil hinunter zum See, der andre quer durch den Wald, auf einem Umweg bei den Sennhütten vorüber, und dann nach weiten Windungen beim Seedorf in das Klosterthal.

Bei den Sennhütten vorüber! Haymo fühlte, wie es ihn zog und zog. Er hätte so gerne gewußt, ob Gittli die stürmische Nacht auch fahrlos überstanden. Um sich loszureißen mußte er des Zweckes gedenken, der ihn heute hinunterrief ins Kloster.

Mit doppelter Eile folgte er dem immer abschüssiger werdenden Pfade. Das erste Morgengrauen erleichterte ihm den Niederstieg. Die Sterne erblaßten, lichter und lichter wurde der Himmel, und über den Spitzen der Berge erwachte das Frühroth. Ein rosiger Schimmer erfüllte den weiten Felsenkessel, in dessen Tiefe der See mit weißen Wellen schwankte. Als Haymo das steile Ufer erreichte, wurde drüben über dem See, in der Bartholomäusklause,[11] das Glöcklein geläutet. Er zog die Kappe und sprach ein Gebet. Dann stieß er den Einbaum, der zwischen wirrem Gestrüpp an das Ufer gezogen lag, in das Wasser, sprang mit raschem Satz in das schwankende Fahrzeug und griff zum Ruder. Wohl hatte der wehende Föhn zwischen den tiefgesenkten Felswänden nur halbe Macht; Haymo mußte aber doch seine ganze Kraft zusammennehmen, um bei den häufigen Wirbelwinden, die ihn überfielen, den plumpen Kahn auf den rasch sich überstürzenden Wellen in gerader Fahrt zu halten.

Es war heller Tag geworden, als er nahe dem Seedorf in einer vor dem Sturme geschützten Bucht den Einbaum wieder ans Land zog. Zwischen den rauschenden Fichten stieg er den sanftgeneigten Waldhang empor. Nun verhielt er betroffen die Schritte. Vor ihm auf einem moosigen Steine saß ein Mönch. Netzwerk und Angelschnüre lagen zu seinen Füßen; er hielt die Arme auf die Knie gestützt und das Antlitz in den Händen vergraben. Die Kapuze war zurückgesunken und enthüllte ein edel geformtes Haupt mit kurzgeschorenem, tiefschwarzem Haar; dicht und lang aber quoll der schwarze Bart unter den Händen hervor bis auf die Brust.

In Haymo erwachte die Erinnerung. Dieser Mönch vor ihm, das war wohl „der Schwarze“, von welchem Walti geplaudert hatte, der neue „Pater Fischmeister“, den „sie von Passau hergeschickt“ und von dem Frater Severin erzählt hatte, daß er ganze Tage lang stumm und einsam im beschneiten Klostergarten auf und nieder gewandert wäre „wie ein Gespenst“? Einen Schritt trat Haymo näher, sein eisenbeschlagener Schuh streifte dabei eine Felsplatte, da richtete der Mönch hastig sein gebeugtes Haupt empor und erhob sich. Diese stolze, edle Gestalt hätte wohl eher in den Harnisch gepaßt als in die Kutte; das Gesicht aber, welches der schwarze Bart umrahmte, war bleich wie Schnee; Gram und Seelenpein hatten die Züge verschärft und tiefe Furchen in die weiße Stirn gegraben; um die schmalen Lippen zuckte der Schmerz, und die tiefliegenden Augen brannten wie Feuer – das waren Augen, welche wohl lange schon die Wohlthat der Thränen nicht mehr kannten. Haymo fühlte sein Herz berührt vom Anblick dieses Priesters; er zog verwirrt die Kappe und stammelte:

„Hochwürdiger Vater! Was fehlt Euch? Seid Ihr krank?“

Der Mönch wandte sich wortlos ab, hob die Fischnetze und Angelschnüre auf seinen Arm und wollte gehen.

Doch Haymo vertrat ihm den Weg. „Ich bitt’ Euch, redet doch ein Wort zu mir! Vielleicht kann ich Euch etwas zuliebe thun? Sagt mir … was bedrückt Euch?“

„Das Leben!“ glitt es leise von den Lippen des Mönches, als hätte er dieses Wort für sich allein gesprochen und nicht als Antwort auf die herzliche Frage des Jägers. Dann neigte er das Haupt – es war ein Gruß und eine Abweisung zugleich – und schritt dem Pfade zu, der von der Berghöhe niederführte gegen das Seedorf.

Betroffen blickte Haymo ihm nach; nun aber hob er lauschend den Kopf; eine hellklingende Stimme tönte von einer höheren Stelle des Pfades durch den Wald hernieder. Haymo erkannte diese Stimme, und heiß schoß ihm das Blut in die Wangen. Jetzt sah er auch zwischen den Bäumen schon das rothe Röcklein schimmern. Gittli war es, und sie sang ein Lied, welches Haymo selbst wohl zu hundertmalen schon gesungen:

„Auf steiler Höh’,
Tief unterm Schnee,
Da blüht ein Blümlein grün und weiß.
Es gräbt in Stein
Die Würzlein ein
Und streckt sein Köpflein aus dem Eis,
Schneeweiß!

Die Winterszeit,
Wenn’s eist und schneit,
Das ist sein Lenz auf weißer Hald’!
Doch bringt der Föhn
Den Frühling schön,
Dann siecht es hin und welket bald,
Schneekalt!

Im Herzen tief
Ein Blümlein schlief,
Gar lieblich und an Schönheit reich!
Es blühte roth,
Da kam der Tod
Und trug’s hinunter in sein Reich,
Schneebleich!“

Wie Lerchengesang hob Gittlis Stimme sich über den wehenden Sturm und das dumpfe Rauschen des Waldes. Aber sie sang das Lied nicht zu Ende. Denn kaum, daß sie die letzte Strophe [236] begonnen hatte, da brach ihre Stimme jählings ab, und Haymo sah, wie Gittli auf dem schmalen Pfad erschrocken stehen blieb, die scheuen Blicke auf den Pater Fischmeister gerichtet. Dieser stand vor ihr, mit erstarrtem Antlitz und mit Augen so voll Entsetzen, als wäre das Mädchen vor ihm nicht das lieblichste Bild des Lebens, sondern ein dem dunkelsten Schoße der Erde entstiegenes Gespenst. Die Knie drohten ihm zu brechen, Netze und Schnüre fielen von seinem Arm, taumelnd griff er nach einer Stütze, und von seinen zuckenden Lippen klang es mit heiserem Laut:

„Wer bist Du?“

„Ich bin die Gittli,“ stammelte das Mädchen mit beinahe versagender Stimme.

„Wer ist Dein Vater?“

„Mein Vater ist lange tot und meine Mutter auch. Ich hause bei meinem Bruder, der heißt Wolfrat und ist Sudmann im Salzhaus des Klosters.“

Das hatte Gittli scheu und ängstlich heruntergestottert wie ein Kind die Litanei in der Schule, wenn der Kaplan die Haselruthe schwingt. Nun stand sie schweigend und zitternd, das Körbchen mit den Schneerosen an ihren jungen Busen drückend, ein Bild so hold und rührend, daß Haymo von diesem Anblick sein Herz zum Springen schwellen fühlte. Es zuckte in seinen Fäusten und es war ihm zu Muth, als müßte er auf den unheimlichen Wegelagerer losstürzen und ihm zuschreien: Was willst du von diesem Kind? Laß dieses Kind in Ruhe oder du hast es mit mir zu thun!

Unverwandt waren die Blicke des Mönches auf das Mädchen gerichtet. Brennende Röthe und fahle Blässe wechselten auf seinen Wangen, seine Augen waren wie zwei Flammen, heiß und verzehrend … er ging nicht, er taumelte ihr entgegen. „Wer gab Dir dieses Gesicht?“ so brach es, fast wie ein Schrei, von seinen Lippen – nun streckte er die Arme aus, als wollte er sie fassen, umschlingen … und da wich Gittli erblassend vor ihm zurück; einen Augenblick stand sie rathlos, dann schwang sie sich mit einem herzhaften Sprung über den steilen Rand des Pfades herab auf den moosigen Waldboden und flog mit flatterndem Röcklein an Haymo vorüber, um zwischen den Bäumen zu verschwinden.

Wie man lange nach der dunklen Stelle des Himmels starrt, an welcher ein fallendes Sternlein erloschen ist, so starrte Haymo in den Waldschatten, in welchem die Gestalt des Mädchens sich verloren hatte. Langsam wandte er nun das Gesicht und blickte wieder zum Pfad hinauf. Dort oben stand noch immer der Mönch mit gestreckten Armen, als wollte er die Luft umschlingen, in der das Mädchen geathmet. Jetzt kam ein Zittern über ihn, seine Arme fielen, stöhnend sank er auf einen Stein und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.

Haymo wußte nicht, wie ihm geschah. Er hätte so gern diesem Priester gezürnt und dennoch fühlte er, wie das Mitleid sein ganzes Herz gefangen nahm. Eine Weile noch stand er wie gebannt; dann schlich er davon, und je weiter er sich entfernte, desto rascher wurde sein Schritt. Vielleicht gelang es ihm noch, das Mädchen einzuholen! In seinem Geleit wäre Gittli sicher und hätte einen gefahrlosen Heimweg, meinte er und begann zu laufen.

Aber was war das? Diese zornige Stimme, welche von der offenen Seelände her durch die Lichtung der Bäume klang, war das nicht Gittlis Stimme? Ja! und nun verstand er auch ihre Worte: „So laßt mich doch! Was wollt Ihr denn von mir? Was hab’ ich Euch denn gethan? Laßt mich doch in Ruhe! Laßt mich!“

Haymo hatte den Waldsaum erreicht; draußen lag eine breite Wiese, halb überspült von dem weißen Sande, den der schäumende See über das Ufer warf; an Stangen hingen Fischnetze zum Trocknen aufgespannt; unter weitästigen, im Föhnwind rauschenden Linden zu Füßen eines Hügels standen die beiden Hütten der dem Kloster hörigen Fischerknechte. Zwei dieser struppigen, an Gesicht und Kleidung derb verwitterten Gesellen hatten inmitten der Wiese das Mädchen mit einem Stück Netz umfangen, und der eine rief lachend:

„Hilft Dir nichts! Wer ein so feines Fischlein im Garn hat, der hält es fest!“

„Aber so laßt mich doch, laßt mich …“ flehte Gittli und suchte sich dem Netze zu entwinden.

„Zapple nur!“ lachte der andre. „Und weißt Du, was einem Ferch[12] geschieht, wenn er ins Netz gegangen ist? Wir geben ihm eins auf den Schnabel!“

Gittli kreischte, und während sie mit dem einen Arm ihr Körbchen in die Höhe hielt, schlug sie mit dem andern zornig um sich.

„Geh’, hab’ keine Sorg’!“ tröstete der jüngere der beiden Knechte. „Wir machen’s bei Dir nicht gar zu grob! Komm her … wirst sehen, es thut nicht weh!“ Er faßte mit derber Hand ihr Kinn und wollte sie küssen. Da flog er recht unsanft zur Seite. Haymo hatte ihn beim Kragen gepackt und der Griff hatte ausgegeben – ein Dutzend Schritte von der Stelle saß der Bursch im Gras und machte ein dummes Gesicht. Dem andern versetzte Haymo mit dem Bergstock eins über die Hand, daß er das Netz gutwillig fallen ließ. Gittli, die sich so plötzlich befreit sah, warf dem Jäger einen dankbaren Blick zu, streifte hurtig das Netz von den Füßen und huschte kichernd davon.

Der ins Gras Gesetzte hatte sich inzwischen erhoben. Blasend und mit kirschrothem Gesicht kam er auf den Jäger zugestürmt.

Haymo griff nach keiner Waffe; er machte nur eine Faust und hob sie ein klein wenig. „Komm nur!“ sagte er lächelnd.

Da war der Zorn des Burschen mit einmal verraucht. Und der andre, der noch immer seine Hand rieb, brummte: „So ein Wildling! Gleich zuhauen! Da schau, ganz blau sind alle Finger!“ Und scheltend ging er dem Ufer zu und steckte die Hand ins kalte Wasser.

Lachend schulterte Haymo den Bergstock und folgte gemächlichen Schrittes der Straße. Er wäre wohl gern rascher gegangen; aber das wollte er den beiden Gesellen nicht zuliebe thun; die hätten ihm sonst wohl nachgerufen. „Schau nur, wie er sich tummelt, daß er vom Flecke kommt!“ Als er dann um eine Ecke lenkte und den Blicken der beiden entschwand, beschleunigte er wohl seinen Gang, aber von Gittli war nichts mehr zu sehen und zu hören.

Auf schmaler, von den Rädern der Bauernkarren übel zerrissener Straße schritt Haymo dahin durch das frühlingsblühende Thal. Denn wenn auch droben auf den Bergen der Lenz noch eine harte zähe Schlacht gegen den Winter schlug, so hatte er doch im Thal sich schon häuslich eingerichtet. Auf den Wiesen lag es schon wie grüner Sammet, in dem sich die zahllos blühenden Primeln ausnahmen wie goldene Stickerei. Veilchenduft wehte aus den Hecken, in denen die kleinen Meisen zwitscherten. Aus den Zweigen der Fichten spitzten die jungen Triebe, und über den Buchen und Ahornbäumen lag’s von den sprossenden Blättchen wie lichtgrüner Schimmer. Die wilde Kraft des Föhns, der droben auf den Bergen den Grund der Felsen zittern machte und die donnernden Lawinen löste, war hier im Thal verwandelt in ein lustiges Wehen, das in alle Büsche griff, in alle Wipfel der Bäume, als wollte es ihnen immer und immer wieder sagen: nur frisch, nur munter! Jetzt nach dem Winterschlaf kein Gähnen mehr! Jetzt heißt es wachsen, treiben, blühen, Früchte tragen und für Samen sorgen! Die schöne Zeit ist kurz! Und eh’ ihr’s euch verseht, ist wieder der Winter da! Munter! Munter!

Nun stieg die Morgensonne hinter den Bergen empor, Wald und Feld überspinnend mit ihrem Gold. Ein Funkeln und Leuchten überall! Sogar der Schatten, den Haymo vor sich hin auf die Straße warf, war Schimmer und Farbe.

Blaue Rauchsäulen stiegen aus den hölzernen Bauernhäusern, welche zerstreut lagen zwischen kleinen Gehölzen, zwischen Wiesen und brachen Feldern; in den umhegten Gärten weidete das Vieh mit läutenden Glocken, und in steinigem Bette rauschte die dem See entströmende Albe ihr eintöniges Lied.

Die Straße begann zu steigen; nun trat sie unter den Bäumen hervor, und Haymo sah zu oberst auf der sonnigen Höhe des Weges das Mädchen schreiten.

Gittli! Gittli! rief er mit hallender Stimme.

Sie hörte ihn, blieb stehen, wandte das Gesicht, schwang wie zum Gruß ihr Körbchen und lief davon, in der Senkung der Straße verschwindend.

Haymo seufzte zuerst, dann aber lachte er und wanderte weiter. Ein halbes Stündlein noch und er hatte das Klosterdorf erreicht. An beiden Ufern der Albe reihte sich Häuschen [237] an Häuschen und von der Höhe nieder winkte der schlanke Kirchthurm und der mächtige, weit ausgedehnte Bau des Klosters mit hundert funkelnden Fenstern. Haymo überschritt auf hölzerner Brücke die Albe und gelangte zu einem riesigen Holzgebäude. Es war das Salzhaus, die Goldschmiede des Klosters, welche die Dukaten in so schöner Menge lieferte, daß in kaum zweihundert Jahren die arme Martinsklause zu Berchtesgaden das reichste Kloster weit und breit geworden war. Alle Fürsten zankten sich um die Hoheitsrechte über die reiche Propstei, und die Erzbischöfe zu Salzburg machten scheele Augen.

In langer Reihe standen die Frachtwagen und Saumpferde aus aller Herren Ländern vor dem Salzhaus, und ein Frater in geschürzter Kutte verzeichnete auf einem Täfelchen jeden Sack, der von den Knechten zum Verladen herbeigetragen wurde. Auf einem Seilzug, der über die Albe gespannt war, kamen die in Rollen laufenden Kufen mit dem Rohsalz knarrend einhergezogen. Dort drüben lag der Salzberg, in dessen tiefen Schachten das Steinsalz von den Klosterknappen gefördert wurde. Dann kam es in die Pochmühle, aus der Mühle in die Solwannen, und aus der gesättigten Sole wurde das reine Salz in mächtigen Pfannen wieder ausgekocht. Sogar in der Charwoche durften die Feuer nicht erlöschen. Wie fleißig der Sud betrieben wurde, das verrieth der weiße Dampf, der in dichten Wolken aus allen Luken des Daches, aus jedem Thor und allen Fenstern des Salzhauses qualmte.

Da drinnen in der brütenden Hitze mochte kein gutes Weilen sein: das meinte Haymo dem Sudmann anzusehen, welcher eben, triefend von Schweiß, aus einem der Thore trat, um frische Luft zu schöpfen; er war nur mit einer blauen Leinenhose bekleidet, Oberkörper und Arme waren nackt und von der Hitze geröthet wie ein Krebs, der aus dem siedenden Wasser auf die Tafel kommt. Eine wuchtige Gestalt, Muskeln und Arme wie aus Bronze gegossen, ein Stiernacken, ein klobiges Haupt mit kurz geschnittenem, röthlich braunem Haar; der struppige Bart hatte die Wangen fast bis zu den Augen überwachsen; dadurch bekam das Gesicht einen wilden, finsteren Ausdruck, der durch den verdrossenen Blick der grauen Augen noch verschärft wurde.

„Wolfrat!“ rief eine herrische Stimme im Innern des Salzhauses, und der Sudmann verschwand im Thor.

Wolfrat? … Dieser Mensch sollte Gittlis Bruder sein? Haymo schüttelte lächelnd den Kopf; er stellte die beiden im Geiste nebeneinander. Das waren zwei Geschwister, von denen eins zum andern paßte wie der Eichbaum zur Heckenrose, wie der Bär zum Reh, oder … der Volksmund pflegt zu sagen: wie die Faust aufs Auge!




4.

Als Haymo durch die Pforte der Klostermauer trat, scholl vom Kirchplatz herab ein lautes Knattern und Gepolter. Das waren die hölzernen „Ratschen“, welche zur Messe riefen; während der Passionstage dürfen ja die Glocken nicht geläutet werden, denn ihre klingenden Seelen, so geht die Sage, ziehen nach Rom, um vom heiligen Vater gesegnet zu werden; und erst in der Osternacht kehren sie zurück in ihre ehernen Leiber, um schwebenden Schalles die Auferstehung des Erlösers zu verkünden.

Ueber Felsstufen und gewundene Wege stieg Haymo den Hang des Hügels empor, auf dessen Kuppe das Kloster stand. Das ganze Gehänge, einst mit Felsklötzen besät und von wirrem Gestrüpp überwuchert, war in einen herrlichen Garten verwaindelt, mit zahlreichen Blumenbeeten, Baumgruppen und säuberlich gehaltenen Pfaden. Wohl war der Garten um diese frühe Jahreszeit noch arm an Grün und Blüthen, aber was mußte das im Sommer für eine Pracht und Freude sein! Frater Severin, der Gärtner, verstand seine Kunst; das mußte auch der Neid bekennen!

[238] Auf schwankendem Stege überschritt Haymo den tiefen Hirschgraben, in dem ein Rudel Hochwild friedlich äste. Die Thiere sahen elend und verkümmert aus; ein Hirsch, auf dessen Haupt schon das neue Geweih zu sprossen begann, war bis zum Rande des Grabens emporgestiegen und drückte die Stirne gegen das hölzerne Gitter – er sah durch die Lücken der Stäbe in der Ferne den freien Bergwald blauen. Haymo wandte sich ab, bewegt von Erbarmen; es dünkte ihm ein hartes Unrecht, solch ein edles Thier gefangen zu halten in traurigem Kerker, nur zu müßiger Augenweide.

Als der Jäger an der Klosterpforte den Hammer rührte, sagte ihm der Pförtner, daß Haymo nach der Messe in der Amtsstube des Klostervogtes sich einzufinden hätte; doch solle er neben Dienst und Pflicht auch seines irdischen Leibes gedenken und den Umweg über die Küche nicht scheuen. „Freu’ Dich, Junge, heut’ ist großer Fasttag!“ flüsterte der Pförtner und schnalzte mit der Zunge.

Haymo gab die Armbrust und den Bergstock in Verwahrung und schritt der Kirche zu, durch deren offenes Thor der Weihrauch duftete und die brennenden Kerzen flimmerten. Stehend, die Kappe zwischen den verschlungenen Händen hörte er die Messe. Im Beichtstuhl hatte er ein schweres Viertelstündlein; er besann und besann sich, aber es fiel ihm keine Sünde ein, die er etwa begangen hätte! Das ganze Jahr hindurch mit sich allein in Berg und Wald, nichts anderes im Herzen als die stille Freude an der schönen Gotteswelt, nichts anderes im Sinn als die Jägersorgen, die der Morgen weckte und der Schlaf vergessen machte – wie soll man da zu einer Sünde kommen? Es macht ja kein Gebet, kein Glaube die Menschen frömmer als die Einsamkeit des rauschenden Waldes, als die freie Himmelsnähe auf den Gipfeln der Berge. Aber sündigen muß doch der Mensch – wozu wäre sonst die Beichte da! Haymo sann und sann … der Pater im Beichtstuhl wurde schon ungeduldig … und Haymo, dem der Angstschweiß auf die Stirn trat, stotterte: „Hochwürdiger Vater, ich bitt’ Euch, habt nur ein Weilchen noch Geduld, es wird mir gewiß noch eine Sünde einfallen!“ Und richtig … der heiße Zorn, der ihm stets über die Lippen strömte, so oft er droben in seinem Revier die verdächtige Spur eines Menschen fand, das war doch Sünde! Und der Wunsch, daß er Flügel haben mochte, um die entflohenen Raubschützen verfolgen und fassen zu können? Wieder eine Sünde! Denn dieser Wunsch war so viel wie ein versteckter Zweifel an der Weisheit Gottes, der die Menschen nun einmal ohne Flügel erschaffen hatte! Haymo athmete erleichtert auf; der Anfang war ja nun gemacht, und da ging es prächtig weiter, so daß er schließlich ein ganz gewichtiges Päcklein Sünden zusammenbrachte. Der Pater lächelte, als er diesem so schwer beladenen Beichtkind die Absolution ertheilte; Haymo aber war völlig zerknirscht und hielt die kleine Buße, die er zu beten bekam, für unverdiente Milde. In wahrer, tiefer Andacht genoß er den Leib des Herrn und verließ die Kirche, er meinte wahrhaftig: besser, als er sie betreten hatte.

Beim Pförtner holte er seine Armbrust; der öffnete ihm das Thor des Klosters, zwinkerte ihm freundlich zu und sagte. „Geh’ nur! In der Küche wissen sie schon, daß Du kommst! Geh’ nur!“ Haymos eisenbeschlagene Schuhe klapperten auf den Steinfliesen des langen Kreuzganges, den er zu durchschreiten hatte. Durch hohe Bogenfenster fiel das goldene Sonnenlicht und machte die Farben der frommen Bildnisse leuchten, mit denen die weißen Wände geziert waren. Aus einer Thür hörte er summende Stimmen, dazu ein lautes Klappern und Klirren. Er öffnete und betrat die Klosterküche. Feuchte Hitze umfing ihn und angenehme Düfte quollen ihm entgegen. Ein großmächtiger Raum mit sechs hohen und breiten Fenstern; die Wände schneeweiß getüncht, der Boden mit rothen, spiegelblanken Marmorplatten belegt. Ueberall weißgescheuerte Tische, Kasten, Schreine und Truhen; alle Wände funkelten von kupfernen Pfannen und zinnernen Schüsseln; an den Fensterpfeilern hingen die aus Blech getriebenen Kuchenformen in Gestalt von Sternen, Herzen, Blumen und allerlei Gethier. In der Mitte des Raumes stand der riesige Herd, dessen Inneres, nach den vielen Kupferthürchen zu schließen, ein wahres Labyrinth von Feuerhöhlen und Bratröhren enthalten mußte; die Platte des Herdes war dicht bestellt mit dampfenden Pfannen und Kesseln, und über offenem Kohlenfeuer wurde am langen Spieß ein Seeferch gebraten, der wohl an die dreißig Pfund wiegen mochte.

Und welch ein emsiges Leben in all diesem Dampf und Duft! Rings um den Herd und um die Zurichttische standen und gingen die Küchenbrüder, mit nackten Armen, mit weißen Schürzen über den schwarzen Kutten, jeder betraut mit einem hochwichtigen Amte. Hier wurden Hechte, Forellen und Saiblinge gereinigt, dort knetete einer mit derben Fäusten an einer ellenlangen Teigstulle, hier wurden Zwiebeln geschnitten und Citronenschalen gewürfelt, dort schlug einer mit langer Birkenruthe einen ganzen Teich von Eiweiß zu schneeigem Schaum, Mehl wurde abgewogen und Gewürz sortiert, und zwischen den Brüdern tummelten sich die Laufbuben, Holz tragend, das Feuer schürend, die gebrauchten Kessel scheuernd und das zinnerne Geschirr spülend. Hohe Stöße von Tellern wurden durch einen Schalter hinausgeschoben, durch den man das weite Refektorium mit seinen blüthenweiß gedeckten Tischen gewahrte. und in all diesem Klappern, Klirren, Zischen und Brodeln ein ununterbrochenes Rufen, Plaudern und Lachen und alle Gesichter rothbrennend von Hitze.

Die Fäuste in die Hüften gestemmt, mit gebieterischer Ruhe wie ein Feldherr, schritt Frater Friedrich, der Küchenmeister, auf und nieder, alles überblickend, alles überwachend. Breit lag ihm das Doppelkinn auf der Brust, die kleinen Aeuglein versanken fast in den Fettpolstern der Backen, und bei seinem Umfang mochten fünfzehn Ellen Tuch wohl kaum genügen für die Kutte! Ja, das Fasten! Das Fasten!

Als Haymo die Küche betrat, weckte sein Erscheinen einen ganzen Aufruhr. „Der Jäger! Der Jäger!“ rief es auf allen Seiten, die Brüder kamen auf ihn zu, die Laufbuben stellten ab, was sie in den Händen hielten und rannten ihm entgegen. Mit glotzender Neugier umstanden sie ihn, der eine griff nach Haymos Weidmesser, der andere streichelte die Armbrust, der dritte griff in den Bolzenköcher und prüfte die Schärfe einer Bolzenspitze am Finger. Und so viele Fragen gab es auf einmal, daß der Jäger sie in einer Stunde nicht hätte beantworten konnen. Haymo wurde verlegen, ihm war zu Muth wie der Wildtaube im Hühnersteig. Da kam der Frater Küchenmeister … herbeigegangen? … nein, herbeigerollt wie eine Tonne. „So? Bist Du da? Hast Deine Seel’ gestärkt? Brav, mein Sohn, brav! Das ist Christenpflicht! Jetzt aber komm und stärke Deinen Leib!“ Er nahm den Jäger unter dem Arm und führte ihn in eine kleine Stube, welche neben der Küche lag und halb einer Mönchszelle, halb einer Speisekammer glich. Im Erker war ein Tischlein säuberlich gedeckt, und neben dem Zinnteller stand eine Holzkanne, bis zum Rande gefüllt mit schäumender „Güte Gottes“.

Die beiden setzten sich und ein Laufbube trug auf; Schüssel um Schüssel kam; Haymo machte immer größere Augen. Er hatte noch niemals im Leben so herrenmäßig … nein, das will zu wenig sagen, so klosterwürdig getafelt; der Frater Küchenmeister schien den schmucken Jäger ins Herz geschlossen zu haben; er hatte die Arme breit über den Tisch gelegt und schaute dem Schmausenden mit zufriedenem Lächeln zu.

Da gab es zuerst eine Erbsensuppe mit gerösteten Schnitten, dann kamen Pastetchen, mit Forellenbacken gefüllt; es folgte ein gesottener Hecht, der sich, wie der Frater scherzte, aus Freude darüber, daß er gar so schön blau gerathen, in den eigenen Schwanz biß; er hatte zwei grüne Rosmarinzweiglein in den Nasenlöchern stecken und ein paar absonderlicher Augen: aus gelber Citronenschale geschnitten und in der Mitte ein Pfefferkorn; und rings um den Rand des Tellers lag ein Kranz von Zwiebelscheibchen, darin der geputzte Fisch so prächtig anzusehen war, daß Haymo erst nach langem Zureden das Herz hatte, diese Pracht zu zerstören. Dann folgten gedünstete Froschschenkel in kostlicher Tunke mit gebackenen Krapfen. Und nun kam gar ein richtiger Braten – ein Braten am Fasttag!

Haymo blickte verlegen auf den Frater. „Darf ich denn das essen?“

Der Küchenmeister lachte lustig auf und tätschelte die Hand des Jägers. „Iß nur, Bub, iß nur! Glaubst Du denn, ich möchte Deine frisch gescheuerte Seel’ mit einer Sünde beflecken! Iß nur! Das ist Fastenspeise, wie Fisch und Frosch!“

Zögernd kostete Haymo; doch gleich wieder legte er die Gabel nieder und schob den Teller kopfschüttelnd von sich. „Nein, Herr, das ist Fleisch!“

„Freilich Fleisch!“ lachte der Frater, „aber Fleisch von einem Biber!“

[239] „Biber? Aber das ist doch ein Thier mit Haar und Füßen?“

„Frißt aber Fische! Verstehst Du? Das ist Philosophie der Klosterküche! Biber, Otter und Wildente – ob Pelz oder Federn – was Fische frißt, wird wieder als Fisch gegessen. Und ganz mit Recht! Denn die Nahrung macht das Wachsthum und bildet aus ihrem Stoffe den Körper. Somit verzehrst Du in diesem Braten kein richtig’ Fleisch, sondern ein Theilchen von jedem Hecht und Karpfen, von jeder Grundel und Schleie, die der Biber schmauste.“[13]

„So?“ lächelte Haymo. „Dann, Frater Küchenmeister, wundert mich nur eines!“

„Was, mein Junge?“

„Daß Ihr am Fasttag nicht auch eine Hirschkeule auf die Tafel setzt!“

In hellem Entsetzen klatschte der Frater die Hände ineinander. „Haymo! Haymo! Du gottverlorener Mensch!“

„Warum? Die Hirsche äsen Gras und Kräuter. also muß ihr Fleisch ein Gemüse sein wie Kohl und Rüben. Und das ist doch Fastenspeise!“

Der Küchenmeister machte ein verdutztes Gesicht. dann schlug er lachend die Faust auf den Tisch. „Schade, schade, Haymo, daß Du kein Klerikus geworden! In Dir steckt ein Kirchenlicht! Und das soll nicht umsonst geleuchtet haben! Im nächsten Kapitel mach’ ich den Vorschlag, daß man alles Wildpret als Fastenspeise erklären soll.“ Nachdenklich schwieg er und schüttelte den Kopf. „Nein! Ich thu’s doch lieber nicht. Am Ende drehen sie den Spieß um und sagen: wie der Hirschbraten kein Gemüse ist, so ist der Biberschwanz kein Fisch, obgleich er Schuppen hat. Und Biberschwanz eß’ ich für mein Leben gern! Gieb her ein Bröcklein!“ Und aus dem „Bröcklein“ wurde mit Kosten und Kosten der halbe Braten. „Gelt, Du? Das rutscht wie Butter!“

„Ja, Frater, ein feiner Braten! Der kommt wohl von weit her?“

„Von der Donau, dort leben die Biber zu Hunderten in ihren Wasserdörfern. Von Straubing bis weit hinunter gegen Wels hat der Passauer Bischof das Jagdrecht. Mit dem letzten Salzkarren hat er uns ein halb Dutzend geschickt, wickelfette Kerle!“

„Von Passau? Ist das von dorther, von wo der neue Pater Fischmeister gekommen ist?“

„Warum fragst Du?“

Haymo wurde roth. „Ich mein’ nur so … ich hab’ ihn gesehen, heute früh, am See!“

Des Fraters Augen leuchteten. „Den soll der liebe Gott unserm Kloster erhalten! So viel hat noch keiner von See und Fisch verstanden wie der! Hast Du den Ferch draußen am Spieß gesehen? Den hat er mit eigener Hand gefangen. Ich laß aber auch nichts auf ihn kommen! Ich halt’ es mit ihm! Da mögen sie im Kloster reden, was sie wollen!“

„Was reden sie von ihm?“ fragte Haymo, wobei er sich alle Mühe gab, seine Spannung zu verbergen.

„Ach, dummes Zeug! Bevor er hinauszog in die Seeklause, haben sie ihn in der Nacht oft schreien hören in seiner Zelle, daß es jedem, der es hörte, durch Mark und Bein ging. Und wenn sie dann zu ihm hineinrannten, fanden sie ihn am Boden mit zerrauftem Haar und blutigen Fingernägeln. Nun schwatzen sie, daß der Teufel Macht habe über ihn, weil furchtbare Sünden auf seinem Gewissen liegen, und sagen, der Teufel komme in der Nacht und raufe mit ihm um seine Seele.“

Haymo saß mit erblaßtem Gesicht und stammelte: „Soll das wahr sein können?“

„Glaub’ mir, Haymo, dem Teufel laufen die Seelen so scharenweise zu, daß er gemüthlich warten kann, bis sie kommen. Der braucht sich nicht zu raufen um das, was sein ist. Und bei einer Seel’, die dem lieben Herrgott gehört, da hilft ihm auch das Raufen nichts.“

„So?“ Haymos Stimme klang seltsam gereizt, denn wieder sah er den Pater Fischmeister vor Gittli stehen mit verlangend ausgestreckten Armen, mit begehrlich funkelnden Augen. „Und Ihr meint wohl, der Pater hätte solch eine fromme Seele, die nirgends hin will als nur hinauf in den Himmel?“

„Was weiß ich! Kein Meusch hat ein Guckloch vor dem Herzen, daß man hineinschauen könnte, wie’s aussieht drinnen. Auf jeder Pfanne liegt ein Deckel. Nun errath’s, was drinnen kocht! Mit der Nase riecht man auch nicht alles! Und wer immer auf den Knieen rutsckt, ist auch noch lange kein Heiliger. Es kann auch einer in den Himmel kommen, der steife Beine hat. Und dann, was geht’s mich an – er ist der beste Fischer, das ist mir genug! Freilich, was Besonderes muß es schon gewesen sein, was den ins Kloster verschlagen hat. Wenn ich zurückdenke die zwanzig Jahre …“

„Ihr habt ihn gekannt?“ fiel Haymo hastig ein.

„Gekannt? Nein! Aber gesehen hab’ ich ihn einmal. Und hab’ ihn auch nimmer wieder vergessen. Es war zu Regensburg. König Ludwig … jetzt ist er lange schon Kaiser, und Gott mag ihn erhalten, denn er ist ein guter Herr … der sollte damals zu Gast kommen zu Bischof Adalbert. Und da holten sie mich aus dem Kloster, damit ich das Mahl rüste. Ja, mein Junge, ich hab’ allezeit was gegolten! Ein Koch wie ich … lassen wir’s, denn stolz sein ist eine Sünde. Ich kam also, und ich sage Dir, Wunder hab’ ich gewirkt, Wunder! Was ein Auerhahn für ein Vieh ist, das weißt Du doch?“

„Keine schönere Jagd, Frater!“

„Jagen? Meinetwegen! Aber essen? Ich danke! Was aber will ich machen? ‚Bruder Küchenmeister,‘ sagte Herr Adalbert zu mir, ‚ich will Dir nur kund und zu wissen thun, daß Herrn Ludwigs Lieblingsgericht der Auerhahn ist!‘ Auch ein Geschmack, denk’ ich mir! Dazu gehört ein gut bayerischer Magen! Und Zähne! Die hat er freilich – das haben seine Feinde gespürt, mit denen er ins Beißen kam! Also, ein Auerhahn! Ja, aber wie! Ich sage Dir, Haymo, die ganze Nacht hab’ ich kein Auge zugethan. Und mir ward Erleuchtung. Ich habe damals eine Beize erfunden … eine Beize! Und der Auerhahn kam auf die Tafel! Und wie! Butter, Haymo, Butter!“

„Aber der Pater Fischmeister?“ drängte Haymo.

„Ja, richtig! Es war ein wunderschöner Maitag, als Herr Ludwig einzog im Hofe der Bischofsburg. Alles glitzerte von Sonne. Der Himmel gut bayerisch: blau mit silbernen Schäflein! Als sie kamen … ich sage Dir, Haymo, das war ein Glanz und eine Pracht von all dem funkelnden Gold und Eisen! Vom Küchenfenster sah ich’s mit an. Und ein Jubel und eine Freude! Herr Ludwig ritt auf einem schneeweißen Pferd …“

„Die Krone auf dem Haupte und das Scepter in der Hand?“

„Dummer Jung’!“ lachte der Frater. „Da kennst Du unsern Kaiser schlecht! Nein! Im schlichten Jägerkleid, nicht schlechter wohl, aber auch fast nicht besser als der Kittel, den Du am Leibe trägst. Sein Gefolg’ aber! Du, das schaute sich an, als wären die Schatzkammern der Untersberger Zwerge lebendig geworden. Und unter all den Fürsten und Rittern war einer …“

„Der Pater Fischmeister?“ platzte Haymo heraus.

„Errathen! Freilich, damals hieß er noch nicht Pater Desertus … sondern Dietwald, Burggraf zu Falkenberg[14]!“

„Ein Graf!“ rief der Jäger mit offenem Munde.

„Hast Du schon den heiligen Georg auf seinem Rosse gesehen?“

„Ja, auf dem Bilde, das im Zimmer des Vogtes hängt.“

„So sah er aus! Stolz und schön! Unter dem blitzenden Helme ringelten sich die schwarzen Locken hervor. Auf den Lippen sproßte ihm der erste Flaum, ein lachendes Gesicht wie Milch und Blut … aber eine Gestalt und Glieder und eine Kraft! Sein Roß schnaufte nur so unter ihm! Und als wär’s ein Birkenblatt, so trug er den schweren Schild, der einen weißen Falk auf blauem Grunde zeigte. Andern Tages beim Turnier, da brauchte er nur so zu machen“ – der Frater Küchenmeister tippte den Zeigefinger auf Haymos Brust – „und die Herren Ritter purzelten in den Sand und streckten alle Viere in die Luft. Und die Weibsleute! Wie verrückt waren sie. Die Augen guckten sie sich aus nach ihm. Er aber … Was giebt’s?“

Ein Laufbube war in die Stube herein gestürmt: der Klostervogt hätte nach dem Jäger fragen lassen.

[240] Erschrocken sprang Haymo auf; so rasch aber kam er nicht zur Thür hinaus. Der Frater Küchenmeister hatte noch allerlei Anliegen; er zählte dem Jäger an den Fingern die würzigen Wald- und Almenkräuter her, welche Haymo in die Küche liefern sollte, sobald der Frühling sie erweckt hätte zum Blühen. Auch die Bärenschinken wären aufgeknappert bis auf den letzten Knochen. Ob nicht Aussicht wäre auf neuen Vorrath. Nicht nur wegen der Schinken! „Gesulzte Bärentatzen!“ Der Frater verdrehte die Augen und schlug mit der Zunge einen Triller zwischen den Lippen.

„Vergangene Woche hab’ ich einen Bär gespürt, hoch oben im Schnee,“ sagte Haymo, „aber die Fährte verlor sich im aaberen[15] Wald.“

„Pack’ ihn, Haymo, pack’ ihn. Und noch eines! Hat die Schneerose schon verblüht?“

Ein träumerisches Lächeln glitt über die Züge des Jägers. „Ich hoffe, noch lange nicht!“

„Ich aber hoffe, bald!“ Auf das behäbig freundliche Antlitz des Fraters legte sich ein wehmüthiger Schatten. „Weißt Du, Haymo, das viele Kosten von allen Schüsseln, das thut nicht gut auf die Dauer. Manchmal in der Nacht, da spür’ ich’s … hier am Herzen … daß ich meine, ich muß ersticken. Dafür hilft die Wurzel der Schneerose, die Nieswurz. Aber sie muß gegraben werden, wenn das letzte Stöcklein verblüht hat. Dann ist ihr Saft am stärksten; er macht das dicke Blut wieder flüssig und das schläfrige Herz lebendig!“

„Ja, Frater, Ihr sollt eine Wurz’ haben, an die noch kein Wurm und der Zahn keiner Maus gerührt hat. Aber seid vorsichtig! Ihr wißt:

Zwei Tröpflein machen roth,
Zehn Tropfen machen tot.“

„Sei ohne Sorge!“ lächelte der Frater und klopfte dem Jäger herzlich auf die Schulter. „Bist ein guter Bursch! Schick’ mir die Wurzel durch den Walti! Und komm nur wieder einmal! Für Dich hab’ ich immer ein gutes Bröcklein im Kasten. Aber jetzt mach’ weiter, sonst brummt der Vogt! Gelobt sei Jesus Christus!“

„Amen!“

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 9, S. 261–272
[261]
5.

Durch lange Gänge, in denen stille Mönche an dem Jäger vorüberwanderten, lautlos seinem Gruß dankend, und über eine steile Wendeltreppe gelangte Haymo in die Wartestube des Vogtes. Die Stube hatte noch ein zweites Treppenhaus und Thor gegen den Marktplatz, damit die Bauern, die Weiber und Hörigen, die Kaufleute und Kriegsknechte, welche dem Vogt ein Anliegen vorzutragen hatten, die klösterliche Schwelle nicht überschreiten mußten. Der einzige Schmuck des großen Raumes war ein mächtiges Kreuz aus Untersberger Marmor und ein rohes, grell bemaltes Schnitzwerk, den heiligen Augustinus darstellend. Auf den Steinbänken, welche sich rings um die Wände zogen, saß ein halb Dutzend Leute, zumeist Salzkäufer aus der Fremde. Durch die geschlossene Thür der Vogtstube klang eine zankende Stimme. Herr Anselmus Schluttemann, der Klostervogt, war heute wieder übler Laune. Das heißt, in solcher Laune war Herr Schluttemann jahraus, jahrein. Das machten aber nicht die Geschäfte des Klosters — Gott bewahre! Herr Schluttemann brachte diese Laune von Hause mit herein in die [262] Amtsstube. Wer mit Frau Cäcilia, die der Vogt seine „gestrenge Hausehre“ zu nennen pflegte, nur einmal in seinem Leben zu schaffen hatte, der begriff auch wohl, daß Herr Schluttemann täglich zum mindesten fünf geschlagene Stunden im Kellerstüblein des Klosters sitzen mußte, um sein Hauskreuz zu vergessen. Das gelang ihm nur, wenn er nach der zehnten Bitsche in eine Stimmung gerieth, in welcher er alles vergaß, überhaupt alles, und ganz besonders das Nachhausegehen. Pünktlich mit sinkender Nacht schickte Frau Cäcilia die Knechte. Mit dem Herrn Vogt war um diese späte Stunde nicht mehr zu reden. Das heißt, Frau Cäcilia redete wohl – Anselmus aber hörte nicht. Doch was der folgende Morgen brachte, das war so Tag um Tag die Ursache zu Herrn Schluttemanns übler Laune. Zwischen dem Erwachen und der Morgensuppe war Frau Cäcilia unbesiegbar. Und so mußten es die Klosterbauern und Salzkäufer in der Amtsstube büßen, daß des Herrn Vogtes „gestrenge Hausehre“ voll Haaren einen ganzen Urwald, nicht auf dem edlen Haupte, wohl aber auf den Zähnen trug.

Kaum eine Stunde war vergangen, seit Herr Sehluttemann im Sturmschritt ... er selbst nannte diese Eile „lobesamen Diensteifers“ . . . seinem häuslichen Herd entflohen war, um sich in die Amtsstube zu retten. Da war in seiner Laune noch die erste Ofenwärme. Die Thür zitterte vom Hall seiner Stimme wie der Resonanzboden einer Brummgeige.

Haymo lauschte diesem Stubengewitter, und ihm wurde ganz bang zu Muthe. Er hatte wohl ein reines Gewissen, aber zwei gestohlene Steinböcke und dazu die Laune des Herrn Vogts, das konnte ein böses Viertelstündlein absetzen. Er stellte den Bergstock in eine Ecke und ließ sich nieder. Allein gleich wieder sprang er auf, freudig betroffen. Ihm gegenüber, schüchtern eingedrückt in einen Winkel, saß Gittli, das Körbchen mit den Schneerosen auf ihrem Schoß. Und wie schmuck sie sich aufgeputzt hatte! Das war wohl ihr Feiertagsgewand: ein blaues Röcklein mit grüner Borte, ein schwarzes Mieder, zwar ohne Silberschmuck, aber knapp und kleidsam. Wie frischgefallener Schnee war das Linnen, das die Arme und den Hals umschloß. Die schwarzen Haare waren in zwei dicke Zöpfe geflochten und gleich einem Krönlein um die Stirn gelegt. Dazu noch der im Mieder steckende Primelnstrauß, der sie mit seinen goldgelben Blüthen lieblicher schmückte, als es irgend ein blitzendes Geschmeide vermocht hätte.

Haymo ging mit raschen Schritten auf das Mädchen zu.

„Grüß’ Dich Gott, Gittli!“

Sie nickte nur und schaute lächelnd zu ihm auf.

„So gieb mir doch Deine Hand! Wir haben uns ja ewig lang nicht gesehen!“

„Ewig lang! Ich weiß gar nimmer, war’s heuer, oder war’s voriges Jahr . . . oder gar erst heute in der Früh.“ Und kichernd legte sie ihr kleines schmales Händchen in seine braune Jägerhand.

„Wie hast denn geschlafen heut’ nacht?“

„Wie ein Mankerl[16]! Aber beim Aufwachen, Du, da war’s kalt! Ich hab’ mich schier kaum zusammenklauben können aus dem Heu! Und dann bin ich gelaufen wie ein Härmlein[17], nur daß ich wieder warm geworden bin. Ja, drunten erst am See . . .“ Sie stockte. Ein halb ängstlicher, halb sinnender Ausdruck malte sich in ihren Zügen. „Gelt, Du hast ihn auch gesehen . . .“ Sie blickte scheu um sich, und ihre Stimme dämpfte sich zum Flüstern, „den selbigen, den Schwarzen? Ich bin völlig erschrocken! Du! Ich fürcht’ mich nicht so leicht . . . aber der! Ich glaub’, der kommt mir noch im Traum vor! Hast ihn angeschaut? Gelt, ein Gesicht wie ein Gestorbener!“ Ein Gruseln flog über Gittlis Schultern.

„Dirn’,“ sagte Haymo ernst, „wenn Du von mir einen Rath hören willst, dann geh’ ihm aus dem Weg, dem Schwarzen! Aber sorgen brauchst Dich nicht. Da sei Du ganz ruhig! Ich laß Dir nichts geschehen.“

Sie schaute zu ihm auf mit traulichem Blick und sagte: „Das weiß ich!“ Doch als sie den raschen Druck verspürte, mit dem er ihre Finger umschloß, befreite sie hastig, fast erschrocken ihre Hand.

Haymo wurde roth bis über die Stirn. Nach einer Weile fragte er. „Weswegen bist denn da hergekommen? Was willst denn?“

Sie saß verlegen mit gesenkten Augen, und erwiderte leise: „Die Schneerosen will ich dem Kloster bringen. Und ... und mit dem Vogt soll ich reden von meines Bruders wegen. Aber ich werde wohl noch lang verweilen müssen.“ Sie überflog mit einem Blick die Reihe der Wartenden. „Und ich sollt’ schon lang wieder daheim sein. Weißt, ich hab’ ein krankes Bäslein, und meine Schwäh’rin ist siech und kann nicht schaffen.“

„Nein, Gittli, da darfst nimmer warten! Komm’ nur!“ Er nahm sie bei der Hand, und obwohl sie sich unter stammelnden Worten sträubte, zog er sie mit sich gegen die Thür der Vogtstube. „Leut’!“ rief er die Wartenden an. „Die Dirn’ da hat zwei Kranke daheim und kann nimmer warten. Gelt, ja sie darf zuerst hinein?“

Eine Antwort bekam er nicht. Aber nur deshalb, weil im gleichen Augenblick die Thür von innen aufgerissen wurde. Drinnen sah man einen Bauern stehen, der verlegen seinen Filzhut zwischen den Fingern drehte; und vor ihm, mit weit gespreizten Beinen, stand Herr Schluttemann, der Vogt, eine derb gedrungene Gestalt in einem Koller aus braunem Hirschleder, eine steife Krause um den Hals. Wie zwei Dolche stachen die Schnauzbartspitzen aus seinem dunkelrothen Gesicht, und die borstigen Haupthaare starrten wirr durcheinander wie die Stoppeln eines Aehrenfeldes, auf dem eine Herde geweidet hat. War das etwa die Frisur, mit welcher Frau Cäcilia Herrn Schluttemann aus ihren Händen entlassen hatte?

„Wir sind fertig, Eggebauer, fertig miteinander!“ schrie der Vogt und schüttelte den Kopf wie ein Roß, das nimmer ziehen will. „Ihr seht, da warten die Leute. Ich habe noch mehr zu thun, als mit Euch zu hecheln. Weiter! Weiter! Die Thür steht offen, und ich kann den Zug nicht leiden.“

„Herr Vogt,“ stotterte der Bauer, „wenn ich den Acker schon nimmer haben soll, dann habt doch Erbarmen mit meinem armen Weib und . . .“

„Euer Weib hat die Krapfenkrankheit!“ donnerte Herr Schluttemann. „Mit drei Ellen um den Bauch herum hab’ ich kein Erbarmen! Euer Weib soll die Schmalznudeln und den Meth lassen, soll Schlappermilch essen und Schwarzbrot, dann braucht sie kein Bibergail und kein Herzkreuzl vom Steinbock. Das sind Medikamenta für andere Leute! Punktum!“

Der Eggebauer stand vor der Thür, er wußte nicht wie; es war ihm nur einen Augemblick so vorgekommen, als hätte ihn Herr Schluttemann beim Kragen gefaßt. Und während der Bauer wie ein begossener Pudel dem Ausgang zutrollte, hatte der Vogt schon ein neues Opfer seiner Laune gefunden: den Jäger.

„Soooo?“ gröhlte Herr Schluttemann und machte, denn er wollte höhnisch sein, eine tiefe Reverenz. „Belieben schon da zu sein?“

„Ja, Herr Vogt,“ sagte Haymo und schob das Mädchen, das an allen Gliedern zitterte und mit jedem Athemzug die Farbe wechselte„ vor sich hin. „Aber da ist eine Dirn’ . . .“

„Natürlich!“ Herr Schluttemann machte mit ausgebreiteten Armen eine noch tiefere Reverenz. „Seine fürstlichen Gnaden von der Wildschur belieben sich in der Klosterküche festzupflanzen. Der Vogt kann ja warten! Natürlich! Da muß man erst Pastetlein speisen, Saibling’ und Forellen!“

„Nein, Herr Vogt,“ sagte Haymo lächelnd, „es war Hecht und Biberschwanz. Aber da ist eine Dirn’ . . .“

Herr Schluttemann stutzte und richtete sich straff in die Höhe. „Biberschwanz?“ wiederholte er, und sein ganzes Wesen war auf einen Streich verwandelt; im freundlichsten Ton der Neugier fragte er: „Heute giebt’s Biberschwanz?“

„Ja, Herr Vogt! Aber da ist eine Dirn’ . . .“

„Dirn’! Dirn’!“ Herr Schluttemann hatte sich wiedergefunden. Er schnaubte und zeigte das Weiße im Auge. Gittlis lieblicher Anblick rührte ihn nicht; er hatte ja ein Theilchen von jener Hälfte des menschlichen Geschlechtes vor sich, zu welcher Frau Cäcilia gehörte! und das war Ursache genug für den Ton, in dem er Gittli anschnauzte: „Was will das Weibsbild?“

Gittli rührte die Lippen, aber sie brachte keinen Laut aus der Kehle.

„Also? Wird’s bald? Was will man?“

[263] „So rede doch, Gittli!“ mahnte Haymo. „Mußt Dich nicht fürchten! Der Herr Vogt ist ein lieber und guter Mann! Rede nur frisch weg!“

„Ich will … etwas … bringen ...“ stotterte das Mädchen.

„Bringen? Dem Kloster? Herein damit!“ Ein Griff des Herrn Schluttemann, und Gittli stand im Zimmer des Vogtes. Sie wollte noch einen hilfesuchenden Blick zu Haymo zurückwerfen, aber hinter ihr war schon die Thür geschlossen. Scheu blickte sie um sich her. Ein großer Raum mit hohen Schränken an allen Wänden. Zwischen den beiden Fenstern ein Bild: der beiligc Georg, der den Drachen ersticht. In der Mitte ein Tisch mit Lehnstühlen.

In solch einen Stuhl hatte Herr Schluttemann sich geworfen und hielt nun die Hände verschlungen und die Beine gestreckt.

„Also! Was bringt man?“

Gittli näherte sich zögernd, nahm den Deckel von ihrem Körblein und hielt es dem Klostervogte hin.

Herr Schluttemann guckte hinein und rollte die Augen, daß man zweimal das Weiße sah. Er hatte in dem Körblein zum mindesten ein Dutzend frischer Eier vermuthet oder einen Ballen Butter. „Dummes Zeug!“ schnauzte er Gittli an, daß sie erschrocken zusammenfuhr und schier das Körblein fallen ließ. „Was soll denn das? Soll ich mir das Gras vielleicht auf den Hut stecken?“

Gittlis Augen wurden feucht, und mit leiser, kaum noch vernehmlicher Stimme sagte sie: „Morgen ist Charfreitag!“

„Das weiß ich! Oder glaubt man, ich kenne den Kalender nicht?“

„Und das sind Schneerosen. Ich selbst habe sie herunter geholt von den Schneehalden in der Röth’ … und … sie gehören für das heilige Grab unseres lieben Herrn.“

Herr Schluttemnnn dämpfte seine Entrüstung. „So? So? Das ist schön, das ist christlich!“ brummte er. „Stell’ das Körblein nur auf den Tisch. Ich will es dem Bruder Meßner schicken. So! Und jetzt Gottes Dank! Und Gott befohlen!“

Er machte einen bezeichnenden Wink nach der Thür; Gittli aber rührte sich nicht; ihr Gesicht war kreideweiß vor Angst, und mit einem flehenden Blick suchte sie Herrn Schluttemanns Augen.

Der Vogt wurde stutzig; er drehte den Kopf auf die Seite und kam auf das Mädchen zugegangen. mit so drohenden Augen, daß Gittli scheu ein Paar Schritte zurückwich.

„Man will vielleicht noch etwas? Hoho! Ich merke schon! Das also ist die christliche Frömmigkeit! Heeh? Das Kraut da war nur ein Vorwand, um hereinzukommen?“

„Nein, nein, Herr Vogt …“ stammelte Gittli mit versagender Stimme.

„Keine Widerred’!“ kam es wie ein Donnerkeil unter dem gesträubten Schnauzbart herausgefahren. „Was will man? Also? Wird’s bald oder nicht?“

Gittli schaute mit angstvollen Augen auf, sie wollte sprechen, aber ehe sie noch das erste Wörtlein herausbrachte, kamen ihr die dicken Thränen, und bitterlich schluchzend bedeckte sie mit beiden Händen das Gesicht.

„Natürlich! Natürlich! Jetzt wird geheult!“ Herr Schluttemann durchmaß mit langen Schritten die Stube und hob die Arme gegen den Himmel. „Herr Du mein Gott, Du hast die Weibsleut’ auch in Deinem Zorn erschaffen! Heulen! Gleich heulen! So machen sie’s alle! Alle! Alle!“ Ob er wohl im stillen hinzufügte: nur Frau Cäcilia nicht? Breitspurig blieb er vor Gittli stehen und stemmte die Fäuste in die Hüften. „Also? Hat man bald ausgeheult? Soll ich bald hören, was man will?“

„Ach, Herr Vogt,“ kam es unter Thränen und Schluchzen heraus, „mein Bruder kann das Lehent[18] nicht zahlen!“

„Da haben wir’s!“ Schmetternd fiel die Faust des Herrn Schluttemann auf die Tischplatte. „Der saubere Bruder will nicht zahlen, und das feine Schwesterlein stolziert herum, aufgeputzt wie ein Burgfräulein!“

Gittli warf einen erschrockenen Blick über ihre Gestalt, mit zitternden Händen zerdrückte sie das Primelnsträußlein vor dem Mieder und stammelte in Thränen: „Nein, nein, Herr Vogt! Ich bin doch ein blutarmes Ding. Seht doch die Schuhe an, die hab’ ich mir selbst genäht; und das Röcklein trag’ ich vier Jahre schon, und die Borte da, die ist ja nur angestückelt und das Mieder hat mir die Eggebäuerin geschenkt, weil ihre Zenza draus herausgewachsen ist. Und das Linnen da … das hab’ ich mir doch selbst gewaschen!“

Die Augen des Herrn Schluttemann begannen verdächtig zu zwinkern. Das that aber der Gewalt seiner Stimme keinen Eintrag: „Natürlich! Und da hat man wieder ein Pfund Seife verschmiert.“

„Nein, nein. Herr Vogt, ich hab’s in der Sonne bleichen lassen.“

„Sooo? Natürlich! Die liebe gute Sonne muß auch schon herhalten für die Eitelkeit der Weibsleut’! Und ich, der Vogt, muß mich abgeben mit solchen dummen Geschichten! Warum ist Dein Bruder nicht selbst gekommen? Warum will er nicht zahlen?“

„Ach, Herr Vogt, mein Bruder muß ja von früh bis in die sinkende Nacht im Sudhaus stehen. Und er möchte doch zahlen, wenn er nur könnte. Aber er hat ein krankes Kind daheim, und sein Weib ist siech geworden, wie der Winter kam. Dreimal in der Woche muß die Zchwäh’rin Fleisch essen, und neulich haben wir Wein kaufen müssen, weil sie gar so schwach und elend ist!“

„So? So?“ knnrrte Herr Schluttemann. „Und warum kommt man nicht zu mir und holt sich einen Armenzettel? Und warum geht man nicht zum Armenvater und holt sich Fleisch und Wein und kräftige Süpplein? Das Kloster hat’s doch, und das Kloster giebt! Donnerwetter noch einmal! Warum nicht?“

„Ach, Herr Vogt ...“ und Thräne um Thräne glitt über Gittlis zuckende Wangen, „ich hätt’ es ja gerne schon gethan! Thät’ ich doch alles für die Schwäh’rin und das liebe Bäslein. Aber der Bruder will’s nicht haben. Er sagt immer, daß er ja doch ein Mensch ist, der schaffen und verdienen kann. Und ein Kriegsmann ist er doch auch einmal gewesen. Und er will’s nicht leiden, daß ich mich unter die Bettelleute stelle, und … und er könnt’ es nicht hören, wenn uns die Leute Hungerleider schimpfen und Schnappsäcke!“

„So? So? Natürlich! Noth und Elend hint’ und vorne! Aber stolz! Nur stolz! Und die Nase hinauf in den Wind! Das wär’ mir das Richtige! Warte nur, warte, ich will Deinem Bruder den Hochmuth austreiben! Sag’ Deinem Bruder: wenn er nicht zahlt am Ostermontag, dann setzt es ein Donnerwetter! Das Lehen laß’ ich ihm wegnehmen und geb’s einem andern. Ja, das thu’ ich! Gott soll mich strafen!“

Gittli erblaßte, und ihre Kniee drohten zu brechen.

Herr Schluttenann aber wetterte weiter: „Das wär’ mir das Wahre! Nicht zahlen wollen! Natürlich! Da käme dann einer um den andern, zuerst die Lehnsleute, und dann die Zinsbauern, und dann die Salzkäufer … und die frommen Patres und Fratres, die doch auch leben müssen, könnten sich den Hals zubinden und Luft schnappen! Oho!“ Herr Schluttemann wollte der Tischplatte eins versetzen mit der Faust, doch mitten im Schwunge hielt er inne; auch Gittli erschrak und fuhr mit der Hand an die Kehle, als ginge ihr der Athem aus. Sie hatten beide zu gleicher Zeit bemerkt, daß sie nicht mehr zu zweit in der Stube waren.

Vor ihnen stand die hohe Gestalt eines Priesters; über dem schwarzen Talar, dessen weißes Skapulier mit violetter Stickerei gesäumt war, hing an goldener Kette ein funkelndes Kreuz, halb verschleiert durch die dünnen Strähnen des grauen Bartes; ein kleines violettes Käpplein deckte den Scheitel; unter der knöchernen, hart modellierten Stirne ragten die buschigen Brauen hervor wie Dächlein über den Augen; aber das Antlitz hatte keinen finsteren Zug; es war männlich ernst und dennoch milde.

Herr Schluttemann verbeugte sich; denn dieser Priester vor ihm, das war Herr Heinrich von Inzing, der Propst von Berchtesgaden.

Reverendissime!“ sagte Herr Schlutteman, und verbeugte sich abermals. „Kein Ende, Reverendissime, kein Ende mit Zorn und Aerger! Die Luft könnte einem ausgehen vor Gift und Galle! Da ist nun wieder so eine Dirn’ …“

„Ich habe selbst gehört!“ fiel Herr Heinrich ein, winkte den Vogt zu sich in die Fensternische und sagte in fließendem Latein: „Mich dünkt, Ihr seid zu rauh mit den Leuten, Herr Vogt. [266] Seht das arme Ding nur an, es giebt kein Tröpflein Blut und zittert am ganzen Leibe.“

Das rothe Gesicht des Herrn Schluttemann schwoll wie der Kamm eines gereizten Gockels. „Bitte, in aller Weisheit zu bedenken, Reverendissime,“ sagte er in einem Latein, bei dessen bedenklichem Klang Herr Heinrich nur mit Mühe ein Lächeln unterdrückte, „bitte zu bedenken, daß man den Leuten die Fuchtel zeigen muß. Sonst ist man verloren und betrogen alle Stund’!“

„Auch ich liebe die falsche Milde nicht. Allein auch Strenge muß geübt werden mit Maß und Ziel!“ Herr Heinrich musterte Gittli mit einem ruhigen Blick … sie erbebte vor dem dunklen Glanz dieser Augen wie Espenlaub im Abendwinde und duckte sich und zog das Köpfchen ein, als möchte sie sich so klein machen wie ein Mäuschen. Herr Schluttemann wollte sprechen, der Propst aber winkte ihm zu schweigen und sagte, immer noch in lateinischer Sprache: „Der Bruder dieses Dirnleins ist der Sudmann Wolfratus? Ich kenne den Mann, er hat ein furchtloses muthiges Herz. Als wir das letzte Mal unter den Wänden des Watzmann jagten, holte er einen weidwunden Steinbock von der schwindelnden Wand herunter, die kein andrer zu betreten wagte. Forschet nach, Herr Vogt, ob das Mägdlein die Wahrheit gesprochen bat! Trifft den Mann kein Verschulden, dann soll ihm das Lehent erlassen sein für dieses Jahr. Höret Ihr aber, daß dieser Wolfratus ein Säufer ist und ein Würfelspielcr, dann büßet ihn mit aller Strenge! Und jetzt schicket das Dirnlein heim und lasset den Jäger kommen.“ Herr Heinrich wandte sich zum Fenster, von welchem aus man einen herrlichen Blick genoß über Thal und Berge.

Zitternd und bangend war Gittli die ganze Zeit gestanden; der Klang der fremden Sprache hatte sie noch mehr verwirrt, noch ängstlicher gemacht; ihr furchtsam lauschendes Ohr hatte unter den ihr unverständlichen Lauten zweimal den Namen ihres Bruders aufgefangen, und nach den bärbeißigen Drohungen, die Herr Schluttemann ausgestoßen, glaubte nun das arme Ding nicht anders, als daß mit dieser lateinischen Zwiesprach’ ihres Bruders Schicksal und Strafe beredet wurden und beschlossen wäre: zahlen … oder das Lehen verlieren und verjagt werden von Haus und Hof. Ihre Angen wurden heiß, aber sie konnte nicht mehr weinen; an ihrer Kehle würgte die Angst, und ihr war, als stünde sie versteinert am ganzen Leib und vermöchte keinen Finger mehr zu rühren. Sie wich auch keinen Schritt zurück, als Herr Schluttemann jetzt mit dunkelrothem Gesicht und rollenden Augen auf sie zugeschossen kam; nur ihre thränenfeuchten Lider öffneten sich noch weiter, und ihre Lippen zuckten.

„Marsch jetzt, fort mit Dir!“ knurrte der Vogt, welcher trotz der Vermahnung, die ihm geworden war, seiner Würde nichts vergeben wollte. „Und sage Deinem Bruder, wenn er nicht kommt am Ostermontag, dann schick’ ich die Knechte!“ Da sich Gittli noch immer nicht rührte, versetzte ihr Herr Schluttemann einen gelinden, durchaus nicht ernst gemeinten Puff; sie zuckte aber doch zusammen, als wäre das Richtschwert über ihr geschwungen worden. Wortlos wandte sie sich um und schlich der Thür zu, Schrittlein um Schrittlein. Dieser Abschied währte Herrn Schluttemann zu lange, er faßte Gittli am Arm, schob sie hurtig vor sich her, und da die lateinische Lektion, die er empfangen, sein Wohlwollen für den Sudmann Wolfratus gerade nicht gemehrt hatte, konnte er sich nicht enthalten, dem Mädchen noch ins Ohr zu brummen: „Und sag’ ihm nur, daß ich einstweilen meinen Stecken in Salzwasser legen will, damit er besser pfeift … huitt!“ Das war nun freilich wieder nicht gar so schreckhaft gemeint; denn in Wahrheit hatte Herr Schluttemann bis zur Stunde noch kein lebendes Wesen geprügelt, nur Tote: nämlich die „Schwarzreiter“, die geräucherten Saiblinge, welche geklopft werden mußten, bevor man ihnen die rauchgeschwärzte Haut vom rosigen Fleische zog.

Aber Gittli sah und hörte mit den Augen und Ohren eines Kindes, und was sie hörte, jagte ihr den Schreck in alle Glieder, und was sie sah, war trostlose Finsterniß. Noch ein Puff, und sie stand vor der Thür.

Haymo, der draußen gelauert hatte wie der Teckel vor dem Dachsbau, trat ihr hastig entgegen.

„Bist schon fertig, Gittli? Und hast Du …?“ Da sah er ihr verstörtes, thränennasses Gesicht und ihre kummervollen Augen. Das ging ihm ins Herz wie ein Messerstich, und über seine Lippen fuhr es mit erschrockenem Laut: „Gittli! Was ist Dir?“

Sie schüttelte nur traurig das Köpfchen und entwand sich seinen Händen.

„Gittli!“ stammelte er und wollte ihr Nacheilen; aber da klang aus der Amtsstube die Stimme des Herrn Schluttemann: „Haymo! Wo steckst Du denn? Herr Heinrich wartet!“

Einen Blick noch, heiß und sorgenvoll, warf Haymo dem Mädchen nach; dann wandte er sich aufseufzend der Thür zu, zog die Kappe und trat zögernd ein.




6.

Als Gittli ins Freie trat, that ihr der helle Glanz der Sonne in den Augen weh. Und so müde war sie, so zerschlagen an allen Gliedern, daß sie sich eine Weile an die Mauer lehnen mußte. Dann raffte sie sich auf, trocknete das nasse Gesicht mit den Armen und floh davon wie ein gescheuchtes Reh, über den Marktplatz, den Klosterberg hinunter und dem Sudhaus entgegen. Vor dem Thor aber hielt sie stille und besann sich. Nein! Weshalb es dem Bruder jetzt schon sagen? Sie wollte ihm den Kummer ersparen bis zum Abend; er erfuhr ja noch immer frühe genug, was ihm drohte.

Ueber die Brücke eilte sie einem Sträßlein zu, welches, bachaufwärts, am Ufer der rauschenden Albe dahinführte. Nach kurzer Weile gelangte sie zu einem umhegten Garten, in dessen Mitte, von kümmerlichen Obstbäumen umgeben, ein kleines armseliges Häuschen stand. Zwei enge Stübchen, ein schmaler Raum, welcher Flur und Küche zugleich war, und ein kleiner Schuppen – mehr hatte das bemooste Schindeldach vor Sturm und Regen nicht zu schützen. Das Haus mit dem Garten war Klostergut, welches Wolfrat Polzer, der Sudmann, seit zehn Jahren zu Lehen hatte. Seine Heimath war ein niederbayerisches Dorf; als fünfzehnjähriger Bursche war er von Hause weggelaufen, der eisernen Haube zulieb. Das Kriegshandwerk hatte ihn tüchtig umher geworfen, von Burg zu Burg, von Stadt zu Stadt. Zuletzt hatte er bei der reisigen Schar des Erzbischofs von Salzburg gestanden und unter dem Heerbann Friedrichs des Schönen die Schlacht bei Ampfing[19] mitgeschlagen. Dann war er des Hauens und Stechens müde geworden und in die Heimath zurückgekehrt. Während des gleichen Jahres noch hatte er in einer Seuche, welche nach all dem Brennen und Morden das Land heimsuchte, den Vater und die Mutter an einem Tag verloren; da führte ihm der Zufall einen Salzkärrner in den Weg, der im Auftrag des entlegenen Klosters gesunde und kräftige Leute für das Salzwerk zu werben hatte. Wolfrat ließ sich bereden, und auf dem Salzkarren traf er in Berchtesgaden ein; doch kam er nicht allein; er brachte die fünfjährige Schwester mit, und zumeist um dieses Kindes willen geschah es, daß Wolfrat das erste freie Lehen erhielt. Unter den Sacknäherinnen des Salzhauses fand er ein verwaistes Mädchen, das dem finsteren, verschlossenen Mann gut wurde; er hatte sie einmal vor Mißhandlung geschützt, als ihr ein fremder Fuhrmann das allzu schlagfertige Nein, das sie auf eine zudringliche Frage zur Antwort gegeben, mit der Peitsche vergelten wollte. Ein Jahr später wurden sie Mann und Weib. Sie fingen zu Dreien an, Wolfrat, Sepha und Gittli, hielten fest zusammen und waren mit ihrem kargen, stillen Los zufrieden; erst kam ein Knabe, darauf ein Mädchen, und dann kamen Krankheit, Sorgen und Noth. In diesen schlimmen Zeiten wurde Gittli der gute Geist des kleinen Hauses; ihr sanftes Wesen milderte den verdrossenen Groll des Bruders, ihr herzlicher Frohsinn tröstete und erheiterte das kranke Weib, und bei ihren fünfzehn Jahren schaffte sie wie eine Alte, damit die kümmerliche Wirthschaft nicht ganz zerfiel, und sorgte mit so hingebender Liebe für die beiden Kleinen, daß die Kinder fast zärtlicher an ihr als an der Mutter hingen.

Von dem Gang, den sie ins Kloster gethan, brachte sie ein recht schweres Herz mit heim. Doch als sie am geflochtenen Gartenhag das hölzerne Thürchen öffnete, wurde der große Kummer, der sie bedrückte, gemildert und verdrängt durch die Sorge im kleinen. Mit forschenden Angen schaute sie umher; hier schien alles in bester Ordnung; die sieben Hennen stolzierten [267] über den Rasen, scharrten glucksend in den Maulwurfshügeln und schüttelten das Gefieder in der Sonne; friedlich grasten die beiden Ziegen im Bogen um die Bäume, an welche sie mit langen Stricken gebunden waren. Jetzt gewahrte sie im Gras ein ploderndes Hemdlein, aus welchem zwei in der Luft schlenkernde Beinchen hervorragten; ein fünfjähriger blonder Knabe lag bäuchlings auf den Rasen gestreckt und grub und wühlte mit beiden Händchen in der schwarzen Erde, als gält’ es, einen Schatz ans Tageslicht zu fördern.

„Ja Lippele,“ rief Gittli, „ja was machst denn da?“

„Mausi fangen!“ flüsterte der kleine Maulwurfsjäger geheimnißvoll und wollte sein Graben und Wühlen von neuem beginnen.

Gittli aber zankte: „Ja bist denn gescheit? Da hinliegen auf den kalten Boden! Gleich stehst auf!“

Lippele erhob sich schmollend, und da schlug das Mädchen entsetzt die Hände ineinander.

„Ja Lippele! Aber, aber! Wie schaust denn aus! Ja schau Dich nur an! Sooo! Da wird die Dittibas’ gleich weinen!“ Dittibas’ . . . diesen Namen hatte der lallende Kindermund erfunden, der es nicht fertig brachte, „Base Gittli“ zu sagen.

Die Dittibas’ wird weinen! Das war für Lippele die wirksamste aller Drohungen. Er verzog das Mäulchen zu einem Pfännlein, streckte die Aermchen mit gespreizten Fingern auseinander und schaute mit starren Augen an sich hinunter. Dem langen Hemdlein, welches sein ganzes Gewand war, hätte es der schärfste Blick nicht mehr angesehen, daß es Gittli am Morgen weiß und frisch aus der Truhe genommen hatte. Und diese Hände! Und ein Gesicht dazu, als hätte Lippele den Versuch gemacht, die Maus mit den Zähnen aus der Erde herauszubeißen!

„O mein Gott, mein Gott!“ jammerte Gittli. „Gelt? Jetzt schaust? Jaaa! Und die Dittibas’ kann morgen wieder am Wasser stehen und Pfaidi[20] waschen! Gleich sagst es jetzt: was bist Du für ein Bubi?“

„Suggibubi!“ bekannte Lippele mit rühmenswerther Selbsterkenntniß, während seine Augen sich nit Thränen füllten.

„Gelt, ja!“ pflichtete Gittli bei, faßte das Bürschlein am Ellbogen und ging der offenen Hausthür zu, so rasch, daß Lippele mit Hopfen und Stolpern kaum nachzukommen vermochte.

Es war eine ärmliche Stube, welche sie betrat, mit dem dürftigsten bäuerlichen Hausrath bestellt; aber alles sauber in stand gehalten. Tisch und Bänke blank gescheuert. Hinter dem weißgetünchten Lehmofen stand das große Doppelbett, und in dem Winkel zwischen Bett und Mauer ruhte Sepha, das Weib des Sudmannes, in einem aus Weidenruthen geflochtenen Lehnstuhl. Sie schien zu frieren, denn ein dickes Tuch war um ihre Schultern geschlungen und eine Lodendecke über den Schoß gebreitet. Das blonde Haar war gelöst und hing in dünnen, mattschimmernden Strähnen um das bleiche, verkümmerte Gesicht mit den stillen, krankhaft glänzenden Augen. An ihrer Haltung sah man die Schwäche; ganz zerfallen lag sie zwischen den Lehnen des Stuhles, den ihr Wolfrat an einem freien Tag geflochten hatte, da ihr das Liegen so schlecht bekam.

Eine Kranke als Krankenwärterin! In den mit grober Leinwand bezogenen Kissen des Bettes lag ein dreijähriges Mädchen; in üppigen Ringeln floß das goldblonde Haar rings um das kleine süße Gesichtchen, dessen Wangen in fieberhafter Röthe brannten. Die dünnen, zitternden Fingerchen spielten über der Bettdecke mit den schon halb verwelkten Primeln und Veilchen, welche Gittli dem Kinde gebracht hatte, bevor sie das Haus verließ.

Und als das Mädchen nun die Thür öffnete, leuchteten die Augen des Kindes freudig auf. „Dittibas’!“ lispelte es und streckte ihr die Aermchen entgegen.

„Ja, mein Mimmidatzi, ich komm’ schon!“ sagte Gittli mit zärtlichem Lächeln und Nicken. Sie stellte den kleinen Verbrecher, den sie gefangen herbeigeführt, mitten in die Stube. „Schau nur, Schwäh'rin, wie das Bürschlein wieder ausschaut!“

Ueber Sephas Züge flog ein mattes Lächeln. Und als der kleine Schlingel gewahrte, daß sein Aussehen die Mutter nicht schelten, sondern lachen machte, schrie er jauchzend auf, als hätte er eine stolze Heldenthat zu verkünden, und wie eine toll gewordene Hummel surrte er tanzend durch die Stube.

Gittli hatte sich auf das Bett gesetzt; sie hielt das Kind umfangen, das ihren Hals mit seinen dünnen Aermchen fest umklammerte, so aneinander geschmiegt, Wange an Wange gelehnt, wiegten sie sich hin und her, und die Kleine sang dazu mit schmeichelnden Lauten.

Durch das niedere Fenster fiel ein leuchtender Sonnenstrahl, der in dem trüben Raume tausend fliegende Stäubchen flimmern machte. Wollte nach hartem Winter der Frühling nun auch Einkehr halten unter diesem Dach? An der Zeit wär’ es wohl gewesen! . . .

Gittli machte sich an die Arbeit. In ihrer kleinen Kammer vertauschte sie das „gute“ Gewand mit ihrem abgetragenen rothen Röcklein. Erst las sie draußen im Garten die den Hühnern ausgefallenen Federn zusammen, damit das kranke Kind eine neue Kurzweil hätte. Dann kam Lippele in die Kur. Gittli kniete auf den Dielen, neben sich eine kleine Holzwanne mit kaltem Bachwaser; mit einem linnenen Lappen bearbeitete sie dem kleinen Burschen Gesicht und Hände, daß ihm die Haut zu glühen begann. Ließ er nur einen Muckser hören, dann hieß es gleich: „Schön brav sein, Lippele, oder die Dittibas’ thut weinen!“

Sepha schaute ihr eine Weile schweigend zu; dann sagte sie: „Hast den Herrn Vogt daheim gefunden?“

„Ja freilich.“

„Ist er gut mit Dir gewesen? Und . . . hat er eine Freid’ gehabt mit den Röserln?“

„,Das glaub’ ich!“ sagte Gittli, während sie sich tief über die Wanne beugte, um den Lappen auszuringen. „Ah, ah, hat er gesagt, die sind aber schön! Ja, Du . . . so schöne hab’ ich schon bald nicht gesehen, hat er gesagt! Komm her, Lippele!“

„So? So? . . . Umd was hast denn sonst noch mit ihm geredet?“

„So halt . . . wie man halt redet . . . von allerhand . . . ja! Aber weißt, gar lang hab’ ich mich ja nicht verhalten dürfen! Was da die Leut’ warten . . . einer am andern!“

Eine Weile war Stille; dann wieder sagte Sepha, mit scheuem Klang in der Stimme: „Geh’, sag’ mir’s, Gittli . . . hast sonst gar nichts zu schaffen gehabt beim Herrn Vogt?“

„Ja was denn?“ fragte Gittli und schüttelte den Kopf.

„Ich mein’ halt so . . .“ Sepha athmete schwer. „Gittli . . . sag’ mir’s . . . hat der Polzer das Lehent schon beisammen?“

„Aber freilich!“ lachte Gittli, doch mit abgewandtem Gesicht, denn sie fühlte, daß sie roth wurde bis über die Stirn.

„Gott sei Dank!“ Und ein befreiender Seufzer löste sich aus Sephas Brust.

Lippeles Kur war beendigt; er wurde noch in sein starrendes Lederhöschen gesteckt wie die Grille in ihr Häuschen; und dann hieß es: „So, Lippele, brav – jetzt bist aber wieder schön!“ Er bekam einen Kuß, als Dreingabe noch einen Klaps und sprang zur Thür hinaus, um die Verwandlung in seinen Urzustand mit frischem Eifer zu beginnen.

Gittli trug die Wanne aus der Stube. Draußen blieb sie schwer athmend stehen und schüttelte in rathlosem Kummer ihr Sorgenköpfchen.

Nun mußte sie die bescheidene Mahlzeit herrichten. Hinter dem Haus lag ein mächtiger Stoß dürren Holzes; den hatte Gittli während des Winters zusammengetragen; hier stand sie jetzt und zerbrach über dem Knie die morschen Aeste; immer wieder ließ sie die Hände sinken und starrte vor sich hin. Wie sollte sie es dem Bruder sagen, wenn er heimkam nach Feierabend? Und wenn er es wußte ... wo sollte er Hilfe finden? Da schoß ihr eine heiße Welle zum Herzen. Einen wußte sie . . . der würde helfen, das hätte sie beschwören mögen ... Haymo, der Klosterjäger! Weshalb ihr gerade dieser Eine in den Sinn kam? Sie wußte keine Antwort auf diese Frage. Aber das Herz war ihr mit einmal ganz leicht geworden! Und wie glatt und einfach der Weg war! Ein einziges Wörtlein zu Haymo . . . und Haymo sprach ein Wörtlein mit Herrn Heinrich . . . und Herr Heinrich konnte doch dem Haymo nichts abschlagen! Ihr war, als sähe sie den Jäger schon daherkommen, lachend und mit beiden Armen winkend: „Gittli! Gittli! Ich hab’ mit ihm geredet, und er hat gesagt, Dein Bruder soll sich Zeit lassen mit dem Lehent und soll zahlen, wann er kann! Sorg’ Dich nimmer! Ich hab’ alles gerichtet! Gelt, weißt schon, ich laß Dir nichts geschehen!“

[268] Gittli fuhr sich mit der Hand über die Augen. War sie denn wach oder träumte sie? Nur gedacht hatte sie an ihn . . . und dort kam er schon, als hätten ihre Gedanken ihn gerufen! Raschen Ganges wanderte er das Sträßchen einher, das am Hag vorüber führte. Wohl verschwand er immer wieder zwischen Büschen und hinter Bäumen, aber sie hatte ihn ja von weitem schon erkannt. Jetzt trat er auf den freien Weg heraus . . . und nun mußte das „Wörtlein“ gesprochen werden. Sie preßte die Hände auf die fliegende Brust, sie faßte sich ein Herz und . . . und versteckte sich hinter dem Holzstoß. Hier stand sie, zitternd an allen Gliedern, lugte nur ein klein wenig zwischen den vorragenden Aesten hindurch und sah, wie Haymo langsam den Hag entlang ging; jetzt blieb er stehen und spähte nach jedem Fenster, in alle Winkel des Gartens. Und da kam es Gittli vor, als wäre sein Gesicht gar traurig und ernst. Sie sah noch, wie er verdrossen den Kopf schüttelte; dann kehrte er sich ab, schulterte den Bergstock und wanderte weiter. Hinter den Stämmen der Linden und Ulmen, welche die Straße geleiteten, verschwand er.

Zögernd trat Gittli hinter dem Holzstoß hervor. Ihr war, sie wußte nicht wie . . . ähnlich vielleicht, wie dem Lippele zu Muth gewesen war, als Gittli zu ihm gesagt hatte: Ja Lippele, wie schaust denn aus! Was hatte sie nur gethan! Den Bruder verkauft und verrathen, wo es sie nur ein Wörtlein gekostet hätte, ihn zu retten! Sie hatte die gute Stunde verpaßt! Weshalb nur, weshalb? Der Athem versagte ihr, und sie meinte fast zu ersticken. Wer sollte dem Bruder jetzt noch helfen? Haymo stieg zu Berge . . . wann würde sie ihn wohl wieder sehen? Lange, lange nicht! Es sei denn, daß sie selbst zu ihm hinaufstiege in die Röth’ . . . am Ostersonntag. Weshalb aber solange warten? Jetzt gleich . . . Haymo war ja noch nicht gar so weit, und sie hätte ihn wohl bald mit ihren flinken Füßen eingeholt! Ein paar Schritte flog sie dahin, dann wieder blieb sie stehen, zitternd, schlug die Hände vor das Gesicht, kehrte um und warf sich schluchzend über das dürre Holz . . .

Gar weit konnte Haymo noch nicht sein . . . so hatte Gittli wohl gedacht. Wie nah er aber war, das ahnte sie doch nicht. Dann, als er am Hag des benachbarten Gartens vorüberschritt, mit ernst sinnenden Augen vor sich hinblickend, flog ihm plötzlich ein kleiner Strauß von Primeln mitten auf die Brust. Betroffen blieb er stehen, schaute verdutzt auf das zur Erde gefallene Sträußchen nieder und sandte einen spähenden Blick in die Hecke, aus der es hervorgeflogen war. Hinter den mit zarten, blaßgrünen Blättchen bedeckten Zweigen schimmerte es roth , und ein leises Kichern schlug an das Ohr des Jägers.

Haymos Augen blitzten freudig auf, rasch hob er das Sträußchen von der Erde, steckte es neben der Adlerfeder auf die Kappe, sprang auf die Hecke zu und theilte lachend mit beiden Armen das Gezweig.

Vor ihm aus der Erde kauerte ein junges dralles Mädchen, das hübsche aber ländlich derbe Gesicht umrahmt von dicken, blonden Flechten. Kichernd und mit zuthulichen Augen blickte sie zu Haymo auf, streckte jedoch dabei abwehrend die Hände gegen ihn, als wäre sie eines lustigen Ueberfalles gewärtig.

Haymo schien indessen für die Gunst der Gelegenheit kein Auge zu haben. Die Wahrnehmung, daß der rothe Schimmer von einem mit silbernen Kettchen umschnürten Mieder herrührte und nicht von einem gewissen Röcklein, mochte ihm nicht sonderlich willkommen sein. Die rathlose Miene, die er zeigte, schien das Mädchen halb zu ärgern, halb zu ergötzeu. Sie richtete sich auf, verschränkte die Arme und lachte ihm ins Gesicht.

„Hast Du den Buschen geworfen?“ fragte er.

Sie lachte nur und zeigte ihm die weißen Zähne; doch als er sich ohne Gruß von ihr wenden wollte, sagte sie hastig: „So eine Frag’! Wenn der Buschen nicht fliegen kann von selber, wird ihn wohl eine geworfen haben, die nicht weit ist!“

„So weit vielleicht, wie Du von mir?“

Sie zuckte. die Schultern und trat dicht an die Hecke heran.

Haymo maß das Mädchen mit verwunderten Augen. „Du mußt aber nicht viel Arbeit haben!“

„Warum?“

„Ich mein’ halt, daß Du wohl den ganzen Tag dazu brauchen mußt, bis Du so viel Blümeln findest, daß Du jedem, der da vorbeigeht, einen Buschen an den Kopf werfen kannst.“

„An den Kopf?“ lächelte sie. „Ich mein’, er wär’ ein bißl tiefer geflogen. Und . . . es könnt’ auch sein, daß ich nicht für jeden einen Buschen hab’!“

„So?“

„Ja!“ Sie streckte den Arm über die Hecke und faßte wie in Neugier den Kolben der Armbrust. „Ein schönes Schießzeug hast! Bist wohl auch ein guter Schütz?“

„Kann schon sein!“ meinte er und trat einen Schritt zurück.

„Aber manchmal trifft auch eine Dirn’ . . . mitten hin auf den richtigen Fleck . . . und brancht keinen Bolzen dazu.“

„So?“

„Sooo? Sooo?“ spottete sie, während der unverhehlte Aerger um ihre Brauen zuckte. „Sind bei Dir die Wörtlein allweil so kostspielig?“

Jetzt mußte Haymo lachen. „Gott bewahr’! Nur in der Charwoch’, weißt, in der größten Fasten.“

„Sparst Dir’s halt auf für den Feiertag, gelt? Freilich, beim Ostertanz kann’s einer brauchen, die vielen Wörtlein . . . und die lang aufgehobenen, das sind die besten.“ Sie blitzte ihn an mit ihren kecken Augen. „Kommst auch gewiß zum Tanz?“

„Wenn ich wüßt’, daß die richtige Tänzerin kommt.“ Haymos Blicke spähten seitwärts durch die Bäume.

„Sie kommt schon . . . brauchst Dich nicht sorgen drum!“

„Meinst?“ fragte Haymo mit raschem Wort; dann schüttelte er den Kopf. „Wie kannst denn Du wissen . . .?“

„Ja, sie hat mir’s selber gesagt,“ erwiderte das Mädchen mit scherzender Wichtigkeit. „Sie hat ja nicht gar so weit zu mir!“

Das stimmte; denn wenn ihn der Bub’, den er auf der Achenbrücke mit der Frage nach dem Haus des Sudmanns angehalten, nicht irrgewiesen hatte, dann wohnte Gittli dort drüben unter jenem nachbarlichen Dach.

In freudiger Bewegung faßte Haymo die Hand des Mädchens. „Sie hat es Dir selber gesagt? Dann sag’ ihr wieder, daß ich komm’! Ganz gewiß! Und dank’ schön für die Botschaft!“

„Zenza! Zenza!“ rief von dem stattlichen Bauernhause her eine ungeduldige Stimme.

„Ich komm’ schon!“ und flüsternd wandte sich das Mädchen wieder zu Haymo. „Mußt ihr aber auch einen Buschen bringen zum Feiertag . . .“

„Den schönsten, den ich find’ . . . Schneerosen!“

Sie schüttelte lachend den Kopf. „Die mag ich nicht! Die sind mir alles zu kalt! Mußt schon wärmere suchen . . . für mich! Und steck’ mir den Buschen vor Tag an das Kammerfenster . . . dann trag’ ich ihn auf dem Kirchgang. Schau hinüber, das zweite Fenster neben der Thür’!“

„Zenza! Zenza!“ rief’s wieder vom Hause her.

„Ich komm’ schon!“ Und kichernd sprang sie davon, auf halbem Weg noch einmal zurückwinkend mit der Hand.

Haymo stand und machte ein Paar Augen, als wäre das Blaue vom Himmel gefallen und ihm gerade auf den Kopf. „So? So meinst Du’s?“ brnmmte er. Dann plötzlich lachte er hell auf und ging mit eiligen Schritten seines Weges weiter. Als die Straße zwischen Bäumen und Strauchwerk an das Ufer der Albe lenkte, hörte Haymo hinter sich die singende Stimme des Mädchens:

„Ich weiß mir ein’ hübschen grünen Wald,
Dort laufen drei Hirschlen wohlgestalt’,
Dort lausen drei Hirschlen hübsch und fein,
Die freuen dem Jäger sein Herzelein.“

Lauschend blieb Haymo stehen, und die Stimme sang weiter:

„Ich weiß mir ein’ hübschen grünen Wald,
Dort laufen drei Rehlen wohlgestall’,
Eins schwarz und eins braun, eins geel wie Gold,
Möcht’ wissen, welches der Jäger wollt’!“

„Ich könnt’s Dir schon sagen, . . . wenn ich nur möcht’!“ lachte Haymo lustig vor sich hin und wollte sich zum Gehen wenden. „Jetzt hätt’ ich aber bald vergessen . . .“

Er nahm die Kappe vom Kopf, riß das Primelnsträußchen herunter und warf es in den Seebach, dessen tanzende Wellen es verschlangen wie ein springender Ferch die schillernde Mücke.




[270]
7.

Der Nachmittag verging, und mit dem Feierabend kam Wolfrat nach Hause. Es war der Sudmann, den Haymo unter dem Thor des Salzhauses gesehen hatte; nun trug er zu der Leinenhose noch ein grobes Hemd und einen mürben Janker. Vor der Thür legte er die Holzschuhe ab und trat barfüßig in die Stube, in der es schon dunkel war.

„Bist Du’s, Polzer?“ klang die leise Stimme des Weibes.

„Ja , Seph’!“ erwiderte er, seine Stimme zum Flüstern dämpfend; dann trat er zu Sepha und strich ihr mit der schweren Hand über den Scheitel. „Was machst denn, Hascherl?“

„Wohl wohl, es muß halt gehen!“

„Bist in der Sonnzeit ein bißl draußen gesessen?“

„Wohl wohl, Polzer.“

Er beugte sich über das Bett. „Schlaft’s schon?“ Sie nickte nur. Sachte ließ er sich auf den Bettrand nieder und fühlte mit dem Rücken der Hand an die Wange des schlummernden Kindes. „Völlig brennen thut’s!“ Noch tiefer neigte er sich und trank den heißen Athem, der ihm entgegenströmte. Dann richtete er sich auf und fragte: „Wo schafft die Dirn’?“

„Sie feuert.“

Er erhob sich und verließ die Stube. Draußen in der Küche fand er Gittli beim flackernden Herdfeuer.

„Warst bei ihm?“ fragte er.

Gittli nickte, und die Thränen kamen ihr in die Augen.

„So red’ doch . . . will er mir Zeit lassen?“

Sie schüttelte den Kopf; sprechen konnte sie nicht. Und ihr Schweigen sagte ihm mehr, als er aus hundert Worten hätte hören können. Er wurde bleich bis in die Lippen, griff mit zitternder Hand nach einem dürren Ast und stocherte im Feuer umher. „Der Fitzmeier,“ sagte er nach einer Weile mit schwankender Stimme, „der hat an Michaeli das Lehent auch nicht zahlen können, und am andern Tag haben sie ihn ausgekehrt aus der Stub’.“

„Geh, wie magst Dich denn auf gleichstellen mit so einem!“ sagte Gittli fast zornig. „So ein schlechter Mensch!“

„Gut oder schlecht, nur scheppern muß es, scheppern!“ Er stieß mit heiserem Lachen die Fäuste in die Hosensäcke und beutelte die leeren Taschen. „Jetzt hat der Simmerauer dem Fitzmeier sein Lehen . . . und der Sutter-Franzi wartet auch schon, bis eins ledig wird.“ Er wandte sich ab und verließ die Küche. Auf der Schwelle fragte er über die Schnlter zurück. „Wo ist der Bub’?“

Im gleichen Augenblick kam Lippele zur Hausthür hereingestürmt. Mit beiden Armen griff Wolfrat zu und riß das Bürschlein an seine Brust empor. Lippele sträubte sich greinend gegen diese rauhe Zärtlichkeit; er hatte ja auch eine wichtige Botschaft zu bringen: der Eggebauer habe nach dem Vater gefragt und der Vater solle heut’ noch hinüberkommen.

„Der auch?“ murmelte Wolfrat. „Freilich, einschichtig ist noch nie eine Sorg’ gekommen. Schockweis’, schockweis’ . . . so wird’s wohl sein müssen!“ Er stellte den Knaben auf die Erde, schob ihn zur Stubenthür hinein und verließ das Haus.

Wolfrat brauchte sich nur uber den Gartenhag zu schwingen; denn der Eggebauer war sein Nachbar und ein schwerer dazu: der hatte volle Truhen und Kasten, vier Rosse im Stall und über die zwanzig Kühe; freilich, für den Klostervogt war das noch lang keine Ursach’ zum Respekt – das hatte Herr Schluttemann heut bewiesen.

Der Bauer schien den Sudmann schon erwartet zu haben, denn er stand unter der Hausthür, die Daumen in den breiten Ledergurt eingehängt.

„Grüß’ Gott, Eggebauer!“

„Grüß’ Gott auch, Polzer!“

„Mußt nicht harb sein, Bauer,“ sagte Wolfrat, jedes Wort hervorwürgend, „es ist unrecht von mir, daß ich mich erst hab’ rufen lassen ... ich hätt’ von selber kommen sollen, denn ich weiß ja, daß ich Dir in die Hand versprochen hab’, das Geld in der Palmwoch’ heimzuzahlen . . .“

„Was willst?“ brummte der Bauer. „Hab’ ich drum gefragt?“

Wolfrat schaute freudig betroffen auf.

„Behalt’ das Geld, solang Du willst. Ich brauch’s nicht. Bist ein armer Teufel, aber eine ehrliche Haut ... bei Dir ist’s gut aufgehoben. Und ich bin eine mitleidige Seel’ und hab’ mich gefreut, daß ich Dir hab’ helfen können.“

Eine Hoffnung schoß in Wolfrat heiß empor. „Bauer, wenn Du so zu mir redest,“ sagte er mit stammelnden Worten, „nachher möcht’ ich gleich statt einem ‚Vergelt^s Gott‘ ein ‚Bitt’ schön‘ sagen. Eggebauer! Ich kann das Lehent nicht zahlen! . . . Wenn Du mir helfen möchtest!“

Der Eggebauer spitzte die Ohren, was er hörte, schien er gar nicht ungern zu vernehmen. „Ich könnt’ schon . . . wann ich möcht’!“ sagte er schmunzelnd. „Und wer weiß, vielleicht mag ich!“

„Bauer!“ Und Wolfrat hatte schon mit zitterndem Druck des Bauern Hände gefaßt.

„Laß aus! Laß aus!“ wehrte der Bauer lachend. „Und . . . wir reden noch drüber. Damit Du aber siehst, was ich für einer bin und wie gut ich’s mit Dir mein’: ich weiß ein paar gute Heller zu verdienen, und da bist gleich Du mir eingefallen.“

„Verdienen! Mein Gott, Bauer, ich möcht’ ja schaffen wie ein Narr. Aber ich muß ja von früh bis auf den Abend im Sudhaus werken.“

„Was ich mein’, das kannst auch schaffen in der Nacht. Es ist ja sternscheinige Zeit. Nach Feierabend packst es an, neun Stund’ brauchst dazu und kannst fertig sein, vor das Glöckl im Sudhaus läutet. Und wenn Du’s machst in der Samstagnacht, da kannst auch länger brauchen . . . am Ostersonntag brennt kein Feuer im Sudhaus.“

„Und was wär’ das, was ich schaffen soll?“

„Zenza!“ rief der Bauer in den Flur zurück. „Bring’ die Latern’.“

Nach einer Weile erschien die Tochter des Bauern unter der Hausthür, in der Hand die Laterne mit brennendem Licht. Der Bauer nahm sie. „Komm’!“ sagte er und ging dem Sudmann voran einer Scheune zu.

In dem großen fensterlosen Raum herrschte schon tiefes Dunkel. Wolfrat staunte: so spät im Frühjahr, und die Scheune strotzte noch von Heu und Garben.

„Da schau!“ sagte der Bauer und hob die Laterne.

Wolfrat stand betroffen; scheu griff er nach dem Hut und entblößte das Haupt. Ueber einem Häufen Heu lag ein lebensgroßes Schnitzwerk: das Bild des Erlösers mit ausgebreiteten Armen. Es fehlte nur das Kreuz. Das Schnitzwerk war mit frischen Farben bemalt, die Locken braun, die Augen blau, die Glieder bleich wie Schnee, und aus allen Wunden, unter jedem Stachel der Dornenkrone rannen die rothen Tropfen. Der flackernde Schein der Kerze warf über das Bildniß ein Zittern und Zucken von Licht und Schatten, daß es fast zu leben und sich zu bewegen schien.

„Den sollst hinauftragen auf meine Alm in der Röth’ und sollst ihn aus Kreuz schlagen!“ sagte der Bauer. „Ich hab ihn bei mir überwintert, damit er nicht zu Grund’ geht im Schnee. Aber jetzt fangt das Gras zu wachsen an, jetzt muß er hinauf und auf mein Sach’ schauen. Schwer tragen hast freilich an ihm, aber schau, ich hah Dir da eine Kraxe hergestellt, die liegt Dir gut auf dem Buckel ... da spürst ihn nur halber! Und jetzt red’ . . . willst?“

Ja, Bauer, in der Samstagnacht,“ sagte Wolfrat. „Und aufpacken will ich ihn gleich!“

„Brav, brav!“ nickte der Eggebauer.

Wolfrat hob zur Probe die Kraxe auf den Rücken, um abzumessen, wie hoch er das Schnitzwerk hinaufschnüren müsse, damit es ihn mit den Füßen nicht im Gehen behindere. Dann legte er sich die Stricke zurecht und kleine Heubüschel, mit denen er das Schnitzwerk unterlegen mußte, damit die frische Farbe von den Kanten der Kraxe nicht abgeschürft würde.

„Gelt,“ sagte der Eggebauer, „hast ein rechtes Kreuz bei Dir daheim?“

Wolfrat nickte nur.

„Mein Gott, mein Gott, schaut bei mir auch nicht viel besser aus!“

„Wie geht’s denn der Bäuerin?“

Der Bauer seufzte. „Schlecht, schlecht! Wär’ mir schon lieb, wenn sie bald wieder gesunden thät! Das Weib ist soviel ungut und zuwider und jagt mir die Seel’ aus dem Leib’.“

[271] „Ist halt ein Krankes, Bauer, da muß man Geduld haben!“

„Ja, ja, metzenweis! Aber jeden Wehdam[21] von ihr, den kriege ich zehnfach zu spüren. Und Salben! Und Trankln! Und Geschichten! Mein Gott, ja, mir wär’ ja alles recht, wann’s nur was helfen thät’. Und jetzt meint der Bader, daß gar nichts anders mehr die Bäuerin auf die Füß’ bringt als nur ein Herzkreuzl von einem Steinbock. Aber wo soll ich’s denn hernehmen? Jetzt war ich heut beim Klostervogt, hab’ geglaubt, er verkauft mir eines . . . aber der hat mich schön gestampert. So ’was wär’ nur für die Herrenleut’, sagt er! Als ob eine Bäuerin nicht grad so gern leben thät’ wie eine Ritterin! Und das Weib zieht mir schiergar die Haut vom Leib. Gleich zehn Schilling thät ich zahlen für ein Herzkreuzl! Aber wo soll ich denn eins hernehmen . . . Was meinst?“

Wolfrat schaute auf, und die Blicke der beiden trafen sich. Nun wußte der Sudmann, wie es der Bauer meinte. Schweigend machte er sich wieder an seine Arbeit; aber die Hände zitterten ihm. Zehn Schilling! Und mit acht Schilling wäre das Lehent bezahlt! Und dazu noch ein paar Fläschlein rothen Tiroler für die Seph’ und Fleisch zur Suppe, und vom feinsten Kälbernen einen tüchtigen Schnitz, der ausgab auf fünf Mahlzeiten für das Kind! Und ein paar Heller blieben immer noch übrig für eine weitere Woche! Ach du lieber Gott, was hatte der Teufel, der den Wolfrat zu versuchen kam, ein gutes, gutes Herz!

Aus dem Hause klang die fröhlich singende Stimme der Zenza. „Hehehehe!“ lachte der Eggebauer. „Die kann’s auch schier nimmer erwarten, bis Sonntag ist. Die spürt den Feiertag heut schon in den Füßen. Gehst auch zum Ostertanz, Polzer?“

„So eine Frag’, Bauer! Wenn einmal getanzt wird an ‚Vierzehn Nothhelfer‘ . . . nachher geh’ ich vielleicht!“

„Hehehehe! Die Dirn’ ist völlig närrisch vor Freuden! Meinetwegen! Soll sich einen aussuchen unter den jungen Mannsleuten! Hehehehe! Vielleicht gefällt ihr der neue Klosterjäger! Der kommt auch! Grad jetzt, wie er draußen vorbeigegangen ist, hat er es ihr versprochen . . . daß er ganz gewiß kommt am Sonntag . . . in aller Früh schon!“ Es schien dem Eggebauer gar viel daran gelegen, daß seiner Zenza zum mindesten dieser eine Tänzer sicher war; denn jedem Worte, das er sprach, gab er einen Druck, als wär’s ein Schilling, den man auf den Tisch zählt. Und genau so, wie man die letzten Münzen, um seiner Sache sicher zu sein, noch einmal nachzählt, so wiederholte er die letzten Worte. „Ja . . . in aller Früh schon!“

Wolfrat hatte sich hastig aufgerichtet und schaute den Bauer, der ihm lustig zuzwinkerte, mit funkelnden Augen an; dann wischte er sich den kalten Schweiß von der Stirn und schaffte weiter. Mit beiden Armen hob er das schwere Christusbild empor, um es auf die mit weichen Heubüscheln gepolsterte Kraxe zu legen. Aber wie unsicher seine Hände waren! Fast wäre das Schnitzwerk seinen Armen entglitten; dabei riß ihm ein Stachel der Dornenkrone eine blutige Schrunde in die Wange. Er wischte das Blut weg und besah seine Hand. Und da war ihm, als hätte jemand zu ihm gesprochen, ganz leise und dicht am Ohr . . . nicht der Eggebauer, sondern ein Dritter. Aber sie waren doch nur zu zweien! Er schüttelte den Kopf und griff nach den Stricken; allein durch das Herz ging es ihm wie ein kalter Schauer.

„Sei so gut und laß mir den Herrgott nicht fallen!“ lachte der Eggebauer. „Der ließ mir ja kein Halmerl Gras nimmer wachsen auf meiner Alm! Hehehehe!“

Wolfrat gab keine Antwort. In fester Spannung schnürte er die Stricke über das hölzerne Bild, daß es auf der Kraxe keinen Ruck mehr that.

Der Eggebauer schaute nicht auf Wolfrats Hände, nur immer in sein Gesicht. „Deinem Weib geht’s ja besser, wie ich von der Zenza hör’,“ sagte er nach einer Weile. „Ja, ja, gut Essen und Trinken mußt ihr halt geben, nachher klaubt sie sich schon wieder zusammen, wenn das Frühjahr wärmer wird. Aber was macht denn das kleine Katzerl, das liebe? Da schaut’s schlecht aus, hör’ ich!“

Wolfrat nickte nur, aber seine Brust hob sich, als wollte sie springen.

„So ein festes und gesundes Kind . . . wie über so ein Kind nur so ’was kommen kann!“ sagte der Eggebauer und schüttelte den Kopf. „Wie hat’s denn angefangen?“

Mit stockenden Worten schilderte Wolfrat den Beginn und die Zeichen der Krankheit.

„Du, Polzer, das ist heilig dieselbige Krankheit, an der im vorigen Winter das Jüngste vom Klostervogt schier draufgegangen wär’ . . . der Totengräber hat schon gewartet . . . ja . . .“

„Ich bin fertig, Bauer!“ unterbrach Wolfrat mit heiserer Stimme den Sprechenden.

„Brav, brav!“ Der Eggebauer ging auf die Kraxe zu, rüttelte an dem Schnitzwerk und fühlte überall hin, wo es auflag. „Ich mein’, es thut’s . . . Aber hohl liegen thut er, schau! Geh, nimm einen festen Buschen Heu und stopf’ drunter hinein, was geht! Ja, Polzer, völlig im Verlöschen war das Kindl schon, und kein Mensch hätt’ sich mehr gedacht, daß der arme Wurm noch einmal aufkommt. Was hast denn . . .?“

Wolfrat war auf den Heuhaufeu zugegangen, um aufzunehmen, was seine Arme fassen konnten. Da hatte er etwas Hartes im Heu gegriffen und hervorgezogen. Eine Armbrust! Ueber Wolfrats Züge flog ein irres Lächeln.

„Bauer? Wie kommt das Schießzeug da her?“

„Wie wird’s herkommen?“ lächelte der andre. „Füß’ hat’s keine, so wird’s wohl einer hergelegt haben. Ja, Polzer . . . daß ich sag’ . . . und wie die Leut’ schon geglaubt haben, jetzt und jetzt hat das letzte Stündl geschlagen für das arme Kind, da haben sie ihm zur Letzt noch ’was eingegeben . . . und was sagst? . . . geholfen hat’s! Wie ein Wunder! Ja, und heut’ springt das Kindl wieder umeinander, frisch und fest wie ein Huiserl![22] Wär’ schad drum gewesen, wenn es hätt’ verfaulen müssen!“

Wolfrat stand mit aschfahlem Gesicht und hielt die Armbrust umklammert, als wollte er ihren Schaft zerquetschen unter seinen eisernen Fingern.

„Und was war’s, Bauer, was dem Kind geholfen hat?“

„Schweißbluh’ von einem Steinbock!“

Wolfrat wandte sich ab. Mit ruhiger Hand prüfte er die Sehne und das Schloß der Armbrust, nickte befriedigt, umwickelte die Waffe dicht mit Heu und schob sie auf der Kraxe in den hohlen Raum unter dem Schnitzwerk. Nun erhob er sich, schüttelte die Heufäden von seinem Gewand und sagte: „In der Samstagnacht, Bauer! Um Feierabend komm’ ich und hol’ den Herrgott.“

„Brav, Polzer! Hilf mir, und Du hilfst Dir selber!“

„Und wenn ich komm’ . . . und bring’s?“

„Was ich gesagt hab’! Ich bin der Eggebauer!“ Er streckte die Hand, und Wolfrat schlug ein mit festem Druck.

Als der Sudmann sein Haus erreichte, stand Gittli wartend in der finsteren Thür.

„Aber geh’, wie kannst denn so lang ausbleiben?“ schmollte sie. „Die Seph’ hat sich schon gelegt. Komm’! Ich hab’ Dein Essen heraußen auf dem Herd’ stehen, weißt, drin in der Stub’ könnt’ das Kindl wieder wach werden!“

Er ging in die Küche und setzte sich an den Herd, auf welchem die letzten Kohlen schon zu erlöschen begannen; nur noch ein rother Schimmer füllte den Raum. Gittli wollte sich an seine Seite setzen; er aber schob sie von sich und sagte: „Geh’ schlafen, Dirn’!“

Sie schüttelte das Köpfchen, denn sie wollte mit ihm von der Hilfe sprechen, die sie sich ausgesonnen. Aber kaum begann sie vom Lehent zu reden, da sagte er: „Leg’ Dich nur schlafen und sorg’ Dich nimmer! Ich hab’ das Lehent . . . der Eggebauer leiht mir das Geld!“

Gittli war sprachlos vor Freude; nur die Hände schlug sie ineinander; dann rannte sie davon, huschte in die Stube, tappte sich zum Bett und fiel der Seph’ um den Hals.

„Er hat’s! Er hat’s!“

Das Weib verstand sofort, was Gittli meinte. „Gelt, daß er’s noch nicht gehabt hat?“

„Ich hab’ Dir ja nur die Sorg’ ersparen wollen!“ flüsterte Gittli.

„Woher hat er’s denn?“

„Der Eggebauer hat’s ihm geliehen.“

„Ist das ein guter Mensch!“ weinte Seph’ und faltete die Hände. So heiß ist für den Eggebauer wohl noch nie gebetet worden, außer von ihm selbst vielleicht.

[272] Gittli hauchte einen Kuß auf die heiße Stirn des schlummernden Kindes und schlüpfte in ihre Kammer. Wie sie in den Kissen lag, da weinte sie und kicherte, immer eins ums andre. Als sie ruhiger wurde, sprach sie das gewohnte Vaterunser – und noch ein zweites als Dreingabe; das hatte ja der liebe Gott heute verdient, denn er allein nur hatte diese zwei guten, guten Menschen erschaffen, den Eggebauer und den Haymo. Und von ihnen beiden war Haymo gewiß noch der bessere! Daß es bei ihm gar nicht zum Helfen kam, das war doch nicht seine Schuld! Sie wollte dem Eggebauer gewiß nichts abzwacken von seinen Verdiensten! Aber der Haymo … der hätte dem Bruder das Geld nicht nur geliehen, nein, geschenkt! … Hätt’ er’s denn aber auch gehabt?

Gittli mußte lachen, als sie in ihrer Gedankenreihe zu diesem Ende kam. Sie streckte sich vergnügt, verschränkte die Hände unter dem Köpfchen und summte das Lied von der Schneerose vor sich hin:

„Auf steiler Höh’
Tief unterm Schnee ...“

Als sie zu der Stelle kam, an der es heißt:

„Im Herzen tief
Ein Blümlein schlief
Gar lieblich und an Schönheit reich ...“

da verstummte sie. Was für ein Blümlein war das? Sie hatte das nur immer so hingesungen. Jetzt zum ersten Mal kam ihr diese Frage! Was für ein Blümlein war das?

So lag sie mit offenen Augen und träumte in die Nacht hinein …

Und draußen in der Küche saß Wolfrat beim neu entfachten Feuer und schnitzte aus einem Birnbaumzweige den Bolzen für die Armbrust. Als Spitze gab er ihm den scharfgefeilten Zinken einer Gabel.

Vergangene Zeiten erwachten bei dieser Arbeit; das war ja nicht der erste Bolz, der aus seinen Händen kam. Die Bilder und Abenteuer seiner Jugend und seiner Kriegsjahre zogen an ihm vorüber. Einmal hob er den Kopf und schaute mit langsamen Augen gegen die Wand, hinter welcher Gittlis Kammer lag … und dabei spielte ein seltsam verlorenes Lächeln um seine Lippen. Neben dem Herde sah er Federn liegen; mit ihnen fiederte er den Pfeil. Es waren die Federn, mit denen das „Mimmidatzi“ gespielt hatte, bevor es entschlummert war.

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 10, S. 293–304
[293]
8.

Seit zwei Tagen hauste Haymo wieder einsam in der Röth’. Spät abends hatte er am „Grünen Donnerstag“ die Jagdhütte erreicht. Walti, den er in der Nähe der Kreuzhöhe getroffen, hatte den Jäger in der Dämmerung für einen Raubschützen angesehen und nicht übel Lust gezeigt, die Armbrust auf ihn abzuschießen. Dann gab es freilich ein lachendes Erkennen. Während des ganzen Heimwegs hatte der Bub zu erzählen; für ihn war jeder Schritt ein Abenteuer gewesen.

Als sie zur Hütte kamen, fanden sie den Frater Severin schnarchend auf dem Heubett. Sie weckten ihn, und da meinte der Frater, es ginge zur Mette.

„Ui jei!“ sagte er lachend, als er sich die Augen gerieben [294] hatte. Aber aus dem Lachen gerieth er gleich wieder in flammende Entrüstung. Haymo, so meinte er, hätte wohl auf den guten Einfall kommen können, einen Krug voll „Güte Gottes“ oder ein Fläschlein mit „des Hilnmels höchster Huld“ aus dem Kloster mit herauf zu bringen. Haymo sah ein, daß seine Sünde groß war, zwar nicht vor Gott, aber wohl vor einem seiner „Knechte“. Nun mußte sich der arme Frater Severin nach dem fetten Sterz, den es zum Nachtmahl gab, mit einem Trunk Wasser schlafen legen. Brrr! Er liebte das Wasser nicht einmal in den Schuhen, viel weniger im Magen.

Das „himmelschreiende Unglück“ schien ihm aber doch den Schlaf nicht zu verkümmern. Er schnarchte gewaltiger als je.

Haymo und Walti hatten wieder auf dem Herd ihr Nachtquartier aufgeschlagen, die glimmenden Kohlen zwischen sich. Draußen das dumpfe Rauschell des Föhns.

„Walti?“ fragte Haymo nach langem Schweigen mit leiser Stimme. „Schlafst schon?“

Der Bub richtete sich auf.

„Walti, ich möchte Dir ’was schenken, eh’ Du fortgehst. Was willst denn haben?“

„Die Feder von Eurer Kappe!“ platzte der Bub heraus.

„Sollst sie haben, nimm sie Dir nur morgen früh! Mußt mir aber auch einen Gefallen thun.“

„Redet nur, was?“

„Weißt Du, wo die Gittli haust?“

„Die Müllerdirn’?“

„Nein, die Schwester des Sudmanns.“

„Ach, die! Ja … warum?“

„Dann geh’ zu ihr, morgen, und frag’ sie, warum sie geweint hat in der Vogtstube.“

Was soll ich sie fragen?“ wiederholte Walti, dem die Sache etwas dunkel vorkam.

„Du sollst sie fragen, warum sie geweint hat heute, wie sie bei Herrn Schluttemann in der Stube war. Sag’ ihr nur, daß ich es wissen will! Und wenn ich am Ostersonntag hinunterkomm’, dann sag’ es mir wieder! Verstehst Du?“

„Wohl, wohl!“ nickte Walti. „Aber ich kann mir schon denken, warum sie geweint hat. Der Herr Vogt wird halt giftig gewesen sein und hat sie bei den Ohren genommen. Ja, das thut er gern, das weiß ich!“ Gähnend streckte er das kluge Haupt auf die zum Kissen geballte Lodenkutte. Aber nach kurzer Weile schon richtete er sich wieder auf.

„Haymo?“

„Ja?“

„Jetzt weiß ich, was für eine Gittli die richtige ist!“

„So?“ lächelte Haymo.

„Wohl, wohl!“ Und kichernd legte sich der Bub wieder aufs Ohr.

Bald darauf schliefen sie alle beide.

Am andern Morgen, eh’ der Tag noch graute, verließ Haymo die Hütte, um seinen Hegergang anzutreten. Er hätte seinen Gästen gern ein Wort zum Abschied gesagt; aber die beiden schnarchteu doppelstimmig so rührend zusammen, daß ihr gesunder Schlaf einen Stein hätte erbarmen können. Haymo nahm die Adlerfeder von seiner Kappe und steckte sie auf Waltis Filzhut. Dann ging er.

Als er mit dem Abend in die Hütte zurückkehrte, waren die beiden Klostervögel lange schon ausgeflogen. Haymo zündete nicht einmal Feuer an, so müde war er. Er spürte die beiden auf den Herdsteinen verbrachten Nächte in allen Knochen; und er hatte sich heute geplagt wie nie. Keinen der Hut bedürftigen Platz in seinem weiten Revier hatte er unbesucht gelassen, jeden Steig und jeden Schneefleck hatte er abgespürt. Er wollte nicht ein zweites Mal so dastehen wie gestern in der Vogtstube. Herr Schluttemann war so liebevoll mit ihm umgesprungen wie die Katze mit der Maus; nur das Verschlucken hatte noch gefehlt. Aber auch Herr Heinrich hatte zu den beiden vermißten Steinböcken eine strenge Miene gemacht; doch er war nicht ungerecht gewesen und hatte auf Haymos Rechtfertigung gehört, trotz Herrn Schluttemann, der die Tischplatte gehörig donnern ließ. Schließlich war Haymo vom Propst sogar mit freundlicher Rede entlassen worden. „Und wenn es Dir Freude macht,“ hatte Herr Heinrich gesagt, „so magst Du am Feiertag nach der Frühpirsche herunterkommen zum Ostertanz!“

Diese Güte wollte Haymo mit doppeltem Fleiß vergelten. Wenn es das Glück nur wollte, daß ihm einer der Raubschützen bald in den Weg geriethe. Er ballte die Fäuste bei diesem Gedanken. Doch mitten in seinen flammenden Zorn hinein hörte er die Geigen und Pfeifen klingen.

Ob Gittli wohl zum Tanz käme? Nun, eine Dirn’, die nicht kommt, die kann man ja holen! An diesen Gedanken spann Haymo hundert andere, bis all sein Denken und Sinnen unmerklich hinüberfloß in Schlaf und Traum.

Nach dieser Nacht kam ein mühsamer Tag. Der Föhn tobte, als möchte er das ganze Haus der Berge in Trümmer werfen. Er wehte schwül wie der Sturm vor einem Gewitter. Der Schnee auf den steilen Halden schwand vor seinem Hauch, daß man es mit Augen sehen konnte, wie er weniger und weniger wurde. Ueber allen Felswänden wurde die weiße, starre Decke des Winters lebendig, und während die Lawinen rollten ohne Unterlaß, führte der Föhn den stäubenden Schnee in ganzen Wolken durch die Lüfte.

Haymo mußte sich vorwärts kämpfen Schritt um Schritt; den halben Tag verbrachte er auf der Jagd nach seiner Kappe. Gegen Abend, auf dem Heimweg, kam er am Kreuz vorüber. Leer starrten die Fußnägel aus dem Holz. Wo waren Gittlis Schneerosen hingekommen? Der Föhn hatte sie wohl entführt? Haymo spähte auf der Erde umher; in einer Steinschrunde sah er eine der Blüthen liegen, zerzaust und welk. Er hob sie auf und wollte sie auf seine Kappe stecken. Doch nein … die Blume gehörte schon einem andern. Lächelnd schob er sie wieder zwischen die beiden Nägel; kaum aber ließ er die Hand davon, da trug der Föhn sie schon hinweg.

Vor Einbruch der Nacht erreichte Haymo die Hütte. Heute blieb ihm keine Zeit zum Sinnen und Träumen. Die Augen drohten ihm schon zuzufallen, während er am flackernden Feuer seinen Imbiß bereitete. Kaum lag er auf dem Heubett, da schlief er auch schon. Rings um die Hütte tobte der Frühlingssturm und sang ihm ein brausendes Schlummerlied …

Als Haymo erwachte, war es noch finstere Nacht. Er lauschte verwundert. Diese Stille um die Hütte. Kopfschüttelnd trat er ins Freie; der Föhnwind hatte sich völlig gelegt, und nur noch leise rauschte der Bergwald. Blasse, dünne Nebelschleier flogen über den Himmel, an welchem in zahlloser Schar die Sterne funkelten. Der frische, klare Morgen versprach einen schönen Tag.

„Es wird Osterwetter!“ sagte Haymo. Dann blickte er nach dem Stand der Sterne und meinte, daß die dritte Morgenstunde wohl schon vorüber wäre. Da war er just zur richtigen Zeit erwacht, um den Auerhahn zu „verlusen“[23], den Herr Heinrich nach den Ostertagen erlegen wollte.

Haymo sperrte die Hütte zu und wanderte in die Nacht hinaus. Nun plötzlich blieb er lauschend stehen. Töne waren an sein Ohr gedrungen, wie Hammerschläge auf klingendes Eisen … nun wieder die gleichen Töne und noch ein drittes Mal. Kopfschüttelnd lauschte er; er wußte sich’s nicht zu deuten, aber es machte ihm keine Sorge, denn wer im Bergwald auf bösen Wegen schleicht, der thut es in aller Stille. Da war wohl einer der Almbauern, den die Arbeit am Tage festhielt, während der Nacht zu Berge gestiegen um mit dem frühen Morgen nachzuschauen, wie seine Sennhütte überwintert hätte … und an der Hüttenthür hatte er wohl mit seinem Hammer die eisernen Klammern losgeschlagen. Es war dem Lauschenden freilich gewesen, als klängen diese Tone nicht von den Almen her, sondern von einer höher gelegenen Stelle. Aber Haymo wußte aus Erfahrung, wie sehr ein Hall in der Nacht zu täuschen vermag. Eine Weile noch lauschte er; doch alles blieb still. Nun schritt er weiter; quer durch das Felsenthal, auf dem kürzesten Wege, stieg er zum Kreuzwald empor. Es dämmerte, als er sein Ziel erreichte. Lautlos, nach jedem Schritt horchend, schlich er von Baum zu Baum. Ueber den östlichen Bergen, jenseit der Schneefelder des Steinernen Meeres, zeigte sich noch kaum ein fahler Schimmer des nahenden Tages, da hörte Haymo schon das leise „klipp klipp“ des falzenden Huhnes. Achtsam sprang er ihn an, und endlich sah er auf einem dürren Aste den stolzen Vogel sitzen, der sich in seiner Schwärze scharf abhob vom erblassenden [295] Himmel. Eine Weile schaute er dem verliebten Sänger zu, wie er auf seinem Ast sich blähte und drehte, mit gefächertem „Stoß“ und zitternden Schwingen gaukelte, dann aber, als es so licht wurden daß Haymo über den Augen des Vogels schon die glühende „Rose“ zu erkennen vermochte, schlich er leise zurück, um den Hahn nicht zu „vergrämen“. Und je weiter es bergabwärts ging durch den Wald, desto rascher wurde sein Schritt, desto fröhlicher sein Blick. Nun ging es ja hinunter ins Thal, zum fröhlichen Fest, zum Ostertanz. Arm in Arm und Wang’ an Wange mit Gittli!

Ob er wohl mit jener andern auch einen Reigen tanzen würde? Wie hieß sie nur? Richtig. Zenza! Nun, vielleicht … wenn Gittli müde war und nichts dawider hatte. Müde? Die Gittli?

Er mußte laut auflachen. Doch plötzlich verstummte er. Aus dem Felsenthal heraus hatte er einen Laut gehört … wie das Kollern eines gelösten Steines. Ging jemand dort unten? Aber nein! Aesendes Steinwild oder eine ziehende Gemse hatte wohl den Stein gelöst! Weg mit der Sorge! Heute durfte er Wild und Bergwald beruhigt verlassen, denn so gottverloren war ja doch kein Mensch in allen Thälern rings umher, um Raub zu treiben am heiligsten Tage des Jahres.

Der volle Morgen erwachte; ein rother Schimmer fiel über den Wald, und die Kuppen der Berge leuchteten in der steigenden Sonne wie glühendes Erz. Als Haymo den Saum des Kreuzwaldes erreichte, ließ er sich zu kurzer Rast auf einen Felsblock nieder und staunte mit seinen lachenden Augen hinein in den schimmernden Glanz des schönen Morgens.

Von seinen Lippen wollte sich ein Jauchzer lösen, aber gewaltsam hielt er den jubelnden Aufschrei zurück, denn im Steinthal zu seinen Füßen, auf etwa tausend Gänge, sah er auf schneefreiem Hang einen Steinbock weiden. Er wollte das Thier, dem die Aesung noth that, nicht verscheuchen. Ohne Bewegung saß er und schaute dem Wild zu, wie es langsam über die Halde hinwegzog und seine kärgliche Nahrung suchte. Nun plötzlich warf das Thier den „Grind“ mit dem mächtigen Gehörn in die Höhe ... es schien Gefahr zu wittern ... in scheuer Eile suchte es den Schutz der nahen Felswand, doch ehe die Wand noch erreicht war, that es mit schlagenden Läufen einen Satz in die Luft, stürzte nieder, raffte sich wieder auf und verschwand in einer tieferen Mulde.

Haymo fuhr erblassend auf; das ging nicht mit rechten Dingen zu! Ein Ruck, und er hielt die Armbrust in Händen … ein lautloser Sprung, und er stand geborgen in dem dichten Gestrüpp der Zwergföhren, welche den Grat der Kreuzhöhe bedeckten. Geschmeidig wie eine Schlange glitt er durch das wirre Gezweig, und als er durch die letzten Büsche den Ausblick in die Mulde gewann, da schlug ihm das Herz und zitterten ihm die Hände in Zorn und brennender Erregung. Er sah, wie ein Mensch in Bauerntracht, mit schwarz berußtem Gesichte, den verendeten Steinbock nach einem nahen Dickicht schleifte.

„Hab’ ich Dich endlich, Du Dieb!“ zischte es durch die Zähne des Jägers, alles Zittern wich von ihm, und als er die Sehne der Armbrust spannte und den Bolzen in die Schiene legte, waren seine Hände wie Stahl und Eisen. Er hob die Wehr an seine Wange, aber durch die dichten Zweige hatte er keinen sichern Schuß. Lautlos erhob er sich, um hinauszuschleichen an den Rand der Büsche; dort draußen stand das Kreuz; hinter dem breiten Holze konnte er sich decken und hatte einen freien Schuß.

Jetzt wand er sich hervor aus den letzten Zweigen, jetzt hob er die Waffe … und da plötzlich rann es ihm durchs Herz wie kalter Schatter. Vom Kreuz hernieder blickte das lebensvolle Bildniß des Erlösers.

Gewaltsam wollte Haymo die Blicke wenden, allein er brachte sie nicht los von dem heiligen Bilde; mit ernsten, kummervollen Augen sah es auf ihn nieder, es schien zu leben in seinen frischen Farben, das rothe Blut an seinen Wunden schien eben jetzt geflossen … dem Jäger war es, als beginne es in den großen blauen Augen sonnengleich zu leuchten, als öffne sich der schmerzensbittere Mund und spreche mit sanften Worten: „Haymo! Willst Du morden an meinem Ostertag, der allen Menschen sein soll wie ein Tag des Glücks und der Versöhnung? Thu’s nicht, Haymo, thu’s nicht!“

In Haymos Händen neigte sich die Armbrust, und der Bolzen fiel aus der Schiene. Der Jäger hob ihn auf mit bebender Hand und küßte die Füße des Gekreuzigten.

Dann stieg er lautlosen Schrittes den Hang hinunter; der Raubschütz, der im dichten Gebüsch an dem erlegten Wild hantierte, hörte ihn nicht kommen; auf der Erde sah Haymo die Armbrust des Räubers liegen; er faßte sie und schleuderte die Waffe mit mächtigem Schwung hinaus in das Steingeröll; da fuhr der Raubschütz in die Höhe, und als er den Jäger sah, befiel ihn ein Wanken und er griff mit beiden Händen in die Luft.

„Wer bist Du?“ fragte Haymo mit harter Stimme.

Der andre stand wortlos, zitternd, und starrte vor sich nieder.

Haymo suchte ihn zu erkennen aber vergebens. Der Jäger war ja fremd im Thal und hatte nur wenige Menschen erst gesehen, auch trug der Räuber den Bart und die Haare mit Ruß bestäubt, und das Gesicht war mit Schwärze so dick bestrichen, daß Haymos forschender Blick kaum einen Zug erfassen konnte.

„Komm!“ sagte Haymo und deutete mit dem Arm die Richtung an.

Der Gefangene voran und der Jäger mit gespannter Armbrust hinter ihm, so schritten sie über den Hang empor, mit blitzenden Augen folgte Haymo jeder Bewegung des Raubschützen. Auf halber Höhe verhielt der Gefangene den Schritt, in seinem finstern Auge glühte die Verzweiflung.

„Jäger … es war das erste Mal … und ich that es aus Noth!“

„Geh’!“

„Jäger … ich habe Weib und Kind … sie gehen zu Grunde!“

„Durch Deine Schuld!“

Ein dumpfer Seufzer erschütterte die Brust des Mannes; das Haupt sank ihm, und mit schweren Schritten stieg er weiter. Nun erreichten sie die Kreuzhöhe. Und wieder wandte sich der Gefangene, unheimliche Gluth in seinen Augen.

„Was geschieht mit mir?“

„Was allen anderen geschah, welche thaten, was Du gethan!“

„Jäger! Erbarme Dich meines Weibes und meiner Kinder … laß mich entfliehen!“

„Und wenn ich auch wollte … ich darf nicht!“ sagte Haymo mit schwankender Stimme. „Ich steh’ in Pflicht und Eid! Ich hab’ geschworen!“

„So laß mich ein Vaterunser beten … für Weib und Kind!“

„Bete!“ sagte Haymo.

Der Raubschütz kniete vor dem Kreuz auf die Erde nieder, faltete die Hände und begann zu murmeln. Haymo trat an seine Seite und wollte das Haupt entblößen, um dem heiligen Bilde zu danken, das ihn vor Blut bewahrt und alles nach Recht gewendet hatte. Doch als er den Arm erhob, fuhr der andre blitzschnell in die Höhe, riß das Waidmesser von Haymos Gürtel, und ehe der Jäger sich zu decken vermochte, stieß er ihm die blitzende Klinge in die Schulter.

Aus Haymos Händen fiel die Armbrust, seine Knie brachen, stöhnend sank er auf das moosige Gestein, das sich färbte von seinem Blut … mit letzter Kraft noch richtete er sich halb wieder empor, mit brennendem Blick suchten seine Augen das starre Bild am Kreuze, dann fiel er zurück, und seine Sinne erloschen …

Ueber allen Höhen leuchtete die Sonne, mit lindem Hauche strich, nach allem Streit und Kampf des wilden Föhns, der laue Frühlingswind befruchtend über die Halden … und während auf dem steinigen Hang die überstürzten Tritte des fliehenden Mörders verhallten, schwoll es sanft und leise durch die Luft einher, weit her aus dem fernen tiefen Thal … der Klang der Osterglocken. „Ihre Seelen waren heimgekehrt von Rom,“ und durch das weite Land, von Thurm zu Thurm, erhoben sie ihre hallenden Stimmen, die Macht und Glorie des Gottes preisend, der vom Grab erstanden.




9.

Ueber dem Hause des Sudmanns lag still und sternenhell die Osternacht. Nur die Albe rauschte; sonst kein Laut in der ganzen Runde; denn der eine, der in dieser Nacht zu dem kleinen Hause gegangen kam, wandelte auf unhörbaren Sohlen; er pochte an die verschlossene Thür … sie öffnete sich nicht vor ihm, und dennoch trat er ein.

[298] In der Stube erwachte das Weib; ein leises Stöhnen hatte sie geweckt. Sie lauschte … und da hörte sie es wieder. Es war das Kind.

„Katzi, was hast denn?“ fragte sie. Aber das Kind gab keine Antwort. Sepha war am Abend so schwach gewesen, daß sie sich nicht auf den Füßen erhalten konnte. Und jetzt mit einmal hatte sie Kraft. Mit stammelndem Laut sprang sie aus dem Bett. „Polzer!“ rief sie … in ihrem Schreck hatte sie ganz vergessen, daß Wolfrat nicht zu Hause war. Mit zitternden Händen tastete sie in der Finsterniß nach dem Feuerzeug; nur matte Funken brachte sie aus dem Stein, und der Zunder wollte nicht brennen. „Mein Gott, mein Gott, hätt’ ich mich doch nicht schlafen gelegt!“ jammerte sie. Bis lange vor Mitternacht hatte sie wach gesessen, dann war die Natur stärker geworden als ihr Wille. Gittli wollte die ganze Nacht bei dem Kinde bleiben, aber Sepha selbst hatte das Mädchen zur Ruhe geschickt. Das „Katzi“ schien ja so fest und gut zu schlummern! Freilich, es war ein böser Tag gewesen, der vorausgegangene, und bedrückten Herzens hatte Seph’ ihren Mann das Haus für die Nacht verlassen sehen; sie merkte es ihm auch an, daß er selbst nicht gerne ging. Wär’ es nur nicht um die paar Heller gewesen, die es zu verdienen gab! Als er schon den Hut auf dem Kopf, noch einmal mit der Hand über die Stirn des Kindes strich, da sagte er: „Gieb’ Dich, Seph’, gieb’ Dich, morgen soll’s besser sein!“ Seine Stimme hatte wohl gezittert, und dennoch hatte sein Wort so zuversichtlich geklungen! Vielleicht wußte er ein stärkendes Kraut oder eine heilsame Wurzel, die er von der Bergfahrt mit heimbringen wollte … vielleicht die „Nießwurz’“, die Wurzel der Schneerose. Von ihr hatte auch Gittli schon gesprochen …

Endlich war es ihr gelungen, Licht zu machen. Mit der flackernden Kerze leuchtete sie über das Bett und erschrak bis ins innerste Herz. Das Gesichtlein des Kindes kam ihr so verwandelt vor, als wäre das nicht mehr ihr eigen Kind, sondern ein fremdes. Sie taumelte zur Kammerthür und stieß sie auf.

„Gittli! Gittli!“

Das Mädcheu antwortete schlaftrunken.

„Ich thu’ Dich bitten, steh’ auf,“ sagte Seph’ mit tonloser Stimme, „das Kindl ist soviel ungut!“

Barfuß, das rothe Röcklein überwerfend, erschien Gittli unter der Thür.

„Da schau’ … mein Kindl, mein Kindl, mein Kindl!“ schluchzte Seph’ und hielt die Leuchte über das Bett.

Gittli beugte sich über das Kind und faßte sanft seine Aermchen, welche mit geballten Fäusten nach aufwärts lagen. „Mimmidatzi,“ flüsterte sie voll süßer Zärtlichkeit, „Mimmidatzi, kennst mich denn nimmer? Schau, die Dittibas’ ist bei Dir!“ … Eine Weile wartete sie vergebens auf Antwort. Dann rief sie noch einmal, alle Angst ihres Herzens in der Stimme: „Mimmidatzi!“

Ein kaum merkliches Zucken ging über das Gesicht des Kindes; ein leises Stöhnen, nicht wie in Schmerz, sondern wie von Sehnsucht quoll aus dem regungslosen, leicht geöffneten Mündlein … aber das Körperchen rührte sich nicht, das Köpfchen, umringelt vom goldblonden Gelock, lag starr auf die Seite geneigt, und unter den zarten halbgesunkenen Lidern blickten die einst so traulich und schelmisch leuchtenden Augen unbeweglich hervor, ohne Glanz und Leben.

„Ja mein Schatzi, mein lieb’s, ja was hast denn?“ stammelte Gittli, und dann, die Wangen von Thränen überronnen, schaute sie mit einem hilflosen angstvollen Blick in Sephas Gesicht.

„Mein Gott, mein Gott, wär’ nur der Polzer daheim!“ jammerte das Weib und sank neben dem Bett in die Knie. „Wenn er nur daheim geblieben wär’! Mein Gott, was thu’ ich denn? Mein Kindl, mein Kind! Ich weiß mir ja keinen Rath, ich weiß mir ja nimmer zu helfen! Was thu’ ich denn?“

„Schwah’rin, bleib’, bleib’ … ich lauf’ … und hol’ den Bader!“ schluchzte Gittli, und wie sie stand, barfuß im dünnen Röcklein, rannte sie davon.

Sie achtete auf dem Wege nicht der spitzen Steine, die sich schmerzend in ihre Sohlen drückten, nicht der Frische der Nacht, welche sie schauern machte, sie rannte nur und rannte, bis sie keuchend auf dem Marktplatz das Haus erreichte, in welchem der Bader wohnte. Wie von Sinnen schlug sie an der Thür den Klöppel, immerfort, so lange, bis sich im Obergeschoß ein Fenster öffnete.

„Wollt Ihr aufhören oder nicht! Was ist denn das für ein Lärmen in der Nacht!“ rief eine Männerstimme herunter.

„Ach, ich bitt’ Euch ... wir haben ein krankes Kind daheim!“ schluchzte Gittli mit aufgehobenen Händen. „Kommt doch, kommt, ich bitt’ Euch gar schön, ich bitt’, bitt’, bitt’!“

„Wer bist Du denn?“

„Die Gittli … die Schwester vom Sudmann Polzer!“

„Sooo?“ Der Name, den Gittli genannt, gab dem Bader zu denken. Ja, hätte sie nur den guten Einfall gehabt, hinauf zu rufen: ich bin die Zenza, die Tochter vom reichen Eggebauer ... dann hätte sie was erlebt, wie der Bader gesprungen wäre! „Sooo? … Also ja, gehe nur heim und sag’ ich komm’ schon, sobald es Tag wird.“

Klirrend schloß sich das Fenster. Gittli stand wie betäubt und griff sich mit beiden Händen an den Kopf. War es denn möglich! Ein Kind … solch ein süßes, herziges Dinglein … und es gab einen Menschen, der sich nicht die Seel’ aus dem Leibe lief, um zu helfen!

Helfen? Helfen? Wer jetzt … wer? Pater Eusebius! Der hatte das Büblein des Klostervogtes wieder gesund gemacht. Gittli rannte und athemlos erreichte sie die Klosterpforte. Die Glocke läutete schrill, denn mit dem ganzen Gewicht des Körpers hatte sich Gittli an den Strang gehängt.

„Pater Eusebius … wo ist der Pater Eusebius!“ schluchzte sie, als sich das vergitterte Fensterchen öffnete.

„Ein Dirnlein! In der Nacht?“ rief staunend der Pförtner. „Was willst Du vom Pater?“

„Wir haben ein krankes Kind daheim … der Pater Eusebius soll ihm helfen. Ach, guter Frater Pförtner, ich bitt’ Euch, bitt’ Euch …“

„O Du mein Gott, Kind, den Pater, den holst Du heut’ nimmer … der ist seit zwei Tagen in der Bartholomäer Klause.“

Gittli mußte sich an die Mauer stützen, um nicht umzusinken.

„Aber sag’, was fehlt dem Kindlein?“

„Es rührt sich nimmer und sieht nimmer … und kennt mich nimmer … ach, Frater Pförtner, so ein liebes, gutes Kindl!“

„Mußt nicht weinen, Dirnlein, der liebe Gott wird schon helfen! und … wart’ ein Weilchen …“ Das Gesicht hinter dem Gitter verschwand, dann streckte sich eine Hand heraus mit einem kleinen Fläschlein. „Nimm, Dirnlein, nimm! Es ist das Beste, was ich hab’: Oleum Sancti Quirini[24] vom Kloster Tegernsee.“

Gittli griff zu mit beiden Händen.

„Reibe dem Kindlein die Stirne damit ein, und die Schläfe, und die Pulsadern an den Händen und die Stelle, wo das Herz schlägt, und bete dazu drei Vaterunser … das hilft! Das hat schon vielen Tausenden geholfen! Und jetzt geh’, Dirnlein! Gelobt sei Jesus Christus!“

„Amen!“ stammelte Gittli. Es war ein Laut voll heißen Dankes. Und schluchzend flog sie davon, aber sie weinte nicht mehr in Schmerz, sie weinte vor Freude. Was sie in Händen hielt und an ihr Herz drückte … es war ja die sichere Rettung: geweihtes heiliges Oel! Immer und immer wiederholte sie Wort um Wort. „Die Stirn, die Schläfe, die Adern, und wo das Herz schlägt“ … und damit sie nur ja mit dem Beten nicht zu kurz käme, fing sie jetzt schon an, während sie rannte und rannte. „Vater unser … der Du bist … im Himmel …“

Erschöpft, keines Wortes mächtig, erreichte sie das Haus.

Seph’ kam ihr entgegen, das Gesicht verstört, kalkweiß und von Zähren naß. „Kommt er? Kommt er?“

Gittli schüttelte den Kopf; sprechen konnte sie noch nicht; doch während sie die eine Hand auf die fliegende Brust drückte, drängte sie mit der andern schon das Fläschlein in Sephas Hande.

„Mein Gott, Gittli, so red’ doch!“ jammerte Sepha, „schau, die Angst bringt mich ja um!“

„Nimm … nimm … das muß ihm helfen! Das hat … [299] schon tausend, tausendmal geholfen, hat er gesagt! Vater unser, der Du bist … im Himmel …“ Und betend sank sie neben dem Bett nieder, in welchem das Kind noch lag, wie sie es verlassen hatte.

„Aber Gittli. so red’ doch, wie soll’s dettn helfen, was soll ich denn machen damit?“

Mehr mit Zeichen als mit Worten wiederholte Gittli den Rath, den ihr der Frater Pförtner gegeben. Neben dem Bette kniend, mit thränenerstickter Stimme betend, hielt sie das flackernde Talglicht, während Sepha that, was der Mönch geheißen. Mit zitternden Händen, unter Weinen und zärtlichem Stammeln, entblößte die Mutter das Kind, welches vor ihr lag wie eine vom Stengel gefallene Blüthe. Ein zartes, holdes Körperchen, rund und weiß wie aus Wachs gebosselt … aber alle Gliederchen gefesselt von starrem Krampf.

Endlich richtete sich Sepha tief athmend auf, alles war gethan, was geschehen mußte. Sie legte die Kissen zurecht und breitete sorglich wieder die warme Decke über das Kind, welches unempfindlich schien für alles, was mit ihm geschah.

„Meinst, Gittli … es hilft was?“

„Ja, ja, es muß ja helfen!“

„Der liebe Herrgott soll’s geben! Wär’ nur der Polzer daheim!“

Nun faßen sie, Sepha und Gittli, die eine zu Häupten, die andre zu Füßen des Kindes, Stunde um Stunde, leise betend und des Wunders harrend, das sie mit Zuversicht erhofften.

Einmal streckte sich das Kind unter leisem Stöhnen, und die geballten Fäustchen schlugen seitwärts.

„Gittli!“ stammelte das Weib.

„Thu’ Dich nimmer sorgen ... es hilft, schau, es hilft ja schon! Weißt, er wehrt sich halt, der Krank[25], weil er spürt, daß er fort muß!“

Wieder saßen sie, betend und wartend. Auf leisen Sohlen schlich die Nacht davon, und durch die Fenster fiel der graue Dämmerschein des erwachenden Morgens.

Seph’ athmete auf. „Jetzt wird der Polzer ja doch bald kommen?“

Gittli nickte; die Hände im Schoß gefaltet, so saß sie, keinen Blick vom Gesichtchen des Kindes verwendend.

Wieder einmal befühlte Sepha das kleine, starr geschlossene Händchen. Sie erschrak. „Gittli … ich weiß nicht … das Kindl wird so kalt! Da, greif her … was sagst, was meinst denn?“ Ihre Augen waren starr geöffnet, und in ihrer Stimme zitterte die Angst.

Gittli umschloß mit beiden Händen das kalte wachsbleiche Fäustchen des Kindes. Da fuhr es auch ihr durchs Herz, sie wußte nicht wie. Sie konnte nicht sprechen. Mit einem bang erschrockenen Blick schaute sie zu Sepha auf.

„Was meinst …“ stotterte das Weib, „wenn ich ihm Tücher warmen thät’?“

„Ja, ja …“

Sepha zerrte einen Arm voll Linnenzeug aus einer Truhe, stürzte in die Küche, machte Feuer und preßte das Linnen in eine irdene Schüssel, um es an der Gluth zu wärmen. Schluchzend riß sie die Hausthür auf … der helle Glanz des Ostermorgens leuchtete ihr entgegen. Sie taumelte auf der Schwelle, raffte sich empor und rannte auf die Straße, um auszuschauen, ob ihr Mann nicht käme. Nichts, nichts, so weit ihre brennenden Blicke reichten.

„Mein Gott, mein Gott, wär’ er nur daheim geblieben!“ stammelte sie und wankte zurück.

Drinnen in der Stube kniete Gittli vor dem Bett, des Kindes kalte Fingerchen behauchend, die zwischen ihren Händen lagen. Sie wurden nicht wärmer. „Seph’, Seph’!“ rief sie in quälender Angst und wollte zur Thür eilen. Doch während sie sich erhob, schien es ihr, als hätte das Kind sein Köpfchen bewegt. Sie hatte recht gesehen … ein leises Zucken ging über die Augenlider, und das Mündchen bewegte sich, als wollt’ es sprechen.

„Mimmidatzi!“ schluchzte Gittli in neu erwachtem, freudigem Hoffen und warf sich wieder auf die Knie.

Da hob das Kind ein klein wenig die Aermchen und tastete mit gespreizten Fingerchen in die Luft. Gittli meinte, das Kind suche ihre Hände. „Ja, ja, mein Schatzi, das Handerl geben, gelt?“ flüsterte sie in heißer Zärtlichkeit, die beiden Händchen des Kindes fassend. „Dittibas’ geht nicht fort, nein … schau, ich bin ja schon bei Dir! Kennst mich denn nimmer, Schatzi?“

Es legte sich auf das bleiche Mündlein wie ein sanftes müdes Lächeln ein seufzender Athemzug, dann streckte sich das Körperchen und durch die kalten Fingerlein rann noch ein leises Zittern.

Jetzt kam die Mutter mit den warmen Tüchern gerannt. „Seph’, Seph’!“ rief ihr Gittli mit stammelnder Freude entgegen. „Besser geht’s, besser … es kennt mich schon wieder … und wie ich mit ihm geredet hab’, da hat es mich angelacht … schau nur, Seph’, schau nur, es lacht noch allweil!“

„O Du lieber, lieber Gott …“ stotterte Sepha. Die Freude benahm ihr fast die Stimme.

Nun griffen sie alle beide zu mit fliegenden Händen und hüllten das Kind von den Füßen bis an das Hälschen in die warmen Tücher; und wenn die Tücher zu erkalten begannen, wurden sie wieder ersetzt durch andere, warme …

Und immer lächelte das Kind; nur war das Gesichtchen so weiß wie Schnee, und das geschlossene Mündlein war anzusehen, als hätt’ es sich verwandelt in ein blasses Veilchen.

Stunde um Stunde verging … und immer lächelte das Kind.

„Ich mein’, es schlaft!“ flüsterte Gittli. Und dann plötzlich kam ihr ein Gedanke. „Seph’, ich lauf’ ins Kloster hinauf … meinst nicht, es wär’ gut, wenn ein Pater beten thät’?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte sie in ihre Kammer, schlüpfte in die Schuhe, zog ein Jäcklein über, streifte mit einem flüchtigen Kuß die rothe Wange des Buben, der in ihrem Bette schlief wie ein Murmelthierchen, und rannte aus dem Hause.

Als sie die Straße erreichte, sah sie zwischen den Bäumen einen Mönch des Weges kommen. Den hätte ihr der liebe Gott geschickt, so meinte sie. „Herr Pater, Herr Pater!“ rief sie und winkte ihm zu. Nun stand er vor ihr … Pater Desertus war es, der Fischmeister; er hatte im Kloster die Frühmesse gelesen und wollte heimkehren in seine Klause.

Gittli erschrak, da sie ihn erkannte, und zögerte; doch nur einen Augenblick, dann trat sie auf ihn zu, mit bittend erhobenen Händen, die Augen naß von Thränen.

Eine dunkle Röthe flog über seine bleichen Züge, seine Augen flammten, und wie in heißer Sorge streckte er die Hände nach ihr und fragte. „Mädchen, was ist Dir? Weshalb weinst Du?“

„Ach, Herr Pater, wir haben ein krankes Kind daheim … ich bitt’ Euch, kommt mit mir und betet für das arme Würmlein!“

„Beten?“ Ueber die Lippen des Mönches irrte ein Lächeln, das sich Gittli nicht zu deuten wußte. Scheu wich sie vor ihm zurück. Er aber faßte ihre Hand und sagte. „Komm’! Wir wollen sehen, was zu helfen ist!“

Sie wollte seine Rechte küssen, doch er wehrte es fast erschrocken. „Führe mich!“ sagte er und folgte ihr mit raschen Schritten; dabei verwandte er keinen Blick von ihrem Gesicht, und immer wieder schüttelte er den Kopf, als könnte er irgend etwas, das ihn zu bewegen schien in seinem tiefsten Innern nicht fassen und begreifen.

Nun erreichten sie die Hausthür, und da ließ er die Hand des Mädchens und fuhr sich über die Stirn wie um etwas von sich abzustreifen, was er nicht mit sich tragen wollte über diese Schwelle. Gittli bekreuzte sich, als der Pater ihr voran in die Stube schritt. Sepha erhob sich vom Bett und zog sich scheu in einen Winkel zurück. Gittli blieb mit gefalteten Händen an der Thür stehen, und so folgten die beiden Frauen mit brennenden Augen jeder Bewegung des Priesters, der neben dem Bett stand, tief über das regungslose, still lächelnde Kind gebeugt.

Nun richtete er sich auf, schwer athmend, und sein Antlitz schien noch blässer geworden. Mit wehmuthsvollem Blick suchten seine Augen die Mutter. „Kommt her zu Eurem Kind,“ sagte er mit leiser, schwankender Stimme.

Ein Zittern befiel Sephas Glieder, in ihrem Gesicht erstarrte vor Angst jeder Zug, nur die Arme konnte sie strecken, aber ihre Füße waren auf den Dielen wie festgewurzelt.

„Hier ist keine Hilfe mehr. Es müßte denn sein, daß unser Herr Jesus in diese Stube träte und zu Eurem holden Kind spräche wie zur Tochter des Jairus: „Steh’ auf und lebe!“

Gittli erbleichte bis in die Lippen, Sepha rang nach Athem, aber noch immer wollten sie nicht fassen, was geschehen war.

„Ach, guter Pater,“ stammelte das Mädchen, „schauet nur hin, es lachet ja, es lachet …“

[300] „Das Lächeln der Erlösung!“ Und Sephas Hand erfassend, sagte er: „Euer Kindlein ist heimgegangen zu seinem Schöpfer.“

„Ach Gott, ach Gott!“ schrie Gittli schluchzend auf. Wie von Sinnen stürzte sie dem Bett entgegen, doch ehe sie es erreichte, brachen ihr schon die Kniee, auf den Knieen rutschte sie weiter, schluchzend und schreiend, und mit Gesicht und Armen warf sie sich über die Füßchen ihres entschlafenen Lieblings: „Schatzi, mein Schatzi …“ In heißem Weinen erstickten ihre Worte.

Sepha stand noch immer wie ein steinernes Bild. Nun plötzlich rang es sich mit gellendem Schrei von ihren Lippen: „Mein Kindl!“ Mit beiden Fäusten stieß sie den Pater von sich, kreischend flog sie dem Bett zu, mit zuckenden Händen faßte sie das Kind, riß es halb aus den Kissen und rüttelte das zarte, wachsbleiche Körperchen, als könnte sie es gewaltsam wieder erwecken zum Leben. Dann wieder erlahmten ihre Glieder, starr quollen die Augen aus dem von Schmerz verzerrten Gesicht, und mit einem stöhnenden Laut, wie das gehetzte Wild ihn ausstößt, wenn es niederbricht inmitten der Meute, sank sie über das Bett, das Kind umklammernd. „Ja kann’s denn sein? Ja kann denn unser Herrgott so was zulassen! Mein Kindl! Mein Kindl! So was … so was muß über mich kommen! Ja warum denn? Warum denn? Warum denn?“

„Warum? Du armes Weib!“ Und Pater Desertus legte die Hand auf Sephas zuckende Schulter. „Tausende und Abertausende vor Dir haben diese Frage schon hinausgeschrieen aus brennendem Herzen, und keinem noch ist Antwort gekommen, weder aus der Höhe noch aus der Tiefe. Warum? Auf frühlingsgrüner Wiese steht eine Blume, hold und lieblich in ihren reinen Farben, in ihrem süßen Duft … wie ein gütiger Gedanke Gottes, der zur Erde niederflog und Wurzel schlug, um zu weilen als eine Freude der Menschen. Da kommt die Nacht mit ihrem tötenden Reif … ein Thier zieht über die Weide und tritt mit fühllosem Huf die erfrorene Blume in den Koth! Warum? Warum? – Auf sonniger Halde steht ein Baum, gesund und strotzend von Kraft; er hat geblüht in zahllosen Röslein, und nahe schon ist die Zeit, da er für treue Pflege danken will mit köstlichen Früchten. Doch vor der Ernte kommt der Sturm, ein Stoß nur, und der schöne stolze Baum liegt auf der Erde, verwüstet und gebrochen! Warum? Warum? – In weitem Feld steht die reifende Saat, getränkt vom Schweiße hoffender Menschen … der Hagel vernichtet sie. Warum? – In freundlichem Thal steht Hütte an Hütte; zufriedene, lachende Menschen unter jedem Dach … da brechen am Bergsee die steinernen Dämme, eine Stunde nur, und Trümmer und Leichen bedecken das Thal. Warum? – Redlichen Sinnes zieht ein guter Mensch seines Weges, sein Blick ist Treue, und Liebe jeder Schlag seines Herzens … da fallen die Wölfe über ihn her oder ein Blitz erschlägt ihn oder eine Brücke weicht unter seinem Fuß. Warum? – Es steht eine herrliche Burg, fest und stolz …“ die Stimme des Sprechenden verwandelte sich, klang dumpf und heiser … „in ihren Mauern wohnt das Glück, rein und heilig, wie es je noch hervorgegangen aus Gottes Hand. Aus ihrem Thor zieht ein glückseliger Mann … und da er wiederkehrt, dürstend nach dem Anblick seines Weibes, nach den süßen Augen seiner Kinder, findet er nur rauchenden Schutt und verkohlte Gebeine. Warum? Warum? Warum?“

Sepha richtete sich auf, verschlang die Hände, und zu dem Priester emporschauend, alle Verzweiflung ihres Herzens im Auge, schluchzte sie: „Ach, Herr, redet doch nicht so grausam und hart zu mir, sagt mir doch ein Wort des Trostes, nur ein einziges Wörtlein!“

„Ich weiß Dir keinen Trost, ich sehe Dein Kind und finde keinen. Nur eine Wahrheit kann ich Dir sagen, die ich erkannte mit blutendem Herzen: wer lebt, muß leiden, wer lacht, wird weinen müssen, und verlieren, wer besitzt!“

Sepha schlug die Hände vor das Gesicht.

Da klang aus der offenen Kammer eine Kinderstimme: „Muetterl!“ Und Lippele erschien auf der Schwelle, im langen Hemdlein, die runden Wangen hoch geröthet vom gesunden Schlaf, in der Hand ein hölzernes Pferdlein ohne Kopf und mit halben Beinen.

Sepha sprang auf, stürzte auf den Knaben zu mit schluchzendem Schrei und riß ihn empor an ihre Brust.

Pater Desertus war der Thür zugegangen; es schien, als wollte er sich noch einmal zurückwenden; aber schwer aufathmend deckte er die Hand über seine Augen und verließ das Haus.

Gittli lag noch immer auf den Knien, das Gesicht in die Arme gedrückt. Erst als Sepha nun wieder zum Bett trat, hob das Mädchen das Gesicht, schaute mit brennenden Augen und zuckenden Lippen zu der Schwäherin auf und schlug in hilflosem Schmerz die Hände ineinander.

Sepha kniete zur Seite des Bettes nieder, stellte den Knaben auf die Erde, und ihr Schluchzen mühsam bekämpfend, sagte sie: „Schau, Lippele … Dein Schwesterl … schau nur, schau … geh’, gieb ihr noch ein Handerl und sag’ zu ihr recht lieb: Behüt’ dich Gott, mein Schwesterl, du mein lieb’s!“

Lippele schaute auf das stille, wie im Traum lächelnde Kind, dann wieder auf die Mutter und fragte: „Warum denn?“

„Mußt nicht fragen, Lippele; thu’s nur, thu’s!“

Lippele streckte den Arm; doch als er die Kälte des starren Händchens fühlte, erschrak er und brachte kein Wort hervor. Aengstlich schaute er zu der Mutter auf und hob beide Hände nach ihr. Sepha umschlang ihn mit ihren Armen, der gewaltsam verhaltene Schmerz brach mit neuer Macht hervor aus ihrem gepreßten Herzen, und so kauerte sie schluchzend auf der Erde, das Gesicht des Knaben übergießend mit ihren Thränen.

„Muetterl, Muetterl,“ stammelte das Kind und begann zu weinen, weil es die Mutter weinen sah.

Gittli erhob sich und wankte in die Kammer; drinnen, am offenen Fenster, sank sie schluchzend nieder; mit breitem Strahl fiel die Morgensonne auf ihr gebeugtes Haupt.

Draußen im Freien webte der Glanz und Schimmer des Ostertages; die Albe rauschte, und in den Nachbarhöfen krähten die Hähne. Auf den Obstbäumen, deren Knospen schon zur Blüthe drängten, zwitscherten die Meisen und flogen ab und zu, Halme tragend für den Nestbau.




10.

Trotz der hellen Sonne, die der Ostermorgen gebracht hatte, brannte in der Stube des Eggebauern ein mächtiges Feuer im Lehmofen. Der Bauer saß hemdärmelig hinter dem Tisch, vor sich einen großen Napf mit Milchsuppe, die er gemächlich auslöffelte. Er war soeben – um die neunte Morgenstunde – mit Zenza aus der Messe zurückgekehrt. Das Mädchen stand, mit halblauter Stimme trällernd, vor dem in die Wand eingemauerten Zinnspiegel und durchflocht die blonden Zöpfe mit rothen Bändern.

„Heut’ hat es aber der Pater Hadamar scharf gemacht in der Predigt,“ sagte der Eggebauer nach einer stillen Weile.

Zenza lachte.

„Hast Dir gemerkt, was er gescholten hat über den Tanz?“

Wieder lachte das Mädchen und warf die Zöpfe über die Schulter zurück. „Jetzt tanz’ ich nur desto mehr. Und fest an halten thu’ ich mich auch … daß ich nicht ausrutsch’.“

Sprechen konnte der Eggebauer nicht, denn er hatte gerade den Mund voll; er drohte nur mit dem Löffel; dann schluckte er und lachte. Da klang aus der Kammer eine weinerlich kreischende Weiberstimme: „Zenzaaa!“

„Jjaah!“ rief das Mädchen unwillig zurück, trat näher an den Spiegel, nestelte an dem Veilchenstrauß, der im Mieder steckte, und zupfte die Kraushärchen in die Stirn.

„Hörst, die Mutter ruft!“ mahnte der Eggebauer.

„Hab’ schon gehört!“ sagte Zenza; aber sie rührte sich nicht von der Stelle.

Der Eggebauer seufzte und löffelte weiter.

„Bauer! Aber Bauer! So komm’ halt Du!“ klang es jetzt mit keifenden Lauten aus der Kammer.

„Ist das ein Weib!“ brummte der Eggebauer. „Nicht einmal beim Essen hat man seine Ruh’!“ Er schüttelte den Kopf, warf einen Erbarmen heischenden Blick zur Stubendecke, legte den Löffel nieder und wollte sich erheben.

Da klapperten draußen die Tritte genagelter Schuhe, und ein Schatten fiel durch das Fenster.

„Zenz’,“ sagte der Bauer hastig, „ich thu’ Dich bitten, geh’ hinein zu ihr und bleib’ bei ihr drin eine Weil’. Es kommt einer, mit dem ich zu raiten[26] hab’.“

[302] Das Mädchen ging, aber nicht gerne, kaum hatte sie die Kammerthür hinter sich geschlossen, da stand auch Wolfrat schon auf der Schwelle; er war anzusehen, als käm’ er geradeswegs von der Sudpfanne: sein brennendes Gesicht und seine Hände glitzerten von Schweiß; an Hals und Schläfen sah man, wie es in den geschwollenen Adern hämmerte; sein Athem flog und keuchte, daß er nicht zu sprechen vermochte; er taumelte zur Bank, fiel nieder und drückte die Fäuste auf seine Brust.

Dem Eggebauer wurde ängstlich zu Muth; er schielte nach der Kammerthür, dann fragte er mit leiser Stimme: „Polzer, was hast denn? Ich will nicht hoffen, daß …“

„Schau nach der Zeit, Bauer!“ keuchte Wolfrat.

„Da brauch’ ich nicht zu schauen. Die neunte Stund' ist gnett[27] vorüber.“

„Und wie lang’ braucht einer vom Kreuz über die Almen herunter bis ins Ort?“

„Seine fünf geschlagenen Stund’.“

„So muß ich droben vom Kreuz schon wieder fort gewesen sein, ehvor es Tag worden ist,“ sagte Wolfrat mit heiserem Lachen. „Darauf könnt’ ein jeder schwören … Du auch!“

Der Eggebauer verfärbte sich. „Meinst, es wird sein müssen?“

Wolfrat zuckte die Schultern, wischte mit dem Aermel den Schweiß von der Stirn und erhob sich; sein Athem war ruhig geworden, sein Gesicht so weiß wie die Wand. Er trat zum Tisch, griff in eine Tasche und reichte dem Bauer eine hölzerne Büchse – sie war feucht, als hätte man sie in Wasser getaucht.

„Da nimm!“ sagte er. „Das Kreuzl mußt Dir schon selber herausschneiden ... ich hab’ mich tummeln müssen.“

Der Bauer öffnete die Büchse, die ein blutiges Herz enthielt, und schloß sie wieder. „Hast die Schweißbluh’ auch?“

Wolfrat nickte und griff an eine Tasche seiner Jacke. „Wenn ich die nicht hätt’ … für was denn hätt’ ich’s gethan?“ Der Kopf fiel ihm auf die Brust, und mit zitternder Hand strich er sich über die Stirn.

Der Bauer blickte scheu zu ihm auf und kniff die Lippen übereinander; dann ging er zu einem Wandschrank, verwahrte die Büchse und brachte ein Säcklein herbei, welches klang und klirrte, als er es auf die Tischplatte setzte.

„Hast nichts gehört, Bauer, wie es bei mir drüben steht?“ fragte Wolfrat.

„Gehört hab’ ich nichts. Aber sorg’ Dich nimmer … hast ja die sichere Hilf’ im Sack.“

Wolfrat athmete tief und stand schweigend, während der Eggebauer zehn Salzburger Schillinge und ein halb Pfund Heller auf den Tisch zählte.

„Streich’ ein ... hast es verdient!“

„Meinst?“ murmelte Wolfrat, und als er die Münzen in der Hand hielt, streckte er sie dem Eggebauer hin und sagte: „Ich weiß nicht … mir kommt so vor, als hätt’ das Geld einen rothen Schein.“

„Dummes Zeug!“ stotterte der Bauer. „Das Geld hat Silberfarb’.“

„So? Dann muß es wohl sein, daß es mir nur im Aug’ so glitznet … oder es schaut sich nur die Hand so an.“ Er schob das Geld in die Tasche. „Und was ich sagen wollt’, Bauer … gelt, wenn vielleicht eine Frag’ umgehen sollt’ … Du brauchst ja nicht mehr zu wissen, als daß ich gestern nach Feierabend um die achte Stund’ fort bin. Sieben Stund’ hab’ ich hinauf gebraucht in die Röth’ – lang genug, aber so ein Herrgott hat sein Gewicht – dann hab’ ich ihn ans Kreuz geschlagen; vor Tag war ich fertig, hab’ mich wieder auf die Füß’ gemacht und war daheim vor der neunten Stund’. Daß ich den Weg vom Kreuz bergab bis zu Deinem Haus in dritthalb Stund’ gelaufen bin, das brauchst ja Du nicht zu wissen.“

Der Eggebauer riß die Augen auf und schüttelte den Kopf.

„Und schau mich an, wie ich ausschau … daß Du’s weißt, wenn Dich einer fragen sollt’. Gelt, nein? Ich hab’ kein Stäuberl Ruß im Gesicht … kein Fleckerl Blut an meiner Jacke?“

Der Eggebauer, der eine Farbe bekam, als hätte man ihm das Gesicht mit Kalk bestrichen, stotterte: „Ja lieber Herrgott, Polzer, was hast denn gethan?“

„Was ich dutzendmal im Krieg gethan hab’, wenn mich einer hat fassen wollen.“ Er machte mit der Faust einen Hieb in die Luft, und seine Augen funkelten in finsterer Gluth. „Es hat sein müssen!“

„Polzer, Polzer!“ stöhnte der Bauer und schlug die Hände zusammen.

„Halt’s Maul! Wenn’s einer hört, der es weiterredet, kommt es zur Halbscheid über Dich. Und wo der Freimann[28] haust, das weißt ja! Seit voriger Woch’ hat er ein neues Rad … das alte hat er am Mattauser zu Schanden gemacht, der in der letzten Gebnacht[29] den Klosterknecht gestochen hat. Und somit behüt’ Dich! Ich hab’ Dir und mir geholfen … jetzt müssen wir’s auch tragen auf zwei Buckeln!“ Wolfrat wandte sich zur Thür.

Dem Eggebauer schlotterten die Knie; er wollte dem Sudmann nacheilen, aber er brachte keinen Schritt zuwege. „Polzer!“ keuchte er. „Und … und das Schießzeug? Hast es doch um Herrgottswillen nicht verloren, wo’s ein Unrechter finden könnt’?“

„Nein! Ich hab’s wieder geholt, und jetzt liegt es im Kesselbach in der tiefsten Klamm, mit einem Stein daran, den kein Wasser mehr in die Höh’ treibt. Ich wollt’ nur, es läg’ was anderes auch noch dabei! Aber aus mir herausreißen kann ich’s nicht!“ Er schlug mit der Faust auf seine Brust, nickte noch einen stummen Gruß und verließ die Stube.

Er schwang sich diesmal nicht über den Gartenhag, sondern ging auf die Straße zurück und betrat sein Lehen durch das Thürchen im Zaun. In einem Winkel des Gartens rannte Lippele hinter den gackernden Hennen her. Wolfrat wollte ihn rufen; dann schüttelte er den Kopf. „Der Bub’ soll mir heut’ nicht an die Hand rühren.“ Zögernd trat er ins Haus; im offenen Flur lag die Sonne; als aber Wolfrat über die Schwelle ging, bedeckte sein schwarzer Schatten den lichten Streif. Und wie still es war! Keines rief seinen Namen, keines trat ihm grüßend entgegen. Das Kind wird schlafen, dachte er sich, und sie wollen’s nicht wecken. Er stieß die Schuhe von den Füßen und betrat die Stube.

Neben dem Bett saß sein Weib im Weidenstuhl. „Grüß’ Dich Gott, Seph’!“ sagte er mit beklommener Stimme. Aber sie gab ihm keine Antwort; sie hatte die Hände im Schoß gefaltet, das zerraufte Haar hing ihr um die Schultern, und mit starren Augen, deren Thränen erschöpft waren, schaute sie ihm entgegen.

„Aber so red’ doch ein Wörtl! Wie geht’s ihm denn?“

Sie wollte sprechen, jedoch nur stumm bewegten sich ihre Lippen; dann plötzlich schrie sie laut auf.

Er warf einen Blick auf das Kind, und was er sah, machte ihn zittern an allen Gliedern. „Gieb Dich, Seph’, gieb Dich,“ stotterte er und riß aus der Tasche einen ledernen Beutel hervor, welcher braune Flecken hatte und zwischen Wolfrats Händen schlotterte. „Gieb Dich, Seph’ … schau, ich hab’ ’was heimgebracht, das muß ihm helfen. Dem Vogt seinem Kindl hat es auch geholfen. Gieb einen Löffel her …“

„Polzer!“ schrie sie gellend auf und fuhr sich mit zuckenden Händen in die Haare. „Unser Kindl! Unser lieb’s Kindl! O mein Gott, mein Gott …“

„Seph’!“

Er stürzte auf das Bett zu und riß das Laken weg, mit welchem das regungslose Körperchen verhüllt war. Aschfahl wurde sein Gesicht, die eine Hand fuhr nach seinem Herzen, die andere ließ den Beutel fallen, aus welchem das geronnene Blut, das er enthielt, in dicken Klumpen auf die Diele klatschte. Und lautlos, wie ein Stier, den das Beil auf die Stirn getroffen hat, brach er zusammen.

„Polzer!“ kreischte Sepha und suchte ihn empor zu richten.

War es ein Schluchzen oder ein heiseres Gelächter, was von seinen Lippen schütterte und seine wirren Worte halb erstickte? „Und alles umsonst, alles, alles … recht so … ja, ja, so hat’s kommen müssen … jetzt liegt mein Kindl da … und droben … droben liegt der ander' im Blut …“

„Heiliger Herr Jesus!“ stammelte Sepha. „Polzer … Polzer!“

Mit verstörten Augen schaute er zu ihr empor, und ein Schauer rüttelte seinen Körper. Er hatte schon zu viel gesagt … nun mußte er alles sagen. Mit beiden Armen umschlang er sie, [303] drückte stöhnend sein Gesicht in ihren Schoß, und in dumpfen hastenden Lauten bekannte er seine That. Alles, alles erzählte er: was ihn zum Wildraub verführt hatte, wie droben alles gekommen war, und wie ihm nur die Wahl geblieben zwischen Elend, Kerker, Peitsche – und dem, was er gethan hatte.

Sepha saß mit weißem Gesicht wie eine Gestorbene, und nur ihre Hände zitterten, die auf seinem Haupt lagen. Und als er nun verstummte, griff sie hinüber in die verwüsteten Kissen und faßte das starre kalte Händchen ihres Kindes. „Dank’s Deinem Herrgott, Du mein liebes Kindl, weil Du nur das nimmer hast erleben müssen!“

„Seph’!“ stöhnte er.

Sie neigte das Gesicht zu ihm hinunter und sagte ganz leise: „Weißt es auch, Polzer … weißt es denn auch, was Du gethan hast? Nicht bloß den andern hast erschlagen … uns alle, Dich und mich und Deinen armen Buben, und …“

Er preßte die Hand auf ihren Mund.

„Nein, Seph’, nein ... es weiß es ja keiner … nur ein einziger, der selber das Reden fürchten muß … und wenn sie mich gleich auf den Strecker spannen, ich sag’s nicht … und ich hab’ nichts anderes gethan als den Herrgott ans Kreuz geschlagen … und wenn er selber noch leben sollt’ und wieder aufkommen …“

Er verstummte plötzlich und hob erschrocken den Kopf. Jäh schoß er in die Höhe, stand mit geballten Fäusten und starrte mit finster drohenden Augen zur Kammerthür.

Gittli stand auf der Schwelle; ihre zitternden Hände suchten eine Stütze am Pfosten, als wollten ihr die Knie brechen. Ihrem entsetzten Blick, ihren entstellten Zügen sah man es an … sie hatte alles gehört.

„Dirn’!“ fuhr Wolfrat sie an. „Was willst?“

Abwehrend streckte sie die Hand gegen ihn, das Grauen schüttelte ihre schmalen Schultern und an der Wand sich entlang tastend, wollte sie zur Thür.

Mit einem zornigen Fluch sprang er auf sie zu und verstellte ihr den Weg. „Wohin willst?“

Da hob sie flehend die Hände und brach in Schluchzen aus: „Zu ihm! Zu ihm! Ob er tot oder lebig ist … laß mich, laß mich ... ich muß zu ihm.“

„Zu ihm? Und warum zu ihm?“

„Weil ich sterb’, wenn ich bleiben muß!“ schrie sie. „Laß mich … laß mich …“ Und wie von Sinnen faßte sie ihn am Arm und suchte ihn von der Thür wegzuzerren. Er schleuderte sie zurück, daß sie zu Boden sank, sie raffte sich auf und stürzte wieder auf ihn zu.

„Dirn’,“ knirschte er, „Du thust mir keinen Schritt aus dem Haus, oder …“ Er riß ein Beil von der Wand und schwang es.

„Jesus im Himmel … Polzer!“ kreischte Sepha, aber sie hatte nicht die Kraft, sich aufzurichten.

Mit ausgebreiteten Armen stand Gittli vor dem Bruder. „Schlag’ zu, schlag’ zu … hast ja ihn auch erschlagen. Thust mir nur eine Freud’ an, wenn Du zuschlagst, daß ich auch dalieg’ und meinen letzten Schnaufer thu’. Schlag’ zu, schlag’ zu … oder traust Dich nicht? Meinst, es wär’ an einem schon genug? Dann geh’ von der Thür weg und gieb meinen Weg frei!“

Hoch aufgerichtet stand sie vor ihm, mit blitzenden Augen, als wäre sie gewachsen und um Jahre gealtert in dieser Stunde.

Er ließ das Beil sinken und maß sie mit funkelnden Augen. „Du bleibst, Dirn’, ich sag’ Dir’s im guten …“

Es schien, als wollte sie ihn mit beiden Händen an der Brust fassen; aber sie besann sich, und dann plötzlich ging sie mit raschen Schritten auf das Bett zu. „Schau her auf Dein armes Kindl ... ich hab’ es lieber gehabt als mich selber, und heut’ in der Nacht hab’ ich gemeint, ich muß mir die Seel’ herausbeten aus dem Leib … und schau, jetzt leg’ ich die Hand auf sein kaltes Herzl, daß ich zu keinem Menschen ein Sterbenswörtl von dem sagen will, was ich weiß! … Bist jetzt zufrieden? … So gieb mir den Weg frei!“

„Du bleibst, sag’ ich. Und bevor ich nicht in aller Ruh’ mit Dir geredet hab’ ....“

„So halt’ mich, wenn Du kannst!“

Und ehe sie noch ausgesprocheu hatte, war sie in der Kammer verschwunden, er merkte ihre Absicht und stürzte ihr nach; doch bevor er die Schwelle erreichte, hatte sich Gittli schon auf die Brüstung des Fensters geschwungen. Mit einem Sprung war sie im Freien und flog der Straße zu.

„Gittli, Gittli! Dirn’! Ich thu Dich bitten um Gotteswillen … Gittli! Gittli!“ klang die Stimme des Bruders hinter ihr.

Aber sie schaute nicht um, schluchzend schüttelte sie im Lauf den Kopf und schlug ihre Hände vor die Ohren, um den Ruf nicht mehr zu hören. So rannte sie und rannte …

Es war nur eines in ihr, und dieses eine schrie nur immer: zu ihm, zu ihm!

Sie fragte sich nicht, was es wohl wäre, das mit Jammer und Sorge so plötzlich in ihr erwachte, das allen Schmerz der vergangenen Stunden in ihr erstickte, um ein noch größeres tieferes Weh über sie zu bringen, und das sie losriß von ihrem Bruder, um sie unaufhaltsam zu jenem anderen zu treiben, der doch vor wenigen Tagen noch für sie ein Fremder gewesen war. Sie fragte sich nicht, ob er tot liege in seinem Blut, ob er noch lebe, wie sie ihm helfen wolle, ob sie denn helfen könne, allein, mit ihrer schwachen Kraft. Sie fragte und sagte sich nichts als immer nur das eine: zu ihm, zu ihm!

Was in ihr lebendig geworden war, was sie trieb und jagte ohne Denken und Besinnen ... es war entfesselte Natur, die in diesem sechzehnjährigen Kinde nicht anders wirkte als in einem vieltausendjährigen Stein, der auf steilem Berghang liegt, ruhig, bedeckt von Moos, der Tritt eines Wildes, der Fuß eines Wanderers, das Wasser eines jähen Regens, ein Stoß des Zufalls setzt ihn in Bewegung; und unaufhaltsam geht nun seine Reise, nicht zur Rechten, nicht zur Linken, nur fort und fort und immer fort, dem unbekannten Ziel entgegen, keine Schranke messend, keine Tiefe scheuend, keinem Halt gehorchend, nur immer fort und fort, bis sein Weg vollendet ist, bis am Fuß des Berges ein sonniger Rasen ihn empfängt, oder bis ihn der dunkle See verschlingt, auf dessen tiefem Grund er den Ort der bleibenden Ruhe findet.

Die Leute, denen Gittli auf der Straße begegnete, blieben stehen, blickten ihr nach und schüttelten die Köpfe. Eine Dirne, welche mit wehenden Bändern im Haar zum Tanze ging und von Gittli überholt wurde, rief ihren Namen. Aber Gittli sah und hörte nichts. Sie rannte nur und rannte. Doch als sie, nahe den Bauernhöfen am Unterstein, von der Straße zu einem Fußpfad ablenkte, vernahm sie plötzlich von der Taferne her das Klingen der Geigen und Pfeifen! Dort wurde der Ostertanz gehalten. Da mußte sie an die Botschaft denken, welche Walti, der Klosterbub’, ihr gebracht hatte.

Tags zuvor, nach der Auferstehungsfeier, hatte der Bub’ sie vor dem Thor der Kirche erwartet. „Du, der Jäger schickt mich … ich soll Dich fragen, warum Du geweint hast, weißt Du, droben beim Vogt … und morgen wenn er herunterkommt zum Ostertanz, soll ich’s ihm wieder sagen!“

Er hatte an sie gedacht! Er hatte sich gesorgt um ihren Kummer! Und zum Tanz hatte er kommen wollen … zum Tanz mit ihr! Und jetzt … jetzt …

„Haymo! Haymo!“ schrie sie schluchzend aus und rannte weiter, während drüben in der Taferne die Stimmen der Pfeifen und Geigen übertönt wurden von einem wirren Jauchzen und Gejohl.

Ein Tanz war eben zu Ende. Mit brennendem Gesicht, aber gar wenig fröhlichen Augen trat Zenza aus der Thür der Taferne. Suchend schaute sie umher, ging bis in die Mitte der Straße und spähte in der Richtung gegen den See mit verdrossenem Blick den leeren Weg entlang.

Inzwischen kam von der entgegengesetzten Seite der Straße ein junger schmächtiger Bursch gegangen, mit freundlichem Gesicht und gutmüthigen Augen. Seine leichtgebeugte Haltung und die weißen schwielenlosen Hände verriethen den Bildschnitzer. Als er Zenza gewahrte, leuchteten seine Blicke freudig auf. Lächelnd schlich er sich an die Dirne heran und drückte ihr die beiden Hände über die Augen.

„Rath’!“ sagte er mit verstellter Stimme. „Wer bin ich?“

Zenza kicherte und griff nach seinen Armen. „Einer, auf den ich gewartet hab’!“

Diese Antwort machte sein ganzes Gesicht vor Freude glühen; aber er hielt fest … nun wollte er auch seinen Namen hören.

„Wer bin ich?“

[304] „Einer, den mir der Herrgott in der Röth’ geschickt hat.“

Er lachte; den „Herrgott“, der in der Röth’ am Kreuz hing, den hatte er ja selbst geschnitzt. Eine Feine, die Zenza! Die Wörtlein stellen, das verstand sie wie keine! Aber jetzt sollte sie erst recht den Namen nennen, jetzt gerade!

„Wer bin ich?“

„Einer, der sich heut nacht an meinem Fenster nicht hat klopfen trauen, wie er den Buschen gebracht hat, den ich im Mieder trag’!“ Und mit jähem Ruck riß Zenza die Hände des Burschen nieder, zog seine Arme fest um ihren Hals und blickte über die Schulter lachend zu ihm auf. Als sie aber sein Gesicht erblickte, verstummte ihr Lachen. „Ulei?[30]Du?“ stotterte sie, und da er sie festzuhalten suchte, stieß sie ihn zornig von sich.

„Aber Zenza … ich bin’s ja doch …“ stammelte er und deutete auf die Veilchen an ihrer Brust.

Sie trat mit funkelnden Augen vor ihn hin. „Du? Du hast mir den Buschen gebracht?“ Mit häßlichem Lachen riß sie das Sträußchen aus ihrem Mieder und warf es dem Burschen an den Kopf. „Da hast mein Vergeltsgott!“

Ulei stand mit erblaßtem Gesicht, während Zenza in der Thür der Taferne verschwand. Sie mußte das Haus und dann einen Hof durchschreiten, um die Scheune zu erreichen, in welcher der Ostertanz gehalten wurde. Da ging es laut und lustig zu; auf dem Heuboden saßen zwei Fiedler und ein Sackpfeifer, welche sich eben anschickten, einen neuen Tanz zu beginnen. Einzelne Paare traten schon zum Reigen an, die Dirnen lachend, die Burschen jauchzend und mit den Füßen stampfend.

Unter dem Thor der Scheune blieb Zenza stehen und rief mit lauter Stimme in den wirren Lärm hinein: „Buben! Wer ist unter Euch der ärmste und der mindest’?“

Es wurde still, und alle Gesichter wandten sich ihr entgegen; doch erhielt sie keine Antwort; es wollte keiner der ärmste und schlechteste sein. Zenza trat in die Mitte der Scheune.

„Ist einer da, den gar keine andere mag?“

„Der Kropfenjörgi! Der Kropfenjörgi!“ schrien die Mädchen lachend durcheinander.

Zenza blickte suchend umher und sah in einem Winkel der Scheune einen Burschen hocken mit blatternarbigem Gesicht und blöden Augen; wer ihn ansah, brauchte nicht mehr zu fragen, weshalb er der Kropfenjörgi hieße. Zenza trat auf ihn zu und faßte seine Hand. „Komm her, Jörgi, heut’ tanz’ ich nur noch einen einzigen … und den tanz’ ich mit Dir! He, Spielleut’! Macht einen auf!“

Jörgi wurde roth und blaß; doch als er sah, daß es Zenza ernst meinte, stieß er einen gellenden Jauchzer aus, reckte sich stolz in die Höhe und faßte das Mädchen um die Mitte.

Die Geigen klangen, die Sackpfeife dudelte, aber kein zweites Paar trat zum Reigen an: die Burschen und Mädchen standen im Kreis umher und begleiteten den Tanz der Zenza und des Kropfenjörgi mit johlendem Gelächter.

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 11, S. 326–336
[326]
11.

Als um die Mittagsstunde vom Klosterthurm der Hall der Glocken über Thal und Berge schwebte, hatte Gittli schon die Almen erreicht. Ihre Kräfte waren fast erschöpft, und doch lag vor ihr noch ein weiter, weiter Weg. Ueber das offene Almfeld, von welchem aus sie den Kreuzwald schon erblicken konnte, eilte sie noch in vollem Lauf hinweg. Doch als sie einen steilen, brüchigen Hang erreichte, auf welchem die Regenstürze des Frühjahrs jede Spur eines Pfades vertilgt hatten, da ging ihr der Athem aus und die Glieder versagten. Zu Tod erschöpft sank sie auf einen Rasenfleck; schluchzen konnte sie nicht, nur stöhnen. Mit der Brust auf der Erde liegend, drückte sie das glühende Gesicht in das kühle Gras und krampfte die Hände in den morschen Grund. Sie meinte zu sterben, zu ersticken. Und dennoch fühlte sie nicht die eigenen Schmerzen, sie dachte nicht an sich selbst, immer nur an ihn, an ihn! Jetzt lag sie hier, ein Häuflein Elend und Schwäche . . . und er lag hilflos dort oben, verblutend, sterbend. Sie richtete sich halb empor und schrie mit gellender Stimme hinaus in die lautlose Stille der Berge: „Hoidoooh! . . . Leut’! Leut’!“

Aber niemand gab Antwort; nur das Echo ihrer Stimme klang hohl zurück von Wald und Wänden.

Weshalb nur hatte sie zu seiner Hilfe die Leute nicht gerufen, wo Leute waren? Drunten im Thal, im Dorf? Hatte sie an den Schwur gedacht, bei dem sie die Hand auf das erkaltete Herz des Kindes gelegt? – „Ach du mein Gott, das Kindl, das Kindl!“ Nun konnte sie wieder schluchzen. – Oder hatte sie gemeint, daß sie allein ihm helfen, allein ihn retten und heilen könnte wie durch ein Wunder? Nein, nein! An gar nichts hatte sie gedacht, weder an das eine, noch an das andere – sie war nur gerannt und gerannt, blind und taub, ohne zu denken, ganz von Sinnen. Und jetzt lag sie hier . . . so weit von ihm, und noch weiter von den Menschen im Thal . . . und wenn er verbluten mußte, verschmachten in Schmerz und Noth, dann war es nur ihre Schuld, ihre Schuld ganz allein!

Sie mußte zu ihm, sie mußte, mußte, und wenn ihr die Füße brechen und alle Glieder vom Leibe fallen sollten! „Haymo! Haymoli! Schau, ich komm’ ja schon!“ Mühsam raffte sie sich auf, keuchend überwand sie den steilen Hang; droben im dunklen Hochwald, der sie empfing, lehnte sie sich für kurze Weile an einen Baum, bis sie Athem fand, dann wankte sie weiter. Die sachte Neigung des Waldes und ein ausgetretener Pfad erleichterten ihr den Weg.

Plötzlich blieb sie lauschend stehen; hinter einer Biegung des Steiges hörte sie Steine kollern und tappende Schritte, als käme einer schwer auftretend mit nackten Füßen gegangen. Heiß fuhr ihr die Freude zum Herzen: das war Hilfe, die ihr der liebe Gott gesandt! Sie wollte rufen, aber der Laut erstarb ihr in der Kehle . . .

Um die Biegung des Pfades kam ein mächtiger Bär getrottet, die Nase des dicken Kopfes spürend zur Erde gesenkt. Ohne recht zu wissen, was sie that, raffte Gittli einen Stein auf und erhob den Arm zum Wurfe; doch als der Bär nun den Kopf emporrichtete, machte der Schreck sie erstarren. Sie rührte wohl die Lippen; aber nicht in Worten, nur in Gedanken sprach sie den Bärensegen:

„Großvater Zottefell,
Süßfuß, Waldgesell,
Rühr’ mich nit an,
Birg’ Deinen Zahn,

Hüt’ Deine Tatz’,
Weiche vom Platz,
Krumm, krumm,
Um mich herum!“

Regungslos standen der Bär und das Mädchen sich gegenüber: Gittli mit erhobenem Arm, vom Entsetzen fast versteinert, der Bär betroffen, beinahe selbst erschreckt von der unerwarteten Erscheinung. Eine Weile schaute er mit schiefgehaltenem Kopf das Mädchen an, dann schüttelte er den Pelz, wandte sich seitwärts in den Wald und trollte gemächlich zwischen den Bäumen dahin. Der Stein fiel aus Gittlis Hand, der Bann ihrer Glieder löste sich, und von peinigender Furcht getrieben, stürzte sie davon. Doch nicht für ihr eigenes Leben fürchtete sie . . . das Abenteuer war ja überstanden . . . aber der Bär war von dort gekommen, wohin ihr Weg ging! Die Angst stellte ihr ein Bild vor die Seele, das sie schaudern machte bis ins innerste Mark. Sie rannte und rannte, alle Erschöpfung war von ihr gewichen. Entsetzen, Jammer und Sorge hatten ihre erlöschenden Kräfte neu belebt.

Jetzt erreichte sie das offene Steinthal und sah auf der Höhe schon das Kreuz in die Lüfte ragen, umflimmert vom Schein der Sonne. Nun stieg sie über den letzten Hang empor – immer wieder mußte sie stehen bleiben – nicht die Ermüdung, sondern die herzbrechende Angst vor dem Anblick, der ihrer wartete, benahm ihr den Athem und fesselte ihre Glieder. Alle Pein, die sie erfüllte, sprach aus dem trostlosen Blick ihrer Augen.

Wankend erreichte sie die Höhe. „Haymo, Haymo!“ schluchzte sie . . . aber der Platz vor dem Kreuze war leer. Nur eine halb vertrocknete Blutlache bezeichnete die Stelle, an welcher die That geschehen war . . . und versprengtes Blut klebte auch an dem Kreuz und seinem Bilde. „Du! Du bist dabeigewesen . . . und hast es geschehen lassen.“ Und dann wieder schrie sie: „Haymo! Haymo!“ Aber keine Antwort kam. Da gewahrte Gittli, daß eine blutige Fährte hinwegführte auf dem Pfade gegen die Jagdhütte. Ein Schimmer freudiger Hoffnung erwachte in ihr: Haymo mußte noch leben, er hatte noch die Kraft besessen, sich aufzurichten, sich heimzuschleppen. Schluchzend und immer wieder den Namen des Jägers rufend, folgte sie der Spur, die er gezeichnet mit seinem Herzblut . . . und jeder neue Tropfen, den sie fand und der sie leitete, war ihr ein neuer brennender Schmerz.

Immer näher kam sie der Hütte, und immer wollte ihr jammernder Ruf noch keine Antwort finden. An der Hütte, die sie mit einem Steinwurf schon hätte erreichen können, sah sie die Thür geschlossen. Diese Wahrnehmung jagte ihr neue Angst in die Seele.

Jetzt lenkte der Pfad aus den dichten Büschen der Krüppelföhren auf eine Rodung – und da lag er vor ihr, mitten auf dem Steige, mit eingebrochenen Knien, leblos, mit Blut besudelt, das Haupt versunken in Moos und welkem Krautwerk, mit seitwärts geschlagenen Armen, während die Finger noch den Bergstock und die Armbrust umklammert hielten.

„Haymoli! Haymoli!“ rang es sich in Schmerz und dennoch auch in Freude von ihren Lippen, während sie niederstürzte an seiner Seite. Sie faßte seine Hände, rüttelte seine Arme, hob sein Haupt empor – aber kein Zeichen des Lebens rührte sich in seinen Zügen, kein fühlbarer Hauch entströmte seinem halb geöffneten Munde, fahle Blässe lag auf den eingefallenen Wangen, und bläulich schimmerten die Lippen und die geschlossenen Lider. Dennoch erlosch die Höffnung nicht in ihrem Herzen; sie konnte das Schlimmste nicht fürchten, an seinen Tod nicht glauben . . . das Undenkbare denkt man nicht . . . und sie hielt ihn ja in ihren Armen, fühlte ja die Wärme seines Körpers! Und zum Jammer blieb ihr keine Zeit ... sie mußte helfen, helfen, helfen!

In einer tiefen Felsschrunde gewahrte sie einen Klumpen Schnee; sie eilte hin, warf sich auf die Erde, griff mit beiden Armen hinunter und faßte, was ihre Hände nur fassen konnten. Mit dem Schnee begann sie sein Gesicht zu reiben . . . wohl färbte eine matte Röthe seine Wangen, aber das schlummernde Leben wollte nicht erwachen. Was thun? Was thun? Da schoß ihr die Erinnerung an jenes Sprüchlein durch die Sinne:

„Zwei Tropfen machen roth . . .“

Eine Nieswurz! Mit brennenden Augen spähte sie umher. Auf hundert Schritte fast, einem hohen Fels zu Füßen, meinte sie eine Staude zu erkennen; sie sprang empor und rannte hin; und sie hatte sich nicht getäuscht: rings um das Stöcklein hingen noch die verblühten Schneerosen an den welken Stengeln. Mit ihren Fingern grub sie die Wurzel aus der Erde, und während sie zurücklief, säuberte sie Wurzel und Hände an ihrem Röcklein.

Nun lag sie wieder neben Haymo auf den Knien, brach die Wurzel in zwei Stücke, hielt sie über seine Lippen und drückte und preßte, bis aus dem Mark der Wurzelstücke zwei große Tropfen auf Haymos Lippen fielen. Mit heißpochendem Herzen wartete sie, keinen Blick von seinem Munde verwendend. Aber seine Lippen wollten sich nicht rühren, und nicht die leiseste Bewegung zeigte sich an seiner Kehle.

Sie rüttelte seine Schultern und schluchzte dicht an seinem Ohr. „Haymoli, geh’, so thu’ doch schlucken, ich bitt’ Dich um Tausendgottswillen, thu’ doch schlucken!“ Dann wieder wartete sie – vergebens. „O Gott, o Gott, was thu’ ich denn?“

[327] Sie faßte einen Ballen Schnee, brachte ihn durch die Wärme ihrer Hände zum Schmelzen und ließ das Wasser über Haymos Lippen träufeln. Seine Mundhöhle füllte sich . . . nun plötzlich lief ein Zucken über seinen Körper, ein heftig stoßender Athemzug, ein Gurgeln und Röcheln . . . dann wieder lag er still, aber seine Lippen bewegten sich – er hatte geschluckt, und gleichmäßig strömte jetzt sein Athem.

Schluchzend und lachend in stürmischer Freude, schlang Gittli die Arme um sein Haupt und hob es empor an ihre Brust. Sie spürte an dem Hauch seiner Lippen, wie sein Athem sich kräftigte, sie sah, wie seinen Wangen allmählich, wenn auch nur matt, die Farbe des Lebens wiederkehrte, seine Arme bewegten sich, er rührte den Kopf, . . . langsam öffneten sich seine Augen; lange, lange schaute er das Mädchen an mit verlorenem Blick . . . „Kennst mich, Haymo, kennst mich?“ stammelte sie und beugte den Kopf zurück, damit ihm nicht ihre rinnenden Thränen in das Antlitz fielen. „Kennst mich? Schau ich bin’s ja, ich, die Gittli!“ . . . und nun erkannte er sie. Ein tiefer Athemzug hob seine Brust, seine Augen schimmerten und ein seliges Lächeln spielte um seine Lippen. Er wollte sprechen, aber seine Zunge konnte nur lallen.

„Geh’, geh’, thu’ Dich nicht plagen, mußt nicht reden,“ stammelte sie, während sie einen Arm unter seine Schultern legte, um ihn emporzurichten. „Komm’, thu’ Dich nur anhalten an mir . . . so . . . halt’ nur recht fest . . . schau, es geht ja schon, es geht schon!“ Ihr ganzer Körper schwankte und erzitterte unter der Last, mit welcher der Entkräftete an ihrem Halse hing, aber sie brachte ihn auf die Füße. „So, und jetzt mach’ ein Schrittl . . . und jetzt noch eins . . . so, so!“ Er wandte halb den Kopf und tastete mit dem freien Arm gegen die Erde. Sie verstand ihn: er wollte sich von seiner Waffe nicht trennen, sie war ja ein Stück seines Lebens; als er vor dem Kreuz aus tiefer Ohnmacht erwachte, hatte sein erster Blick der Armbrust gegolten und bevor er sich von der Stelle schleppte, hatte er das Weidmesser, noch roth und naß von seinem eigenen Blut, in der Scheide verwahrt. Gittli ließ sich halb in die Knie sinken und es gelang ihr, die Armbrust zu erfassen. „Schau, Haymo, schau, ich hab’s ja schon! Jetzt aber komm’ nur, komm’ . . . weißt, wir müssen schauen, daß ich Dich heimbring’. Das Griesbeil[31] hol’ ich Dir später, jetzt muß ich’s liegen lassen . . . schan ich brauch’ ja meine Händ’ für Dich!“ Sie hatte das Schießzeug über die Schulter gehängt und umschlang den Wankenden wieder mit beiden Armen; und so schleppte sie ihn vorwärts, Schrittlein um Schrittlein, jeden Fußbreit Weges, den er mit taumelnden Knien gewann, als ein heiß erkämpftes Gut begrüßend, jeden zitternden Ruck seiner Füße mit zärtlichen Worten preisend wie eine Heldenthat. Einmal zuckte er stöhnend zusammen.

„Haymoli!“ flog es in heißer Angst von ihren Lippen.

Der süße Klang seines Namens schien ihm neue Kraft zu geben; er ballte die Fäuste, wie um den Schmerz zu bezwingen, hob das Gesicht zu ihr und schüttelte den Kopf, als wollte er sagen. „Es thut nicht weh!“

Wieder ging es weiter, Schritt um Schritt. Endlich erreichten sie die Hütte; nur mühsam gelang es dem Mädchen noch, Haymo zum Lager zu bringen; sie ließ ihn auf das Wolfsfell sinken und schob das Polster unter seinen Kopf. Dann wankte sie selbst vor Erschöpfung, ein Schwindel befiel sie, und schwer athmend, zitternd an Händen und Knien, saß sie eine Weile mit taumelnden Sinnen auf der Bank. Als sie sich erholte, gewahrte sie, daß Haymo das Bewußtsein wieder verloren hatte. Sie stürzte zu ihm; doch als sie den ruhigen Gang seines Athems spürte und den wohl matten, aber gleichmäßigen Schlag seines Herzens, da war sie wieder getröstet. Sie richtete sich auf und nahm den Kopf in beide Hände: was mußte, was konnte sie thun? Hier in dieser Oede, auf sich allein gestellt? Sie jammerte und klagte nicht mehr . . . jetzt dachte sie, und dann ging sie ans Werk, in fliegender Hast und dennoch ruhig und besonnen. Wohl faßte und ermaß sie nicht ganz die Schwere des Ernstes, der aus ihre jungen Schultern gelegt war. Doch aus dem Kinde war ein Weib geworden, das freilich die jäh erwachte Sprache seines Herzens noch nicht hörte und verstand, ihrem zwingenden Geheiß aber unbewußt gehorchte wie das in Lüften treibende Blatt der Gewalt des Sturmes. Tapfer und siegesfreudig kämpfte sie für diesen todwunden, hilflosen Mann, ohne daß auch nur ein leiser Gedanke ihr sagte, daß sie kämpfe um das köstlichste Gut ihres Daseins, um das Leben des Geliebten . . .

„Im Herzen tief
Ein Blümlein schlief . . .“

Was Gittli empfand, es verhüllte sich vor ihr in dem kindlichen Gedanken, daß sie mit Leib und Seele diesem Manne dienen und an ihm sühnen müsse, was die mörderische Hand ihres Bruders verschuldet hatte.

Bei der Armuth des Lebens, das sie unter dem Dach des Sudmanns geführt, hatte Gittli von Kind auf gelernt, so mancher Fährlichkeit mit eigener Hand zu wehren, ohne fremde Hilfe. Das kam ihr nun zu statten. Bei einer Musterung der Stube fand sie das Nöthigste: Feuerstein und Zunder, gesalzenes Fleisch, das eine kräftige Suppe gab, Hirschtalg zur Bereitung einer Wundsalbe und Linnen zum Verband; mit dem letzteren war es wohl gar spärlich bestellt, aber da war gleich geholfen . . . sie riß sich die weißen, bauschigen Aermel von den Schultern.

Rasch und sicher ging ihr alles, was sie that, von den kleinen, flinken Händen. Und bei allem, was sie begann, flog immer wieder ein Blick hinüber zu dem stillen Mann. Durch Thür und Fenster leuchtete die Sonne, und würzig strömte die Frühlingsluft der Berge in den kleinen Raum, in dem das Schicksal zweier Menschen auf der Wage schwebte.

Gittli hatte Feuer gemacht und das sorgsam ausgewaschene Fleisch zum Sieden gesetzt. Nun eilte sie ins Freie, um eine frische Nieswurz auszugraben und Harz von den Fichten zu sammeln, welche die Hütte umstanden. Am Feuer läuterte sie einen Theil des Harzes, vermischte es mit geronnenem Hirschtalg und stellte die fertige Salbe an einen schattigen Ort, damit sie abkühle. Im Fleischtopf brodelte schon die werdende Suppe. Ach wenn es doch Sommer wäre! dachte Gittli; sie kannte alle heilsamen und kräftigenden Bergkräuter – welch ein würziges Süpplein hätte sie bereiten können! Aber noch sproßte auf den Berghalden kein Kraut und blühte keine Blume. Ein Glück nur, meinte sie, daß der liebe Gott die Schneerosen erschaffen hatte!

Sie holte frisches Wasser und trug in einer Pfanne allen Schnee zusammen, den sie in den Felsschrunden rings um die Hütte fand. Und nun mußte geschehen, was ihr am schwersten wurde; mit zitternden Händen, scheu und beklommen, begann sie das Werk. In der Tischlade hatte sie ein Messer gefunden. Mit ihm trennte sie auf der Seite, auf welcher Haymo die Wunde trug, den Aermel von seinem Wams und löste über der Schulter die Nähte bis zum Hals. Ein Zittern befiel sie, und die Thränen stürzten aus ihren Augen, als sie die bloßgelegte Wunde erblickte, welche mit blutigen Rändern klaffte wie ein Mund mit rothen Lippen. Die Blutung schien gestillt, doch rings um die Wunde zog sich eine breite, heiß brennende Schwellung.

Gittli hatte die Hände vor die Augen geschlagen; rasch aber fand sie wieder den in Schmerz und Pein verlorenen Muth. Sie wusch die Wunde, kühlte mit Schnee die glühende Schwellung und erneuerte immer wieder den schmelzenden Schnee, bis die Röthe der Haut zu schwinden, die Schwellung sich zu senken begann. Jetzt vertheilte sie die Salbe auf einen Leinwandlappen, legte ihn über die Wunde und verklebte seinen Rand mit Harz.

Nun war es gethan! „Ach Gott!“ seufzte sie auf aus erleichtertem Herzen, trocknete die Thränen von ihren Wangen und beugte sich über Haymo. Still und regungslos hatte er alles mit sich geschehen lassen; seine Ohnmacht hatte sich, ohne daß er aus ihr erwachte, verwandelt in den tiefen Schlummer der Schwäche.

Um die bösen Geister von ihm zu treiben, welche Gewalt haben über Schlafende, machte sie auf seine Stirn und Brust das Zeichen des Kreuzes, flocht aus einem langen Heuhalm, den sie aus dem Lager zog, einen Drudenfuß und legte ihn zu Häupten des Bettes auf die Erde. Dann eilte sie zum Herd zurück. Die Suppe war kräftig und wohlschmeckend gerathen; das Fleisch schnitt Gittli in kleine Stückchen und zerrieb sie auf einer reinlichen Felsplatte mit einem Kieselstein zu Brei, den sie der Suppe beimengte; dann setzte sie noch einen Tropfen vom Saft der Nieswurz zu – er machte das Herz frischer schlagen und das Blut lebendiger strömen – und die Suppe war fertig.

In der einen Hand den hölzernen Löffel, in der anderen den Napf mit der Suppe, setzte sie sich auf den Rand des Bettes.

„Haymo!“

Er rührte sich nicht.

[330] Sie neigte sich zu seinem Ohr. „Haymoli!“

Da streckte er sich mit langem Athemzug und schlug die Augen auf. Sie nickte ihm lächelnd zu. „Da schau, was ich Dir gekocht hab’ ... Du, das ist gut!“ Und als hätte sie ein Kind vor sich, führte sie den Löffel an ihre Lippen und that, als ob sie koste. „Aaah! Du, das ist was Feines! Magst es essen, ja? Gelt, ja?“ Er versuchte sich aufzurichten, doch kraftlos fiel ihm das Haupt zurück auf das Polster. „Aber geh’, bleib’ doch . . . thu’ Dich nur gar nicht plagen . . . schau, es geht ja!“ Sie rückte näher, hielt den Löffel an seinen Mund, und während er nahm und mühsam schluckte, zu ihr aufblickeud mit feuchten Augen, redete sie mit ihm, wie sie zu hundertmalen mit ihrem kleinen, süßen „Mimmidatzi“ geredet hatte. Ein Kind der Sorge war ihr an diesem Tag genommen worden – ein Kind der Sorge wieder gegeben.

Während sie ihm Löffel um Löffel reichte, merkte sie, daß auch in ihr der Hunger brannte – seit dem vergangenen Abend hatte sie keinen Bissen genossen. Aber im Kasten lag ja ein Laib Schwarzbrot . . . das war gut genug für sie. Alles andere mußte sie für Haymo bewahren. Verlassen durfte sie ihn nicht, und es konnten Tage vergehen, bis ein Mensch zur Hütte kam. Drunten wußte ja niemand um Haymos Schicksal – außer dem einen, der auch nicht reden würde auf der Folter! Ein Schauer rann ihr durchs Herz, als sie an Wolfrat dachte, als sie ihn wieder drohen sah mit erhobenem Beil – der Bruder wider die Schwester! Sie hatte ein Empfinden, als stünde sie vor einem bodenlosen Abgrund, so breit, daß keine Brücke hinüberreichte – und drüben stünde er. Und seltsam . . . es kam ihr vor, als wär’ es immer so gewesen! Als kleines Dinglein schon hatte sie ihn gefürchtet, dann aber war sie der Sepha von Herzen gut geworden und hatte deren Kinder geliebt, als wäre sie ihnen Schwester und Mütterlein zugleich.

Wie ein flüchtiger Schatten zog dieser Gedanke durch ihr Herz; er wich jedoch der hellen Freude darüber, daß Haymo die Suppe genossen hatte bis auf das letzte Tröpfchen. Nun lag er wieder stille, mit geschlossenen Augen.

Sie stellte den Napf auf den Herd zurück, schnitt sich ein Stück Schwarzbrot, trug einen hölzernen Block vor Haymos Lager und ließ sich darauf nieder. Nun durfte sie ruhen. Was sie zu thun vermochte, hatte sie gethan – alles Uebrige mußte der liebe Herrgott leisten unb Haymos junge kräftige Natur.

Während Gittli ihr Brot verzehrte, stiegen wieder all die finsteren, schmerzvollen und blutigen Bilder dieses Tages vor ihr auf, von der nächtigen Stunde an, da Sephas angstvoller Ruf sie aus dem Schlummer geweckt hatte. „Ach das Kindl, das Kindl!“ Solch ein liebes, süßes, unschuldsvolles Dinglein! Wie kann das nur geschehen? Gestern hielt man es noch in seinen Armen – man hat es geherzt und geküßt, hat sich die Seele warm gefreut an seinem holden Leben, hat mit dem Herzen sich hineingetrunken in die blaue, lautere Tiefe seiner Augen . . . und wo ist es heut’? Weg, fort, irgendwo . . . wohin keine Arme greifen und keine Sehnsucht reicht!

„Ach, und die Seph’! Mein Gott, mein Gott, die arme Seph’!“ Es legte sich auf Gittlis Herz wie ein schwerer Stein; sie schlug die Hände vor das Gesicht und weinte leise . . .

Da klang die lallende Stimme Haymps an ihr Ohr: „Gittli?“

Hastig fuhr sie sich über die Augen. „Ja, Haymoli, schau, ich bin ja schon bei Dir! Willst was?“

Er tastete mit kraftlosem Arm nach ihr, und als sie seine Hand mit beiden Händen umschloß, lallte er: „Gittli . . . vergelt’s Gott!“ Sie schüttelte den Kopf und lächelte ihn an. Sie hatte ja nur gethan, was sie mußte. Seine Hand ließ sie nicht wieder los. Und während sie nun so saß, Stunde um Stunde, bald in heißer Sorge zu ihm aufblickend, bald wieder verloren in finster unb sonnig durcheinanderschwimmende Gedanken, kam auch in ihr die Natur zu Recht und Geltung. Die Erschöpfung löste ihre Glieder, ihr Haupt sank auf den Rand des Lagers, und als sich draußen der Tag zum Abend wandelte, da schlief sie schon und athmete in langen Zügen.

Vor der Hütte gurgelte die rinnende Quelle, und leise rauschte der Bergwald in der Ferne.




12.

Am Morgen des Ostermontags trug Wolfrat Polzer sein entschlafenes Kind zur ewigen Ruhe. Da gab es keine Klagleute – Sepha lag fiebernd zu Bett, Lippele zählte nicht mit, Gittli fehlte, und von den Nachbarsleuten kümmerte sich keine Seele um den Tod, der im Hause des Sudmanns eingekehrt war. Wolfrat Polzer und auf seiner Schulter das stille Kind – das war der ganze Leichenzug; das starre Körperchen war in ein Leintuch gewickelt und lag auf einem Brett, welches Wolfrat mit eigener Hand zugeschnitten. Der Sudmann hatte schon schwerer getragen in seinem Leben, aber keine Last noch hatte ihn so tief gebeugt. Die Leute, denen er auf dem Weg zur Kirche begegnete, zogen die Kappen und schlugen ein Kreuz. Im Friedhof erwartete ihn der Totengräber beim ausgeworfenen Grab – in einem Winkel, nahe der Mauer.

„Ich will den Pater holen,“ sagte der Mann, „kannst das Kindl derweil hinunterlegen.“

Wolfrat blieb allein; er löste den Strick, mit dem der kleine Leichnam auf das Brett gebunden war, nahm das Kind auf seine Arme und stieg in die Grube; ein Stück Rasen gab er der kleinen Schläferin als Polster; zwei Steinplatten, die der Totengräber aus dem Boden geworfen hatte, stellte er wie ein Dach über das KÖpfchen des Kindes, damit ihm die fallende Erde nicht das Gesichtlein drücke. Nun sah er den Pater mit dem Bruder Meßner kommen und stieg aus der Grube.

Ein lateinisches Gebet, zwei sich kreuzende Striche mit dem tropfenden Weihwedel, und Pater und Meßner gingen wieder davon. Eine Armeleutleich’ ist immer schnell abgethan. Der Totengräber stieß die Schaufel in die Erde. „Kann ich anfangen?“

Wolfrat nickte. Doch als der Mann die ersten Schollen schwer in die Grube fallen ließ, faßte Wolfrat den Stiel der Schaufel. „So thu’ doch nicht so grob!“

„Ich muß mich tummeln, in einer Stund’ kommt schon wieder ein anderer. Jetzt sterben ja die Leut’ wie narrisch.“

„So laß mir die Schaufel!“

„Meinetwegen! Hast die drei Heller?“

Wolfrat griff in die Tasche und zog eine Hand voll blinkender Münzen hervor. „Da schau her,“ sagte er mit heiserem Lachen. „Geld hab’ ich wie Heu!“ Und statt der drei Heller, die der Mann nach dem klösterlichen Weisthum zu fordern hatte, bezahlte Wolfrat einen halben Schilling. „Nimm nur! Ein bißl was muß das Kindl doch auch davon haben . . .“ Wieder lachte Wolfrat; doch sein Gesicht verzerrte sich und seine Hände zitterten.

Kopfschüttelnd ging der Totengräber davon. „Ist das aber einer! Der kann lachen, wenn er sein Kindl eingrabt!“

Wolfrat faßte die Schaufel und legte Scholle um Scholle in das kleine Grab, sanft und achtsam. Bei der ersten Scholle sagte er: „Von der Mutter!“ ... bei der zweiten: „Vom Vater!“ ... bei der dritten: „Vom Lippele!" Dann schaufelte er schweigend weiter. Weshalb vermied er es, auch in Gittlis Namen dem Kinde eine Scholle als letzten Gruß zu spenden? Es sollen nach altem Brauch in ein sich schließendes Grab doch alle eine Scholle legen, die eines Stammes sind? War die Schwester für ihn tot, seit er in finsterer Stunde erfahren mußte, daß ihrem Herzen das Schicksal eines Fremden näher stand als Wohl und Weh ihres leiblichen Bruders? . . .

Der Hügel über dem Grab war vollendet. Wolfrat stieß die Schaufel in die Erde, und nun stand er lange, lange, den Kopf auf die Brust gesenkt, mit umflorten Augen, zwischen den zuckenden Fingern die Kappe drehend. Beten konnte er nicht. Er that noch einen schweren Athemzug und bedeckte das Haupt.

„Mußt nicht lang warten, Katzl! Paß nur auf . . . es kommt schon eins ums ander’ ... die Mutter, und ich, und . . .“ Nein, den Namen seines Buben brachte er nicht über die Lippen.

Als er sich nun vom Hügel wandte und das leere Brett unter den Arm nahm, kollerten ihm zwei schwere Thränen in den Bart. – Er wollte nicht über den Marktplatz gehen; dort waren ihm zu viele Leute. Auf einem Umweg suchte er das Haus des Taferlmalers. Er fand den Meister daheim. „Schreib’ mir den Namen auf das Brett,“ sagte er zu ihm.

„Geh’ – ist bei Dir eins gestorben?“

„Ein Kindl. Mariele hat’s geheißen! Mach’s nur recht schön . . . roth und blau! und mal’ auch ein Kreuz darunter. Ich zahl’s. In einer Stund’ komm’ ich wieder und hol’ das Brett.“

Von hier begab sich Wolfrat in das Kloster, um das Lehent zu entrichten. Er fand Herrn Schluttemann in Montagslaune ... das war von allen Launen des Vogtes die schlimmste. Denn am Sonntag, dazu noch an einem hohen Feiertag, pflegte Herr Schluttemann länger als gewöhnlich im Kellerstüblein des Klosters [331] zu verweilen; um so schärfer war dann aber auch am folgenden Morgen Frau Cäcilias Zünglein geschliffen; und da das größere Feuer die größere Hitze macht, war es begreiflich, daß Herr Schluttemann an solch einem Montagmorgen in seiner Amtsstube umherfuhr wie ein Wetterstrahl, der aus den Wolken keinen Ausweg findet, immer blitzt und donnert, ohne sich ganz entladen zu können.

Als Wolfrat über die Schwelle trat, fiel Herr Schluttemann mit einem Schwall von scheltenden Worten über ihn her wie ein Wildbach mit seinen Wassern über den geduldigen Felsblock; denn Wolfrat stand ruhig und schweigend; eine Weile ließ er das Ungewitter über sich ergehen, dann aber, als Herr Schluttemann eiumal Athem schöpfte, sagte er: „Was plagt Ihr Euch so mit Schreien, Herr Vogt? Ich hör’ auch, wenn Ihr den Blasbalg minder anzieht!“

Die Verblüffung über diese kecke Rede schien Herrn Schluttemann beinahe in Stein zu verwandeln; dann wurde sein rothes Gesicht noch röther, er warf die Fäuste in die Höhe, durchmaß im Sturmschritt die Stube und donnerte: „Hat man so was schon erlebt in der ganzen Christenheit? Wie dieser Mensch sich mit mir zu reden getraut! Solch ein Schwertmaul! O! Ah! Hoho! Ich, der Vogt, ich soll wohl höfische Reden führen . . . mit solch einem Salzpantscher? Belieben, geruhen, befehlen Euer Gnaden? Soll wohl gar noch katzebuckeln vor solch einem Kerl, der das Lehent nicht bezahlen kann?“

Aus Wolfrats Augen schoß ein finsterer Blick. „Wer sagt Euch das, Herr Vogt? Ich bring’ das Lehent.“

Herr Schluttemann drohte die Fassung zu verlieren. „Er bringt das Lehent . . . bringt es . . . bringt es?“ Blasend stemmte er die Fäuste in die Hüften und kam auf Wolfrat losgeschossen, als wollte er ihn übern Haufen rennen wie der Sturmbock die Mauer. „Wer hat Dich geheißen, das Lehent zu bringen? Wenn Seine hochwürdigsten Gnaden, unser Herr Propst, die Güte und himmlische Milde haben zu sagen: man sehe zu, ob dieser Wolfratus ein Spieler und Säufer ist ... und das bist Du nicht, und ein tüchtiger Schaffer bist Du auch, da beißt die Maus keinen Faden ab, Gott straf’ mich! . . . und wenn es wahr ist, sagen Seine Gestrengen, Herr Heinrich von Inzing, mein allergnädigster Herr Propst, so soll diesem Wolfratus für heuer das Lehent erlassen sein!“ Herrn Schluttemann ging der Athem aus.

„Das Lehent . . . erlassen sein?“ stammelte Wolfrat. Er war bis in die Lippen erbleicht und wankte, als hätte ihn ein Schwindel befallen.

„Und jetzt bringt er das Lehent . . . bringt es . . . bringt es!“ Herr Schluttemann rang über diese Thatsache die Hände, als hätte er den Untergang von Jerusalem zu bejammern. Und wieder zu Wolfrat sich wendend, schrie er ihn an: „Ja woher hast Du denn das Geld?“

„Ich hab’s geschafft, weil es her mußte!“ erwiderte Wolfrat, starr aufgerichtet, mit heiserer Stimme. „Woher ich es hab’, braucht Euch nicht zu kümmern . . . Ihr müßt es ja nicht heimzahlen. Aber wenn Euch schon die Neugier plagt: der Eggebauer hat mir’s geliehen!“

„Der Eggebauer? Geliehen?“

„Ja, weil ich ihm in der Samstagnacht seinen hölzernen Herrgott hinaufgetragen hab’ auf seine Alm in der Röth’.“ Laut und langsam sprach Wolfrat diese Worte.

„Den schweren Herrgott? In der Nacht? Und deshalb hat er Dir das Geld geliehen?“

„Ja, und weil er vielleicht gemeint hat, Ihr könntet ihm noch einen schlechteren Nachbar auf das Genick setzen, wenn ich vom Lehen gejagt würde.“

„Der Teufel jagt Dich vom Leheu, aber ich nicht!“ donnerte Herr Schluttemann. „Bin ich denn ein Wurm, der Feuer speit und Steine frißt? Auf der Stelle machst Du jetzt, daß Du heimkommst zu Weib und Kind. Und diesem Schmersack giebst Du sein Geld zurück ... bei Heller und Pfennig! Pack Dich!“

Herr Schluttemann machte einen Versuch, Wolfrat am Kragen zu nehmen, um ihn zur Thür hinauszudrehen. Der Sudmann aber faßte mit eisernem Griff den Arm des Vogtes. „Jetzt hab’ ich das Geld . . . jetzt will ich auch bezahlen! Ich will von keinem was geschenkt . . . und vom Kloster am allerletzten.“ Er ging auf den Tisch zu und zählte die acht Schillinge der Reihe nach auf die Platte, und jedem gab er mit dem Daumen einen Druck, daß es klang und klirrte.

„Ja, Himmelwetter noch einmal, soll ich denn in meiner Stube nimmer Herr sein?“ schrie Herr Schluttemann, dessen rothe Nase vor Zorn blau anlief wie Stahl im Feuer. „Wirst Du gleich thun, was ich sage! Wirst Du gleich das Geld wieder einpacken! Wirst Du machen daß Du weiterkommst!“ Und bei jedem „wirst Du“ schlug er die Faust auf die Tischplatte, daß die Silberstücke sprangen und hopften wie die Dirnen beim Ostertanz. „Und wenn der Eggebauer schon sein Geld zum Fenster hinausschmeißen will, so behalt’ es selber und laß’ es Deinem kranken Kind zu gut kommen ... das Kloster braucht es nicht!“

„Und mein Kindl auch nimmer!“

„Dein Kind ist also wieder gesund?“

„Wohl, wohl . . . dem thut kein Faserl nimmer weh. Der schwarze Bader hat ihm geholfen der Armeleut’bader . . . und umsonst, Herr Vogt, ganz umsonst! Der hat allweil Zeit und hat keinen Schlaf in der Nacht, wenn eins um ihn schreit! Und wenn Ihr auch gerad einmal Zeit habt, Herr Vogt, nachher nehmt das Leut’buch aus dem Kasten und machet einen dicken Strich, wo meinem Kindl sein’ Nam’ steht . . . Polzer Mariele.“ Wolfrat wandte sich ohne Gruß zur Thür.

„Polzer! Um Herrgottswillen . . .“ stotterte Herr Schluttemann. „Polzer! He! Polzer!“

Aber Wolfrat hatte die Stube schon verlassen. Vor dem Klosterthor stand er still und drückte die Fäuste vor die Stirn. „Das auch umsonst, das auch! Und niemaud anders hat mir das eingebrockt als die Dirn’!“ Er streckte die rechte Hand vor sich hin und sprach sie an mit verbissenem Lachen: „Du hast es nothwendig gehabt, daß Dich so getummelt hast . . . selbigs mal!“ Er richtete sich auf und ein zorniger Blick seiner heißen Augen suchte die fernen Höhen der Berge. „Aber wart nur, Du Kramp . . . komm mir nur wieder unter die Hand!“

Nun ging er, das Totenbrett seines Kindes zu holen.

Als er sein Lehen erreichte und in den Hausflur treten wollte, hörte er vom Hag her einen leisen Pfiff. Dort drüben stand der Eggebauer. Wolfrat spähte zuerst nach allen Seiten, dann lehnte er das Totenbrett an die Wand und ging zum Hag.

„Warst bei ihm?“ fragte der Eggebauer mit flüsternder Stimme.

Wolfrat nickte und starrte vor sich nieder.

„Was nottelst[32] denn allweil vor Dich hin? So red’ doch!“ stotterte der Bauer, dem die heillose Angst, die ihn erfüllte, aus jedem Blick und jeder Miene sprach.

„Reden! Was ist denn viel zu reden! Heut hater noch allweil nichts wissen können. Und ich selber hab’ geredet, wie’s ausgemacht war. Halt’ nur Du fest bei der Stang’, wenn die Frag’ einmal an Dich kommt!“

Der Eggebauer machte zwei Fäuste mit eingezogenen Daumen.

„Wie steht’s denn mit Deinem Weib?“ fragte Wolfrat. „Hast es ihr schon gegeben?“ Er meinte das Herzkreuzl des Steinbocks.

Der Eggebauer schüttelte trübselig den Kopf. „Das Weib treibt’s ärger mit jeder Stund’. Was Füß’ hat im Haus, Mensch und Hund und Katz’ . . . alles wird von dem Weib umeinander getrieben, daß einem der Schnaufer vergehen möcht’! Und wenn ihr der Wehdam ankomntt, nachher hält’s schon gar kein Mensch nimmer aus mit ihr. Und doch, und doch ... ich trau’ mich nicht, daß ich ihr’s gieb! Wenn das Weib gesunden thät’, sie könnt’ das Maulwerk nicht halten – und alles müßt’ aufkommen.“

Es zuckte seltsam in Wolfrats Zügen. „Und am End’ willst es ihr gar nimmer geben, aus lauter Angst, es könnt’ ihr helfen?“

Der Bauer nickte. „Und daß mich die Versuchung nicht ankommt, wenn mich das Weib g’rad wieder einmal plagt bis auf die Haut . . . drum hab’ ich das ganze Teufelszeug’ mitsammt dem Büchsl hinterm Haus vergraben!“

Jetzt lachte Wolfrat hell hinaus.

„Geh’, Du Narrenteufel, was hast denn?“ brummte der Eggebauer, dem gar nicht lustig zu Muth wurde bei diesem Gelächter. „Mir scheint, Du kommst aus der Wirthsstub’ . . . aber nicht vom Friedhof.“

„Aber geh, Bauer, so lach’ doch mit! Denn jetzt paßt alles zu einander . . . mein Kindl hat nichts davon haben sollen als wie den halben [332] Schilling für die ewige Liegerstatt und um fünf Heller Farb’ auf dem Brettl, und Dein Weib soll nichts haben davon, und es hätt’ auch nicht sein müssen ums Lehent! Nur grad, daß ich die rothen Händ’ davon hab’! Alles umsonst, alles, alles! Aber gelt ja, Bauer? Es wird halt so sein müssen! Warum? Da kannst lang drum fragen!“

„So red’ doch nicht daher wie ein Unsinniger! In meinem Kopf schaut es eh’ schon aus wie in einem Grillenhäusl.“

Da klang vom Hause her Zenzas scharfe Stimme: „Vater!“

„Ja, ja, ich komm’ schon!“ rief der Eggebauer zurück und wandte sich wieder zu Wolfrat. „Mir graust, weil ich nur wieder hinein muß ins Haus! Ich sag’ Dir’s, Polzer, mir graust vor einer jedweden Stund’! Und wenn eins anfangt, kommt gleich alles ubereinander. Ich mein’, ich hätt’ schon genug an dem Weib, und jetzt fangt das Mädel auch noch an und dreht den Daum’ auf, weint in einem fort oder schreit und haut alles kurz und klein, was ihr in die Händ’ kommt, als wär’ seit gestern eine Hex’ in sie hineingefahren. Ich sag’ Dir’s, Polzer, jedes Stückl Vieh in meinem Stall hat’s besser als ich, der Bauer. Umeinander steh’ ich wie eine Sulz, an der alles zittert, wenn einer mit dem Finger dran hinrührt. Mir schmeckt kein Bissen mehr und kein Trunk! Da schau her!“ Und der Eggebauer stieß die Faust hinter seinen ledernen Gurt. „Da schau her ... zwischen Gurt und Bauch fahrt mir schon bald ein Wagen durch! Polzer, Polzer! Es wird halt doch wahr sein ... man soll die Händ’ von allem lassen, was nicht richtig ist. Was hast davon? Nichts, nichts, nichts ... als daß Dir’s den Schlaf vertreibt und den Magen bäht!“

„Gelt? Kommst auch schon drauf?“

Und während Wolfrat lachte mit bleichen Lippen, kugelten dem Eggebauer zwei dicke Zähren über die schwammigen Backen. Der Bauer fuhr sich mit dem Aermel uber die Nase. „Was ist denn ... ist die Dirn’ schon wieder heimgekommen?“

„Ich weiß nicht.“

„Gelt ja, wenn Du was hörst, wie’s droben ausschaut, so komm’ und sag’ mir’s!“

Wolfrat nickte; dann gingen sie auseinander.

Als der Sudmann in seinem Haus die Stube betrat, sprang ihm Lippele jubelnd entgegen; der Bub’ hatte dem Vater eine große, große Neuigkeit zu melden: in der Scheune begännen zwei „wutzikleine Vogerln“ ihr Nest zu bauen.

„So, so?“ sagte Wolfrat und strich mit zitternder Hand über den Kopf seines Buben. „Nachher geh’ nur, Lippele, und schau ihnen zu und paß recht auf ... weißt, nachher kannst Dir auch einmal ein Nest bauen!“ Er schob den Knaben zur Thür hinaus.

Kaum war der Bub’ verschwunden, da richtete sich Sepha im Bette hastig auf. Alle Angst ihres Herzens zitterte in ihrer Stimme. „Polzer? Hat Dich schon einer drum angeredet?“

Er schüttelte den Kopf. „Es kann ja noch keiner drum wissen.“ Als wären ihm alle Glieder gebrochen, so schlaff ließ er sich auf den Rand des Bettes nieder. Sie faßten sich bei den Händen und sahen sich stumm in die Augen. Wolfrat ließ den Kopf auf die Brust sinken, und Sepha weinte leise vor sich hin.

Nach einer Weile fragte sie: „Wo liegt’s denn?“

„Bei der Mauer im Eck!“

Und wieder nach einer Weile: „Hast das Brettl mit heim gebracht?“

Er nickte.

„Geh’, laß mich’s doch anschauen!“

„Wozu denn? Schau, Seph’, was hast denn davon? Nur daß Dich kümmern mußt!“

„Ich möcht’s aber sehen! Mehr hab’ ich ja eh’ nimmer von ihm als wie das Brettl.“

Er ging und holte das Totenbrett. „Gelt, schön hat er’s gemacht?“

Sie wischte sich die Thränen aus den Augen, um besser sehen zu können. Schweigend hielt sie das Brettlein vor sich hin, um seinen Rand war ein Kränzlein gemalt, welches blühende Schneerosen vorstellen sollte; in der Mitte stand, blau und roth, der Name; und darunter ein schwarzes Kreuz. Mit brennenden Augen starrte Sepha die Zeichen all, die sie nicht lesen konnte, von denen sie nur wußte, was sie bedeuten sollten ... „Mariele! Mariele!“ Aufschluchzend bedeckte sie das Gesicht mit beiden Händen.

Abermals verging eine lange, stumme Weile. Dann fragte Wolfrat: „Wie nimmt’s denn der Bub’ auf? Hat er schon einmal gefragt nach ihr?“

Sie schüttelte den Kopf. „Mein Gott. ... ein Kind! Ich glaube, er spürt’s gar nicht, daß eins fehlt im Haus.“

„Könnt’ eins doch allweil ein Kind bleiben! Da ist jeder Tag wie ein ganz’ Leben; nachher schlafst und fangst wieder ein neu’s an!“ Wolfrat erhob sich und stieß die Kammerthür auf, und als er den Raum leer fand, fuhr ihm ein Fluch über die Lippen.

„Polzer, Polzer!“ stammelte Seph’. „So sei doch froh, daß die Dirn’ noch allweil nicht daheim ist. Ich mein’, das wär’ ein gutes Zeichen! Sie wird ihn lebig gefunden haben. Polzer, Polzer! Wenn das wahr sein könnt’ wenn er davonkäm’! Wär’ das ein Glück!“ Schluchzend hob sie die Hände gegen den Himmel. „O du grundgütiger Herrgott, schau, nur grad das Einzige thu’ uns ...“

„Ja, ja, nur grad das Einzige thu’ uns!“ fiel Wolfrat mit heiserem Lachen ein. „Ja, schau doch, daß er wieder aufkommt, daß er herstehen kann vor mich und den Arm ausstrecken und sagen: ‚Der da war’s! Wär’ das ein Glück! Geh’, Seph’, geh’, brauchst Dich ja nimmer sorgen, es wird schon so kommen! Die Dirn’ wird schon helfen dazu . . . und wenn sie ihn lebig gefunden hat, wird sie ihn hascheln und bappeln und wird reden für ihn und wird’s halten mit ihm gegen uns!“

„Polzer! Wie kannst denn so von Deiner Schwester reden!“

„Schwester! Schwester!“ lachte Wolfrat zornig auf. „Ich hätt’ wohl gemeint, sie wär’ angewachsen an uns. Aber Blut ist Blut! Ja, ja ... sie will halt hoch hinaus! Hat sich aber doch vergriffen! Wenn er auch, gleich ein Federl auf der Kappen tragt und ein Schießzeug führt wie ein Herrischer ... er ist halt doch nur ein Knecht!“ Wieder lachte er. „Sie soll ihn haben! Und wenn sie drinsitzt in seiner Keuschen ... nachher sag’ ich ihr’s!“

Sepha schaute ihn mit großen Augen an; sie verstand nicht, was er redete. „Was, Polzer, was willst ihr sagen?“

Er wandte sich ab und that, als hätte er ihre Frage nicht gehört.

„Polzer?“

„Laß mich in Fried’ mit der Dirn’! Sie hat mein Brot gegessen ... und schickt mir zum Vergeltsgott den Freimann über den Hals!“

„Jefus!“ schrie Sepha auf, griff mit beiden Händen zum Herzen und fiel erblassend in die Kissen zurück.

Er stürzte erschrocken zu ihr. „Seph’, um Gottswillen, was hast denn?“

„Völlig ungut ist mir ’worden!“ sagte sie mit matter Stimme und umklammerte seine Hand.

„Schau, Seph’! thu’ mir’s zulieb, nimm mir doch grad die Sorg’ um Deinetwegen von der Seel’ ... schau, der Krank in Dir wird ja ärger mit jeder Stund’ ... schau, wenn Dich überwinden könnt’st und thät’st die Schweißbluh’ nehmen.“

„Und wenn’s um mein ewiges Leben wär’, Polzer .... ich thu’s nicht! Lieber soll’s mit mir ein End’ haben mit dem nächsten Schnaufer!“

Er athmete tief und erhob sich.

„Schau nach der Zeit, Polzer,“ sagte sie, „Du mußt ins Sudhaus. Und das Brettl mußt auch noch aufstellen.“

Er nahm das Totenbrett, suchte einen Hammer hervor und wollte die Stube verlassen. Unter der Thür wandte er sich wieder, löste einen hölzernen Pflock aus der Lehmwand und zog den Lederbeutel mit der Schweißbluh’ aus der Vertiefung hervor.

„Was willst denn damit?“ fragte Sepha ängstlich.

„Wegschaffen muß ich’s! Ich kann’s doch nicht in der Mauer drin faulen lassen.“

Nun ging er. Vor der Hausthür blieb er stehen. „Miez, Miez!“ rief er. Aus der Scheune kam eine graue Katze herbeigesprungen. Ihr warf er den Inhalt des Beutels vor. „Für die Katz’! Alles für die Katz’!“

Er stand und schaute dem Thiere zu, wie es gierig über die Brocken herfiel; aber je hastiger es fraß, je besser ihm das Gericht zu munden schien, desto finsterer wurden Wolfrats Blicke, desto mehr machte ihm ein heiß aufsteigender Zorn die Adern an den Schläfen schwellen. Und als die Katze das letzte Bröslein aus dem Sande leckte, schwang Wolfrat jählings den Hammer: „Sollst du allein was haben davon?“ Er warf den Hammer ... [334] klagend machte das getroffene Thier einen verzweifelten Sprung und lag verendet auf der Erde.

Da kam Lippele um die Ecke gesprungen. Hastig griff Wolfrat zu und verbarg die tote Katze unter seiner Jacke; er hätte sie gerne wieder lebendig gemacht; das Thier war seines Buben Liebling und Spielkamerad gewesen. Mit raschen Schritten ging er dem Hag zu und trat auf die Straße. Scheu blickte er sich um und warf die Katze in den vorbeirauschenden Seebach.

Dann schlug er neben der Zaunthür das Totenbrett seines Kindes, die bemalte Seite gegen die Straße gewendet, mit dem Hammer aufrecht in die Erde.[33] Es sollte jedem vorüberwandernden Menschen sagen: „Bet’ ein Vaterunser, hier ist der Tod gewesen und hat sich wieder auf den Weg gemacht nach einem anderen Haus ... bet’, bet’, vielleicht bist Du der nächste!“

Als Wolfrat den letzten Hammerschlag gethan hatte, ging Zenza auf der Straße vorüber. Sie sah weder den Sudmann noch das Brett, mit finsteren Augen schaute sie nur immer vor sich hin auf die Erde.

„Bet’, bet’,“ sagte das Totenbrett, „vielleicht bist Du die nächste!“

Wolfrat warf den Hammer über den Hag und wollte sich auf den Weg nach dem Sudhaus machen. Die Pfannen mußten vorgeheizt werden, wenn der Sud mit dem kommenden Werktag wieder in vollem Gang sein sollte. Da gewahrte er, daß er auf der Seite, auf welcher er die erschlagene Katze getragen hatte, von der Brust bis zum Knie mit Blut betropft war. „Mensch oder Katz’ ... es bleibt halt allweil was hängen an einem!“ murmelte er und stieg zum Ufer der Albe hinunter, um sich zu reinigen. Er schöpfte ein paar Hände voll Wasser, und die Flecken waren getilgt. „Ob’s wohl für das andere auch ein Wasser giebt?“

Als er wieder hinaufstieg zur Straße, hörte er Hufschlag. Er wollte dem Zug, der sich näherte, nicht begegnen und sprang hinter ein Gebüsch. Mit lautem Geplauder zogen sie vorüber: voran Herr Heinrich von Anzing, der Propst des Klosters, und Herr Schluttemann, beide zu Pferde; hinter ihnen Frater Severin zu Fuß, mit geschürzter Kutte, den Bergstock führend; an seiner Seite Walti mit vollgepfropftem Rucksack; dann noch vier Klosterknechte mit schwer beladenen Kraxen.

„Der Haymo wird Augen machen, wann er uns kommen sieht!“ sagte Frater Severin, als er an dem Gebüsch vorüberschritt, hinter welchem Wolfrat stand. „Ich freu’ mich schon auf ihn! Weißt, Bub’, ein Gärtner hat allweil die Sonne gern’ ... sie scheint so lieb und warm in Haymos Augen!“

„Möcht’ wissen, warum er gestern gefehlt hat beim Ostertanz!“ sagte Walti. „Ich hab’ ihm eine Botschaft sagen wollen und hab’ gewartet ...“

Das Rauschen der Albe verschlang die Worte des Weiterschreitenden. Wolfrat kam hinter dem Gebüsch hervor und blickte den Verschwindenden nach.

„Jetzt hebt sich der Hammer auf über der Katz’!“ murmelte er und griff mit beiden Händen nach seinem Kopf.




13.

Herr Heinrich von Inzing fuhr zu Berge, um den falzenden Auerhahn zu jagen. Er hatte das Kleid des Priesters gegen ein ritterliches Jagdgewand vertauscht, trug um die Hüfte das Weidgehenk und die Armbrust auf dem Rücken. In gleicher Weise war Herr Schluttemann bewaffnet; aus seinen rollenden Augen aber blickte kein Schimmer froher Jägerlaune; Frau Cäcilia, die ihn nothgezwungen für eine Woche aus ihrem Zaum entlassen mußte, hatte ihm einen Abschied bereitet, der auf eine für acht Tage voll ausreichende Wirkung bemessen war.

Eine Probe dieser Wirkung bekamen an der Seelände die beiden Fischknechte zu spüren, welche mit einem weitbauchig gezimmerten Kahn auf den Propst und sein Gefolge warteten. Sie hatten nach der Meinung des Vogtes den Boden des Schiffes nicht genügend gesäubert, Und so fuhr unter Herrn Schluttemanns Schnauzbart hervor ein Donnerwetter auf sie nieder, daß sie die Köpfe duckten wie Hirschkälber, wenn ihnen der erste Schnee auf die „Luser“ fällt.

Walti und die vier Knechte wurden beordert, den Weg nach der Röth’ über die Almen zu nehmen. Frater Severin wollte sich ihnen anschließen. „Die Leut’ tragen kostbare Sachen auf dem Buckel,“ meinte er, „es muß einer dabei sein, der ein Aug’ auf sie hat!“

„Nein, Bruder, komm’ nur mit uns!“ lächelte Herr Heinrich. „Die Leute gehen zu langsam für Dich. Du mußt wacker ausschreiten, damit Du Fett verlierst, sonst fällt Dir im Garten das Bücken schwer!

Frater Severin seufzte und ergab sich in sein schweißtreibendes Schicksal. Das Boot stieß in den See, dessen schimmernden Spiegel kein Lufthauch trübte. Die Tropfen, welche von den plätschernden Rudern fielen, glitzerten in der Sonne wie Edelsteine; alle Berge waren von Duft umwoben; über die grauen, hochgethürmten Felswände und durch den immergrünen Bergwald zogen sich die schäumenden Sturzbäche hernieder gleich silbernen Adern.

„Sagt, Herr Vogt,“ und mit genießenden Augen blickte Herr Heinrich umher, „wo in der Welt steht ein Kloster, dessen Fürst sich eines Münsters rühmen kann, wie ich es besitze: die Säulen und Wände für die Ewigkeit gebaut, die Fliesen ein einziger Smaragd, und als Dach der Himmel mit Gottes leuchtendem Auge!“

Herr Schluttemann ließ ein Gebrumm vernehmen, welches seine Zustimmung kundgeben sollte. Im Hintertheil des Schiffes aber seufzte Frater Severin. „Gottes Auge hat einen heißen Blick ... ‚Gottes Güte‘ wäre kühler.“ Er tauchte die Hand in das kalte Wasser und benetzte seine Stirne.

Die Fischknechte wollten die Richtung mitten durch den See nach der Fischunkel[34] halten, von welcher aus der kürzeste Weg in die Röth^ emporführte. Herr Heinrich aber befahl ihnen: „Zur Seeklause, wir nehmen den Aufstieg von dort!“

„Reverendissime,“ wandte Herr Schluttemann ein, „das ist aber ein teuflischer Umweg!“

„Den Umweg kenn’ ich, doch ist mir der Teufel noch nie auf ihm begegnet!“ Lächelnd blickte Herr Heinrich zu Frater Severin zurück. „Wir gehen den minder steilen Weg ... Dir zu liebe. Du sollst sänftiglich vom Fleische fallen.“

Seufzend legte der Frater die Hände über sein Bäuchlein.

Knirschend fuhr das Boot in sandig verlaufendes Ufer, welches durchbrochen war vom Bett eines schäumenden Baches. Herr Heinrich, der Vogt und Frater Severin gingen ans Land, und die Fischknechte stießen den Kahn in den See zurück, um die Heimfahrt anzutreten.

„Steiget nur immer voran und wartet meiner auf der Höhe,“ sagte Herr Heinrich.

Der Vogt und Frater Severin überschritten auf schwankendem Stege den Wildbach und verschwanden auf dem jenseitigen Ufer im sanft ansteigenden Bergwald. Herr Heinrich ging den Wildbach entlang, bis er eine aus Steinen erbaute, an eine hohe Felswand angelehnte Klause erreichte. Er öffnete die Thür, aber die Klause war leer.

„Dietwald!“ rief er mit lauter Stimme; doch niemand zeigte sich. „Sollte er hinausgefahren sein zum Fischfang?“ Doch nein, der Einbaum lag ja an das Ufer gezogen. Herr Heinrich folgte einem schmalen Fußpfad. Immer dichter trat die ragende Felswand an den Wildbach heran, von der anderen Seite näherte sich der Bergwald, so daß eine enge Schlucht gebildet wurde, auf deren Grund die schäumenden Wasser in tief zerrissenem Bett mit ohrbetäubendem Lärm hinwegrauschten über mächtige Steinklötze und zerschmetterte Baumstämme. Wo die Schlucht ein Ende nahm, stürzte der Bach aus schwindelnder Höhe hernieder in ein von siedendem Schaum erfülltes Becken, welches der in die Luft zersprühende Wasserstaub, von einem verlorenen Sonnenstrahl durchleuchtet, mit buntfarbigem Schimmer überwob. Neben dem Wasserfall zeigte sich an der Felswand der Eingang einer Höhle, vor welcher ein hohes steinernes Kreuz errichtet war, schon grau verwittert und halb überzogen von gelblichem Moos.

Dem Kreuz zu Füßen, auf einem Felsblock, saß Pater Desertus, der Fischmeister des Klosters. Er hielt den einen Arm auf das Knie gestützt und das Haupt auf die Hand geneigt; mit der anderen Hand nahm er von dem dürren Astwerk, das der Wildbach an das Ufer geschwemmt hatte, immer wieder einen Zweig und warf ihn zurück in das wirbelnde Wasser; mit starren Augen, verloren in Gedanken, schaute er zu, wie der Strudel den Zweig verschlang, wie ihn die Wellen mit sich [335] fortrissen. Dann nickte er finster vor sich hin ... und warf einen anderen Zweig.

Er hörte vor dem Rauschen des Wassers die nahenden Schritte nicht und blickte betroffen auf, als er eine Hand auf seiner Schulter fühlte. „Herr Heinrich!“ Grüßend neigte er das Haupt und erhob sich.

„Was treibst Du hier?“ fragte lächelnd der Propst.

„Das Spiel meiner Tage.“

Herr Heinrich betrachtete den Pater mit ernsten Augen und schüttelte den Kopf. Dann sagte er: „Komm, laß uns zur Klause gehen, hier hört man ja kaum den Klang des eigenen Wortes.“ Er wanderte den Pfad zurück und Pater Desertus folgte. Vor der Klause ließen sie sich auf die Steinbank nieder. Warm schien die Sonne über ihnen; das gemilderte Rauschen des Wildbachs tönte wie Musik, draußen lag der glatte See, wie grüne Seide schimmernd, und über die steilen Wände, die ihn umzogen, hoben der Watzmann und die sieben Watzmannkinder ihre weißen Zinken in das reine Blau des Himmels.

„Ein schönes Plätzchen!“ sagte Herr Heinrich. „Hier bist Du wohl gerne?“

„Ja, denn ich lebe und störe doch die Freude keines anderen Menschen. Aber sagt, was führt Euch zu mir?“

„Muß ich nicht zu Dir kommen, da Du mich zu meiden scheinst?“

„Ich thu’ es um Euretwillen. Mein Blick verjagt das Lächeln und Ihr lächelt gerne.“

„Ja, Dietwald, seit ich erkennen lernte, daß Weinen zwecklos ist. Doch lassen wir das. Ich bringe Dir einen Gruß!“

Langsam hob Pater Desertus das Haupt. „So lebt noch ein Meusch, der Ursache hätte, meiner zu denken?“

„Der Kaiser!“

Ueber das bleiche Antlitz des Paters flog eine heiße Röthe, und es zuckte durch seine Glieder, als stünde ein Roß vor ihm, das es zu besteigen gälte, als hinge ein Schwert in der Luft, das er fassen müßte. Doch rasch ging diese Regung vorüber; er legte die Hand auf das Kreuz an seiner Brust und sagte mit versinkender Stimme: „Ich danke für den Gruß ... grüßet Herrn Ludwig wieder!“

„Er hat mir einen Brief geschrieben, ach, von Sorgen schwer! Der Papst setzt ihm bitter zu und schürt ihm Zwietracht an allen Ecken und Enden. Hätt’ unser Herr Kriegsmannen so viel wie Sorgen, er hätt’ ein Heer, wie es kein Kaiser noch gesammelt! Und sieh, Dietwald, in allen Sorgen denkt er Dein und läßt Dich grüßen und fragt nach Deinem Wohlergehen und hofft, daß Dein Kummer sich gemildert hätte. Er hat Dir den Tag von Ampfing nicht vergessen! Du hast ihm sein Reich erfechten helfen!“

„Und habe um jenes Tages willen mein eigen Reich verloren!“ brach es in wildem Schmerze von des Paters Lippen. „All meiner Güter bestes! Allen Werth und alle Sonne meines jungen Lebens, all mein Glück, all meine Seligkeit!“

„Dietwald!“ mahnte Herr Heinrich mit ernstem Worte, „darf ein Priester so sprechen?“

Pater Desertus hörte nicht; es loderte aus ihm hervor wie entfesseltes Feuer.

„Ach, wie war ich so stolz an jenem Tag, als ich vor Ludwig stand, ein Sieger unter Siegern, mit stumpfgeschlagenem Schwert, der Glanz meiner Rüstung erloschen im Blut der Feinde! Wie ein Falk flog meine Seele, und mein Herz wie eine sehnende Taube nach ihrem Nest ... heimwärts, heimwärts! Neun Tage noch hält mich die Pflicht, und jetzt ... jetzt geht es nach Hause, wie im Sturm, Tag und Nacht im Sattel. Das Roß bricht unter mir ... schon im Sturze greif’ ich nach einem anderen! Heim, heim, zu Weib und Kind! So hell und freudig hat mein Schlachtruf nie geklungen wie dieser Jubelschrei meines Herzens. Bei grauendem Morgen erreich’ ich den Bannwald meiner Burg. Jeder Baum, der an mir vorüberfliegt, ist mir ein Weiser zu meinem Glück! Nun ist ja Friede, nun darf ich ruhen ... ich sehe schon die heimliche Stube mit dem sonnigen Erker, ich sehe mich sitzen, mir zur Seite mein junges, holdseliges Weib, das von dunklem Gelock umfluthete Köpfchen an meine Schulter lehnend, zu mir aufblickend mit leuchtenden Augen ... und hier, auf meinem Knie, da schaukelt mein Knabe, macht große Augen und lauscht, denn ich erzähle vom Kaiser, von Fehde und Sieg ... und in der Wiege schlummert mein süßes Mägdlein und träumt in sein werdendes Leben hinein wie eine Knospe in den sonnigen Tag! Heim, heim, heim! Dort ist schon die Höhe im Wald, von der ich den Giebel meiner Burg erblicken muß. Jetzt hab’ ich sie erreicht ... ich spähe, spähe und spähe ... und sehe nichts! Hat sich mein Haus verrückt? Hat sich der Wald verwachsen? Ein zitterndes Ahnen befällt mich, ich peitsche mein Roß, ich reite, reite, reite ... dort ist der Saum des Waldes ... jetzt hab’ ich ihn! Ich hebe mich auf im Sattel ... mein Blick fliegt über das Thal ... und ich sehe ... sehe ...“

Schaudernd schlug er die Hände vor das Antlitz, und seine Stimme erlosch in dumpfem Stöhnen.

„Dietwald!“ mahnte Herr Heinrich tiefbewegt, „kannst Du Deinem Herzen nicht gebieten, so gebiete Deiner Zunge. Sie soll nicht nennen, was hinter Dir liegt, seit Du den Scheitel beugtest, um Gottes Knecht zu werden.“

Pater Desertus hörte nicht. Er ließ die Arme sinken und starrte mit brennenden Augen ins Leere. Und dann, als stünde geisterhaft ein Bild vor ihm, deutete er vor sich hin. „Das? Das ist mein Glück? Ein Haufen Trümmer, glühende Steine und rauchendes Gebälk? Das war mein Haus? Ja, ja ... es steht das Thor noch mit dem Wappen darüber: der weiße Islandfalk im blauen Feld! Und das? Sind das die Tauben, die im Thurm genistet? Tauben, die wie Raben krächzen, wie hungernde Geier schreien? Sie wittern das Futter schon ... wie die Aepfel um den Baum, so liegen die Leichen ... der dort mit dem grauen Kopf und der gespaltenen Stirn, das ist Reinold, mein Pförtner! Er hat immer gern geschlafen! So wach’ doch auf, Alter! Rede doch! Wo ist mein Weib, wo sind meine Kinder? Soll ich Dir eine Handvoll Asche zeigen? Sieh doch her! Ist das mein süßes Weib? Oder das? Und hier, der verkohlte Knochen? Das ist wohl mein schöner Knabe? Oder gar Dein Hund? Und dort, sieh’ nur, im Schutt, dort glimmt es noch! Das ist die Wiege? Ja?“

„Dietwald! Erwache!“ rief Herr Heinrich und rüttelte ihn am Arm.

Er schaute auf mit verlorenem Blick. „Erwache! ... das war das erste Wort, das ich hörte! ... Einen Tag, eine Nacht und noch einen Tag ... wie ein Bergmann nach Gold, so wühlte ich nach verkohlten Gebeinen ... und schrie nur immer: wer hat mir das gethan? Ich hatte doch keinen Nachbar, der mir grollte, ich hatte keinen Feind! In meinem Jammer wußt’ ich keinen Weg ... die Augen blind vom Weinen, bin ich gegangen und gegangen ... und an der Pforte des Klosters fiel ich nieder. Sie trugen mich in eine Zelle und riefen: ‚Erwache! Erwache!‘ Und ich blieb ... und ließ geschehen, was geschah!“

„Mit Schmerzen, Dietwald, hab’ ich es lang’ erkennen müssen: es war für Dich der rechte Weg nicht! Hättest Du doch Trost gesucht in Kampf und That, auf dem Schlachtfeld ... nicht in der Zelle!“

„Ich hoffte, ihn zu finden! Durch Tage und Nächte, Wochen und Jahre lag ich in brünstigem Gebet und schrie zu Gott aus tiefster Seele: laß mich vergessen! ... Ich schlug mit der Geißel meinen Rücken blutig, um durch die Schmerzen meines Leibes die Qual des Herzeus zu betäuben – – es half nicht, half nicht! Ich konnte nicht vergessen, konnte nicht hoffen! Wenn ich kämpfte um das Heil meiner Seele, so träumte ich den Kuß meines Weibes ... wenn ich den Himmel suchte, fand ich ihn in meiner Kinder Augen, die mir entgegenblickten aus der Luft meiner Zelle, aus jedem Blatt des heiligen Buches, aus jedem Bildwerk in der Kirche, aus jedem Abbild des Erlösers!“

„Und fandest Du nicht Trost bei Deinen Brüdern von denen mancher eine Welt von Schmerzen überwand, da er sich Gott ergab?“

„Meine Brüder? Sagt Ihr das im Ernste, Herr Heinrich? Ich meine doch, Ihr kennet Eure Chorherren!“

„Verdamme die Schwachen nicht! Kleine Seelen haben kleine Wünsche. Sieh diesen Berg an – es treibt das edle Wild nach seiner Höhe – die zufriedenen Hasen nisten hier unten im niederen Gebüsch. Und sie beide sind doch Geschöpfe aus eines Schöpfers Hand!“

„Meine Brüder? Hätt’ ich unter ihnen nur einen gefunden, der gewesen wäre, wie Ihr seid! Meine Brüder! Sie freuten sich der Wälder und Felder, die ich dem Kloster brachte ... und hatten für mich nur Worte: Gott hat es gegeben, Gott hat es genommen! Gott! Gott! Gott!“

[336] „Wie sprichst Du dieses Wort! Dietwald!“ Und Herr Heinrich erhob sich. „Du glaubst nicht an Gott – ein Priester!“

Mit tiefernsten Augen schaute Pater Desertus zu ihm auf. „Ich glaube an Gott! Wer hätte diesen Stein zu meinen Füßen erschaffen ... wenn er nicht? Wer hätte diese ewigen Felsen erbaut und über schwindelnd tiefe Gründe diesen schönen See ergossen ... wenn er nicht? Wer die Luft bevölkert, das Wasser und den Wald ... wenn er nicht? Wer hätte diesem Baum die nährende Wurzel gegeben, die treibende Kraft des Markes und den Wohlverstand, mit dem er seine Zweige nach der Sonne breitet ... wenn er nicht? Aus wessen Hand wohl wäre der Liebreiz geflossen, der mein Weib umschimmerte ... die süße Unschuld in den Augen meiner Kinder ... wenn nicht aus seiner Hand? Wer hätte mich selbst erschaffen und mein Herz erfüllt mit jauchzender Freude und seligem Glück ... wenn er es nicht gethan? Doch wer vernichtete mein Glück? Wer riß mir die Freude aus dem Herzen und füllte meine Brust mit Qual und Pein? Wer ließ mein Weib verbrennen und meiner Kinder holdes Leben erlöschen in Gluth und Rauch? Wer schickt den Blitzstrahl über diesen Baum, wer in sein Mark die Fäulniß? Wer schlägt mit Schmerzen und Tod alles, was athmet in Wasser, Luft und Wald? Wer stürzt die Felsen vernichtend über Thal und Hütten, und wer empört den See, daß er die Ufer überschäumt und alles ringsumher verwüstet, was doch nur Werk ist aus Gottes eigener Hand? Wer? Wer? Wer? ... Und warum?“

In Herrn Heinrichs Augen leuchtete ein herzlicher Blick. „Wer thäte das alles ... wenn er nicht? Aber ... warum? Ja, mein Sohn, da bin ich überfragt!“ Lächelnd legte er die Hand auf des Paters Schulter. „Sieh, Dietwald ... ich könnte sagen: was Uebles kommt, ist eine Strafe oder eine Prüfung. Aber das sag’ ich nicht ... zu Dir nicht! Gott prüft nicht ... er weiß doch, wie schwach die Menschen sind! Und wer wie Gott so groß ist in der Liebe, ist im Zorne nicht so klein – so kleinlich, wie Du bist mit Deinem thörichten Warum! Ja, ja, Dietwald!“ Er setzte sich an des Paters Seite und faßte seine Hand. „Du Kind von zweiundvierzig Jahren! Im Schmerze kannst Du fragen: warum?“

„Herr Heinrich!“ stammelte Pater Desertus.

„Hast Du aber auch gefragt in der Freude, im Glück? Gelt, da hast Du genommen und genossen! Da war Dir um den Grund nicht bange, warum Dir gegeben wurde. Das Gute leuchtet Dir ein, da glaubst Du an Gott ... nur im Schmerze willst Du nicht fassen und begreifen und Gott nicht finden. Das ist nun freilich schwer, und noch keiner, der lebte, hat es ganz zuwege gebracht. Sogar Christus der Herr hat am Kreuze gefragt: ‚Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?‘ Das sprach der Mensch in ihm! Sag’ mir, Dietwald wäre er denn Gott, wenn wir Menschen ihn so leicht verstünden? Und wenn Du fragst. warum? ... weißt Du denn auch, ob er nicht Antwort giebt? Er spricht vielleicht zu Dir im Wehen dieser Frühlingsluft, im Rauschen dieser Wellen. Nur ist Dein Ohr zu klein für alle Größe seiner Stimme!“

„Nein, nein, ich hör’ ihn!“ flüsterte Pater Desertus.

„Nicht wahr, Du hörst den Donner der Lawine, wenn Du über die Berge steigst im Frühling, Du weißt, weshalb sie fallen muß, und stumm bewundernd stehst Du vor dem herrlichen Schauspiel der Gottnatur, erhoben in Deinem Herzen. Hört ihren Donner aber auch die Fliege, die in einer Ritze der Felswand klebt? Nein, ihre Sinne sind zu kurz ... sie klebt ... und wird verschüttet und erstickt. Soll sie auch fragen. warum? Soll der Lauf der Zeiten slch Halt gebieten, soll ewiger Schnee die Halden drücken und keine Blume keimen lassen, nur damit die Fliege nicht gekränkt wird? Nicht wahr, das geht nicht an ... Du liebst ja die Blumen, Du sagst mit Deinem Verstande: der Schnee muß fallen. Die Fliege aber will es nicht begreifen! Von der Fliege zu Dir ist ein weiter, weiter Weg, doch nimm ihn millionenfach, und Du füllst die Strecke nicht aus von Dir zu ihm! In schwindelnder Höhe geht er seinen Weg, ein Schritt, und er ist über alle Berge, ein Schritt, und Meere liegen hinter ihm ... und jeder Schritt bringt Werden und Vergehen. Er kennt den Urgrund aller Dinge, er sieht das Ziel vor Augen, er denkt der Blumen seiner Ewigkeit ... doch wir, tief unter ihm, wir, Dietwald, sind die Fliegen unter der Lawine.“

Pater Desertus schlang die Arme um Herrn Heinrichs Hals und drückte das Gesicht an seine Brust.

„Ja, ruh’ Dich aus ... Du bist müde vom Leben. Und wenn Dir die Kräfte wieder kommen, dann beginne neu den Weg und blicke auf zu ihm! Du siehst ja von seinem Antlitz einen Zug auf jeden Fels geschrieben, ein Abglanz seiner Augen leuchtet Dich an aus jeder schimmernden Welle im See, und einen Hauch seines Athems hörst Du im Rauschen des Waldes. Und da Du, ein Mensch, ihn nun einmal nicht fassen kannst in seiner Größe, so halt’ ihn fest in seiner Liebe. Ich meine doch, Du hättest sie empfunden. Und was Du besessen ... hast Du es denn wirklich verloren? Nur weil Du es nimmer halten kannst mit Händen? Blicke doch in die Tiefe Deines Herzens! Liegt dort nicht alles, was an Glück und Wonne Dein eigen war, rein und heilig behütet, ein köstlicher Reichthum an dauerndem Erinnern! Dietwald! Dietwald! Du willst klagen? Weißt Du denn auch, um wieviel reicher Du bist als ich?“

Pater Desertus hob mit fragendem Blick die Augen.

„Alle holde Freude des Lebens hast Du genossen, bis Dein Glück sich wandelte in einen Schmerz wie ein schöner Frühlingstag in eine Nacht mit kaltem Reif. Mein Leben aber war ein Leidensgang von Schritt zu Schritt, eine reine Freude hat mir nie geblüht, und jede Frucht, nach der ich griff, trug den Wurm oder die Fäulniß in ihrem Kerne. Ich habe mehr gelitten als Du, da ich nur Schmerzen gewann, ohne Freuden zu verlieren. Ich hatte einen Bruder, der mich haßte, weil ich der Aeltere war; hatte eine Mutter, die nur ihren Tand und ihre Falken liebte; hatte einen Vater, der mich verstieß, weil ich nicht schmeicheln konnte; das Weib, das mich ohne Liebe nahm, brach mir die Treue; mein Freund, der einzige, an den ich glaubte, war ihr Verführer; ich diente redlich meinem Fürsten, wurde des Verraths beschuldigt und in Ketten geworfen. Aus dem Kerker floh ich ins Kloster. Ich haßte die Menschen ... und konnte Gott nur fürchten. Nicht mit Inbrunst ... in Zittern hab’ ich gebetet unb den Grimm meines Herzens zu ertöten gesucht in schwerer Büßung. Doch Haß und Furcht hingen fest an mir! Wenn ich aus dem Kloster niederstieg ins Thal, sah ich die Noth nur und der Menschen Pein; wenn ich emporstieg auf die Berge, sah ich nur die Schrecken der Natur, Verwüstung und Zerstorung – den Gott in seinem Grimme! Mit schaudernder Seele floh ich wieder heim in meine Zelle, sang und betete und schwang die Geißel.“

„Und wie kam Euch die Erlosung?“

„Es war an einem Tage spät im Herbst. Ich lag auf meinem Bett, entkräftet, blutend aus den Wunden, welche die Geißel gerissen, die brennenden Augen auf die kahle Wand geheftet. Die häßlichen Bilder meines kalten, nutzlosen Lebens zogen vor meinem taumelnden Geist vorüber, und jeder Gedanke war ein Schrei zu Gott: töte mich, töte mich, weshalb noch soll ich leben! Da sah ich an der Mauer einen Falter hängen; er hielt die Flügel geschlossen und rührte sich nicht. Ich griff nach ihm, und er ließ sich fassen. Seine Füße waren starr, die Schwingen gelähmt ... er war erfroren in meiner kalten Zelle. ‚Dein Schicksal ist das meine!‘ sagte ich und ließ ihn zu Boden fallen. Da stieg die Sonne über die Berge, und durch das offene Fenster meiner Zelle fiel ein warmer goldiger Strahl gerade auf die Stelle hin, auf welcher der Falter lag. Es währte nicht lange, da begann er, auf der Seite liegend, die Füßchen zu rühren. So zappelte er ein Weilchen, aber es gelang ihm nicht, sich aufzurichten. Ich hielt ihm den Griff meiner Geißel hill, er klammerte sich an das Holz und stellte die Schwingen auf; lange saß er ruhig, dann plötzlich legte er die Flügel auseinander, schloß sie wieder, kroch vom Holz der Geißel auf die Erde, und weiter und weiter, immer der Sonne nach, und an der Mauer empor auf das Gesims des Fensters. Hier saß er noch ein Weilchen, als müßte er rasten ... und immer spielte er mit den Schwingen ... und dann mit einmal begann er zu flattern, erst schwer und mühsam – doch immer leichter wurde sein Flug, und so schwebte er hinaus zum Fenster und gaukelte in den blauen Himmel.“

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 12, S. 357–364

[357] Herr Heinrich schaute lächelnd empor in das endlose Blau, dann fuhr er mit einem ernsten Blick auf Pater Desertus fort:

„Als der Falter meinen Augen entschwunden war in der goldigen Luft, da kam es über mich … ich wußte nicht wie. Mir war, wie wenn Gottes Stimme mir geboten hätte: Steh’ auf und lebe! Ich erhob mich, wusch meine Wunden und kühlte sie mit Balsam. Wie ein Träumender trat ich aus dem Kloster und wanderte hinaus in das herrliche Thal. Die Sonne spann in den Lüften, silberne Fäden flogen und der Laubwald leuchtete in den bunten Farben des Herbstes. Die Kinder liefen auf mich zu und küßten meine Hände – ach, wie traulich blickten ihre lieben Augen zu mir auf! Alle Felder waren belebt, überall hörte ich Lachen und Gesang. Und als ich heimkehrte in das Kloster, trat ich vor Herrn Conrad von Altentann, meinen Propst, und sagte. ‚Gebt mir Arbeit!‘ Ach, die Tage, die nun kamen! Ich zog wie ein Roß, das des langen Stehens im Stalle müd’ geworden ist. Ueberall griff ich zu. Ich ordnete und mehrte das Gut meines Klosters, hob den Salzbau, war Fischmeister, Kellermeister, Wildmeister, alles in einem – wo immer nur ein anderer müde wurde, trat ich an seine Stelle; und alles wandelte sich mir zur Freude! Ich milderte die Strenge meines Oberen, versöhnte die grollenden Landsassen, half, wo zu helfen war … und je mehr ich den Menschen helfen durfte, desto mehr begann ich, sie zu lieben. Ihr Dank, Dietwald, hat mich das Lächeln gelehrt! Und keinen schloß ich aus … meinen Bruder stützte ich in schwerer Noth, die Kinder jenes Weibes hob [358] ich aus Elend empor zu freundlichem Leben und meinem Fürsten, welcher Kaiser geworden ist, diene ich mit der ganzen Treue meines Herzens. Sage, Dietwald ... war es nicht eine Gotteslehre, die mir der Falter gab, da er emporflog in das Blau: ‚Willst Du den Himmel finden, dann geh’ in die Sonne!‘ Das thu’ ich, Dietwald ... ich suche am Leben die Sonne, und in den unvermeidlichen Schatten trag’ ich die Helle, so gut ich es vermag. Da fließt mir nun jeder Tag wie eine schöne Gabe Gottes. Ich freue mich jeder Blume, die auf meinem endenden Wege blüht ... wenn auch ein attderer sie pflücken mag! Und schickt mir Gott mit aller Freude zuweilen auch einen Schmerz, dann trag’ ich ihn und such’ ihn zu verwinden. Aber ich frage nicht, warum ich leide.“ Er legte die Hand auf des Paters Schulter und fügte lächelnd bei: „Daß ich leide, das genügt mir! Homo sum, Dietwald – ich bin ein Mensch!“

Pater Desertus hatte das Haupt an die Mauer seiner Klause gelehnt, hielt die Hände im Schoße gefaltet, und während er durch die leise schwankenden Zweige der Buchen, an denen die Blättchen schüchtern sproßten, emporblickte zum blauen Himmel, perlten die Thränen über seine bleichen Wangen – die ersten Thränen nach langen Jahren.

Herr Heinrich schwieg eine Weile. Dann sagte er: „Verzage nicht, Dietwald ... auch Dein Falter wird noch fliegen! Flog er in fünfzehn Jahren nicht, gieb acht, er fliegt im nächsten!“

„Fünfzehn Jahre!“ glitt es leise von des Paters Lippen. „Und mir ist, als war’ es gestern gewesen, als läge dazwischen nur eine einzige Nacht, eine lange, bange, grauenvolle Nacht, nach welcher kein Tag mehr kommen will!“ Und jählings die Hände des Propstes fassend, rief er in heißem Flehen. „Ach, Herr Heinrich, lasset mir Eure Hände, hebet mich empor zu Euch ... dorthin, wo Sonne ist! Seht mich an ... ich habe doch gekämpft und gerungen, bis alle Kräfte mir versiegten ... und ich fand ja auch Stunden ruhiger Ergebung. Und als Ihr erkanntet, daß die Enge der Zelle mich erdrückte, und als Ihr mich hierhergesandt in diese herrlichste Kirche Gottes, da ward es still in mir, während der Föhn mich umrauschte und draußen im See mein Einbaum gegen die Wellen kämpfte. Und nun alles wieder verloren!“ Seine Augen glühten und seine Stimme verlor sich in dumpfem Murmeln. „Verloren – seit vier Tagen! Und Pein ist, was ich fühle, Sehnsucht, was ich denke, Verlangen, was ich sinne! Ein Gespenst ist mir erschienen ...“

Herr Heinrich erschrak. „Dietwald!“

„Ein Gespenst, wie aus der Asche gestiegen ... und dennoch Fleisch und Blut, mit meines Weibes Haar, mit meines Weibes Augen, mit dem holden Kindermund, der mir gelächelt in Liebe ...“

„Dietwald!“ Herr Heinrich sprang auf und rüttelte den Arm des Paters. „Deine Sinne taumeln und Dein Geist ist krank. Was Dir das Herz erfüllt, tritt in die Lüfte. So fing es bei vielen an ... Einer wurde heilig und hundert wurden Sünder, eidvergessene Schelme! Greife nach einem Halt oder Du bist verloren! Ich muß Dir Arbeit geben. Die Angel zu ködern für Hecht und Ferch, das taugt Dir nicht!“

„Herr!“ stammelte Pater Desertus. „Ich soll fort von hier?“

„Höre mich an! Kaiser Ludwig will mit dem Papst verhandeln. Es zwingt ihn die Noth. Und er will einen Priester senden, doch einen, der ein deutsches, ritterliches Herz unter seiner Kutte trägt. Er fragte mich um Rath ... ich hatte an Dich gedacht. Nun will ich, daß Du gehst! Und ich hoffe, daß ich mich in Dir nicht täuschte!“ Herrn Heinrichs Worte klangen, als schlüge Stahl auf Stein.

Ueber das Antlitz des Paters rann eine dunkle Röthe; er richtete sich stolz empor. „Wann soll ich reisen, Herr?“

„Du wirst es erfahren! Und in andere Luft sollst Du mir noch heute – in kühlende Gletscherluft! Begleite mich! Was stehst Du noch? Rasch, Dietwald, rasch! Schürz’ Deine Kutte, nimm das Griesbeil und den Basthut!“

Pater Desertus trat in die Klause.

Herr Heinrich blickte ihm nach mit sorgenvollen Augen. „Gespenster sieht er? Warte nur, wir wollen sie jagen!“

Zur Bergfahrt gerüstet, kehrte Pater Desertus zurück.

Als sie den Wildbach entlang gingen, kamen sie zu einer Stelle, an welcher sich über moosigem Grunde eine Bucht mit spiegelndem Wasser gebildet hatte.

„Herr Heinrich!“ sagte Pater Desertus und deutete in das Wasser.

„Was soll ich sehen?“

„Diese beiden ... der eine trägt das Kleid der Kirche, der andere das Lederwams, die Armbrust und das Weidgehenk. Welcher von den beiden ist der Priester?“

Herr Heinrich lächelte. „Ich sehe nur zwei Menschenköpfe ... der eine grau, der andere noch schwarz!“

Und dem Pater voran überschritt er sicheren Ganges den schwankenden Steg.




14.

Bei Einbruch der Dämmerung erreichten die Bergfahrer das Steinthal in der Röth’. Sie hatten im Almenwald die Bärenfährte auf dem Steig gefunden und dieselbe, obwohl sie auf dem aaberen Waldgrund nur mühsam zu erkennen war, über eine Stunde weit verfolgt – Pater Desertus allen anderen voran. Ein übles Los hatte Frater Severin dabei gezogen: er fand den Muth nicht, allein auf dem Steig zu warten, bis die anderen zurückkämen; und so trollte er seufzend und keuchend hinten nach, über Felsblöcke und Wurzelknorren, über Steinlöcher und Windbrüche.

Die Richtung der Fährte versprach Herrn Heinrich keine Jagd; der Bär hatte sich thalwärts gegen den See gewendet.

Als der Propst, Herr Schluttemann und Pater Desertus den Steig wieder erreichten, mußten sie geraume Weile auf Frater Severin warten. Als er endlich kam, fand Herr Heinrich in des Fraters Aussehen alle Ursache, um zu sagen: „Bruder, ich schätze Dich schon um fünf Pfund leichter. Gelt, das ist gesünder, als im Kellerstüblein hocken und die neuen Fässer kosten!“

„Wenn Ihr es sagt, muß es wohl wahr sein!“ klagte Frater Severin und suchte an dem Kuttenärmel ein noch trockenes Flecklein für seine Stirne. Im Weiterschreiten sandte er einen jammervollen Blick zum Himmel und seufzte: „Das Kellerstüblein!“ Wie war es dort so schon, so kühl! Und durch die offene Thüre sah man den schier endlosen Keller mit den vom Zwielicht umwobenen Fässern, welche in Reih’ und Glied lagen, eine stattliche Armee von Sorgenbrechern. Besaß doch das Stift Berchtesgaden in der Umgebung von Krems und Klosterneuburg zahlreiche Weingüter: im Tailland, auf der Frechau, zu Oberndorf, Eisenthür, Armstorf, Wank, Sattelsteig, Mörtal, Rechberg und Stein! Frater Severin war in keiner Litanei so sattelfest wie in der Kunde dieser seinem Ohr so lieblich klingenden Namen. „Rechberg und Stein!“ Das Beste hob er sich immer für zuletzt auf; und der Klaug dieser beiden Worte stimmte ihn so träumerisch, daß er, des Weges nimmer achtend, über ein Felsloch stolperte und seine Nase nur noch mit knapper Noth vor einem unsanften Kuß der Mutter Erde bewahrte. Wie eine Erlösung aus dem Fegefeuer begrüßte er bei Einbruch der Dämmerung den Anblick der beiden Jagdhäuser.

Da hielt Herr Heinrich, der berggewohnten Ganges den anderen voranschritt, plötzlich an. „Mir ist, als hätt’ ich einen Ruf gehört!“

Sie blieben alle stehen und lauschten. Deutlich tönte es von der Höhe des Steinthales hernieder, von dort her, wo die Hütten standen, mit langgezogenem, angstvollem Ruf. „Hoidoooh!“

„Eine Mädchenstimme!“ sagte Pater Desertus. „Und sie klingt wie der Schrei eines verzweifelnden Herzens!“

„Dort oben ist jemand in Noth! Lasset uns rascher ausschreiten! Vorwärts! Vorwärts!“ befahl Herr Heinrich.

Als sie eine gute Strecke weiter emporgekommen waren, klang abermals der Ruf: „Hoidoooh! Hoidoooh!“ Trotz der Dämmerung nahm Herr Heinrich mit seinem scharfen Auge auf vorspringendem Fels unfern der Jagdhütte das rufende Mädchen wahr. Er höhlte die Hände um den Mund und gab den Ruf zurück.

Das Mädchen mußte ihn vernommen haben, denn sie hörten einen schluchzenden Schrei, wie in Freude und doch in Jammer, und dann, vom Winde herabgetragen, die gellenden Worte: „Leut’, Leut’! Um Gotteswillen ... da her, da her! Hoidoooh!“

„Diese Stimme!“ murmelte Pater Desertus. „Ich habe sie schon gehört!“ Und den anderen voran eilte er, so rasch es der steile Weg gestattete, durch die Senkung des Thals empor.

Herr Heinrich hielt sich nahe hinter ihm, Herr Schluttemann blieb keuchend zurück, Frater Severin rang athemlos die Hände und fiel auf einen Steinblock nieder.

Als Pater Desertus den Fuß der letzten Höhe erreichte, kam Gittli mit jammernden Worten ihm entgegengestürzt.

„Sie ist es!“ stammelte er und drückte, den Schritt verhaltend, die zitternde Hand auf seine Brust.

Nun stand sie vor ihm; wirr hingen ihr die Haare um das bleiche, von verzweiflungsvoller Angst verstörte Gesichtchen. Sie wollte sprechen, da erkannte sie ihn und erschrak. Sie machte eine Bewegung, als hätte sie fliehen mögen, aber die Sorge um jenen [359] Anderen bannte in ihr die Furcht vor diesem Einen. Schluchzend fiel sie vor ihm nieder und schrie: „Helfet ihm! Helfet ihm!“

Er hob sie auf. „Wem soll ich helfen? Rede, Mädchen, rede doch!“

Da klang Herrn Heinrichs Stimme: „Was ist geschehen?“

Gittli entwand sich den Händen des Paters, eilte dem Propst entgegen, umklammerte seine Hand, und während sie ihn schon mit sich fortzog, der Jagdhütte zu, schluchzte sie: „Ach, guter, lieber Herr, schauet, ich bitt’ Euch, helfet ihm, helfet ihm, er muß versterben!“

„Wer, Mädchen, wer!“

„Der Haymo, der Haymo!“

„Mein Jäger! Was ist mit ihm? Ist er gestürzt?“

„Nein, nein, viel ärger noch! Es hat ihn ...“ Ihre Stimme erlosch – sie durfte ja nicht reden, sie hatte geschworen! „Ich weiß nicht, weiß nicht ...“ schrie sie auf, „ich hab’ ihn gefunden ... und hab’ ihn heimgebracht ... gestern ... und er hat so gut geschlafen die ganze Nacht, und heut’ in der Früh’, da hat er noch gern genommen, was ich ihm gekocht hab’ ... zu Mittag aber, da hat er angefangen, hat schiech geredet, hat um sich geschlagen, und allweil hat er aufspringen und fort wollen ... ach, ich hab’ gebittet und gebettelt, daß er s[till?] halten soll und den Arm nicht rühren ... und schauet, mit zwei Händ’ hab’ ich ihn heben und zwingen müssen ... und nachher auf einmal ist er weggefallen, daß ich schon gemeint hab’, er verlischt wie ein Lichtl ... und so liegt er noch allweil ... und einmal war ich bei ihm und das andermal wieder bin ich hinausgelaufen und hab geschrien und geschrien, weil ich gemeint hab’, es müßt’ und müßt’ einer kommen! Ach, was hab’ ich ausgestanden!“

Sie hatten die Hütte erreicht; Gittli eilte voran, Herr Heinrich und Pater Desertus folgten. Auf dem Herde brannte ein flackerndes Feuer.

„Schauet doch her,“ weinte Gittli, „da liegt er und thut kein Rührerl nimmer!“

Herr Heinrich trat an das Lager. „Licht, Dietwald, Licht!“ Pater Desertus riß ein zur Hälfte brennendes Scheit aus dem Feuer und hob es über das Heubett. Während Herr Heinrich sich über den Kranken beugte und ihn zu untersuchen begann, zog sich Gittli scheu in einen Winkel zurück, dort stand sie mit angstvoll blickenden Augen, die zitternden Hände an den Lippen.

„Was ist das? Ein Wundverband?“ Herr Heinrich richtete sich auf. „Hast Du ihn angelegt?“

„Ja, Herr ... er hat doch geblutet!“

Jetzt stolperte Herr Schluttemann keuchend über die Schwelle. „Was giebt’s? Alle Wetter! Was giebt’s? Was giebt’s?“

„Seht nach, Herr Vogt, ob unsere Leute noch nicht kommen,“ sagte Herr Heinrich. „Ich brauche das Kästlein mit Verband und Balsam.“

„Was fehlt dem Bursch?“

„Das werdet Ihr erfahren, wenn ich selbst es weiß. Geht!“

Herr Schluttemann machte ein schiefes Gesicht und verschwand. Herr Heinrich beugte sich wieder über Haymo. „Er schläft,“ sagte er nach einer Weile zu Pater Desertus, „sein Herzschlag ist matt, aber ruhig, sein Athem gleichmäßig. Er mag einen schweren Anfall von Wundfieber überstanden haben und liegt nun in der Betäubung der Schwäche. Ich sehe keine Gefahr.“

Gittli faltete die Hände und rührte stumm die Lippen.

„Du dort, komm’ her!“ rief Herr Heinrich ihr zu. „Wie heißt Du?“

„Gittli!“

„Komm’ her, Gittli! Umd sag’ mir, was Du alles gethan hast zu seiner Hilfe.“

Zögernd kam sie näher, und nun erkannte er sie. „Warst Du nicht vor einigen Tagen beim Vogt? Du bist die Schwester Wolfrats, des Sudmanns?“

Gittli zuckte zusammen.

„So komm’ doch näher und rede! Was hast Du für meinen Jäger gethan?“

Mit zitternden Händen an ihrem Röcklein nestelnd, die Augen zu Boden gesenkt, so gab sie mit stockenden Worten Bericht. Aufmerksam hörte Herr Heinrich zu, und Pater Desertus hing mit den Augen wie gebannt an Gittlis Zügen.

Als sie geendet hatte, blickte sie mit scheuer, stummer Frage zu Herrn Heinrich auf, als wollte sie sagen: „Hab’ ich auch nichts schlecht gemacht?“

Da kam Herr Schluttemann zurück. „Die Leute sind da, Reverendissime, hier ist das Kästlein!“

Herr Heinrich nahm es. „Erwartet mich draüßen und laßt mir niemand in die Hütte. Frater Severin ...“

„Er ist noch immer nicht da.“

„Wenn er kommt, soll er rasten und Athem schöpfen, dann soll er die Herrenhütte in stand setzen. Der Walti mag hier bleiben, die vier Knechte sollen in den Almhütten nächtigen und morgen beizeiten wieder hier sein!“

Herr Schluttemann ging, und man hörte, wie er draußen die Knechte anschrie, als hätten sie Wunder was verbrochen. „Und morgen vor Tag seid Ihr wieder da!“ schloß er sein donnerndes Kapitel. „Oder ich reiß’ Euch die Ohren vom Kopf weg ... wurzweg!“

Herr Heinrich entnahm dem Kästlein, was er brauchte, um einen neuen Verband zu legen. Als er die mit Harz verklebte Leinwand von der Wunde löste, streckte sich Haymo stöhnend, schlug die Augen auf und schloß sie wieder.

„Dietwald, sieh her,“ rief Herr Heiurich erregt, „das ist keine Wunde, wie ein fallender Stein sie schlägt oder wie man sie bei einem Sturz erhalten kann. Das ist ein Stich, ein Messerstich! Der Mann ist überfallen worden, man wollte ihn morden! Das hat ein Raubschütz gethan, den der Jäger fassen wollte! Mädchen, komm’ her zu mir!“

Gittli zitterte an allen Gliedern.

„Aber so komm’ doch! Sag’ mir, wo hast Du ihn gefunden?“

„Draußen,“ stotterte sie mit versagender Stimme, „vor der Hütte.“

„Weit von hier?“

Sie schüttelte das Köpfchen.

„Und wie kam es, daß Du ihn fandest?“

Rathlos und angstvoll schaute sie zu Herrn Heinrich auf.

„Aber so rede doch! Ich will wissen, was Dich zu der Stelle führte, an der Du ihn fandest. Was hattest Du hier oben zu schaffen?“

Sie rührte lautlos die Lippen; dann plötzlich schlug sie die Hände vor das Gesicht und brach in Weinen aus.

„Ich bitt’ Euch, Herr Heinrich, quälet das Kind nicht!“ sagte Pater Desertus mit schwankender Stimme. „Ich glaube den Grund zu kennen, der sie hierher geführt hat. Gestern in der Nacht starb im Hause ihres Bruders ein Kind ...“

„Ein Kind des Wolfrat?“ Herr Heinrich ging auf das Mädchen zu. „Du wolltest Schneerosen holen ... zum Engelkränzlein? Und da hast Du den wunden Mann gefunden und bist bei ihm geblieben Tag und Nacht und hast alles für ihn gethan, was nur zu thun war?“ Er strich die Hand über Gittlis Haar. „Du bist ein braves, tapferes Mädchen! Ich will es Dir und Deinem Bruder danken!“

Gittli schluchzte laut auf, wandte sich hastig ab und wankte zur Thür hinaus. Draußen sank sie auf die Bank und weinte in heißem Kummer vor sich hin.

Walti kam herbei, zog ihr die Hände herab und schaute ihr ins Gesicht. „Je, Du bist es? Warum weinst denn?“

Sie riß sich los und schluchzte noch lauter.

„Weinst wegen dem da drin? Geh’, Du bist dumm! Der hat einen Gesund’ wie ein Trumm Eisen. Und wenn’s ihm auch ein bißl weh thut, ... Du spürst es ja nicht!“ Er lehnte sich an die Hüttenwand und gähnte. Da sah er dicken Rauch aus dem Dach der Herrenhütte qualmen. „Schau’, schau’! Der Frater feuert schon! Du! Da werden gute Sachen gekocht!“ Er schnalzte mit der Zunge. „Meinst? Kriegen wir auch was?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schlich er zur Herrenhütte und spähte durch die Thür.

Der Eingang führte in eine geräumige Küche mit offenem Herd; daneben lag ein kleines Herrenstübchen, dessen einfaches Geräth aus dem röthlichen Holz der Zirbelkiefer gefertigt war, und die Schlafkammer mit zwei Heubetten. Von der Küche stieg man über eine Leiter zum Bodenraum, auf welchem Bergheu in genügender Menge aufgeschüttet war, um im Nothfall für ein halbes Dutzend müder Schläfer weiche Lagerstatt zu bieten.

Neben dem Herd, auf dem ein helles Feuer brannte, stand Frater Severin; er hatte die Aermel der Kutte aufgestülpt, eine weiße Schürze vorgebunden und war damit beschäftigt, ein „Spießchen Schwarzreiter“[35] zu putzen, welche, mit Eiern übergossen [360] und am jähen Feuer rasch gebacken, für den Abendtisch einen köstlichen Imbiß gaben.

Auf den Stufen vor der Thüre des Herrenstübchens saß Herr Schluttemann, nachdenklich, mit gesträubtem Schnauzbart, grimmig die Augen rollend. Die Geschichte mit Haymo war für ihn eine Nuß, welche zu beißen gab. Aber als wäre er des zwecklosen Grübelns müde, schüttelte er auf einmal schnaubend das Haupt, fuhr mit den Fäusten durch die Luft und platzte los: „Teufel! Teufel!... Wenn ich denke, daß ich jetzt drunten im Kellerstüblein säße!“

„Mit Pater Hadamar und dem Küchenmeister,“ schmunzelte Frater Severin, „bei Rechberg und Stein!“

„Höret auf, höret auf,“ stöhnte Herr Schluttemann, „ich kann’s nicht hören, es reißt mir die Seel’ aus dem Leib’!“ Dann wieder in grimmige Melancholie versunken, fragte er: „Es ist doch wohl gesorgt für unseren Durst?“

Frater Severin zuckte die Achseln. „Wie es Herr Heinrich anbefohlen hat! Fünf Tage sollen wir bleiben ... zehn Flaschen sind befohlen ... rechnet Euch aus, wieviel auf einen trifft!“

„Verflucht wenig!“ meinte Herr Schluttemann mit langem Gesicht. „Frater! Frater! Mir wird die Leber brandig werden ... ich kann das Wasser nicht vertragen! Aber schon gar nicht!“

Frater Severin betrachtete den unglücklichen Vogt mit zwinkernden Aeuglein, dann leckte er die von den Schwarzreitern fettgewordenen Finger ab, trat auf ihn zu und flüsterte ihm ins Ohr: „Habt Ihr den Korb nicht gesehen, den der Walti getragen hat?“

„Ja! Warum?“

Frater Severins Miene wurde immer geheimnißvoller. „Und habt Ihr’s nicht scheppern hören in dem Korb?“

Herr Schluttemann legte den Kopf auf die Seite und zeigte das Weiße in den Augen. Ein schüchternes Lichtlein der Hoffnung schien in seiner trostlos finsteren Seele aufzudämmern.

„Redet, Frater, redet, was hat gescheppert?“

„Heimliche Flaschen Rechberg und Stein. Hinter der Hütte liegen sie in kühler Erde vergraben, und wenn Herr Heinrich schlummert, dann holen wir uns einige Pärchen!“

„Frater Severin ... Ihr seid ein Heiliger!“ schrie Herr Schluttemann auf und wollte dem Frater um den Hals fallen.

Der aber schob ihn von sich. „Nicht so laut, Herr Vogt!“ flüsterte er und schielte nach der Thüre. „Herr Heinrich könnt’ uns hören!“

Des Fraters Sorge war unbegründet. Herr Heinrich weilte noch immer in der Jägerhütte. Er hatte einen neuen Verband auf Haymos Wunde gelegt und den Arm in einer Schlinge befestigt, damit nicht etwa eine ungestüme Bewegung des Schläfers eine neue Blutung hervorrufe. Nun blickte er suchend umher.

„Wo ist das Mädchen?“

Pater Desertus ging mit raschem Schritt zur Thüre. Vor der Hütte saß Gittli auf der Bank; ihre Thränen waren versiegt; mit verlorenen Blicken starrte sie hinaus in die sinkende Nacht. Pater Desertus berührte ihre Schulter. Sie fuhr erschrocken zusammen und erhob sich.

„Komm’, Gittli, Herr Heinrich fragte nach Dir!“ Er nahm ihre Hand und führte sie in die Stube.

„Nun, willst Du nicht sehen, wie es Deinem Pflegling geht?“ sagte der Propst. „Komm’ her ... sieh nur, wie gut und ruhig er schläft!“

In wortlosem Danke wollte sie Herrn Heinrichs Hände küssen.

„Laß doch, Du Kind!“ sagte er. „Ich habe zu seiner Rettung das Mindeste gethan. Haymo wäre ein verlorener Mann gewesen ... ohne Dich! Er hat es Dir allein zu danken, daß er nun leben wird.“

Ein Seufzer, heiß und freudig, schwellte Gittlis Brust. Mit leuchtenden Blicken hing sie an Haymos blassen Zügen; dann fuhr sie mit zitternder Hand über die feuchten Augen und wandte sich zur Thüre.

„Wohin willst Du?“ fragte Herr Heinrich.

„Jetzt braucht er mich ja nimmer!“ lispelte sie. „Heim will ich gehen.“

„Es ist finstere Nacht!“ sagte Pater Desertus erschrocken.

„Ich fürcht’ mich nicht! Es ist ja sternscheinig, den Weg kenn’ ich auch, und auf der Almen kann ich ja nächtigen.“

„Dort schlafen die Knechte,“ warf Herr Heinrich ein; dann lächelte er. „und denke nur, wenn Haymo morgen erwacht und fragt nach Dir, was sollen wir ihm sagen? Willst Du nicht bleiben?“

„Wenn ich darf!" stammelte sie. „Schauet, Herr, ich nehm’ ja doch keinem seine Liegerstatt weg ... ich setz’ mich halt dort auf den Herd.“

Sie wollte in ihren Winkel schleichen, aber Herr Heinrich rief sie noch einmal zurück. „Gittli,“ sagte er mit freundlicher Stimme, „Du bist ja doch kein Kind mehr, Du solltest nicht so herumlaufen.“ Er deutete auf ihre Arme, welche bis über die Schultern nackt waren, und auf einen Riß, der in ihrem Linnen fast bis zum Gurte des Rockleins ging.

Sie schaute ihn mit großen Augen an. „Ich hab’ mir die Aermel weggerissen, weil ich das Leinen gebraucht hab’, für ihn.“

Da ging er auf sie zu, legte ihr die Hand auf den Scheitel und sagte leise in lateinischer Sprache. „Auch in Deiner Blöße wirst Du Gott gefallen.“ Und zu Pater Desertus sich wendend, fuhr er gleichfalls auf lateinisch fort: „Kann eines Fürsten Tochter reicher sein an edlen Steinen und Geschmeide als dieses Bettelkind an Schätzen des Gemüths?“

Pater Desertus schwieg; seine träumenden Augen hingen an Gittli, welche zum Herde ging, in ihre Jacke schlüpfte und sich leise in den Winkel kauerte.

Herr Heinrich war an Haymos Lager getreten und hatte seine Hand auf die Stirne des Schlummernden gelegt. „Das Fieber ist gewichen und der Schlaf wird ihn erquicken. Er hat gesundes Blut und eine gute Natur – ich hoffe, wir haben den Mann in drei Tagen wieder leidlich auf den Beinen. Ich will Wein herüberschicken, davon soll er bekommen, wenn er munter wird in der Nacht. Und Frater Severin soll bei ihm wachen.“

„Ueberlasset mir dieses Amt!“ sagte Pater Desertus mit raschem Wort. „Der Bruder ist müde.“

„Gut, so bleibe!“ Herr Heinrich reichte dem Pater die Hand, nickte Gittli mit freundlichem Lächeln zu und verließ die Stube. Zu Häupten des Lagers setzte sich Pater Desertus auf die Bank. Es war stille in der Stube. Gittli rührte sich nicht in ihrem Winkel; man horte nur Haymos tiefe Athemzüge, und auf dem Herde knisterte es zuweilen noch leise in den glühenden Kohlen.

Draußen murmelte das Wasser, von der Herrenhütte herüber klang in Zwischenräumen die laute Stimme des Vogtes, und tief aus dem Steinthal herauf tönte der Gesang der vier Knechte, welche zu den Almen niederstiegen:

 „Das Herzelein
 Im Herzensschrein
Thut gar so weh dem schwarzen Knaben:
Das braune Mägdlein möcht’ er haben,
 Ja haben, .
 Wenn man es^ ihm nur gäb’,
 Ja gäb’, ja gäb’ ...“

Nach einer Weile kam Walti, um den Pater zum Imbiß zu rufen; er brachte auch einen Teller für Gittli. „Du, das ist gut!“ flüsterte er dem Mädchen zu. „Ich hab’s auch schon verkosten dürfen, und was übrig bleibt, das kriege ich alles, hat der Frater gesagt.“ Gittli richtete sich auf und begann zu essen, während Pater Desertus die Stube verließ. Als er die Herrenhütte betrat, sagte er zu Frater Severin: „Schickt ein Kisselt und eine Lodendecke hinüber für das Mädchen; das Kind hat ein hartes Lager auf den Herdsteinen.“

Nun saßen sie beim Scheine einer Kienfackel im Herrenstübchen beisammen, der Propst, Herr Schluttemann und Pater Desertus, der letztere schweigend in sich versunken, während Herr Heinrich und der Vogt die an dem Jäger verübte Unthat besprachen. Herr Schluttemann beschwor die ganze Rache seines flammenden Zornes über das Haupt des Mörders, den er finden wolle, und wenn er sich auch in den untersten Schlupf der Hölle verkrochen hätte; sobald es Tag würde, gedachte er, sich mit den Knechten auf den Weg zu machen, um in weitem Kreise rings um die Hütte jeden Busch und jede Felsschrunde zu untersuchen; ein Häklein würde sich schon finden, an welches der Faden eines Verdachtes sich anknüpfen ließe.

Als Pater Desertus in die Jägerhütte zurückkehrte, fand er Gittli schlafend im Herdwinkel. Das Kissen, das ihr Walti gebracht, hatte sie unter Haymos wunden Arm gelegt; nur die Lodendecke hatte sie für sich behalten und zum Polster geballt unter ihr Köpfchen geschoben. So lag sie, die beiden Hände unter der Wange, die müden Glieder vom Schlafe sanft gelöst; sie schien auf den harten Steinen so gut zu ruhen, als läge sie in Daunen. Die verglimmenden Kohlen strahlten einen rothen Schimmer über ihr Gesicht, so daß es aus dem Dunkel hervorleuchtete wie ein liebliches Räthsel.

Lange, lange stand Pater Desertus vor dem schlafenden Mädchen. Immer näher zog es ihn, er beugte das Knie, er [362] streckte die Arme, er neigte das Antlitz in dürstender Sehnsucht ... da bewegte sich Gittli und stöhnte leise, wie unter einem schweren Traume. „Haymo ... Haymo ...“

Pater Desertus taumelte zurück; die Hände vor das Antlitz schlagend, wankte er zur Thür und sank auf die Schwelle nieder. „Herr! Herr! Du versuchest mich über meine Kräfte!“ rang es sich mit erstickter Stimme von seinen Lippen, und mit brennenden Augen starrte er hinaus in die finstere Nacht, empor zu den ruhelos flimmernden Sternen.

In den Fenstern der Herrenhütte war das Licht schon erloschen; Herr Heinrich schlief. Durch die Ritzen der geschlossenen Thüre quoll aber noch ein matter Schein; in der Küche saßen Frater Severin und Herr Schluttemann beim erlöschenden Feuer auf dem Herdrand, leise plaudernd, mit den „heimlichen Pärchen“ beschäftigt, die sie aus dem Versteck hervorgeholt hatten. Walti hockte in einem Winkel und vertilgte die Reste des Mahles; dann trank er noch einen Krug Wasser leer und kletterte uber die Leiter hinauf ins Heu.

Als den beiden Zechern „des Himmels höchste Huld“ zur Neige ging, bekam Herr Schluttemann seine üblichen „Zustände“. Er schien völlig vergessen zu haben, wo er sich befand, wähnte im Kellerstüblein zu weilen und fürchtete, daß mit jedem Augenblick die handfesten Boten der Frau Cäcilia eintreffen möchten, um ihn heimzuholen. „Aber ich geh’ nicht, wirst sehen, Bruder, ich geh’ nicht! Jetzt sitz’ ich einmal, Donnerwetter, und jetzt bleib’ ich!“ Frater Severin drückte ihm die Hände auf den Mund und zerrte ihn zur Leiter; mit aller Mühe, stoßend und schiebend, brachte er ihn endlich über die Leiter hinauf und warf ihn ins weiche Heu. „Cäcilia, Cäcilia, Du treibst es heute wieder arg mit mir!“ brummte Herr Schluttemann, halb erstickt von dem über ihn herfallenden Heu. Eine Weile lallte er noch fort, dann begann er zu schnarchen. Frater Severin folgte diesem Beispiel, und da ging nun ein Sägen um die Wette los, so daß Walti erwachte und kein Auge mehr schließen konnte; dazu hatte er bald eine Faust des Herrn Schluttemann im Gesicht, bald dessen Füße auf der Brust oder zwischen den Beinen; er verkroch sich in den äußersten Winkel, aber Herrn Schluttemanns Füße fanden den Weg zu ihm. Schließlich erhob er sich, glitt über die Leiter hinunter und legte sich auf den warmen Herd. Jetzt konnte er schlafen.




15.

Nach Mitternacht bewölkte sich der Himmel, und ehe der Tag noch graute, begann ein warmer Regen zu fallen. Bei Anbruch der Dämmerung kamen die Knechte. Pater Desertus saß noch immer auf der Schwelle der Jägerhütte, mit bleichen müden Zügen, die Augen heiß umrändert. Als er die Knechte sich nähern sah, erhob er sich und athmete tief, wie wenn ihm die Nähe wachender Menschen willkommen wäre. Einer der Knechte fragte ihn, was sie zu thun hätten. Er meinte, sie sollten sich, da Herrn Heinrich der Pirschgang auf den Auerhahn verregnet wäre, ruhig verhalten, bis die Schläfer von selbst erwachen würden. Dann trat er in die Hütte; Gittli war schon wach, sie stand über Haymo gebeugt, der immer noch ruhig schlief; als sie den Pater kommen hörte, trat sie scheu zurück, lispelte den Morgengruß und verließ die Hütte. Nach einer Weile kam sie wieder, gewaschen, mit frisch geflochtenen Haaren; sie schürte auf dem Herde ein Feuer an und ging geräuschlos ab und zu, um saubere Ordnung in der Stube zu machen. Als sie wieder einmal Wasser holte, wurde drüben an der Herrenhütte ein Fensterladen aufgestoßen.

„Guten Morgen, Gittli!“ rief Herr Heinrich.

Sie stellte die Wanne nieder und lief hinüber.

„Nun, wie geht es ihm?“

„Er schlaft noch allweil, Herr, und ich mein’, der Schlaf hat ihm gut gethan, denn er hat schon ein bißl Farb’ im Gesicht!“

„Dann wird er wohl auch bald erwachen. Freust Dich schon?“

„Und wie?“

„Gelt und frenst Dich auch schon auf seinen Dank?“

„Den hab’ ich schon, Herr!“

„So?“

„Ja, gestern auf die Nacht, da hat er ein lützel[36] reden können, und da hat er mir gleich ein Vergeltsgott gesagt, ja!“

„Aber ich meine, Du hoffst doch wohl noch auf besseren Dank?“ lächelte Herr Heinrich, während er sich breit ins Fenster legte.

Sie schaute mit großen Augen zu ihm auf. „Was sollt’ ich denn mehr noch wollen? Ich hab’ ja mein Vergeltsgott!“

Er betrachtete sie mit freundlichen Blicken. „So? So?“ Und leise zuckte es um seine Lippen, als er sagte: „Freilich, mehr kannst Du auch nicht verlangen von ihm. Aber jetzt geh’ nur, geh’, ich komme gleich hinüber!“

Hurtig lief Gittli davon, um aus dem Regen wieder unter Dach zu kommen.

Ueber diesem Zwiegespräch war Walti aus dem Schlaf erwacht. Er rieb sich erschrocken die Augen, als er den hellen Morgen schimmern sah, kletterte die Leiter empor und rief: „Frater! Frater! Stehet auf, der Herr ist wach!“

Frater Severin fuhr aus dem Heu wie der Hase aus dem Krautacker, wenn der Bauer kommt. Er packte seinen Schnarchgenossen an der Brust. „Herr Vogt! Auf! Auf! Auf!“

Herr Schluttemann drehte sich auf die Seite. „Aber Cäcilia!“

„Auf! Auf! Auf!“

„Aber Cäcilia!“ wimmerte Herr Schluttemann. „Geht denn der Teufel schon wieder los? Alle Tag’ und alle Tag’! Nicht einmal ausschlafen soll der Mensch können. Kreuz Teufel noch einmal! Laß mich in Ruhe!“

Frater Severin schüttelte den Kopf, überließ den Vogt seinem Schicksal und stieg mit starren Beinen über die Leiter hinunter.

Herr Schluttemann hatte sich tief eingewühlt in das Heu, als umschlänge er mit seinen Armen das Kissen, das er an jedem Morgen fest über die Ohren zu drücken pflegte, wenn Frau Cäcilia ihre Predigt begann. Die lautlose Ruhe aber, die ihn plötzlich umgab, mochte ihm als etwas ganz Ungeheuerliches erscheinen. Er richtete sich erschrocken auf und starrte mit weit aufgerissenen Augen im Dämmerlicht des Heubodens umher.

„Ach so!“ stotterte er, als er das stille Wunder langsam zu begreifen begann. Dann lachte er vergnügt vor sich hin. „Jetzt kann aber geschehen was will ... jetzt schlaf ich mich einmal aus!“ Sprach’s, legte sich wieder auf die Seite und streckte sich behaglich. „Aaaah!“ Eine kleine Weile, und er schlief schon wieder.

„Herr Vogt!“ rief Frater Severin aus der Küche herauf. Herr Schluttemann aber hörte nicht.

„Vogt! Vogt! Wo seid Ihr?“ rief Herr Heinrich selbst. Doch Schluttemann hörte nicht. „So laßt ihn schlafen!“ lächelte der Propst. „Das irdische Vergessen ist über ihn gekommen!“ Er drohte zum Heuboden hinauf: „Wartet nur, Vogt, der Morgen kommt schon wieder, da Euch die Donner des Gerichtes wecken!“

Als Herr Heinrich hinüberging nach der Jägerhütte, kam ihm Gittli entgegen. „Herr, Herr! Er wachet schon!“ stammelte sie. „Mein Gott, und soviel sorgen thut er sich, Ihr könntet ihm harb sein, weil ihm so was hat geschehen können.“ Die Freude redete aus ihr, aber es war eine bange Freude: nun konnte Haymo sprechen, nun mußte er sagen, wie alles gekommen war ...

So blieb sie, als Herr Heinrich die Hütte betrat, an der Thüre stehen, Freude im Herzen, Angst in der Kehle.

Haymo saß aufgerichtet in seinem Heubett. „Herr Heinrich ..“

Der Propst legte ihm die Hand auf den Mund. „Du sollst nicht sprechen, Haymo, ich will es so! Lege Dich zurück und laß mich nach Deiner Wunde schauen! Dann sollst Du essen und trinken und wieder schlafen, und wenn Du dann gestärkt erwachst, dann setz’ ich mich zu Dir, und Du erzählst mir alles. Und mach’ Dir keine dummen Sorgen. Du bist Haymo, mein getreuer Jäger, hast ja Deine Treue mit Deinem Blut besiegelt!“

„Herr Heinrich ...“

„Wirst Du wohl schweigen?“ schalt der Propst und drückte den Jäger mit sanfter Gewalt auf das Kissen zurück.

Gittli athmete auf; und da sie in der Jägerhütte nun entbehrlich war, lief sie hinüber in das Herrenhaus.

„Frater, kann ich Euch nicht helfen?“

„Ei freilich, mein Dirnlein, schürz’ Dich, tummel’ Dich!“ Und im Hui hatte er ein Dutzend Aufträge für Gittli bereit.

Sie griff mit flinken Händen zu, trug alles herbei, was der Frater in der Küche brauchte, brachte Ordnung in die Schlafkammer und machte das Herrenstüblein spiegelblank.

Draußen „schnürelte“ der Regen, und die Knechte, die unter dem vorspringenden Dach der Herrenhütte an die Balkenwand gelehnt standen, sangen mit leisen Stimmen, um sich die nasse Zeit zu vertreiben.

Als Herr Heinrich mit Pater Desertus aus der Jagdhütte [363] trat, sagte er: „Dein Aussehen ist schlimm, Dietwald. Die Nachtwache hat Dich erschöpft.“

„Ja, Herr!“ erwiderte der Pater, mit finsterem Blick zur Erde starrend.

„Aber ich hoffe, es hat Dich in dieser Nacht Dein Gespenst in Ruhe gelassen?“

„Meint Ihr?“

„Dietwald!“

„Es weilte mit mir unter einem Dach die ganze lange Nacht!“

Herr Heinrich betrachtete den Pater mit forschendem Blick. Dann sagte er: „Komm, lege Dich schlafen, Du bist übermüdet.“

Sie betraten die Herrenhütte; Pater Desertus ging in die Schlafkammer und warf sich aufs Lager, doch seinen Augen war anzusehen, daß sie den Schlummer nicht finden würden. Herr Heinrich füllte einen Becher mit Wein und goß dazu einige Tropfen aus einem Fläschchen, das er seinem Arzneikästlein entnommen hatte.

„Trink, Dietwald, das wird Dir Schlaf bringen!“

Pater Desertus leerte den Becher ... und es währte nicht lange, so lag er, tief athmend, in traumlosem schweren Schlummer.

Herr Heinrich wollte ins Freie treten; da sah er Gittli in der Küche schaffen. Ein Gedanke schien ihn zu befallen, er schüttelte wie abwehrend das Haupt, doch immer wieder kehrten seine Blicke zu dem Mädchen zurück.

„Gittli!“

Sie säuberte die Hände an der Schürze und kam auf ihn zugegangen. „Ja, Herr?“

„Erzähl’ mir doch, hast Du Dich mit dem Pater auch gut vertragen die lange Zeit vom Abend bis zum Morgen?“

„Allweil gut!“ meinte Gittli mit scheuem Lächeln. „Der Pater hat gewachet, und ich hab’ geschlafeu!“ Und als müßte sie sich entschuldigen, fügte sie bei: „Ich bin halt so viel müd’ gewesen.“

„Immer geschlafen? Die ganze Nacht?“

„Gott behüt’, Herr! Ein paarmal bin ich schon aufgekommen.“

„Nun? Und dann habt Ihr wohl miteinander Haimgart[37] gehalten, gelt?“

„Aber Herr!“ sagte sie ganz erschrocken. „Wie thät ich mir denn einfallen lassen, daß ich haimgarten wollt’ mit so einem Herren. Ich bin allweil gelegen und hab’ keinen Muckser gethan!“

„Und er? Er wird doch mit Dir geredet haben!“

„Kein Sterbenswörtlein! Ich glaub’, er hat mich gar nicht gesehen. Mein, allweil ist er gesessen und hat blinde Augen gemacht, als thät er einwendig schauen.“

„Einwendig schauen?“ wiederholte Herr Heinrich und nickte vor sich hin. „Aber sag’, hast Du ihn schon öfters gesehen?“

„Zweimal, Herr! Das erste Mal drunten am Seesteig ...“ sie stockte, denn sie durfte Herrn Heinrich doch nicht sagen, welchen Schreck sie damals vor dem „Schwarzen“ empfunden hatte ... Schreck und Furcht vor einem Gottesmann! Leise sprach sie weiter. „Und das andermal ... am Ostertag.“ Da kamen ihr die Thränen.

„Was hast Du, Gittli, warum weinst Du?“

„O mein Gott, schauet, Herr, er ist ja dazugekommen, wie unser Kindl hat verscheinen müssen, unser liebes, gutes Kindl.“

„Komm, Gittli, komm, setz’ Dich!“ Er führte sie zu einer Bank. „So! Und jetzt sag’ mir, wie war es mit dem Kindl?“

Unter Thränen erzählte sie in ihrer schlichten, rührenden Weise das kleine, traurige Geschichtlein von „Mimmidatzis“ kurzem Leben. „Schauet, Herr, wie ein Lichtkäferl ist das Kindl gewesen in unserem Sorgenhäusl, wie ein Blümerl im Winter, und in aller Herzensnoth wie ein Stückel ewigen Brots, von dem man allweil hat zehren können, und es ist doch nicht weniger worden. Und jetzt hat’s verscheinen müssen! Warum denn, warum?“

Frater Severin klapperte am Herd mit seinen Pfannen; ein Zittern war ihm in die Hände gekommen; auch mußte ihm was ins Auge geflogen sein, denn er wischte immer und wischte – aber es wollte nicht helfen.

Herr Heinrich hielt die Hände des Mädchens gefaßt und blickte tief bewegt in Gittlis Gesicht, das von Thränen überströmt zu ihm emporgerichtet war, wie einer tröstenden Antwort harrend.

Hätte nicht das Feuer geknistert, der Regen über dem Schindeldach geplätschert und Herr Schluttemann auf dem Heuboden geschnarcht, es wäre ganz, ganz stille gewesen in der Küche.

„Warum? Ja, warum?“ Herr Heinrich setzte sich an Gittlis Seite. „Das fragst Du? Das weißt Du nicht? So ein kluges Dirnlein wie Du? Geh’ doch, Gittli geh’ ... wie kannst Du nur so fragen!“

Sie wurde verlegen und suchte nach Worten. „Weil ... weil ich’s halt doch nicht weiß, Herr!“

„Aber freilich weißt Du es! Welch ein holdes, süßes Kindlein Euer Liebling war, das weißt Du doch, gelt?“

„Ja, Herr, ach ja!“

„Und nun denke Dir: wenn das Kindl hätte leben müssen und Schmerzen leiden und siechen, und die bösen Menschen hätten es gestoßen, getreten und geschlagen, und es hätte Unglück über Unglück erfahren, Kummer über Kammer, Noth und Elend ... und Du und des Kindleins Mutter, Ihr hättet das alles mit ansehen müssen – hätt’ Euch das im Herzea nicht noch viel weher gethan als jetzt, weil es verschienen ist?“

„Ach Gott!“ schluchzte Gittli und wehrte mit beiden Händen, als wollte sie den Gedanken, daß ihr „Mimmidatzi“ hätte leiden müssen, gar nicht eindringen lassen in ihr Herz.

„Gelt? Da ist halt wieder einmal der liebe Herrgott gescheiter gewesen als wir alle miteinander. Der hat sich gedacht: nein, so was laß ich nicht kommen über das liebe, gute Kindl, da nehm’ ich es lieber zu mir herauf in meinen Himmel und mach’ ein Engelein aus ihm, damit es in Freude und Glückseligkeit hinunterlachen kann auf sein Heimathl[38] und ein rechter, fester Schutzengel sein soll für all’ seine lieben Leut’!“

„O mein, brauchen thäten wir freilich einen!“ seufzte Gittli tief auf, und zu Herrn Heinrich emporblickend sagte sie: „Schauet, Herr, ich hab’ mir allweil so was gedacht, aber ich hab’ mir’s halt völlig nicht sagen können!“

„Gelt, siehst Du, daß Du es weißt!“

„Ja, und es muß auch wahr sein, denn hätt’ ich den Schutzengel nicht gehabt, ich hätt’ den Haymo nimmer finden können, und jede Stund’ derzeit, Tag und Nacht hab’ ich das Kindl allweil bei mir sitzen sehen, und allweil hat’s mich angelachet. Gelt, Herr Heinrich, unser Herrgott ist halt doch ein guter, guter Mann!“

„Das mein’ ich! Und darum sei gescheit, Gittli, verlaß Dich nur auf ihn und wisch’ Dir die Zähren ab! Und dann laß Dir vom Frater Severin eine tüchtige Schüssel voll Suppe geben, trag sie hinüber zum Haymo und schau darauf, daß er gehörig ißt.“

Jetzt lächelte Gittli, freilich noch in Thränen. „Da seid nur ganz ruhig, Herr Heinrich, ich will schon hineinstopfen in ihn, was das Zeug hält!“

Frater Severin kam bereits mit der Schüssel. „Nimm, Dirnlein, nimm!“ flüsterte er und zwinkerte mit freundlichen Augen. „Die besten Bröcklein hab’ ich für ihn gefischt!“

„Vergelt’s Gott!“ sagte sie, nahm die Schüssel und ging mit achtsamen Schritten davon, die Augen starr auf die Suppe gerichtet, um nur ja kein Tröpflein zu verschütten.

Herr Heinrich blickte ihr lächelnd nach. „Warum? Warum? Du alte, ewig menschliche Frage! Wärest du doch in jeder Brust so leicht zu geschweigen wie in dem Herzen dieses Kindes.“

Inzwischen hatte Gittli die Jägerhütte erreicht, in welcher Walti bei Haymo saß. „Da schau,“ sagte sie, „was ich da jetzt bring’!“

Haymo richtete sich auf. „Gittli!“ Hätte er tausend Worte gesprochen, er hätte mehr nicht sagen können, als was der Klang dieses Namens verrieth, was der Blick seiner Augen sprach.

„Du! Jetzt thu’ mir nicht reden!“ drohte sie. Jetzt mußt essen! Und alles, alles – bis auf das letzte Bröserl!“ Sie setzte sich auf den Rand des Lagers und zog das Knie herauf, um eine Stütze für die Schüssel zu haben. Er begann zu essen, und bei jedem Löffel, den er nahm, schaute er zu ihren Augen auf; und immer wieder nickte sie ihm zu und lächelte. „Gelt, das schmeckt?“

Walti steckte die Nase in den Suppendampf. „Kruzi, Kruzi, wenn ich allweil solche Sachen kriegen thät’, da ließ’ ich mir gleich auch eins auf den Buckel stechen ... von so einem schlechten Kerl!“ Er griff mit beiden Händen zu, denn die Schüssel wackelte bedenklich zwischen Gittlis Händen. „Was machst denn? So halt’ doch fest!“ Und zu Haymo sich wendend fragte er: „Sag’, Jäger, Du mußt aber doch wissen, was es für einer war?“

[364] Haymo schüttelte den Kopf. „Sein Gesicht war angerußt!“

Tief athmete Gittli auf; dann sagte sie zu Walti: „Geh’, thu’ den Becher spülen … jetzt muß er den Wein kriegen!“

Der Bub’ nahm den Becher vom Tisch und rannte hinaus.

„Haymo,“ stammelte Gittli leise, „gelt, wenn sie Dich ausfragen … nachher sag’s nicht, daß es beim Kreuz geschehen ist!“

„Warum nicht?“

Sie senkte das Köpfchen und lispelte: „Weil … weil ich Dich bitten thu’!“

Er nickte vor sich hin. „Ich weiß schon, wie Du’s meinst! Gelt, meinst, weil sie Gottesleut’ sind … und müßten sich kränken, wenn sie hören thäten, daß ihr Herrgott so was hat geschehen lassen!“ Ein bitteres Lächeln zuckte um seine Lippen. „Zu mir hat er reden mögen! Warum denn hat er nicht auch zum anderen sagen können: thu’s nicht, thu’s nicht?“

Gittli hing an ihm mit angstvollen Augen; sie verstand seine Worte nicht. „Haymo …“

Sie konnte nicht weitersprechen, denn Walti kam zurück. Mit zitternder Hand reichte sie dem Jäger den gefüllten Becher, den er mit dürstenden Zügen leerte, mit dem Becher zugleich ihre Hand gefangen haltend. Und als er dann aufblickte zu ihr mit glänzenden Augen, flüsterte er: „Nein, Gittli, nein, ich darf nimmer fragen: warum? Ich weiß ja schon, warum er’s hat geschehen lassen … ich weiß es … weiß es!“ Und er zog ihre Hand mit dem Becher an seine Brust.

Sie ließ ihn gewähren und stand, als wüßte sie nicht, wie ihr geschehe. Und da er ihre Hand nun freigab, blickte sie auf, wie erwachend, nahm wortlos die Schüssel und ging der Thüre zu.

„Gittli!“ rief er ihr leise nach. „Kommst bald wieder?“

„Wohl wohl, Haymo!“ lispelte sie und verließ die Hütte.

„Hohohoho!“ lachte Walti auf, klemmte die Hände zwischen die Knie und schüttelte vor Vergnügen die Schultern.

„Was hast denn, dummer Bub’?“

„Ich weiß auch was! Hohohoho! Ich weiß auch was!“ Und kichernd steckte er den Kopf in den Winkel zwischen Bett und Bank.

Draußen vor der Hütte stand Gittli, fuhr mit dem Rücken der freien Hand über ihre heißen Wangen und stammelte: „Was weiß er denn … was kann er denn wissen?“ Und mit zögernden Schritten ging sie der Herrenhütte zu.

Einer der Knechte kam ihr entgegen; er habe ihr eine Botschaft auszurichten. Ihr Bruder, der Sudmann, sei in der Nacht zu den Almen gekommen und habe gejammert, daß seine Schwester seit zwei Tagen fehle, und daß kein Mensch wisse, wohin sie gekommen sei. Als ihm die Knechte erzählten, daß seine Schwester den Jäger todwund gefunden und in der Hütte gepflegt habe, bis die Herrenleute kamen, da habe er sich vor Staunen kaum fassen können; jedes Wort, das er gesprochen, sei ein Lob für seine Schwester gewesen; und sie solle nur ja in der Hütte bleiben, solange die Herrenleute sie nöthig hätten; er selbst wäre gerne noch zu ihr hinaufgestiegen in die Röth’; aber da er nun wisse, daß sie wohlauf und sicher geborgen sei – habe er gesagt – so wolle er lieber wieder heimlaufen, um die Schicht im Sudhaus nicht zu versäumen. Er thue die Schwester recht, recht schön grüßen lassen. Mit Bangen und Zittern hörte Gittli diese Botschaft an, welche sie nicht zu verstehen vermochte. Wie wäre es ihrem kindlichen Sinn auch beigefallen, daß Wolfrat diesen Gang zur Alm, wo er die Knechte zu finden hoffte, nur gethan hatte, um einen drohenden Verdacht von sich abzuwenden! Denn wenn er die Schwester hätte gehen lassen, ohne sich weiter um ihr Verbleiben zu kümmern, dann mußte er wissen, weshalb sie gegangen war, wissen, wo und weshalb sie blieb.

Als Gittli die Herrenhütte betrat, kam sie gerade recht, um Herrn Schluttemanns Auferstehung mitzufeiern. Sein Kopf erschien auf einmal über dem Rand des Heubodens. Wo aber hatte er das Gesicht gelassen, das er sonst an jedem Morgen zu zeigen pflegte – jenes zornbrennende Gesicht mit den gerunzelten Brauen, den rollenden Augen und dem gesträubten Schnauzbart? Er schien sich verwandelt zu haben in diesem langen Schlaf; sanft hing ihm der Schnauzbart über die Lippen, lustig blitzten seine Augen, und mit einem Gesicht, lachend bis zu den Ohren, stieg er über die Sprossen nieder … Frater Severin meinte: wie der strahlende Erzengel Gabriel über die Himmelsleiter.

Auf der Erde angelangt, streckte und dehnte er sich, rieb vergnügt die Hände, schlug dem Frater die flache Hand auf den breiten Buckel, kneipte Gittli in die Wange und trat mit fröhlichem Gruß in das Herrenstüblein. Und während nun Stunde um Stunde verging, hörte man seine lachende Stimme an allen Ecken und Enden, bald im Herrenhaus und bald in der Jägerhütte. Hier wurde er freilich von Herrn Heinrich ausgetrieben, um Haymo einen ruhigen, stärkenden Schlaf zu sichern.

Einige Stunden nach Mittag versiegte der Regen, die Wolken klüfteten sich, und die Sonne warf, ehe sie hinter die Berge sank, noch einen goldigen Schein über die beiden Hütten.

Herr Heinrich nahm die Armbrust auf den Rücken und stieg zum Kreuzwald empor; der Vogt machte sich mit den Knechten auf die Suche, und Pater Desertus wanderte einer nahen Felshöhe zu – dort sah ihn Gittli auf einem Steinblock sitzen, bis der Abend dämmerte. Haymo schlief, und Gittli weilte mit Frater Severin und Walti auf der Bank vor der Hütte, mit halbem Ohr nur hörend, was die beiden plauderten; in Sorg’ und Unruh’ glitten ihre Blicke immer wieder hinüber nach dem Steinthal; die drückendste Angst war aber doch von ihr genommen. Sie hatte ja nun einen Schutzengel, der droben im Himmel sorgte für sie, für den Wolfrat und die Seph’. Und was der Bruder auch gesündigt … sie hatte es doch ein lützel wieder gut gemacht!

Der erste, der zurückkam, war Herr Schluttemann. Er hatte nichts gefunden, rein gar nichts! Der Regen hatte Haymos blutige Fährte und die Schweißspur des verschleppten Steinbocks ausgelöscht. Ja … der Schutzengel!

Bei Einbruch der Nacht kehrte der Propst mit Pater Desertus zurück. Herr Heinrich hatte eine Fehlpirsch auf den Auerhahn gethan. Beim Niederstieg aber hatte er einen Luchs aufgescheucht und dem fliehenden Raubthier einen Bolzen nachgeschickt. Nun sollten zwei der Knechte während der Nacht hinunter zum Kloster, um die beiden Schweißhunde zu holen, die Hel und den Weckauf. Einem der Knechte trug Herr Heinrich auf, im Hause des Sudmanns vorzusprechen, um für Gittli mitzubringen, was sie nöthig hätte an Gewand und Leinen. Bald nachdem der Abendimbiß eingenommen war, wurde es still in den beiden Hütten; Gittli und Walti wachten bei Haymo; Herr Heinrich, der vor Tag wieder auf den Beinen sein wollte, hatte sich zur Ruhe begeben, und Pater Desertus mußte seinem Beispiel folgen.

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 13, S. 389–399

[389] In der Küche der Herrenhütte saßen Herr Schluttemann und Frater Severin am Herde. Als der Vogt meinte, daß Herr Heinrich wohl schon in Schlaf gesunken wäre, verließ er die Hütte und holte einige neue „Pärchen“ aus dem Versteck. Schwer seufzend wandte sich Frater Severin ab, als Herr Schluttemann eine der Steinflaschen zwischen die Knie nahm, um mit hochwichtiger Sorgfalt den mit Wachs verklebten Pfropf zu lösen. Einen langen, langen Zug that der Vogt, dann reichte er die Flasche dem Bruder. „Tauchet an, Frater!“

Ein stummes Kopfschütteln war die Antwort.

Herr Schluttemann erschrak. „Bruder? Seid Ihr krank?“

„Nein … aber ich will nicht trinken. Heut’ treib’ ich keine Heimlichkeit. Herr Heinrich war so gut zu mir.“

„Tatata! Das ist eine Ausred’! Wer nicht trinken will, hat entweder ein böses Stück gethan oder will’s begehen. Zeiget, daß Ihr ein unschuldig Herz habt … schluck, schluck!“

„Ich hab’ keinen Durst!“ sagte Frater Severin und seufzte tief.

„Tatata! Durst? Durst? In unserer unschuldigen Zeit trinken nur zu viel’ ohne Durst – wie billig! Man trinkt für den zukünftigen. Kauft in der Noth, sagen die Quacksalber, dann habt ihr’s im Tod!“

Jetzt hab’ ich’s einmal gesagt …“ seufzte Frater Severin, „… und ich trink’ nicht!“

„Tatata!“ Herr Schluttemann faßte des Fraters Kutte und zog ihn zu sich nieder. „Kommt her, Frater, setzet Euch zu mir, ich will Euch ein Liedlein singen, das soll Euch ins Gewissen reden!“ Er schob seinen Arm unter den des Fraters, schwenkte die Flasche und sang mit leiser Stimme:

[390]

„Wohlauf, lieb’ Bruder, allzumal,
Quem sitis vexat plurima[39]
Ich weiß ein Wirth im kühlen Thal,
Qui vina habet aurea![40]

Er zapfet fleißig uns den Wein
De dolio in cantharum.[41]
Drum wollen wir auch fröhlich sein
Ad noctis usque terminum!“[42]

Die zweite Strophe hatte Frater Severin mit wiegendem Kopfe mitgesummt ... und jetzt ergriff er die Flasche und zog und schluckte ... aber schon gehörig! Dann freilich, als er absetzte, machte er ein gar kummervolles Gesicht.

„Jetzt hab’ ich halt doch getrunken! O Mensch, Mensch! Was bist du für ein Gefäß voll teuflischer Suppe! Pfui!“

Mißbilligend schüttelte er den Kopf, setzte die Flasche an und trank. „Jetzt geht’s schon in einem hin!“

Ein paar feuchte Stunden verrannen den beiden, bis sie es zuwege brachten, daß die Flaschen einen trockenen Boden bekamen. Als Herr Schluttemann sich erhob, merkte er, daß er nicht mehr völlig Meister seiner Beine war ... er merkte es, als er mit der Nase schon auf der Erde lag. Mühsam krabbelte er sich an des Fraters Kutte in die Höhe. „Glaubet mir, Frater, das ist seiner Lebtag kein guter Fuhrmann, der nicht auch einmal umwerfen kann!“ Die Zunge wurde ihm schwer. „Und Ihr wisset ja doch, wie der gelahrte Philofophns sagt:

„Wirft uns der Wein schon nieder,
Gehn wir morgen doch zu ihm wieder.“

Frater Severin hielt die Leiter, und Herr Schluttemann tappte sich über die Sprossen hinauf ins Heu.




16.

Dem trüben Regentage folgte ein frischer, frühlingsduftiger Morgen. Jedes Rasenflecklein auf den steilen Gehängen und alle Almen hatten über Nacht einen lichtgrünen Schimmer bekommen. Es war Lenz geworden in den Bergen; er hauchte aus den lauen Lüften, blickte nieder aus dem tiefen Blau des Himmels, stieg aus der Erde mit würzigem Odem und wehte in den Düften, die der bergwärts ziehende Wind emportrug aus den Thälern, wo sich schon die ersten Blumen erschlossen hatten.

Als die warme Sonne auf allem Grund rings um die Jägerhütte lag, durfte Haymo das Lager verlassen. Frater Severin und Gittli führten ihn zur Bank vor der Thür, doch hätte er kaum einer Stütze bedurft, so kräftig war sein Schritt; er wäre am liebsten vor Tag schon aufgestanden, um mit Herrn Heinrich auszuziehen zum Hahnfalz.

Da saßen sie nun zu dreien. Frater Severin erzählte Schnaken und Schnurren, Haymo schaute mit nimmermüden Augen über Berge und Wälder aus, Gittlis Hand in der seinigen haltend; schweigend saß sie an seiner Seite, die Augen gesenkt, mit der freien Hand an einem Zipfel ihrer Jacke nestelnd. Ihr war zu Muth, sie wußte nicht wie. Ueberall, meinte sie, wäre ihr wohler als hier auf dieser Bank. Nun that sie einen stockenden Athemzug, stand auf und löste ihre Hand.

„Gittli? Was hast denn?“ fragte Haymo.

„Schaffen muß ich!“ sagte sie und schlich davon. Als sie die Küche der Herrenhütte erreichte, drückte sie die beiden Hände auf die Brust. Da lag es ihr wie ein schwerer, schwerer Stein. „Was hab’ ich denn, ja was hab’ ich denn nur?“ stammelte sie. Aber wie konnte sie nur so fragen! Was ihr das Herz bedrückte und beängstigend umklammerte, so daß ihr fast der Athem versagen wollte ... was sonst denn konnte es sein als die Sorge um den Bruder und die Schwäherin? War doch Herr Schluttermann beim Morgengrau mit Walti und zwei Knechten wieder auf die Suche gezogen. Auch Pater Desertus hatte sich ihnen angeschlossen, als wäre ihm das Bleiben bei den Hütten unerträglich. Und der mit seinen unheimlichen Messeraugen, meinte Gittli, würde gewiß etwas finden.

„O du lieb’s, gut’s Engerl droben, jetzt halt’ aber fest!“ Mit diesem Stoßseufzer machte sich Gittli an die Arbeit. Immer wieder mußte sie sich die Zähren aus den Augen wischen, und ein um das andere Mal schlich sie zum Fenster, um verstohlen hinüber zu blicken, ob auch Haymo noch auf der Bank sitze ... nein doch: um auszuschauen, ob nicht der Vogt mit den Knechten schon zurückkomme.

Da hallte aus dem Steinthal herauf der langgezogene Jauchzer einer Mädchenstimme. Gittli sprang zur Thür und legte die Hand über die Augen, um in der grellen Sonne besser sehen zu können. Von weitem erkannte sie die Tochter des Eggebauern.

„Was will denn die daheroben?“ stammelte sie.

Gittli war der heiteren Nachbardirn’ immer gut gewesen. Aber jetzt mit einmal empfand sie etwas gegen das Mädchen wie grollenden Unmuth. Freilich ... Zenza war ja doch die Tochter des Bauern, der das Kreuz auf den Wolfrat gelegt hatte!

„Was die nur will? ... Und aufgeputzt hat sie sich ... uuh!“ Unwillkürlich blickte Gittli an sich hinunter. Ihrem Linnen und ihrem abgeschabten Röcklein merkte man die Nächte an, die sie auf dem Herd verbracht hatte. Eine Zähre schoß ihr in die Augen, und zögernd trat sie in die Küche zurück, aber nur so weit, daß sie Zenza nicht aus den Blicken verlor.

Jetzt erschien das Mädchen auf der Höhe. „Da schau,“ schmunzelte Frater Severin, „ich glaub’ ja gar, wir kriegen Besuch! Und was für einen! Ui jei!“

Haymo machte große Augen. „Was will denn die daheroben?“ murmelte er, als hätte er Gittlis Worte gehört und nachgesprochen.

Zenza kam näher; sie trug einen dicken Veilchenstrauß im Mieder und hatte sich aufgeputzt, als ging’ es zum Hochamt in die Kirche. Ihr Gesicht brannte, und ihre heißen Augen hingen an Haymo.

„Grüß Dich Gott, Dirnlein!“ rief ihr Frater Severin entgegen. „Was für ein Heiliger hat denn Dich daherauf geschneit?“

„Der heilige Hubertus!“ lachte Zenza. „Grüß’ Gott auch, Herr Frater! Und der heilige Leonhardus hat auch mitgeholfen. Ja! Nachschauen hab’ ich wollen auf meiner Almen ... auf Sennzeit ist ja nimmer gar so lang. Und weil ich schon auf meiner Almen war, hab’ ich mir gedacht, ich mach’ das Katzensprünglein noch herauf, daß ich doch selber schauen kann, wie’s Eurem Letzerl[43] geht.“ Ihre Augen blitzten Haymo an, der in Unmuth über den kindischen Kosenamen den das Mädchen ihm gab, die Brauen furchte.

Frater Severin hatte Zenzas Hand erfaßt und tätschelte ihre Finger. „Macht sich ja, macht sich schon wieder. Schau ihn nur an: acht Tag’ noch, und er springt wieder über alle Berg’ aus. Aber sag’, woher weißt Du denn, daß ihm was geschehen ist?“

„Hat es ja der Polzer, der gestern nacht seine Schwester gesucht hat, überall ausgeschrien!“

Gittli, die am offenen Fenster lauschte, erschrak bis ins Herz. Hatte Wolfrat den Verstand verloren, daß er selbst erzählte, was in der Röth’ geschehen war?

„Der bildet sich jetzt was ein auf seine Schwester!“ sprach Zenza weiter. „Aber das muß ich selber sagen, brav hat sie sich gehalten. Ein halbes Kindl noch! Ich weiß nicht, aber ich glaub’, ich hätt’ den Kopf verloren!“ Sie lächelte. „Was meinst, Jäger?“ und wieder blitzten ihre Augen.

Gittli griff sich in ihrem Versteck mit beiden Händen an den Kopf; alles in ihr begann zu wirbeln.

„Du und den Kopf verlieren?“ lachte Frater Severin. „Ja! Andern die Köpf’ verdrehen – das wird das Richtige sein. Aber komm’, Dirnlein, setz’ Dich, wirst müd’ sein von dem weiten Weg, und hungrig auch ... wart’ ein’ Weil’, ich hol’ Dir eine Zehrung. Dann halten wir einen lustigen Haimgart.“ Und mit flinken Schritten ging er der Herrenhütte zu.

Gittli erblaßte. „So, schön ... jetzt laßt er sie gar allein mit ihm,“ stammelte sie. Aber weshalb nur sorgte sie sich, daß ihr „einwendig“ völlig kalt wurde? „Am End’ weiß sie was ... und sagt es ihm!“ Das mußte sie verhindern.

Kaum war der Frater gegangen, da trat Zenza auf den Jäger zu. „Hast viel ausstehen müssen?“ fragte sie mit leise bebender Stimme.

„Es hat grad ausgereicht!“ brummte er.

Den wenn ich wüßt’ der Dir das gethan hat!“ Sie ballte die Fäuste. „Da hast freilich nicht können zum Tanz kommen! Und ich wart’ allweil und wart’ und wart’ ... eine Wuth hab’ ich gehabt, daß ich Dich hätt’ zerreißen können!“

„So?“

„Und derweil liegt er daheroben, der arme Hascher, schiergar am Verscheinen! Aber schau, seit ich es gestern gehört hab’, da hat’s mich nimmer gelitten, ich hab’ herauf müssen!“

[391] „Geh?“

„Ja! Und weil Du mir keinen Buschen hast bringen können ... schau ... jetzt hab’ halt ich Dir einen gebracht!“ Sie löste den Veilchenstrauß von ihrem Mieder, doch als sie ihn dem Jäger reichen wollte, kam Gittli herbei, zögernd, mit finsteren Augen. Hastig legte Zenza die Veilchen neben Haymo auf die Bank, ging auf Gittli zu und streckte ihr beide Hände hin.

„Grüß’ Dich Gott, Kleine! Brav hast Dein Sacherl gemacht!“

Gittli legte die Hände auf den Rücken.

Zenza lachte. „Geh’, Du Dummerl, was hast denn? Ich mein’ doch, Du hättst Dir ein Vergeltsgott verdient! Da schau! ...“ Sie löste das dünne Silberkettlein von ihrem Mieder, haschte Gittlis Arm und zwang ihr das Kettlein in die Hand. „Nimm’s nur, nimm’s ... ich schenk’ Dir’s!“

Haymo sprang auf. Eine dunkle Röthe flog über seine Stirn und zornig klang seine Stimme: „Gittli! Gieb ihr das Kettl wieder ... Du brauchst Dir noch allweil nichts schenken zu lassen ... von der!“

„Ich hätt’s auch so nicht genommen!“ sagte Gittli mit ruhigen Worten und streckte die Hand mit dem Kettlein aus. „Da hast es wieder, ich brauch’s nicht, für mich thut’s auch ein Bändl!“

Bis in die Lippen war Zenza erbleicht. Einen funkelnden Blick warf sie auf Haymo, einen auf Gittli, dann lachte sie hell auf. Mit zornigem Griff packte sie das Kettlein, zerriß es, warf Gittli die Stücke ins Gesicht und ging mit heiserem Lachen davon, das Mädchen noch einmal streifend mit einem Blick des glühendsten Hasses.

Zitternd stand Gittli, die Wangen von heißer Röthe überzogen, Thränen in den Augen. „Was hab’ ich ihr denn gethan? Ich hab’ ihr doch nie kein ungutes Wörtl gegeben! Und jetzt thut sie mich so verschimpfen!“ Sie brach in bitterliches Weinen aus.

„Gittli!“ stammelte Haymo und wollte sie umschlingen. Aber da kam Frater Severin aus der Herrenhütte, Teller und Becher in Händen. Er machte große Augen und wollte fragen, wohin die Zenza gerathen und was denn geschehen wäre. Aber nach dem ersten Wort verstummte er wieder und verschwand hurtig in der Thür. Er hatte Herrn Heinrich gewahrt, der von der Höhe niedergestiegen kam, den erlegten Auerhahn am Bergstock über der Schulter tragend.

Haymo stand wortlos und nagte an seinen Lippen. Gittli, als sie Herrn Heinrich erblickte, wischte sich die Thränen aus den Augen, bückte sich und las die Stücke des zerrissenen Kettleins von der Erde. Was sie gefunden hatte, brachte sie dem Frater Severin und sagte: „Ich bitt’ Euch, Frater, wenn Ihr wieder hinunterkommt ins Kloster, so leget das der Jesumutter in den Schrein ... es ist gefunden Gut und will keinem gehören!“

Herr Heinrich war näher gekommen. Er nahm den stattlichen Auerhahn vom Bergstock und hielt ihn mit der Hand empor. „Haymo, sieh her, ich habe Weidmanns Heil gefunden!“

In Haymo kochte alles; aber er vergaß nicht seiner Jägerpflicht. Von der nächsten Fichte brach er das grüne Ende eines Zweiges, er trat vor Herrn Heinrich hin tauchte den Zweig in den rothen Schweiß des Vogels und sagte:

„Vor meinen Herren hin ich tritt,
Mit Weidmannsgruß und mit der Bitt’.
Er hat ein’ gerechten Schuß gethan
Drum soll er den Bruch auch nehmen an
Und tragen wohl in Freude
Dem edlen Vogel zu Leide!
Jo! Hoch, o ho!
Brauchet eure gute Wehr
Allezeit zu Gottes Ehr’!“

Herr Heinrich nahm den Bruch, steckte ihn auf die Kappe und gab mit Handschlag den Weidmannsspruch zurück:

„Hab’ Dank, mein lieber Jäger frei!
Trag alle Weil der Dinge drei:
Wehr ohne Schart’ und Fehl,
Graden Sinn ohne Hehl,
Treues Herz ohne Wank!
Habe Dank überall, habe Dank!“

Lächelnd legte Herr Heinrich die Hand auf seines Jägers Schulter und sagte: „Ich habe mein Sprüchlein geredet nach Herrenpflicht. Auf Dich aber, Haymo, paßt es nicht, denn ich habe Dir wünschen müssen, was Du hast. Zu Dir hätt’ ich sagen sollen:

„Bleib’, wie Du bist,
Zu aller Frist!
Und gesunde bald,
Daß der liebe Gott es walt’!“

Die Freude über diese herzlichen Worte färbte Haymos Wangen. Nun gingen sie zur Bank, und es begann das Erzählen. Rechte Jagd muß immer zweimal gehalten werden: erst mit der Waffe in der Hand, dann mit dem Herz auf der Zunge. Frater Severin hatte sich lauschend herbeigeschlichen; Gittli arbeitete mit stiller Geduld in der Herrenhütte.

Als in Herrn Heinrichs Erzählung die Sehne der Armbrust schnurrte und der stolze Vogel niederrauschte durch das Gezweig, da kamen die Knechte mit den Hunden über das Steinthal her. Mit hellem Laut begrüßten die schonen, geschmeidigen Thiere den Anblick der Hütte; wie der Wind kamen sie herbeigesaust und sprangen mit so ungestümer Freude an Haymo empor, daß Herr Heinrich ihm helfen mußte, sie abzuwehren. Nun sollte in aller Eile ein Imbiß genommen werden, und dann sollte es mit den Hunden hinausgehen auf die Luchsfährte, auf welcher Herr Heinrich am Morgen reichlichen Schweiß gespürt hatte. Haymo wurde in die Hütte geschickt, um wieder ein paar Stunden zu ruhen. Als er sich von der Bank erhob, sah er die Veilchen liegen; er faßte sie und hob die Hand zum Wurfe; lächelnd aber schüttelte er den Kopf, brach unter den Fichten einen Büschel der langen Schmielen, welche vom vergangnen Sommer noch standen, und nahm ihn mit den Veilchen in die Hütte.

Einer der Knechte hatte Gittli in der Küche des Herrenhauses aufgesucht und reichte ihr ein kleines Bündel. „Das hat mir Dein Bruder mitgegeben ... und grüßen soll ich Dich auch von ihm.“

Gittli hielt die Augen gesenkt und lispelte: „Weißt nicht, wie’s meiner Schwäh’rin geht?“

„Wie soll’s ihr gehen? Gut halt!“ sagte der Knecht aufs Gerathewohl; er hatte Sepha gar nicht gesehen.

„Gott sei Dank!“ seufzte Gittli erleichtert auf; dann öffnete sie das Bündel; die Röthe der Freude schlug ihr in die Wangen, als sie frisches Linnen und ihr gutes Gewand in dem Bündel fand. Jetzt konnte sie sich doch auch ein bißchen sauber machen ... freilich, um so schmuck auszusehen wie die Zenza, dazu hätte sie die Tochter des Eggebauern sein müssen und nicht die Schwester des armen Sudmanns. Hastig versteckte sie das Bündel und ging wieder flink an die Arbeit.

Eine Weile später machte sich Herr Heinrich auf den Weg. Einer der Knechte mußte ihn begleiten und die ungeduldig ziehenden Hunde an der Leine führen. Ueber eine Stunde galt es zu steigen, bis die Stelle erreicht war, an welcher Herr Heinrich den Schuß auf das Raubthier gethan hatte. „Gieb mir den Weckauf und halte Dich mit der Hel auf hundert Schritte hinter mir!“ sagte er zu dem Knechte, übernahm den Hund und setzte ihn auf die Fährte, welche mit reichlichem Schweiß gezeichnet war. Der Hund fiel in den Riemen, nahm die Fährte gierig an und zog Herrn Heinrich hinter sich her. Das war nun ein mühsamer Weg – durch Wald und über grobes Geröll, durch schier endloses Dickicht der Krummföhre, über Bergrippen auf und nieder, empor bis unter die kahlen Steinwände, wieder herab durch ein felsiges Thal bis zu den Almen und quer über das Almfeld in den dunklen Wald. Wohl eine halbe Stunde zog hier der Hund noch auf der Fährte, bis er in einem wirren Gestrüpp den Luchs aus seinem Lager stieß. Als wär’s eine große, langgestreckte Flamme, so fuhr die rothe Bergkatze aus ihrem Versteck hervor.

„Los die Hel!“ schrie Herr Heinrich, während er den im Riemen würgenden Weckauf befreite. Die Hunde schossen wie Pfeile dahin und begannen mit läutenden Stimmen die Hatz. Der Luchs versuchte aufzubäumen, aber die Krallen der wundgeschossenen Tatze versagten den Dienst – er fiel zurück; im gleichen Augenblick waren die Hunde über ihm: alle drei Thiere zu einem wirren Knäuel geballt, der Luchs fauchend und mit den „Waffen“ schlagend ... doch eh’ es Herrn Heinrich gelang, herbeizuspringen, wurde der Luchs wieder hoch, floh in weiten Sprüngen dahin, und hinter ihm her ging die kläffende Jagd der Hunde.

Herr Heinrich stand und lauschte den läutenden Stimmen. Eine Weile, dann verwandelte sich der Laut der Hunde in zorniges Gebell, welches immer aus der gleichen Richtung kam. „Sie haben ihn gestellt, sie geben Standlaut!“ rief Herr Heinrich dem Knechte zu und eilte zwischen den Bäumen dahin, dem Ruf der Hunde nach.

Nun erreichte er sie; zu Füßen einer aus dem Waldgrund aufragenden Felswand standen sie und bellten zu einer vorspringenden Platte empor, auf welche sich der Luchs mit einem mächtigen Sprung geflüchtet hatte. Er war in eine Falle gerathen: rings um ihn der kahle platte Fels, unter ihm die Hunde, vor ihm der Jäger.

[394] „Schießet, Herr, so schießet doch!“ schrie der Knecht. Herr Heiurich aber warf die Armbrust auf den Rücken, zog den blitzenden Fänger aus der Scheide und ging auf das Raubthier zu, bis ihn von der Felswand nur noch eine Strecke von zehn Schritten trennte. Sein Kommen machte die Hunde noch ungestümer, sie heulten mit heiseren Stimmen und versuchten an der Felswand emporzuspringen. Um sie aber kümmerte sich der Luchs nicht mehr; er saß geduckt, die spitz behaarten Lauscher vorgestellt, die großen, feurig funkelnden Augen auf den Jäger gerichtet, regungslos ... nur die langen, weißen Barthaare zitterten über dem gefletschten Rachen.

„Nun?“ lächelte Herr Heinrich. „So spring’ doch! Du siehst ... ich warte.“

Die rothe Katze drehte den Kopf, als könnte sie den scharfen, ruhigen Blick dieser klaren Menschenaugen nicht länger ertragen. Sie glotzte auf die kläffenden Hunde nieder, dann rings umher wie nach einem Ausweg, und wieder richteten sich ihre funkelnden Augen auf den Jäger; ein leises Zittern rann über ihr gesträubtes Fell, sie duckte sich noch tiefer, die Tatzen streckten und spannten sich ... nun sprang sie ... aber blitzschnell hatte Herr Heinrich den Fänger gehoben, mit der ganzen wilden Kraft des Sprunges rannte sich der Luchs in den vorgestreckten Stahl und plumpste verendet zu Boden.

„Gelt, jetzt haben meine Gemskitzen und Hirschkälber Ruh’ vor dir!“ lachte Herr Heinrich, wischte am Moos den blutigen Fänger rein und verwahrte ihn in der Scheide. Der Knecht kam herbeigerannt, um das Raubthier zu betrachten. Aber die Hunde ließen ihn nicht zu; sie würgten und zerrten an dem erlegten Thier, bis Herr Heinrich sie abrief, um nachzuschauen, ob sie auch glimpflich aus der Balgerei mit dem Luchs entkommen wären. Weckauf war unversehrt, die arme Hel aber hatte einen tiefen Riß über die Schulter, und eine solche Wunde vom Luchs war gar bösartig.

„Hast Du Feuerstein und Schwefelfaden?“ fragte Herr Heinrich den Knecht.

„Ja, Herr!“

„So mach’ Feuer an und brich den Stachel von Deinem Griesbeil. Die Hel ist zerrissen, wir müssen die Wunde brennen.“

Bald flammte ein kleines Feuer, an welchem das Eisen zum Glühen gebracht wurde. Herr Heinrich kniete auf die Erde, nahm den Hund in den Schoß und drückte dessen Kopf an seine Brust.

„Gieb her den Dorn!“

Es zischte ... heulend vor Schmerz riß der Hund sich los, rannte mit tollen Sätzen umher und schüttelte immer wieder das Fell.

„Komm’, Hel, komm’, da komm’ her!“ lockte Herr Heinrich, mit den Fingern schnalzend. Der Hund warf scheue Blicke, zog den Schweif ein und kroch, immer wieder zögernd, vor seines Herrn Füße. Da er zu merken schien, daß ihm ein neuer Schmerz nicht drohe, sprang er mit freudigem Winseln an seinem Herrn hinauf.

„Hat’s weh gethan, Hel?“ schmeichelte Herr Heinrich, den Kopf des Hundes streichelnd. „Weißt, es hat halt sein müssen. Und gelt, Du fragst nicht, warum, und bellst nicht gegen die Hand, die Dich brennt? Ja – Du bist halt kein Mensch ... Du bist ein kluges Thier!“ Nun rief er den Knecht. „Trag’ den Luchs hinunter ins Kloster. Ich laß meine Chorherren grüßen, sie sollen sich den Braten schmecken lassen. Den Weckauf nimm mit Dir! Die Hel darf bei mir bleiben. Komm’, Hel, komm’!“

Gemächlichen Ganges stieg Herr Heinrich durch den Bergwald empor.




17.

Zu später Nachmittagsstunde erreichte Herr Heinrich die Hütten. Unter der Thür des Herrenhauses trat ihm der Vogt entgegen, brennend vor Erregung.

„Reverendissime! Könnt Ihr Euch denken, was wir gefunden haben?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, rannte Herr Schluttemann in die Hütte und kam zurück, in der Hand den schon etwas übel duftenden Kopf eines Steinbocks mit mächtigem Gehörn.

Ueber die Lippen des Propstes flog ein zorniges Wort. Sie traten in die Stube, und Herr Schluttemann begann zu erzählen. Bis gegen Mittag hatten sie vergebens gesucht; alle Fährten und Schweißspuren wareu im Regen erloschen. Schon wollten sie sich auf den Heimweg machen, als Walti in einer tiefen dunklen Felsspalte etwas Verdächtiges erblickte. Es war der gesuchte Steinbock. Er wurde in die Höhe gehoben und genau untersucht; da zeigte sich, daß nichts an dem Thiere fehlte ... nur das Herz. Der Vogt ließ dem Bocke das Haupt abnehmen, um Herrn Heinrich das Gehörn zu bringen. Als sie auf dem Rückweg am Kreuz vorüberkamen, machte Walti abermals eine Entdeckung. „Der Bub’,“ meinte Herr Schluttemann, „hat Luchsaugen und eine Hundsnase.“ Walti bemerkte an dem Christusbild die Blutflecken . . . „schier noch so roth, als wären sie auch gemalt wie die anderen!“ Das Dach über dem Kreuze hatte den Regen verhindert, die bösen Spuren auszulöschen.

Da war es in Herrn Schluttemanns Gehirn wie eine Fackel aufgegangen, bis sein Verdacht das eine zum anderen fügte wie Glied um Glied zu einer Kette.

„Und jetzt, Reverendissime, das ist meine Meinung!“ Er legte die Arme über den Tisch und begann an den Fingern herzuzählen. „Primo! Beim Kreuz muß der Lump den Steinbock angeschweißt haben, oder der angeschweißte Bock kam auf der Flucht am Kreuz vorüber und hat gespritzt. So muß es einer gethan haben, der am Ostermorgen vor Tag beim Kreuz war! Einer, den ich kenneeeeh!“ Herr Schlnttemann dehnte die letzte Silbe wie einen Teigfaden. „So ein Gauner! Hat es mir noch selber erzählt! Warte nur, Dir zünd’ ich auf mit Deiner Schlauheit! Secundo – es fehlt nur der Schweißsack.[44] So hat es einer gethan, oder vielmehr ...“ Herr Schluttemann machte verschmitzte Augen, „einer hat es angestiftet, dem es um ein Herzkreuzl zu thun war! Einer, den ich kenneeeeh! Ist ja zu mir gekommen und hat eins haben wollen, ich hab’ ihm aber einen Tritt gegeben. Und wenn es einer gethan hat für den anderen, so hat er’s gethan um silbernen Dank! Weil er Geld gebraucht hat, wie der Bäck die Hefen ... sagen wir exempli causa: einer, der am Charsamstag das Lehent nicht hat zahlen können ... und am Ostermontag bringt er das Geld! Bringt es! Bringt es ... und haut mir’s auf den Tisch! Und sagt, der ander’ hätt’s ihm geliehen. Haha! Geliehen! Warte nur, Bürschlein, Dir will ich was borgen .. das hat der Freimann im Kasten!“

Herr Heinrich war betroffen aufgesprungen. „Herr Vogt! Ihr meinet den Sudmann, den Wolfrat?“

„Stimmt, Reverendissime! Und der andere, das ist dieser Schmerwanst, der Eggebauer. Der bleibt uns schon, wenn wir nur erst den Sudmann haben. Heut’ in der Nacht laß ich ihn ausheben ... ich habe die Knechte schon hinuntergeschickt; sie bringen ihn morgen, damit der Haymo gegen ihn zeugen kann.“

„Da habt Ihr übereilt gehandelt!“ zürnte Herr Heinrich. „Ihr hättet zuvor meine Stimme hören sollen. Wollt Ihr den Mann gefangen hierherbringen lassen, vor die Augen seiner Schwester?“

Herr Schluttemann machte ein verblüfftes Gesicht; er hatte Lob erwartet und wurde gescholten! Und bei all seiner Weisheit hatte er mit keinem Gedanken an Gittli gedacht. Aber holla ... das war ja ein neuer Beweis!

„Herr Heinrich,“ stotterte er, „scheinet es Euch nicht seltsam, duß gerade diese Dirn’ den Jäger gefunden hat? Gleich hängen laß’ ich mich, wenn sie nicht um die That gewußt hat!“

„Gewußt? Nein! Aber sie mag davon erfahren haben, da es geschehen war. Und da wollte sie helfen, wenn noch zu helfen wäre. Sprechen durfte sie nicht, wenn sie nicht den Bruder verderben wollte. In Gottvertrauen hat sie es gewagt mit eigener Kraft, und Gott ist ihr beigestanden. Ihr aber, Vogt, Ihr meint, alle Schuldigen gefunden zu haben? Denket nach ... denn es fehlt noch einer!“

„Einer? Noch einer?“ stotterte Herr Schluttemann.

„Ja, und Ihr selbst seid dieser eine!“

Das Gesicht des Vogtes färbte sich dunkelroth, und seine Nase wurde zur Fackel.

„Ja, Ihr!“ wiederholte Herr Heinrich. „Mit Eurem rauhen Wesen, mit Eurem Schreien und Schelten. Besinnt Euch nur, wie das arme Kind vor Euch stand, bleich und zitternd. Die Leute mußten ja glauben, sie würden über Nacht schon von Haus und Hof gejagt. Wenn der Mann die That wirklich begangen hat, dann habt Ihr ihn dazu getrieben, nicht der Eggebauer!“

Herr Schluttemann stand da wie ein hilfloses Kind. Er wagte kaum aufzublicken. „Ach, Herr Heinrich,“ stöhnte er, „wenn Ihr mir doch ins Herz schauen könntet! Meiner Treu ... ich bin ein seelenguter Kerl! Aber in der Früh halt, in der Früh! Da steckt mir das Weib in allen Knochen und regt mir die Fäust’ und blast mir die Backen auf.“

[395] „Wenn Frau Cäcilia das Zanken nicht einstellen will, so laßt Ihr doch einmal den Pagstein[45] um den Hals hängen und laßt sie vom Frohnknecht durch die Gassen führen. Ihr seid ja der Vogt!“

Herr Schluttemann kraute sich hinter den Ohren. Freilich, er war der Vogt ... aber Frau Cäcilia war der Obervogt!

Herr Heinrich verwand das Lächeln. „Sagt mir ... weiß das Mädchen schon von Eurem Fund und allem anderen?“

„Nein, nein, Reverendissime!“ gab Herr Schluttemann eilfertig zur Antwort. „Die Dirn’ war weggegangen, als wir kamen.“

„Weggegangen? Wohin?“

„Ich weiß es nicht.“

„Sie soll kein Wort von allem erfahren. Und Haymo?“

„Er ruhet wieder.“

„Schweiget auch gegen ihn! Mit Eurem Gewissen aber, Vogt, mit dem dürft Ihr reden ... so laut Ihr könnt.“

Mit zerknirschter Miene machte der Vogt einen tiefen Bückling, als Herr Heinrich die Stube verließ. Draußen rief der Propst den Knecht herbei, der am Morgen mit den Hunden gekommen war: er solle die Boten einzuholen suchen, die der Vogt hinuntergeschickt habe; sie möchten den Sudmann in Ruhe lassen und von der Sache schweigen, bis Herr Heinrich selbst hinunterkomme; könne er aber die beiden nicht mehr einholen und hätten sie den Mann schon gefaßt, dann solle er sie thun lassen, wie es ihr Auftrag heische. „Und im Salzhaus laß Dir ein Saumpferd geben, leg’ ihm einen Sattel auf und führ’ es hierher; ich will morgen zu Thal und kann den Haymo nicht in der Einöd’ lassen.“

Der Knecht machte sich auf den Weg. Herr Heinrich ging in die Jägerhütte, setzte sich zu Haymo an das Lager und ließ sich noch einmal erzählen, wie alles geschehen wäre. Mit stockenden Worten berichtete Haymo.

„So hat er den Stoß an der Stelle geführt, an welcher das Mädchen Dich gefunden hat?“

„Ja, Herr!“ sagte Haymo leise.

„Es ist also nicht beim Kreuz geschehen?“

Haymo schaute auf und sah den forschenden Blick des Propstes auf sich gerichtet. Zugleich aber war es ihm auch, als stünde Gittli neben ihm, mit angstvollen Augen, mit bittend erhobenen Händen. Er senkte die Blicke. „Nein, Herr!“ Kaum war das Wort gesprochen, da hätte er es gern wieder zurückgenommen. Nur wenige Stunden waren vergangen, seit er von seines Herrn Lippen den Spruch vernommen hatte:

„Wehr ohne Schart und Fehl,
Graden Sinn ohne Hehl ...“

und jetzt hatte er schon dawider gesündigt. Und doch fühlte er, wenn er ein zweites Mal gefragt würde, er könnte wieder nur sagen. „Nein, Herr!“

Man hörte draußen den Frater mit Walti reden; er suchte Herrn Heinrich, auf den die Mahlzeit warte. Der Propst erhob sich und ging in die Herrenhütte. Verwundert fragte er: „Wo ist Pater Desertus?“

„Ich weiß nicht, Herr!“ sagte der Frater. „Er ist fortgegangen.“

„Auch fortgegangen? ... Und weißt Du nicht, wohin das Mädchen ging?“

„Nein, Herr! Ich weiß nicht, was über die Dirn’ gekommen ist. Der Haymo hat sie doch nicht vertrieben!“ Frater Severin lachte. „Ich bin mit ihr hinübergegangen, um dem Jäger das Essen zu bringen und ... da war zuvor eine Dirn’ da, die hat dem Haymo einen Veigleinbuschen gebracht ... und aus den Blumen hatte er ein Kränzlein gewunden. Wie wir nun zu ihm hineinkommen und die Gittli geht vor sein Lager hin da drückt er ihr lachend das Kränzlein auf den Scheitel. Roth ist sie geworden wie ein gesottner Krebs und ist davongeschossen, ohne ein Wörtlein zu reden ... und seit der Zeit hab’ ich sie mit keinem Aug’ mehr gesehen.“

Freilich – denn ehe Frater Severin in die Herrenhütte zurückkam, hatte Gittli ihr Bündel aus dem Wiakel gezogen und war davongesprungen, um irgendwo im Gebüsch ein Versteck zu suchen, in dem sie die rußigen Kleider gegen ihr gutes Gewand vertauschen könnte. Mit Suchen und Suchen ... auf jedes Flecklein blickten ja die Hütten her ... war sie tief hinunter in das Steinthal gerathen. Endlich fand sie eine sonnige Mulde mit dichtem Föhrengestrüpp, so versteckt zwischen Felsgewirr, daß von den Pfaden und Hütten kein Blick hierher zu dringen vermochte. Gittli schlüpfte durch das Gezweig und fand inmitten des Gebüsches einen kleinen Teich, zu welchem sich das Regenwasser über dunklem Moos und weißem Sande gesammelt hatte; wie ein Spiegel blickte ihr das klare Wasser entgegen, von keinem Lüftchen gewellt, von keinem Staub getrübt, goldig schimmernd in der sinkenden Sonne. Gittli klatschte vor Freude die Hände ineinander. Keine Fürstentochter hatte in ihrer stolzen Burg ein Kämmerlein wie sie es hier gefunden: mit weichem Teppich, mit immergrünen Wänden, umgeben von himmelhohen Mauern, darüber die blaue Decke, an der die Sonne als Lampe hing ... und mitten drinnen im Kämmerlein ein lockendes Bad, das der Wettermacher des Himmels, der heilige Petrus, als Marschalk ihr bereitet hatte. Hastig tauchte sie die Hand in das Wasser ... es war nicht allzu kühl, denn der Regen war lau gefallen und die Sonne hatte gut geheizt. Im Gebüsch legte Gittli das Gewand zurecht, das sie mitgebracht, dann schlüpfte sie aus den Kleidern und huschte ins Wasser, flink und schlank, zart und geschmeidig wie ein Elflein, bis zu den Knien fast umhüllt vom schwarzen Mantel der gelösten Haare. Da plätscherte sie nun in der Sonne und schauerte und kicherte und wusch und rieb sich das Gesicht, daß ihr die Wangen zu brennen begannen. Und jetzt plötzlich erschrak sie und lauschte ... es raschelte im Gebüsch ... und mit einem leisen Aufschrei tauchte sie in das Wasser, daß nur ihr Köpfchen noch hervorlugte, vom schwimmenden Haar umgeben wie von einem dunklen Schattenkreis. Es war still in den Büschen ... doch nein, jetzt wieder begann das Rascheln, ganz leise, und immer näher kam es ... Gittli zitterte vor Angst und Kälte und wagte sich nicht zu regen ... sie sah im Dickicht die Spitzen der Aeste sich bewegen, etwas Graues schlich da drinnen hin und her ... nun theilten sich die Zweige, und zögernd trat aus den Büschen eia Hirschkalb hervor, das der nahende Abend aus dem Lager getrieben hatte.

Beim Anblick des Wassers „verhoffte“ das Thier, denn vor zwei Nächten war an der Stelle, wo der Teich sich gebildet hatte, noch Weide gewesen. Scheu, mit vorgestrecktem Halse, kam es näher, stieg mit tastenden Schritten in das Wasser, drehte den Grind hin und her und schaute bald mit dem einen, bald mit dem anderen Licht[46] in höchlicher Verwunderung auf sein Spiegelbild. Das war so drollig anzusehen, daß Gittli, die sich mäuschenstill gehalten hatte, kichern mußte. Das Wild hob mit jähem Ruck den Hals und gewahrte nun das weiße Gesichtchen mit den großen leuchtenden Augen; ungeduldig stampfte es mit den Läufen, denn die seltsame Wasserblume mit den tausend schwarzen, schimmernden Blüthenfäden und dem silberweiß aus dem Teich hervorschimmernden Stengel mochte ihm nicht ganz geheuer erscheinen. Da tauchte Gittli hurtig in die Höhe. „Brrrrr!“ machte sie, mit beiden Händen Wasser spritzend ... und mit einer hohen Flucht stob das erschrockene Thier in das Dickicht zurück, daß die Aeste rauschten und die Zweige knackten.

„Hast Du mich erschreckt, hab’ ich Dich erschreckt!“ lachte Gittli, aber sie brachte die Worte kaum hervor – so fröstelte sie. Eilig schüttelte sie das Haar, rang das Waffer aus dea Strähnen und huschte ins Gebüsch zurück.

Eine Weile, und sie erschien im blauen Röcklein und schwarzen Mieder, in jenem ganzen Staat, in welchem sie am Gründonnerstag das nörgelnde Staunen des Herrn Schluttemann geweckt hatte; die Haare aber ließ sie offen hängen damit sie auf dem Heimweg trocknen möchten ... und über ihrem Scheitel saß, als ein lieblicher Schmuck, das duftende Veilchenkränzlein. Sie trat an das Ufer, zog das Röcklein glatt an die Kniee und neigte sich vor; mit ernsten Augen betrachtete sie ihr Spiegelbild, dann lächelte sie ein klein wenig ... sie schien sich zu gefallen; doch gleich wieder schüttelte sie den Kopf und seufzte: „So schön wie die Zenza bin ich halt allweil nicht!“

Langsam stieg sie durch das Steinthal empor und suchte den Pfad nach den Hütten zu gewinnen. In der scheidenden Sonne trocknete ihr Haar und begann sich zu locken. Als sie den Steig erreichte und über das Thal hinwegschaute, blieb sie zögernd stehen. Saß dort drüben einem Fels zu Füßen, nicht Pater Desertus? Doch es gab keinen anderen Weg zu den Hütten – sie mußte an ihm vorüber. Aber weshalb nur war ihr bange vor diesem Mönch? Sie hatte [396] ihm nichts zu Leide gethan und keine Ursach’, ihn zu fürchten. Wohl hatte ihr Haymo gerathen: geh’ dem „Schwarzen“ aus dem Weg – allein sie hatte ja keinen anderen Pfad.

Ruhig schritt sie weiter. Als sie in eine tiefe Senkung des Thales kam, entschwand ihr der Pater aus den Blicken.

Desertus hatte das Mädchen noch nicht gewahrt. Seine Augen schauten ... wie Gittli zu Herrn Heinrich gesagt hatte ... wieder „einwendig^. Er saß auf einem niedrigen Stein und hielt den das Haupt stützenden Arm über einen höheren Felsblock gelehnt. Warm lag die sinkende Sonne auf seinem bleichen Antlitz, und um seine schmalen Lippen spielte ein träumerisches Lächeln. Die holden Bilder der Vergangenheit webten vor seinem Geist: Frühling war’s und schüchtern begannen im Laubwald die Blätter zu sprossen. Zwischen den Bäumen läuteten die Stimmen der Bollbeißer, die Hörner klangen und jagender Hufschlag tönte. Nun geben die Hunde Standlaut. „Heia, sie haben ihn!“ Und allen anderen voran fliegt Dietwald dahin auf schäumendem Pferde und löst schon den Riemen, mit dem der kurze Speer, die „Feder“, lose an seinen Arm gekoppelt ist. Auf einer kleinen Bloße haben die Beißer den Bären gefaßt, wie die Kletten hängen sie an seinem Gehör. Dietwald schwingt sich vom Pferde, sicher führt er den Stoß ... der Bär hat seinen „Fang“ erhalten und liegt verendet unter den Hunden. Nun geht es heimwärts durch den Wald mit Lachen und Plaudern. Von den Zinnen seiner Burg weht eine weiße Fahne, frohe Botschaft kündend. Er spornt das Roß, jetzt hat er den Hof erreicht, mit langen Sprüngen nimmt er die Stufen ... und unter der Thür der Frauenstube treten ihm die Mägde entgegen und bringen ihm sein Dirnlein, das ihm Gott geschenkt, derweil er den Bären jagte. Ach Herr, solch ein Würmlein! Kein Gesichtchen ... nur Augen! Und mit denen schaut es umher in der Welt, in die es gerathen ist, so neugierig, so erstaunt! Er wagt das winzige Dinglein kaum anzurühren, denn er fürchtet, es möchte ihm zerbrechen unter den Händen. Da war sein Junge schon aus festerem Holz; der schrie wie ein kleiner Geier, zappelte mit den Füßchen, schlug mit den zarten Fäusten um sich, ließ sich drücken und küssen ...

„Dietwald!“ Ach, wie matt diese Stimme klang! Er reicht das Dirnlein den Mägden und tritt auf den Zehen in die dunkle Stube, aus deren Ecke die weißen Laken des Bettes schimmern. Er tritt hinzu, noch finden sich seine Augen nicht zurecht, doch eine kleine weiche Hand erfaßt die seine. „Judita!“ stammelt er in seliger Freude und bedeckt das zitternde Händchen mit heißen Küssen. Da er aufblickt, lächelt ihm die junge Frau entgegen; sie kann in ihrer Schwäche das Haupt nicht erheben, es ruht auf schwarzem Kissen ... nein doch, das sind ja nur die gelösten Haare, die um ihre Wangen gebreitet liegen wie schwarze Seide.

Sie soll nicht reden, und er darf nicht sprechen zu ihr; aber an ihrem Lager darf er sitzen und ihre Hand in der seinen halten und träumend alle Freude nachgenießen, die er mit diesem holden Weibe gewann. Er hatte sie zum ersten Mal gesehen, da er mit König Ludwig einritt in die Passauer Bischofsburg. Als das Tournier gehalten wurde, warf er seine Gegner spielend in den Sand; die schönen Augen, die aus allen Fenstern auf ihn gerichtet waren, störten ihn nicht; denn in seinem Herzen glühte nur die Freude am Kampfspiel. Doch als ihm Frau Irmgard, des Bischofs Schwester, den Tournierdank reichte, sah er neben der stolzen Frau ein Mägdlein sitzen, fast noch ein Kind, mit fein geschnittenem Gesichtchen und tiefen Räthselaugen, Stirn und Wangen dicht umringelt von schwarzem Gelock. Ihre Blicke trafen sich, und leis erröthend senkte das Mägdlein die Lider. „Nun, Herr Graf, was zögert Ihr?“ lächelte Frau Irmgard. „Ihr habt den Dank verdient!“ Dietwald beugte das Knie und ließ sich den Kranz um die Stirn legen. Doch als er zurücktrat, winkte er dem Seneschall des Bischofs. „Wer ist das holde Kind?“ ... „Frau Irmgards Töchterlein Judita, ihr Vater hauset auf der Ortenburg[47].“

Bei der Tafel fand sich Dietwald an Juditas Seite. Drei Maientage schwanden hin, im ganzen Sonnenglanz und Blüthenduft der ersten jungen Liebe, mit ihrem sehnenden Sichsuchen, ihrem zagenden Sichfinden, ihrem seligen Stammeln und Verstummen und mit der süßen, alles bekennenden Zwiesprach der kühneren Augen. Und als Frau Irmgard Abschied nahm und Dietwald und Judita mit stummen Lippen standen, da sagte die lächelnde Mutter: „Nach der Ortenburg habt Ihr ein kurzes Reiten, Graf, lasset Euch doch einmal blicken bei uns, ehe Herr Ludwig wieder heimzieht nach seiner Pfalz.“

Einen Tag lang wehrte Dietwald seiner Sehnsucht, am zweiten Morgen aber saß er schon zu Pferd. Ueber blumige Wiesen ging der Weg, durch jung ergrünenden Wald. Auf einem Hügel erhob sich die stattliche Burg, und ihr zu Füßen lag das kleine Dorf. Dort tönten die Pfeifen, und jauchzende Stimmen klangen. „Sie halten den Maientanz,“ sagte ein Bauer, der des Weges kam, „und die Burgleute sind auch dabei, und das liebe Fräulein tanzet mit jedem braven Buben und ist geschläfet[48] wie ein Bauernkind!“

„So will ich mir auch einen Reigen holen!“ lachte Dietwald, sprang vom Pferde, warf die Zügel dem Knechte zu und eilte dem Dorf entgegen. –

Nun plötzlich rann es ihm heiß und kalt durch das Herz ... dort, zwischen den grünen Büschen, kam sie gegangen, zögernden Schrittes, leise lächelnd, gekleidet wie ein Kind des Dorfes, in blauem Rocklein und schwarzem Mieder, die Schultern umringelt von dunklem Gelock, über der Stirn ein Veilchenkränzlein, sie selbst eine liebliche Blume, die ein Wunder verwandelt in Fleisch und Blut.

„Judita!“ schrie er jubelnd auf, stürzte ihr entgegen und umschlang sie mit zitternden Armen ...

Das Mädchen aber erblaßte, riß sich mit angstvollem Aufschrei von seiner Brust ... und hinter ihm rief eine zornige Stimme. „Desertus!“

Taumelnd griff er mit den Händen nach seiner Stirn, mit erwachenden Augen starrte er um sich ... und da sah er in weitem Kreis die kahlen Felsen ragen – Herr Heinrich stand vor ihm, und auf dem Pfade floh Gittli erschreckt den Hütten zu.

„Welch ein Erwachen!“ stöhnte er, schlug die Hände vor das Gesicht und sank mit Schluchzen vor Herrn Heinrichs Füße. Zwischen den Brauen des Propstes glättete sich die zornige Furche. Er schüttelte das Haupt und legte die Hand auf des Paters Scheitel.

„Dietwald! Erhebe Dich!“

Pater Desertus drückte das Antlitz in Herrn Heinrichs Gewand und umklammerte ihn wie der Sinkende den rettenden Baum.

„Komm, Dietwald, steh’ auf!“ Herr Heinrich nahm ihn bei den Armen, hob ihn empor und führte den Wankenden zu einem Stein. „Rede! Wie kam es, daß Du Dich so vergessen konntest?“

Pater Desertus schaute zu ihm auf mit dem Blick der Verzweiflung; er drückte die eine Hand auf seine stürmisch bewegte Brust und führte die andere an den Lippen vorüber, wie um zu sagen: ich kann nicht sprechen! Herr Heinrich ließ sich auf einen Felsblock nieder und wartete. Es währte lange, lange, bis Pater Desertus zu sprechen begann, in heiseren Lauten mit abgerissenen Worten: „Ich saß ... und schlief mit wachenden Augen ... und träumte ... und mit einmal stand es wieder vor mir ... wie herausgetreten aus meinem Traum ...“

„Dein Gespenst?“ sagte Herr Heinrich betroffen. „So hätt’ ich Dich falsch verstanden bei der Klause? Nicht eine Ausgeburt Deiner irrenden Sinne? Ein Gespenst aus Fleisch und Blut! Dieses Kind hat die Versuchung über Dich gebracht?“

Pater Desertus starrte Herrn Heinrich an, als verstünde er ihn nicht. „Versuchung? ... Nein, Herr! ... Es war noch kein Lebender seinem athmenden Glück so treu, wie ich an meinem toten hänge. Eh’ ich Judita fand, hab’ ich kein Weib mit Mannesaugen angesehen, und seit ich sie verlor, ist mir, was Weib heißt, aus der Welt gestorbe. Versuchung? ... Nein! ... Ihr müßt es Wahnsinn nennen, den ein grausam spielender Zufall der Natur in mir entzündet!“ Wie im Fieber flogen seine Worte. „Ich hab’ es mit eigenen Ohren doch gehört von den bleichen Lippen all meiner Sassen, die den mörderischen Räubern noch entkamen, die es ansahen mit entsetzten Augen, wie mein Weib auf den Altan des brennenden Thurmes flüchtete, meinen Knaben an sich gedrückt, mein Töchterlein auf den Armen ... wie die Mauern barsten und die Balken stürzten, all mein Glück begrabend in Flammen, Rauch und Trümmern ... ich habe doch meines armen, süßen Weibes verkohlte Gebeine gefunden noch umwunden von dem goldenen Kettenschmuck, den Judita als mein Angebinde getragen hat, ich weiß doch, daß aus dem Reich des Todes keine Straße zurückführt in das Leben ... und dennoch! So oft mir dieses Kind vor Augen tritt, mein’ ich, ein Wunder hätte sich vollzogen, der Lauf der [398] Zeiten hätte still gestanden, und alles Geschehene wär’ ein böser Traum gewesen, der sich nun löset von mir, da ich erwache. Denn dieses Kind, Herr Henrich ... wo find’ ich nur Worte für das Wunder ... ich suche auf der Erde: so gleichet keine Blume ihrer Schwesterblume . . ich suche am Himmel: so gleichet kein Stern dem Stern wie dieses Kind an Haar und Augen, an Antlitz und Gestalt, an Reiz und Wesen meinem Weibe! Und so wie dieses Mädchen jetzt ... im Kleid des Dorfes, mit gelöstem Haar, den Kranz von Veiglein über der Stirn ... so trat mir Judita entgegen, als ich in Seligkeit den ersten Kuß auf ihre Lippen drückte!“ In sich versinkend, schlug er die Hände vor das Antlitz.

„Dietwald!“ rief Herr Heinrich in tiefer Erregung. „Sage mir ...“ Er verstummte wieder. Es war ja das Unmogliche, was er dachte! Und durfte er aus der schmerzvollen Seele dieses schwer Gebeugten einen Wahnsinn reißen, indem er einen anderen Wahn in ihr erweckte? Er trat auf ihn zu und strich ihm langsam mit der Hand über den Scheitel. „Vergieb mir, Dietwald, daß ich Dich falsch verstanden, daß ich Dich aus der Pein in die Marter stieß, als ich Dich hierhergeführt, statt daß ich weite Meilen zwischen Dich und diese Hütten gelegt hätte! Du darfst nicht bleiben! Nicht um Deinetwillen und nicht des unschuldigen Kindes wegen, das Du erschreckt hast bis ins innerste Herz.“

Pater Desertus nickte vor sich hin.

„Weißt Du den Weg nach Deiner Klause zu finden?“

„Nein, Herr! Aber fort, fort, nur fort!“

„So warte hier – ich will Dir den Walti senden! Er soll Dir Deinen Basthut und das Griesbeil bringen und soll Dich führen. Auch eine Fackel soll er mitnehmen, denn Ihr kommet in die Nacht hinein. Und wenn Du in der Klause bist, halte den Buben bei Dir, er plaudert gern, und laß die Fackel brennen die ganze Nacht. Beten kannst Du nicht mit diesem Irrsinn im Herzen! Und schlafen noch minder! Nimm die Schnüre und beginne ein Netz zu flechten mit engen Maschen ... ich komme morgen vor Abend zu Thal ... eine Klafter hoch und drei Klafter lang soll das Netz gerathen sein, bis ich komme ... und weniger will ich nur finden, wenn Dich der Schlaf befiel. Bessere Hilfe weiß ich Dir nicht als: schaffen, schaffen und schaffen, bis Dir die Augen sinken und die Arme erlahmen. Und übermorgen sollst Du reisen!“

Sie reichten sich die Hände.

„Ich gehorche!“ flüsterte Pater Desertus.

Und Herr Heinrich ging, an der Wende des Pfades noch einmal zurückschauend mit bewegtem Blick. Als er das Herrenhaus erreichte, kam Frater Severin aus der Jägerhütte. „Wo ist der Walti?“

„Ich habe den Buben um Holz geschickt,“ sagte der Frater, „die Wellen[49] sind ausgegangen.“

„Und das Mädchen?“

„Ich glaub’, sie hockt in der Küche. Was die nur hat! Als wär’ die Trud hinter ihr, so ist sie gerannt gekommen, und vor Haymos Lager ist sie hingesunken und hat in einem fort geweint und kein Wort geredet, was wir sie auch gefragt haben. Ich hab’ schon gemeint, der Haymo fahrt aus der Haut, so hat er’s getrieben mit der Dirn’. Aber sie hat ihm nicht Red’ gestanden, und weil er gar nicht hat aufhören wollen mit fragen, hat sie einen Schluchzer gethan, als fiel’ ihr das Herz hinunter, und ist zur Thür hinausgeschossen. Der Haymo hat gleich aufspringen wollen und ihr nachlaufen. Aber ich hab’ ihn gehalten, und weil ich gesehen hab’, daß die Dirn’ ohne die Veiglein gekommen ist, hab’ ich ihm eingeredet, daß sie so weinen thät’, weil sie die Blümeln verloren hat. Da drüber hat er sich dann schier wieder gefreut!“

Herr Heinrich trat in die Küche und sah das Mädchen verschüchtert in einem Winkel sitzen.

„Gittli!“

Sie folgte ihm zögernd in die Herrenstube.

„Wo hast Du denn Deine schönen Blumen?“

„Verloren!“ lispelte das Mädchen. „Sie müssen mir heruntergefallen sein, wie ... wie er mich ...“ Sie verstummte.

„Du bist wohl arg erschrocken?“

Schweigend stand sie, mit gesenkten Lidern.

„Vergiß es, Gittli! Weißt, der Pater ist ein armer, kranker Mann ... krank im Herzen.“

Sie schaute mit großen Augen zu Herrn Heinrich auf.

„Denk’ nur, ehe der Pater in das Gotteshaus getreten ist, war er ein Rittersmann, hat eine junge, schöne Frau gehabt und holde Kinder und hat all seine lieben Leut’ verlieren müssen in einer einzigen Nacht!“

Gittlis Augen wurden feucht. „O mein Gott!“

„Weißt, und seit der Zeit ist er manchmal so träumig wie ein Krankes ... und wie Du jetzt gekommen bist, da hat er völlig gemeint, seine liebe Frau thät’ ihm erscheinen ...“

„Wohl wohl,“ fiel Gittli hastig ein, „er hat ja auch einen Namen gerufen, wie ich gar nicht heiß’.“

„Siehst Du!“

„Mein, der thut mich aber jetzt dauern!“ Sie streckte Herrn Heinrich in tiefer Bewegung die Hand hin. „Saget ihm doch nur, daß ich ihm nimmer harb sein will, aber gar nimmer!“

„Ja, mein Kind, das sag’ ich ihm, und das wird ihn auch freuen. Mußt auch mit keinem davon reden, weißt, die Leut’ thäten ihn drum anschauen.“

Sie schüttelte das Köpfchen.

„Aber komm’, so setz’ Dich doch ein’ Weil’! Ich bin ja ganz allein, wir wollen ein wenig haimgarten!“

Schüchtern setzte sie sich auf die Bank und strich an ihrem Röcklein die Falten glatt.

„Wie alt bist Du denn, Gittli, sag’!“

„Im letzten Anderherbst[50] bin ich fünfzehn Jahr’ geworden.“

„Fünfzehn Jahr’?“ wiederholte Herr Heinrich. Und nach kurzem Besinnen fragte er: „Weißt Du nicht auch den Tag, an dem Du geboren bist?“

„Wohl wohl, Herr, am heiligen Pelagitag.“[51]

Betroffen blickte der Propst das Mädchen an. Am heiligen Pelagitag ... das war zehn Tage nach der Ampfinger Schlacht und einen Tag nach dem Brande der Burg Falkenberg! Hier hatte die Natur ein seltsames Spiel getrieben, oder ... tief aufathmend schüttelte er den Kopf und fragte: „Wo seid Ihr denn daheim gewesen?“

„In Dorfen[52], Herr, aber wir haben nicht im Ort gehauset. Unser Häusl ist ganz einödig im Wald gestanden, denn der Vater hat gekohlet.“

„Kannst Du Dich denn noch besinnen auf Vater und Mutter?“

Sie schaute ihn mit feuchten Augen an. „Kann denn eins Vater und Mutter vergessen? Ich bet’ ja doch alle Tag’ für sie, und da seh’ ich’s allweil wieder dastehen vor mir: den Vater, der wie ein Baum gewesen ist, wenn das Mies daran hängt, ja, so einen langen Bart hat er gehabt, und wisset, Herr, er hat schon ein lützel gegrauelet ... aber das Mutterl, ja, das hat noch allweil Zöpf’ gehabt wie ein Junges. Und so gut schauen hat’s können, und eine Hand hat’s gehabt ... wenn’s einen damit angerührt hat, das ist einem völlig gewesen wie an einem Abend, wenn’s recht warmelet und es streicht ein Lüftl an einen hin. Und soviel, soviel lieb hat’s mich mögen! Ich glaub’, es hat noch keins auf der Welt ein so gutes Mutterl gehabt wie ich!“ Sie fuhr sich mit dem Arm über die Augen.

Herr Heinrich erhob sich, trat auf Gittli zu und nahm ihre Wangen in seine Hände. „Das Mutterl nimmt Dir keiner mehr, und wenn er Dir auch ein anderes dafür geben könnte!“

Sie schaute ihn fragend an, denn sie verstand ihn nicht.

Frater Severin erschien. „Der Bub’ ist daheim!“

„Er soll kommen!“

Walti trat in die Stube, und während Herr Heinrich leise mit ihm redete, erhob sich Gittli und schlich an der Wand entlang zur Thür. Draußen fuhr sie sich noch einmal über die Augen, dann ging sie der Jägerhütte zu. Doch ehe sie diese erreichte, blieb sie stehen, als besänne sie sich ... und nun eilte sie dem Pfad zu, der in das Steinthal führte. Sie wollte die verlorenen Veilchen suchen.

Als sie die Wende des Steiges erreichte, fuhr sie erschrocken zurück. Dort auf dem Stein saß immer noch der Pater; und in seinen Händen hielt er ihr Kränzlein und blickte darauf nieder mit regungslosen Augen. Jetzt hörte sie auch Tritte hinter sich .. dort kam der Bub’ mit zwei Bergstöcken und einer Kienfackel. Lautlos schlüpfte sie in einen Busch und wartete. Sie hörte, wie die beiden einige Worte wechselten und sich entfernten.

[399] Nun kam sie wieder hervor und begann zu suchen. Aber das Kränzlein wollte sich nicht finden lassen.

„Jetzt hat er’s mitgenommen!“ stammelte sie; aber sie zürnte nicht. „Vielleicht hat er eine Freud’ davon!“ Und einem, der soviel Schmerzen getragen hatte, war eine Freude wohl zu gönnen! Weib und Kind verlieren müssen, in einer Nacht – wer hätte mit ihm Erbarmen fühlen sollen, wenn nicht sie! Hatte sie doch Vater und Mutter auch an einem Tag verloren ... damals, als im Land das große Sterben umging!

Lange, lange stand sie und schaute ihm nach, wie er im Gewirr der Felsblöcke verschwand, wieder auftauchte, zwischen dunklen Gebüschen sich verlor und wieder erschien.

Der frischer ziehende Abendwind machte ihr Röcklein flattern und spielte mit ihrem Haar. Unter ihr im Bergwald rief ein Kuckuck, der erste, der mit dem Frühling gekommen war, und über den Halden begannen die steilen Wände, zwischen denen der Schnee nur noch in einzelnen Schluchten hing, in warmer Röthe zu glühen.

Textdaten
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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 14, S. 421–432
[421]
18.

Die Dämmerung, welche über den Bergen die ersten Fäden spann, webte im Thale schon die grauen Schleier.

Wolfrat war aus dem Sudhaus heimgekehrt und saß mit Sepha am Tisch. Vor zwei Tagen hatte sie die Kraft gefunden, das Lager zu verlassen … es war die Kraft, die der Kummer und die Sorge giebt.

Sie hatten ihr karges Nachtmahl schon verzehrt, aber sie saßen noch, schweigend; jedes hielt die Arme über den Tisch gelehnt und grübelte mit verlorenen Blicken vor sich hin.

Lippele kniete auf der Bank und guckte zum offenen Fenster hinaus. Mit einmal rief er. „Schau, Mutterl, schau, die Berg’ thun brennen!“ Es störte ihn nicht, daß er keine Antwort erhielt. „So, so,“ schmollte er mit nickendem Köpflein, „wann die Dittibas’ verbrennen thut .. droben!“

Wolfrat erhob sich ungestüm, schritt ein paarmal in der Stube auf und nieder und warf sich im Ofenwinkel auf die Bank, daß das Brett laut krachte. Sepha schlug die Hände vor das Gesicht.

Eine stille Weile verging, dann streckte Lippele neugierig den Kopf; er hatte am Hag das Thürlein knarren hören.

„Vater! … Mannerleut’ kommen!“

Sepha erblaßte, und Wolfrat sprang auf das Fenster zu.

„Sie kommen, Seph’!“ sagte er mit heiserer Stimme und griff nach dem Tisch, als befiele ihn ein Schwindel.

„Jesus Maria!“ stöhnte das Weib, flog auf ihn zu und umschlang ihn mit zitternden Armen.

Er richtete sich auf. „Nimm Dich zusammen, Seph’,“ sagte er ruhig. „Sie dürfen kein unrechtes Wörtl hören. Komm’, setz’ Dich her, da …“ er drückte sie auf die Bank. „Und red’ keinen Laut! Vom Gesicht schaut Dir im Zwielicht keiner was ab. Und wenn es schief ausgehen sollt’ … ich glaub’s nicht, Seph’, sei ruhig … ich mein’ halt, für alle Fäll’ …“ seine Stimme dämpfte sich zu hastigem Geflüster, „so laß ich Dir eine Hilf’ zurück in der Noth … einen Schatz, der zum heben ist … mir ist er verschlossen so lang’ ich leb’ … aber wenn’s einmal aus ist mit mir, dann sollst Du was haben davon und mein Bub’ … ein goldener Schatz, Seph’ … und der Schlüssel dazu – das ist die Dirn’!“

Sie starrte ihn entsetzt an; von allem, was er sagte, verstand sie nur das eine: daß er an das Schlimmste dachte. Das Fenster wurde dunkel, als die Männer draußen vorübergingen. Wolfrat nahm hastig seinen Platz hinter dem Tisch wieder ein.

Die beiden Knechte, welche Herr Schluttemann ausgeschickt hatte, traten in die Stube; der Frohnbote, den sie mitgenommen, blieb draußen vor der Hausthür stehen.

Lippele rutschte hurtig von der Bank herunter, lief auf die Mutter zu und schmiegte sich unter ihren Arm.

„Ist der Polzer daheim?“ fragte einer der Knechte.

„Wohl wohl,“ sagte Wolfrat. „Was giebt’s?“

Der Knecht zögerte mit der Antwort; sein Blick streifte das Weib. „Geh’, komm’ ein’ Weil’ mit uns vors Haus.“

„Ich hab’ den ganzen Tag geschafft und bin müd’!“

„Wirst aber heut’ doch noch einen weiten Weg machen müssen!“

„Warum? Und wohin?“

„Warum, das wirst erfahren, und wohin, das wirst sehen.“

Wolfrat lachte. „Da bin ich aber schon neugierig. Wer will denn was von mir?“

„Der Vogt!“

„Der Vogt?“ wiederholte Wolfrat überrascht. „So? So?“ Er strich sich die Hand über die Haare und erhob sich. „Ja freilich, da muß ich schon gehen. Aber … wenn ich recht gehört hab’, ist ja der Vogt seit Feiertag auf der Jagd … freilich, hab’s ja von Euch selber [422] gehört, wie ich auf der Alm meine Schwester gesucht hab’. Was will er denn von mir da droben?“

Die Knechte wollten ihn fassen; altein er trat zurück und machte zwei Fäuste. „Oho! So ist’s gemeint? Ich geh’ von selber mit, weil der Vogt mich haben will. Aber anrühren soll mich keiner, sonst schlag’ ich zu!“

„So komm’!“

Wolfrat nahm den Hut von der Ofenstange und ging auf sein Weib zu. „Behüt’ Dich Gott, Seph’! Bis morgen abend bin ich wohl wieder daheim.“ Er reichte ihr die Hand und hob den Buben in die Höhe.

„Vater,“ klagte Lippele, „Du thust mich drucken!" Und als der kleine Bursch’ auf der Erde stand, roltte er die Schultern und dehnte die Aermchen, als wären ihm alle KnÖchlein aus den Fugen gerathen und er müßte sie wieder einrenken.

„Also, weiter!“ sagte Wolfrat und ging den beiden Knechten voran zur Stube hinaus.

„Mutterl?“ fragte Lippele. „Wohin muß denn der Vater?“

Schluchzend warf sich Sepha über den Tisch; sie hatte ein Gefühl, als wäre ihr jählings etwas eisig Kaltes ins Herz gefahren.

Als Wolfrat aus der Hausthür trat, packten ihn die Knechte unversehens, der Frohnbote warf den Strick, und ehe Wolfrat ans Wehren denken konnte, waren ihm schon die Hände hinter den Rücken gebunden. Er sprach kein Wort mehr. Doch als sie ihn durch den Hag auf die Straße führten, warf er einen langen Blick auf das Totenbrett seines Kindes.

„Bet’, bet’,“ sagte das Brett, „vielleicht bist Du der Nächst’!“

Da kam der Knecht, den Herr Heinrich geschickt hatte, die Straße hergerannt. Keuchend blieb er vor den anderen stehen.

„Willst was?“ fragten sie ihn.

Er schüttelte den Kopf und ließ sie ihres Weges ziehen. Während er stand und ihnen nachblickte, hörte er aus dem Haus des Eggebauern lautes Geschrei und wirren Lärm, dann eine heuleude Weiberstimme. Gleich darauf kam eine Magd durch den Garten nach der Straße gerannt.

„Was ist denn los bei Euch?“ fragte der Knecht.

„Der Bäuerin ist was geschehen, ich muß zum Bader laufen.“

Er rannte neben ihr her. „So red’ doch, was ist der Bäuerin?“

„Der Krank ist schon über ein Jahr lang in ihr und hat ihr allweil unguter zugesetzt. Und da hat ihr der Bader gesagt, sie könnt’ nur gesunden, wenn man ihr ein Herzkreuzl eingeben thät’. Der Bauer hat ihr aber keins verschaffen können, und deswegen ist die Bäuerin allweil soviel schiech mit ihm gewesen und hat gezannt und gepagt[53] in einem fort. Heut’ auf den Abend sind sie wieder aneinander gerathen, und die Bäuerin im Zorn ist aus dem Bett gesprungen und hat ihm die Kunkel an den Kopf gehaut. Derweil aber ist sie ausgerutscht und der Läng’ nach hingeschlagen auf den Boden ... so ein schweres Leut ... und da muß ihr einwendig was gebrochen sein, ja, und drum muß ich zum Bader laufen ...“

Die Dirne wurde dem Knecht zu flink; er blieb hinter ihr zurück und wartete auf den Frohnboten, der die beiden Knechte und ihren Gefangenen nur eine kurze Wegstrecke begleitet hatte.

Die Dämmerung wandelte sich zur Nacht. Als die Knechte mit Wolfrat das Seedorf hinter sich hatten und den Wald erreichten, steckten sie die Fackel in Brand; der sie trug, stieg voran; dann kam Wolfrat und hinter ihm ging der andere Knecht, welcher den Strick, der von Wolfrats gebundenen Händen ausging, an seinen ledernen Gurt befestigt hatte. Nur zuweilen sprachen die Knechte ein paar Worte, die den Weg betrafen. Wolfrat ließ keinen Laut hören. Mit finsteren Augen starrte er vor sich hin auf den Pfad oder in den Wald hinein, in welchem der röthliche Schein der qualmenden Fackel einen gespensterhaften Kampf zwischen der fahlen, unruhig zuckenden Helle und den schwarzen Schatten erregte. Alles erhielt Leben; die moosigen Felsblocke waren anzusehen wie die Köpfe von Ungeheuern, die aus der Erde zu steigen schienen; Baumstrünke mit dürrem Astwerk tauchten aus der Finsterniß hervor gleich abenteuerlichen Gestalten mit borstigem Haar und zum Fang ausgestreckten Armen.

Als Wolfrat vor fünf Tagen diesen gleichen Weg in der Nacht emporgestiegen, da war es still und finster gewesen im Wald. Und langsamer war’s gegangen. Denn das Kreuzbild, das er auf dem Rücken getragen, hatte sich mit den ausgestreckten Armen bald an Bäumen, bald an Zweigen verfangen ... „grad, als hätt’s mich halten wollen,“ dachte er.

Auf den Almen rasteten sie eine Stunde; dann ging’s wieder weiter. Der Morgen dämmerte, als sie sich der Kreuzhöhe näherten. Mit scharfen, dunklen Linien hob sich das heilige Bild vom bleichen Himmel ab. Seit Wolfrat es gewahrt hatte, konnte er den Blick nicht mehr von der Erde erheben. Und als er am Kreuz vorüberschritt, geneigten Hauptes, mit scheuen Augen, rann ihm ein kalter Schauer durch das Herz. „Er lebt ja doch, ich hab’ ihn doch nicht erschlagen!“ schrie es in seiner Seele. Aber die Furcht wollte nicht von ihm weichen. Und eines wußte er: beten konnte er niemals wieder in seinem Leben, seit er an dieser Stelle, den Namen Gottes heuchlerisch auf den Lippen tragend, den Mordgedanken unter seiner Stirn geboren hatte. Er hatte nicht einmal beten können am Grab seines Kindes; so oft er auch begonnen: „Vater unser“ ... immer wieder stand das blutbefleckte Kreuz vor ihm und schloß ihm die Lippen.

Er athmete auf, als sie an der bösen Stelle vorüber waren. Ueber das Steinthal her blinkten im Morgengrau schon die Hütten. In den Felswänden hörte man die Steine gehen, welche die ziehenden Gemsen lösten. Einzelne Wölklein, tief violett, schwammen langsam am blassen Himmel.

Es begann schon voller Tag zu werden, als sie die Hütten erreichten. Auf der Bank vor dem Herrenhause ließen sie sich nieder; die Thüren waren noch geschlossen, alles war still; sogar die Quelle murmelte schläfrig, als wäre sie versiegt in der Nacht und begänne jetzt erst wieder zu fließen, da es tagen wollte. In der Jägerhütte schlummerte Haymo auf seinem Lager, und Frater Severin, der bei ihm hätte wachen sollen, schnarchte auf der Holzbank; er hatte am vergangenen Abend ein schweres Werk geleistet: er hatte sein „Pärchen“ Rechberg und Stein ganz allein bezwingen müssen, da Herr Heinrich den Vogt zu sich in die Schlafstube genommen, um den Heuboden für Gittli zu räumen.

Herr Schluttemann, dem die gewohnte „Bettschwere“ fehlte, erwachte zuerst. Lautlos öffnete er den Fensterladen, und da gewahrte er die Knechte und den Sudmann; eine Weile stand er unschlüssig und kraute sich den Kopf; dann ging er hinaus. Darüber erwachte Herr Heinrich.

Wolfrat und die Knechte erhoben sich, als der Vogt aus der Thür trat; kopfschüttelnd ging er auf den Gefangenen zu, er donnerte und blitzte nicht wie sonst, nur ernster Vorwurf klang aus seiner Stimme, als er zu Wolfrat sagte: „Polzer, Polzer! Was hast denn da jetzt angestellt! Das wird Dir einen bösen Tag bringen!“

Es wäre Wolfrat wohler zu Muth gewesen, wenn der Vogt geschrien und mit den Fäusten gefuchtelt hätte, als wollt’ er ihn niederschlagen auf dem Fleck. So aber fehlte ihm die Ruhe in der Stimme, als er, mit fiusteren Augen aufblickend, dem Vogt erwiderte: „Ich weiß nicht, was Ihr meinet, Herr! Aber wissen möchte ich wohl, warum mich Eure Leut’ überfallen und am Strick dahergeführt haben wie einen Ochs, den man metzgen will!“

„Polzer! Polzer! Thu' nicht leugnen!“ sagte Herr Schluttemann mit den sanftesten Lauten, deren er fähig war. „Sonst muß Dich einer fragen, der eine heiße Zung’ hat und eiserne Zähn’!“

Wolfrats Gesicht wurde aschfarben. „Ich brauch’ nichts leugnen und nichts eingestehen. Ich weiß nicht, was Ihr wollt von mir!“

„Polzer, Polzer! Ich will Dir in aller Güt’ nur sagen ...“ der Vogt verstummte, denn Herr Heinrich war aus der Thür getreten. Nur einen Bückling machte Herr Schluttemann und deutete auf den Gefangenen.

Lange ließ Herr Heinrich schweigend seinen Blick auf Wolfrat ruhen, und dieser ertrug den Blick und zuckte mit keiner Wimper.

„Bindet ihm die Hände los!“

Herr Schluttemann machte große Augen. „Reverendissime, ich bitte zu bedenken ...“

„Ich habe bedacht,“ sagte Herr Heinrich kurz. „Löset ihn, dann soll er mir folgen.“ Er trat in die Herrenstube.

Wolfrat athmete auf, reckte die befreiten Arme und folgte.

„Weck’ einer den Frater!“ sagte Herr Schluttemann zu den Knechten und ging hinter Wolfrat her. Kaum hatte er die Herrenstube betreten, als Gittli vom Heuboden über die Leiter niederglitt, mit verstörten Augen und totenblassem Gesicht. Die Stimmen hatten sie geweckt. Sie wankte zur Thür hinaus, sie hörte die Worte nicht, die Frater Severin ihr zurief, sie sah die Knechte nicht stehen und sie anglotzen ... mit vorgestreckten Händen [423] und fliegenden Haaren stürzte sie der Jägerhütte zu und brach vor Haymos Lager mit schluchzendem Schrei in die Knie.

„O Jesu mein! Gittli! Was hast denn?“ stammelte Haymo, dem der Schreck fast die Sprache nahm.

„Sie haben ihn, o Mutter Maria, sie haben ihn!“

„Wen, Gittli?“

„Der’s gethan hat! Mein Bruder, Haymo ... es ist mein Bruder!“ Stöhnend warf sie die Arme über das Bett und drückte, krampfhaft schluchzend, das Gesicht in die Decke.

Haymo war erblaßt. Ihr Bruder! Das Wort hatte ihn fast gelähmt, er konnte keinen Finger rühren ... er saß da und starrte mit kummervollen Augen auf Gittlis Haupt.

Jetzt hob sie langsam das Gesicht, fuhr sich mit zitternder Hand über die Stirn rutschte auf den Knien näher, umklammerte seine Hände und schaute zu ihm auf, mit starren Zügen, verzweiflungsvolle Angst in ihren fragenden Augen.

Sie brauchte nicht zu sprechen, er verstand diese Frage. Eine brennende Röthe flog über seine Stirn. „Ich darf’s nicht hehlen, Gittli ... ich darf nicht!“

„Haymo! Haymoli! Schau, schau doch, wie ich Dich bitten thu’!“ Sie schlug die Hände ineinander, und die glitzernden Zähren rannen ihr über die Lippen, während sie schluchzte. „Es ist ja mein Bruder, und sie hauen ihm die Hand ab und schlagen ihn zu Tod wie den Grünwieser-Conrad in Salzburg, der einen Hirsch gefangen hat ... und die arme Schwäh’rin, die muß ja versterben, wenn sie’s hört, und schau, am Ostertag ist ihr doch erst ein Kindl verschienen, so ein liebes, gutes Kindl ... Haymo, Haymoli ...“

„Ich darf nicht, darf nicht!“ stammelte Haymo.

In strömendes Weinen ausbrechend, schlug sie die Hände vor das Gesicht und wankte zur Thür hinaus. Er streckte die Arme nach ihr, aber seine Lippen wollten ihren Namen nicht finden.

Hinter der Hütte, zwischen dem tief niederhängenden Gezweig der Fichten sank sie schluchzend auf die Erde. Hätte sie lauschen können, sie hätte von der Herrenstube her durch das offene Fenster die redenden Stimmen hören müssen.

Wolfrat stand vor Herrn Heinrich, als wären seine Glieder von Stein. „Und wenn Ihr mich hundertmal fraget, Herr,“ sagte er mit kalter Ruhe, „ich weiß keine andere Widerred’! Ich hab’ den Weg gemacht, weil mir der Eggebauer das Lehent geliehen hat. Ich hab’ den ‚Herrgott‘ heraufgetragen, hab’ ihn ans Kreuz genagelt, vor Tag bin ich fertig gewesen, hab’ nichts gesehen und gehört, hab’ mich wieder aufgemacht und bin daheimgewesen vor der neunten Stund’. Wie die Dirn’ über Nacht nicht heimgekommen ist, hab’ ich mich freilich zu sorgen angefangen. Aber bis Mittag, da hab’ ich ... hab’ ich ...“ Er stockte. „Ich hab’ zu schaffen gehabt.“

„Du hast Dein Kind begraben?“

Er nickte. „Und auf den Abend hab’ ich im Sudhaus sein müssen. Erst in der Nacht hab’ ich fort können und schauen nach der Dirn’. Wie ich dann auf der Almen gehört hab’, was geschehen ist, hab’ ich mir gedacht, sie soll nur bleiben bei so was ist ein Weiberleut allweil gut, und bin heimgegangen. Und hätt’ ich’s denn ausgeredet überall, wenn ich es selber gethan hätt’?“

„Sag’, weshalb ist Deine Schwester zu Berg gegangen?“

„Ich weiß es nicht.“

„Wollte sie Schneerosen pflücken für das Kind? Zum Engelkränzlein?“

Er zögerte mit der Antwort. Das wäre ein Ausweg gewesen! Aber nein, lügen auf sein totes Kind, das brachte er nicht zuwege.

„Nun?“

„Ich weiß es nicht!“

Herr Schluttemann machte einen Bückling. „Reverendissime! Sollt’ ich nicht etwa die Dirn’ jetzt holen?“

Herr Heinrich wehrte mit der Hand. „Lasset das Mädchen aus dem Spiel!“

Wolfrats Augen blitzten, und seine Brust hob sich. Da winkte von irgendwo eine Hilfe! Das wußte er nun. Gittli hatte ihren Schwur gehalten. Jetzt hatte er nur eines noch zu fürchten ... und das ließ nicht lange auf sich warten. Denn Herr Schluttemann machte abermals einen Bückling und sagte:

„Reverendissime! So wär’ es wohl an der Zeit, den Haymo wider ihn zeugen zu lassen?“

„Und Ihr meinet, dadurch würden wir der Wahrheit auf die Spur kommen?“

„Ei freilich!“

„So? So?“ sagte Herr Heinrich in einem Ton, der beinahe vermuthen ließ, als wäre er anderer Meinung. „Gut, gehen wir!“ Er erhob sich. „Komm’!“ sagte er zu Wolfrat. „Wenn Du die Wahrheit sprachst, so hast Du ja nichts zu fürchten.“

Wolfrat brachte keinen Laut über die Lippen. Einen Augenblick schien die Ruhe ihn verlassen zu wollen. „Schwören kann er nicht, daß ich es war,“ sagte er sich in seiner zähen Hoffnung, „mein Gesicht war angerußt, nicht einmal mein Weib hätt’ mich erkannt.“ Er hob den Kopf und folgte Herrn Heinrich mit schweren Schritten. Sie gingen hinüber zur Jagdhütte, wobei der Vogt keinen Blick von Wolfrat verwandte, auch gab er den Knechten heimlich einen Wink, daß sie sich in der Nähe halten sollten.

Unter der Thür der Jägerhütte trat ihnen Haymo entgegen; er trug den Arm in einer Schlinge; sein Gesicht war weiß wie ein Linnen. Wolfrat senkte den Blick.

„Sieh’ Dir diesen Mann an, Haymo!“ sagte Herr Heinrich. „Der soll es gethan haben. Erkennst Du ihn?“

Wolfrat hob die Augen und erzitterte vor dem Blick, den Haymo auf ihn richtete, denn er las aus diesem Blick, daß der Jäger ihn erkannte. Doch Haymos Lippen blieben geschlossen.

„So sprich,“ mahnte Herr Heinrich, „erkennst Du ihn als jenen der es gethan hat?“

„Nein, Herr!“

Ueber Wolfrats Züge flog eine heiße Röthe. Herr Heinrich blickte um sich, als suche er jemand ... doch er sah nur, wie die niederhängenden Zweige der Fichten sich zitternd bewegten. Der Vogt aber griff sich mit beiden Händen an den Kopf, rannte auf Haymo zu, fuchtelte ihm mit den Fäusten vor dem Gesicht umher und stotterte. „Ja Meusch, wo hast Du denn Deine Augen? So schau’ ihn doch an! Ich sage Dir, er muß es gewesen sein! Schau’ ihn doch an! Gelt, Du erkennst ihn?“

„Nein, Herr Vogt!“ sagte Haymo mit bebender Stimme. „Der’s gethan hat, war geringer am Leib und hat schwarzes Haar gehabt! Der da war’s nicht.“

Herr Schluttemann hob die Arme und ließ sie auf seine Hüften fallen, als wollte er sagen. „Jetzt steht mir der Verstand still!“

„Ihr sehet, Vogt, man kann sich irren!“ sagte Herr Heinrich. „Wir müssen den Mann freigeben.“ Er nickte, als wäre die Sache für ihn erledigt, und ging der Herrenhütte zu. Unter der Thür rief er den Frater. „Die Knechte sollen packen, wir steigen vor Mittag noch zu Thal. Du, der Vogt und das Mädchen, Ihr gehet mit den Knechten über die Almen. Ich warte hier mit dem Haymo, bis das Maulthier kommt, dann nehmen wir den Abstieg nach dem See, er ist kürzer und für Haymo minder beschwerlich.“

Vor der Jägerhütte stand Haymo noch immer auf der gleichen Stelle. Als er den Propst in der Thür verschwinden sah, athmete er tief auf, wandte sich wortlos ab und trat in die Hütte.

Wolfrat und Herr Schluttemann waren allein.

„Schau, schau,“ sagte der Vogt und kraute sich das Genick, „jetzt hab’ ich Dir halt doch unrecht gethan!“

Wolfrat schwieg und blickte langsam nach den beiden Thüren.

„So sei halt jetzt zufrieden, Polzer, und thu’ Dich nicht kränken!“ stotterte Herr Schluttemann. „Und daß Dir die Schicht ausbezahlt wird, die Du heut’ im Sudhaus versäumt hast, dafür sorg’ ich schon, ja, ja!“

„Kann ich jetzt gehen, Herr?“ fragte Wolfrat mit rauher Stimme.

„Freilich, Polzer, freilich! Ja, geh’ nur heim zu Deinem Weib!“ Freundlich klopfte der Vogt den Sudmann auf die Schulter. „Und weißt, wenn’s im nächsten Jahr wieder hapert mit dem Lehent, dann komm’ nur zu mir, ja, ich laß’ schon mit mir reden.“

„Es wird’s nicht brauchen, Herr! Behüt’ Euch Gott!“ Wolfrat zog den Hut in die Stirn und ging dem Steig zu, während Herr Schluttemann kopfschüttelnd das Herrenhaus betrat.

Da rief Herr Heinrich aus dem Fenster: „Wolfrat? Wohin?“

[424] „Heim will ich, Herr! Ich kann doch gehen?“

„Wenn Du willst. Doch es wär’ mir lieb, wenn Du eine Weil’ noch bleiben möchtest. Ich hätt’ eine Arbeit für Dich.“

„Wohl wohl, Herr,“ sagte Wolfrat zögernd.

„Setz’ Dich nur da her auf die Bank und warte, bis ich komme.“

Mit finsteren Augen ging der Sudmann zur Bank; man sah es ihm an, er that’s nicht gern; unter dem Kittel rührte er die Schultern, als wär’ ihm nicht wohl zu Muth in seiner Haut.

Zwischen den Zweigen der Fichten schlüpfte Gittli hervor und huschte in die Jägerhütte. Haymo saß auf dem Bett. Sie flog auf ihn zu, umschlang seine Hand und sank leise weinend in die Knie.

„Aber Gittli, geh’, was machst denn?“ stammelte er mit umflorter Stimme und hob sie auf.

„Vergelt’s Gott, Haymo, vergelt’s Gott tausendmal, weil Du Erbarmen gehabt hast mit ihm!“

„Hab’ ich nicht müssen?“ flüsterte er. „Und wenn’s mich gleich meine Seel’ gekostet hätt’!“ Seine Augen hingen an ihr mit sehnsüchtiger Schwermuth.

„Schau, Haymo,“ zitterte es von ihren Lippen, „er hat ja freilich was Arges, Arges gethan! Aber gelt, ich hab’ es doch ein lützel wieder gut gemacht? Wie er gekommen ist und hat’s der Schwäh’rin gestanden ... und ich bin drin in der Kammer gewesen und hab’s gehört ... schau, da hat mich doch keins nimmer halten können, gelaufen bin ich und gelaufen, bis ich Dich gefunden hab’ ... und gelt, ich hab’s doch wieder ein lützel gut gemacht?“

Er ließ ihre Hände und überflog sie mit bangem Blick. „Nur weil Du’s wieder gut hast machen wollen?“ fragte er mit versagender Stimme. „Und sonst wegen gar nichts bist gekommen?“

Sie blickte mit erschrockenen Augen zu ihm auf. „Weswegen sonst denn hätt’ ich kommen sollen? ... Ja was hast denn? Was schaust mich denn so an?“

Er schwieg und strich mit der zitternden Hand über die Stirn.

„Aber so red’ doch!“ stotterte sie in herzbeklemmender Angst.

Er schüttelte nur den Kopf und wandte sich ab.

„O mein Gott, ja was hast denn, ich hab’ Dir doch nichts gethan?“

Sie wollte seine Hand erfassen. Da klang von draußen die Stimme des Fraters. „Gittli, Gittli!“ Er trat in die Stube. „Da bist Du ja! So komm’ doch, Dirnlein, komm’ doch, Du sollst mir packen helfen.“ Bei der Hand zog er sie mit sich fort.

„Haymo ...“ stammelte sie noch einmal, aber da stolperte sie schon über die Schwelle hinaus.

Als sie an Wolfrat vorüber kam, senkte er den Kopf. Sie wollte zu ihm sprechen, allein der Frater hielt fest und zog, da gab es kein Bleiben. In der Küche that sie wortlos, was man ihr sagte.

„Bruder,“ flüsterte Herr Schluttemann dem Frater zu, „packet das ‚Pärchen‘, das noch übrig ist, oben auf! Dann haben wir doch eine Kurzweil, wenn wir rasten.“

Frater Severin nickte verständnißinnig.

Ein halbes Stündlein später waren sie alle zur Heimfahrt gerüstet. Als Wolfrat die beiden Knechte mit hochbeladenen Kraxen dahinschreiten sah, erhob er sich von der Bank. Die Ungeduld der Furcht zitterte ihm in allen Fibern. Er trat an das Fenster und rief hinein: „Soll ich noch allweil warten, Herr?“

„Ja, Wolfrat!“ klang Herrn Heinrichs Stimme, als eben Gittli zu ihm in die Stube kam, um Abschied zu nehmen. Er sah sie lange an mit freundlichen Augen. „Geh’ mit Gott, mein Kind!“ sagte er und bot ihr die Hand. Als sie dieselbe küßte, fiel eine Zähre aus ihren Augen.

„Gittli? Bekümmert Dich etwas?“

Sie schüttelte das Köpfchen und schlich davon. Vor ihrem Bruder blieb sie stehen. „Gelt, ich kann der Seph’ schon sagen, daß Du bald heimkommen wirst?“

„Sagen kannst ihr’s allweil!“

Sie wollte gehen. Mit unruhigen Augen blickte er ihr nach. Jetzt sprang er auf.

„Dirn’!“

Sie wandte sich zu ihm zurück, und da streckte er ihr wortlos die Hand entgegen. Mit kummervollem Antlitz, die Lippen wortlos bewegend, blickte sie zu ihm auf, als sie ihre Hand in die seine legte.

„Tummel’ Dich, Dirnlein, daß wir weiter kommen!“ mahnte Frater Severin.

„Ich geh’ schon!“ stotterte sie und eilte nach der Jägerhütte. Sie fand die Stube leer. Erschrockeu kam sie heraus gelaufen. „Ja wo ist denn der Haymo?“

„Vor einer Weil’ hat er dem Hund gepfiffen,“ rief ihr Wolfrat zu, „und ist da hinaufgestiegen nach den Halden.“

Zitternd stand sie und starrte in die leere Stube.

„Ist das ein Narr, ein unguter!“ brummte Frater Severin. „Nicht einmal warten kann er, bis man ihm ein ‚Behüt’ Gott‘ sagt! Komm’, Dirnlein, komm’!“

Zögernd, mit gesenktem Köpfchen, schritt Gittli hinter Herrn Schluttemann und dem Frater einher. Immer wieder blieb sie stehen und blickte nach der Jägerhütte zurück, so daß die beiden weit vorauskamen.

Nun führte sie der Weg in eine Mulde, und die Hütten verschwanden. Da sank sie auf einen Stein und schluchzte in ihre Hände.

„Jetzt ist er harb auf mich ... und ich hab’ ihm doch nichts gethan!“

Aus dem Thal herauf hörte sie den Frater ihren Namen rufen. Mit dem Aermel trocknete sie ihre Augen und fing zu laufen an.


19.

„So, Wolfrat!“ sagte Herr Heinrich, als er, die Armbrust führend, aus der Thür trat. „Wir werden bald fertig sein. Ich hab’ mich ja schon zur Heimfahrt gerüstet."

Wolfrat erhob sich. „Was soll ich schaffen, Herr?“

„Geh’ in die Küche und hol’ einen Zuber!“

Der Sudmann eilte sich; das sah ja wirklich aus nach Arbeit; mit einer hölzernen Wasserkanne kam er zurück.

„Komm’!“ sagte Herr Heinrich und ging dem Pfade zu, der in das Steinthal führte. Wolfrat folgte mit raschen Schritten.

„Was er nur wollen mag?“ fragte er sich im stillen. Eine Ahnung drohender Gefahr beschlich ihn. Narretei! Der Jäger hatte doch für ihn gezeugt, und Herr Heinrich selbst hatte ihn freigegeben! Vielleicht soll ich ihm Wurzen graben? Oder ... vielleicht hat er ein Erz gefunden, das er proben will, und ich soll ihm einen Zuber voll heimbringen!“ Beruhigt schritt er weiter. Aber immer länger erschien ihm der Weg, den sie gingen. Nun waren sie wohl schon eine halbe Stunde gewandert ... und von der Höhe her winkte das Kreuz. Wolfrat blieb stehen. „Herr? Wohin gehen wir?“

„Komm’ nur!“ sagte Herr Heinrich und schritt weiter. Als er merkte, daß ihm Wolfrat nicht folgte, hielt er inne, wandte das Gesicht und fragte lächelnd: „Oder willst Du nicht kommen?“

„Wohl wohl, Herr!“

Langsamen Schrittes wanderten sie auf dem ansteigenden Pfad empor. Jetzt kamen sie zu einem rinnenden Wasser. „Fülle den Zuber!“ befahl der Propst.

Wolfrat that es. „Was weiter, Herr?“

„Komm’ nur!“

Immer mehr näherten sie sich dem Kreuz. Aus dem Gesicht des Sudmanns war jeder Tropfen Blut gewichen, seine Augen glühten und die Kanne, die er auf der Schulter trug, zitterte, daß das Wasser über den Rand schwankte. Als sie die Höhe erreichten, sagte Herr Heinrich. „Komm’ her, Wolfrat!“ Er deutete auf die Blutspuren an dem Schnitzwerk. „Sieh’ nur diese häßlichen Flecken . . . komm’, nimm das Wasser und wasche sie weg!“ Dem Kreuz gegenüber, das vom Glanz der Sonne umschimmert war, setzte er sich auf einen Stein und entblößte das Haupt. „Nun? Warum zögerst Du?“

Wolfrat stellte die Kanne nieder, schöpfte Wasser mit der hohlen Hand und wusch ... und wusch ...

„Sie wollen nicht weichen, Herr,“ sagte er nach einer Weile mit dumpfer Stimme, „sie haben sich eingefressen in das Holz.“

[426] „Ja, Sünde frißt sich ein! Wie hier in das Holz, so in die Herzen. Das ist wie Rost auf Stahl; laß’ Du nur erst den bösen Flecken und tilg’ ihn nicht zur rechten Zeit, so frißt er weiter, und die gute Waffe ist zerstört, unbrauchbar für alle Zeit, und Du kannst sie ins alte Eisen werfen“ – Herr Heinrich blickte auf – „oder ins Feuer! Wasche, Wolfrat, wasche! Thu’ es dem Unglücklichen zu lieb, der das heilige Bild so schwer entweihte. Denke nur ... da läuft er umher unter den Menschen und keinem wagt er mehr ins Auge zu schauen; jeder Schritt, den er hört, macht ihn zittern; jedes Wort, das sein Ohr vernimmt, weckt seine Furcht. Das raschelnde Laub, der flüsternde Wind, das murmelnde Wasser, die stille Nacht wie der lärmende Tag – alles ist sein Feind geworden. Was er hört, alles klingt wie der Seufzer, mit dem sein Opfer zusammenbrach; was er sieht, alles hat einen blutigen Schein. Und in seiner einsamen Noth nicht Trost noch Hoffnung! Sein Herz möchte aufschreien zum Himmel – doch er sieht nur immer Gottes Bild vor sich, das er befleckt und entweiht hat, und seine Lippen haben kein Gebet mehr .... Nun? Wollen die Flecken weichen?“

„Nein, Herr!“ Die Worte klangen, als läge eine würgende Hand an Wolfrats Kehle, und die Arme sanken ihm wie gelähmt.

„Mußt nur nicht ablassen! Plag’ Dich nur noch ein lützel! So! So! Weißt, Du thust es ja für einen, der sich selber doppelt straft, weil er meint, er könne der Strafe entlaufen, die nun einmal gesetzt sein muß auf alles, was bös und unrecht ist. Laß ihn nur! Gottes zürnende Gerechtigkeit hat noch flinkeren Gang! Da läuft er ... und die Strafe ist ihm doch schon an die Füß’ gehängt wie eine lange Kette, und er läuft und läuft und schlägt dabei mit der Kette nach allen Seiten und reißt noch andere mit sich in seinen Fall! ... Warum hörst Du zu waschen auf? So! Laß nur nicht nach! ... Sag’, Wolfrat, hast Du ein Kleefeld?“

„Ein halbes Gras[54] – für meine Gaisen,“ stammelte der Sudmann.

„Hast schon einmal den Kleefraß im Feld gehabt?“

Wolfrat nickte.

„Gelt, da hast Du’s halt übersehen, wie der Krank das erste Stäudlein angepackt hat. Hättest Du es nur gleich ausgerissen! So aber hast Du es stehen lassen, und wie Du nach einer Woche wieder hingekommen bist, da war das halbe schöne Feld schon aufgefressen! Gelt, ja? Und schau! Der das gethan hat“ – Herr Heinrich deutete nach den Flecken, an denen Wolfrat mit zitternden Händen rieb – „der trägt jetzt auch einen solchen Schaden in sich herum. Zuerst frißt es in ihm alles auf, was noch gut und gesund ist, und dann kriecht es aus ihm heraus, und hat er Vater und Mutter, so frißt es an denen, und hat er Weib und Kind . . . Was hast Du, WOlfrat? Ist Dir übel?“

Der Sudmann schüttelte den Kopf und schöpfte Wasser mit den Händen.

Herr Heinrich schwieg eine Weile, dann fragte er: „Wollen die Flecken noch allweil nicht weichen?“

„Zur Hälft’ sind sie weg,“ murmelte Wolfrat mit versunkener Stimme, „aber die andern ... die andern halt ...“

„Wasch nur! Laß Dich die Zeit nicht verdrießen, ich wart’ schon, jawohl. Und jenen andern ... den kann ich auch noch abwarten, bis er kommt und die rothen Händ’ herzeigt. Wenn’s nur dann nicht zu spät ist zum Waschen. Und wenn er gar nicht reden wollt’ ... einer ist doch allweil da, der in einer bösen Stunde gegen ihn reden wird!“

Zögernd, mit scheuen Augen blickte Wolfrat auf die Lippen des Propstes.

„Einer, der es gesehen hat!“ sagte Herr Heinrich und deutete zum Kreuz empor. „Der da, Wolfrat?“

„Der?“ Ein irres Lächeln zuckte um Wolfrats Lippen, während er langsam die Augen hob. Dann schüttelte er den Kopf. „Es hat noch nie kein Holz gered’t!“

Ein Wolkenschatten flog über den Grund.

„Meinst Du?“ lächelte Herr Heinrich.

Schwer athmend beugte sich Wolfrat über die Kanne, um mit den hohlen Händen Wasser zu schöpfen. Da klang aus den Lüften ein dumpfes Murren, welches zum rollenden Donner wuchs, um mit einem krachenden Schlag zu enden. Eine Lawine hatte den letzten Schnee von den Wänden gestürzt.

Der Sudmann stand mit fahlem Gesicht, ein Schauer hatte ihn gerüttelt, und von seinen zitternden Händen tropfte das Wasser.

„Hast Du gehört, Wolfrat?“ sagte Herr Heinrich, während zwischen den Felsen der Widerhall verzitterte.

„Eine Lahn war’s ... nur eine Lahn ist gegangen ...“

„Und wer hat sie reden lassen und hat ihr Füß’ gemacht?“

„Die Sonn’!“

„Weil sie scheint, gelt? Und wer läßt die Sonne scheinen?“

Wolfrat schlug die Hände vor das Gesicht, und sein ganzer Körper erbebte wie ein Baum vor dem Sturz. Dann warf er die Arme auseinander. „Ich kann’s nimmer heben, es muß heraus!“ stöhnte er, brach in die Knie und schlug mit den Fäusten seine Brust. „Ich .. ich ... ich hab’s ja gethan! Ich bin’s gewesen, der ihn gestochen hat!“ Mit starren Augen blickte er auf; er hatte wohl gefürchtet, daß der Propst nun aufspringen würde in Zorn und mit rauhen Worten.

Herr Heinrich aber blieb ruhig sitzen. „Und weshalb hast Du’s gethan?“ fragte er.

„Weil er mich hat fassen wollen!“

„Es war seine Pflicht, denn Du hast Raub getrieben. Weshalb?“

„Für mein Kindl! Weil mir einer gesagt hat, daß die Schweißbluh’ noch helfen thät’!“

Herr Heinrich blickte betroffen auf. Nach einer Weile fragte er: „Wer hat Dir das gesagt?“

Wolfrat schüttelte den Kopf und wehrte mit der Hand. Er konnte sich selbst verrathen, doch keinen anderen.

Und Herr Heinrich fragte nicht weiter. „Sag mir nur ... hat’s auch geholfen?“

„Ach du mein Gott, das Kindl war ja schon verschienen, wie ich heimgekommen bin.“

„Ja, Wolfrat, alle Sünd’ ist umsonst! Hat Dir das, wie Du mit der blutigen Hand an das Bett getreten bist, das stumme Mündlein Deines Kindes nicht gesagt?“

Wolfrat schlug die Hände vor das Antlitz und brach in dumpfes Schluchzen aus. Mit einem Blick des tiefsten Erbarmens ruhten die Augen des Propstes auf dem Sudmann. Als Herr Heinrich sich erhob, schaute Wolfrat mit banger Frage zu ihm auf.

„Herr? Was geschieht mit mir?“ Und als er keine Antwort erhielt, stammelte er: „Er ist ja doch lebig, Herr!“

„Ist es Dein Verdienst? Du hättest ihn liegen und verbluten lassen, nur daß er nimmer reden möchte.“

Dem Sudmann sank das Haupt aus die Brust. „Was geschieht mit mir?“

„Das weiß ich nicht!“ sagte Herr Heinrich. „Das mußt Du selber wissen! Es war ja nicht Dein Fürst und Lehensherr, zu dem Du gesprochen hast, es war Dein Beichtiger! Was Du auch sagtest ... ich gehe von hier und hab’ es vergessen.“ Er bedeckte das Haupt und ging mit langsamen Schritten davon.

Wolfrat sprang auf, drückte die Faust an die Stirn und starrte dem Propste nach. Als Herr Heinrich die Tiefe des Steinthals erreicht hatte, blickte er nach dem Kreuz zurück. Er sah den Sudmann zur Quelle gehen, um frisches Wasser zu holen.

Bei der Jägerhütte angelangt, rief der Propst nach Haymo. Aber die Antwort kam nicht aus der Hütte, sondern vom Berghang her, über welchen der Jäger, von der flinken Hel begleitet, langsam herabstieg, in der Hand ein Bündel ausgegrabener Wurzeln tragend.

„Wo warst Du, Haymo?“

„Nieswurz hab’ ich gegraben für den Frater Küchenmeister,“ sagte der Jäger mit müder Stimme.

„Hat er wieder Athemnoth und Herzkrämpfe? Ein Wunder wär’ es freilich nicht. Aber Du ... Du hättest diese Arbeit einem andern überlassen sollen.“

Haymo hielt die Augen gesenkt. „Ich hab’s ihm versprochen.“

[427] „Und hast Dich übermüdet dabei, jetzt, vor dem Abstieg! Und wie bleich Du bist. Gieb Deine Hand her – sie zittert! Und Deine Augen brennen! Haymo, ich muß Dich in der Hütte lassen.“

Der Jäger erschrak. „Ich bitt’, Herr Heinrich, nur das nicht! Ich mein’, ich thät’s nimmer aushalten in der Hütte . . . vor ich nicht wieder gesund bat . . . ganz gesund!“ Er betonte die beiden letzten Worte so seltsam.

Der Propst betrachtete ihn mit forschendem Blick. „So geh’ in die Hütte und richte Dich zur Heimfahrt.“

Haymo trat in die Stube. Herr Heinrich blickte ihm nach. „Seine Wunde heilt ... und sein Herz ist siech geworden. Armer Bursch, ich fürchte, diese Blume ist nicht für Dich gewachsen.“

Er hörte Hufschlag; der Knecht mit dem Saumpferd kam. „Ist das Thier müde?“ fragte der Propst.

„Nein, Herr, ich hab’s allweil rasten und grasen lassen.“

„So können wir gleich aufbrechen. Sperr’ die Thür’ der Herrenhütte und bring’ mir mein Griesbeil!“

Haymo kam, wie zum Hegergang gerüstet, das Weidgehenk um die Hüfte, die Armbrust auf dem Rücken.

„Nein, Du!“ lächelte Herr Heinrich. „So wirst Du mir nicht reiten . . . gewaffnet und den Arm in der Schlinge! Die Waffen hindern Dich. Gieb her, der Knecht soll sie Dir tragen.“ Er nahm ihm die Armbrust und den Fänger ab. „Das Griesbeil laß heroben in der Hütte, das Pferd hat viere für eins. So, und nun steig’ auf!“

„Herr Heinrich!“ stotterte der Jäger. „Ich soll reiten, derweil Ihr zu Fuß gehet?“

„Steig auf, sag’ ich!“

Haymo fügte sich schweigend und hob sich in den Sattel. Der Knecht nahm die Armbrust und schnallte sich das Gehenk um. „So, jetzt bin ich auch ein Jäger!“ lachte er, stieß das Griesbeil in den Grund und faßte den Zügel des Pferdes. Haymo warf noch einen heißen Blick auf die geschlossene Thür seiner Hütte, dann ließ er den Kopf sinken ... und die Heimfahrt begann.

Herr Heinrich schritt hinter dem Pferde her; doch immer wieder blieb er stehen und blickte über das Steinthal aus. Wenn er dann weiter ging, schüttelte er den Kopf. Es schien als hätte er etwas erwartet, und das wäre nicht eingetroffen.

Ruhig und sicher ging das berggewohnte Pferd den rauhen Pfad; kamen schiefe Platten, dann legte es den Leib zurück und rutschte auf den vorgeschobenen Hufen. Vorerst hatte der Knecht, der es führte, leichte Arbeit. Unermüdlich plauderte er drauf los, und es störte ihn nicht, daß Haymo mit keiner Silbe Antwort gab.

Sie hatten den Wald erreicht. Die niederstehenden Aeste, denen Haymo mit dem Kopfe ausweichen mußte, rissen ihn aus seiner Versunkenheit und als seine Augen nur einmal lebendig wurden, gingen sie auch fleißig in die Runde. Da merkte er, daß die Hel, welche vorausgesprungen war, regungslos auf dem Pfade stand, mit gesträubtem Haar und funkelnden Augen. Haymo bohrte die Blicke in das Dunkel des Waldes und leise rief er über die Schulter zurück. „Herr, leget flink einen Bolz auf!“

Herr Heinrich griff zur Armbrust.

„Seht Ihr ihn ... dort ...“ flüsterte Haymo.

Aber mit aller Eile war Herr Heinrich zu spät gekommen. Wie ein grauer Schatten huschte der Wolf zwischen den Bäumen dahin.

„So ist also Meister Isegrimm schon wieder daheim in den Bergen[55]?“ lachte der Propst, die Sehne der Armbrust lösend.

„Das ist der erste, den ich seit dem Herbst gesehen hab’,“ sagte Haymo.

„Wir haben ihm sein Mittagsschläfchen gestört.“

Die Hel machte einen Versuch, dem Ausreißer nachzujagen; aber ein Pfiff des Jägers rief sie zurück.

Der Pfad wurde steiler, und der Knecht mußte nun das Saumpferd fest an die Hand nehmen. Nur langsam ging der Abstieg von statten. Einmal blieb Herr Heinrich lauschend stehen. Er schüttelte den Kopf und ging wieder weiter. Doch nein, er hatte sich nicht getäuscht. Nun klang es deutlich wie eilende Schritte weit hinter ihnen. Ein zufriedenes Lächeln umspielte die Lippen des Propstes. Er setzte sich auf einen gestürzten Baum und wartete.

In langen Sprüngen kam Wolfrat über den Pfad heruntergestürmt. Der Schweiß troff ihm von der heißen Stirn, und keuchend blieb er vor dem Propste stehen. Fast eh’ er noch Athem fand, begann er schon zu reden.

„Herr ... Herr ... jetzt sind sie alle weg ... auch der letzt’, der schier gar nicht hat weichen wollen!“

„Wirklich?“

„Ja, ich hab’ nicht ausgelassen. Und .. und jetzt hätt’ ich eine Bitt’, Herr!“

„Sprich, Wolfrat!“

„Lasset mich mit Euch gehen, Herr! Schauet, auf mir liegt die Noth wie ein Trumm Stein, aber ich mein’, es wär’ mir nirgends so wohl als wie bei Euch.“

„So komm’!“ Herr Heinrich erhob sich.

„Und ... wenn ich heimkomm’, so red’ ich mit meiner armen, guten Seph,’ und wenn sie meint, daß sie’s tragen kann ... in Gottesnam’, so geh’ ich halt hin zum Vogt und thu’ mich angeben.“

Herr Heinrich sprach kein Wort. er legte nur die Hand auf Wolfrats Schultern. Dann gingen sie. Als sie zu den anderen kamen, eilte Wolfrat auf das Saumpferd zu. „Gieb her, ich mach’ das besser!“ sagte er und nahm dem Knechte den Zaum aus der Hand.

Haymos Züge wurden finster, seine Augen funkelten; doch schweigend ließ er alles geschehen. Mit scheuem Blick schaute Wolfrat zu ihm empor. „Jäger ... jetzt kannst auch schlafen!“

Das Pferd merkte die feste, sichere Hand, an der es ging, und setzte sich in rascheren Schritt.


20.

Es war später Nachmittag geworden, als Herr Heinrich mit seinem Geleit den See erreichte. In den weiten Felsenkessel fiel keine Sonne mehr, aber hoch oben die Almen und Kuppen funkelten noch in goldenem Glanz. Hier unten im Schatten waren alle Farben tief und satt. An den bleigrauen Felswänden hingen die steilen Nadelwälder wie dunkler Sammet, in welchen das frische, nun schon kräftig sproßende Grün der Buchen und Ahornbäume mit lichter Zeichnung sich einstickte. Glanzlos, durchsichtig und glatt dehnte sich der See. Weit draußen schwammen einzelne Wildenten langsam umher. Drüben auf der flachen Landzunge, welche die Bartholomäer Klause trug, dampfte ein feiner Nebel aus den feuchten Wiesen. Ueberall lautloses Schweigen; denn die an Wasser schon verarmenden Gießbäche rauschten so eintönig zusammen, daß ihre gleichmäßig andauernde Stimme das Ohr wie Stille berührte ...

Haymo stieg vom Saumpferd. Der lange Ritt hatte ihn schwer ermüdet. Während er das Gebüsch suchte, in welchem der Einbaum verborgen lag, gab Herr Heinrich dem Knechte den Auftrag, das Saumpferd um das Ende des Sees herum über die Salletalpe nach der Bartholomäer Klause zu führen, von wo es die Fischknechte in einem größeren Kahn nach dem Seedorf schaffen könnten.

Wolfrat schob den Einbaum ins Wasser, und unruhig winselnd sprang die Hel in den Nachen; sie war keine Freundin von solchen Fahrten; da sie aber merkte, es mußte sein, so war sie auch die erste im Kahn.

„Wo ist der Knecht hin?“ fragte Haymo. „Er hat ja mein Schießzeug.“

„Laß es ihm nur, es geht Dir nicht verloren,“ lächelte Herr Heinrich, „und heute brauchst Du ja Deine Waffen nimmer.“

„Aber mir fehlt halt was, ich hab’ keine Ruh’!“

„Geh’ nur, steig ein!“

Die Hel hatte sich auf dem Schnabel des Einbaums ein möglichst unbeguemes Plätzchen ausgesucht. Auf dem Brett in der Mitte saß Haymo neben Herrn Heinrich, der das Wehrgehenk abnahm und mit dem Griesbeil auf den Boden legte. Wolfrat führte, im Spiegel des Schiffes stehend, das Ruder; er trieb den Nachen mit so kräftigen Stößen, daß die Hel bei jedem Ruck ins Wasser zu plumpsen drohte. Herr Heinrich rief sie vor seine Füße; sie kam auch, aber gleich wieder schlich sie zum Schnabel des Fahrzengs zurück, winselnd nach dem Lande spähend. Leise plätschernd glitt der Einbaum durch das Wasser. Niemand sprach. Immer näher rückte das flache Ufer des Felsenthals, in welchem die Seeklause stand. Plötzlich richtete die Hel sich auf, zitternd, die Nase windend vorgestreckt.

[428] „Was mag denn der Hund nur haben?“ fragte Herr Heinrich. Er hatte kaum ausgesprochen, als die Hel aufheulend mit weitem Satz in das Wasser klatschte und gierig nach dem Ufer ruderte. In heller Erregung sprang Haymo auf und deutete mit dem Arm. „Herr . . . sehet . . . dort! Der Bär! Der Bär! Er will über den See schwimmen!“

Auf einen Bolzenschuß vom Ufer entfernt sahen sie den Kopf des Raubthiers gleich einem braunen Holzklotz über das Wasser treiben. Der Bär hatte den näherkommenden Hund schon gewahrt, zögernd schwamm er weiter, dann machte er plötzlich Kehrt und suchte das Ufer zu gewinnen. Heulend, schnappend und Wasser blasend, schoß der Hund hinter ihm her.

„Herr! Herr! Wir müssen nach,“ schrie Haymo, „oder der gute Hund ist hin!“

„Tauch’ an, Wolfrat, tauch’ an!“ rief Herr Heinrich mit klingender Stimme, während er nach einem Bolz griff und die Armbrust von der Schulter riß.

Wolfrat legte sich auf das Ruder, daß die Stange knirschte, und während Herr Heinrich sich zum Schuß bereit machte, riß Haymo seiner Wunde und Schwäche nicht achtend, den Fänger aus dem Wehrgehenk des Propstes. Die rufenden Stimmen waren zur Seeklause gedrungen. Pater Desertus erschien am Ufer, und als er gewahrte, was vorging, schrie er gegen die Klause: „Walti! Walti! Mein Griesbeil!“

Der Bär hatte seichten Grund gefunden und begann zu waten. Jetzt erreichte ihn die Hel und fiel ihn kläffend an. Der Bär hob die Tatze und schlug; winselnd überstürzte sich der Hund und verschwand im Wasser.

„Tauch’ an, Wolfrat, oder die Hel ist hin, die arme Hel!“ schrie Haymo. Da hatte sich der Hund schon wieder erhoben und fuhr im aufspritzenden Wasser auf den Bären los.

„Schießet, Herr, schießet!“

Die Sehne der Armbrust schnurrte, aber das Schwanken des Einbaums hatte den Schuß gestört ... der Bolz streifte nur den Schädel des Bären und surrte über das glatte Wasser hin.

Heulend machte die Hel noch einen letzten Sprung, dann hing sie verbisseu am Gehör des Bären, der auf den Hinterpranken aufgerichtet im schäumenden Wasser sich schüttelte, daß der Hund wie eine lebendige, zappelnde Quaste um ihn herbaumelte.

„Der Hund ist hin, ist hin!“ jammerte Haymo. Da wankten sie alle im Kahn. Der Einbaum war auf einen im Wasser liegenden Wurzelstock gerathen. Aber noch im Wanken schwang sich der Jäger aus dem Nachen.

„Haymo! Haymo! Bist Du denn von Sinnen!“ schrie Herr Heinrich, doch seine Arme erreichten den Jäger nicht mehr. „Zurück, Haymo! Mag doch der Hund hin sein! Zurück! Zurück!“

Haymo hörte nicht, die Erregung, der Jammer um das treue Thier machten ihn taub. Den blitzenden Fänger in der erhobenen Faust, warf er sich durch das aufklatschende Wasser gegen den Bären. Doch eh’ er ihn erreichte, hatte das Thier den Hund schon abgeschüttelt, und als die Hel wieder aufsprang gegen seine Brust, da schlug das Raubthier mit der Tatze ... und lautlos, ein blutiger Klumpen, fiel der Hund ins Wasser.

„Meine Hel!“ schrie Haymo, mit Zähren in den Augen, und in flammender Wuth sprang er auf den ans Ufer kletternden Bären zu. Er hörte nicht den zornigen Ruf seines Herrn, er hörte nicht das warnende Wort, welches Pater Desertus, der zwischen den Bäumen waffenlos herbeisprang, ihm zuschrie mit bebender Stimme ... er stürzte dem fliehenden Bären nach, verklammerte sich mit der Hand in das zottige Fell und führte im Lauf mit dem Fänger einen Stoß gegen die Weiche des Raubthiers. Das Eingeweide quoll hervor, dumpf brummend machte der Bär einen flüchtenden Satz ... aber Felsklötze versperrten ihm den Weg. Blitzschnell wandte er sich, richtete sich empor und ging auf den Jäger los.

Ein Schrei vom Schiffe, ein Klatschen im Wasser, ein Schrei von den Lippen des Paters ... doch unerschrocken stand Haymo, und als der Bär die Tatzen zur Umarmung ausbreitete, fiel der Jäger vor mit sicher gezieltem Stoß. Aber der durch die Wunde und die kranken Tage entkräftete Arm versagte, der Stahl glitt zwischen den Rippen des Bären aus ... Haymo wollte zur Seite springen, ein Griff des Raubthiers machte ihn straucheln und stürzen ... er war verloren. Allein ehe der Bär noch über ihn herfallen konnte, war Wolfrat durch das Wasser herbeigesprungen, und mit eisernem Griff schlug er dem Raubthier von rückwärts die beiden Arme würgend um den Hals. Doch was bedeuteten die Hünenkräfte eines Menschen gegen die wilde Kraft dieses gewaltigen, um sein Leben ringenden Thieres. Der Bär schüttelte sich und war befreit; dem neuen Feind sich zuwendend, führte er einen Hieb gegen Wolfrats Schulter, und ihn mit den Zähnen an der Brust fassend, klammerte er die blutigen Tatzen um ihn her, daß Wolfrat erbleichend stöhnte, während ihm das Haupt in den Nacken fiel. Ehe sich Haymo noch aufraffen konnte, war Pater Desertus herbeigestürmt, hatte den Fänger von der Erde gerissen und stieß ihn bis ans Heft in das Herz des Thieres; ein dicker Blutstrahl schoß hervor ... und die Tatzen des Bären lösten sich von seinem Opfer.

Als Herr Heinrich jetzt das Ufer gewann und Walti mit dem Griesbeil kam, war alles vorüber. Schwer athmend und bleich stand Haymo, verendet lag der Bär, und Wolfrat taumelte ins Moos, mit den Hunden ins Leere greifend, mit lallender Zunge nach Worten ringend.

Mit lautem Schreckensruf eilte Herr Heinrich auf ihn zu. Das Grauen, das den Propst erfaßte ... wie sah diese Brust und diese Schulter aus! ... machte ihn einen Augenblick zögern. Dann warf er sich auf die Knie nieder, und während er Wolfrats Haupt auf seinen Schoß hob, rief er: „Walti! Hinauf zur Klause und ziehe die Glocke, daß die Knechte vom Seedorf kommen. Und Du, Haymo ... kannst Du noch das Ruder führen?“

„Es muß sein, Herr! Was soll ich?“ sagte Haymo dumpf.

„Fahr’ hinüber nach Bartholomä. Pater Eusebius soll kommen, er soll Verbandzeug bringen und“ – die Stimme des Propstes dämpfte sich zum Flüstern, „und das heilige Sakrament."

Walti war schon davongestürzt, Haymo sprang in den See und watete zum Einbaum.

„Wolfrat, wie ist Dir?“ fragte Herr Heinrich.

Der Sudmann wollte sprechen, aber Blut trat über seine Lippen, er streckte sich stöhnend, und die Sinne schwanden ihm.

„Gott sei Dir gnädig!“ flüsterte der Propst, und zu Pater Desertus aufblickeud: „Ich fürchte, der Mann ist verloren! Doch wir müssen thun, was in unseren Kräften steht. Dietwald! Hier, nimm meine Kappe, hole Wasser!“

Pater Desertus eilte zum See und kam mit der gefüllten Kappe zurück. Heinrich wusch dem Sudmann das Gesicht und flößte ihm Wasser über die Lippen. Aber bange Minuten vergingen, ehe Wolfrat wieder zu athmen begann und die Augen öffnete.

Da hörte man von der Klause her das Glöcklein läuten.

Der Blick des Sudmanns wurde starr, und seine Zunge lallte. „Gilt ... das ... mir?“

„Nein, nein, Wolfrat, das Glöcklein ruft nur die Knechte zu Deiner Hllfe.“

„Hilf’?“ Wolfrat schüttelte den Kopf. „Mit mir ... hat’s ein End’, Herr! Alles ... ist eingedrückt ... da drin ... “ Er preßte die zitternde Faust auf seine blutende Brust und stöhnte: „Meine Seph’ ... Jesus Maria ... und mein Bub’, mein Bub’ ...“

„Sei ohne Sorge! Was auch geschieht, ich gebe Dir mein fürstlich Wort zum Pfande, Dein Weib und Kind soll nimmer Noth leiden!“

Wolfrat tastete nach der Hand des Propstes. „Vergelt’s Gott, Herr!“ Seine Stimme begann zu erlöschen, er kämpfte um jedes Wort. „und ... und saget ... meiner Seph’ ... sie soll ... soll ... die Gittli ... die Dirn’ ... ist meine Schwester nicht ...“

Pater Desertus erbleichte, und mit irrendem Blick suchte er die Augen des Propstes.

„Rede, Wolfrat, rede, rede!“ stammelte Herr Heinrich.

Lautlos bewegten sich noch einmal die Lippen des Sudmanns, dann verlor er wieder das Bewußtsein.

„Wolfrat! Wolfrat!“

In dem Antlitz des todwunden Mannes zuckte keine Miene mehr.

„Dietwald! Er darf nicht sterben!“ rief Herr Heinrich in rathlosem Kummer, „oder er nimmt auch Dein Leben mit hinüber!“

„Herr! Ich verstehe nicht,“ zitterte es von den Lippen des Paters.

„Du hörtest doch! Das holde Kind ist nicht die Schwester dieses Mannes. Hast Du sichere Zeugschaft, daß Dein Töchterlein das Los der Mutter theilte?“

[429] „Nein, Herr!“ Das war nicht Sprache, es war ein Schrei.

„Und als jenes Mädchen Dich um alle Ruhe brachte, kam es Dir da niemals in den Sinn, daß kein Weib noch jemals so einem Weibe glich, wie ein Kind seiner Mutter gleichen mag?“

Wortlos und zitternd stand Pater Desertus. Mit beiden Händen faßte er seine Stirn, mit starren Augen hing er an den Lippen des Propstes, dann jählings stürzte er in die Knie, und Wolfrats Hand umklammernd, schrie er: „Gieb mir mein Kind! Mein Kind!“

„Dietwald!“ rief Herr Heinrich erschrocken, als er die Wirkung seiner Worte sah. „Was hab’ ich gethan! Die Erregung hat mir entrissen, was meine Lippen hätten verschließen sollen als eine scheue, schwankende Ahnung!“

Pater Desertus schien nicht zu hören; seine Blicke hingen fest gebannt an Wolfrats Antlitz. „Herr, er schlägt die Augen auf!“

Sie labten den Erwachenden mit Wasser. Wolfrat blickte suchend umher und lallte: Wo ist ... der Jäger? ... Ist ihm was ... geschehen?“

„Nein, Wolfrat! Er hat sein Leben Dir zu danken!“

Ein tiefer Seufzer quoll über Wolfrats Lippen. „Und … und wird es der Herrgott … auch annehmen … als Buß’?“

„Ja, ja, Wolfrat! Doppelt gewogen in der Schale des Guten!“

„Herr!“ stammelte Pater Desertus. „Sehet doch, wie ich zittere und bange!“

„Der Himmel hat das Vorrecht vor der Erde,“ sagte Herr Heinrich ernst. Und wieder beugte er sich über Wolfrat, dessen Blicke mit scheuer Sehnsucht emporgerichtet waren in das dämmerige Blau des Himmels.

„Wolfrat?“

„Und wenn ich … jetzt hinaufkomm’ … darf ich auch hinein, Herr?“

„Ja, ja, mein guter Wolfrat.“

„Ich hab’ doch ... blutige Händ’ ...“

„Gott sieht auf die Hände nicht, er sieht in das Herz. Die Reue hat Dein Herz gereinigt, Du hast Leben mit Leben bezahlt, mein Priesterwort darf Dich lösen von aller Sünde, und ruhig könnte Deine Seele vor Gott erscheinen. Doch sieh, Du lebst ja noch …“

Schwer schüttelte Wolfrat den Kopf. „Ich spür’s … daß ich … hin bin!“

„Herr!“ mahnte Pater Desertus und verschlang mit flehender Geberde die Hände.

„Sprich, Wolfrat, was war es, das ich Deinem Weibe sagen sollte?“

„Meine Seph’ … mein Bub’ …“ rang es sich in heißem Schmerz über Wolfrats blutige Lippen.

„Und das Mädchen?“ fiel Pater Desertus mit bebender Stimme ein. „Sie ist Deine Schwester nicht?“

„Nein … sie ist … ein Herrenkind ...“

„Wessen Kind?“

„Ich … weiß es … nicht …“

„Um Gottes Barmherzigkeit willen, wer ist ihr Vater, wer ist ihre Mutter?“

„Ich … weiß es … nicht ...“

In Qual und Verzweiflung faßte Pater Desertus das Haupt des Sudmanns in beide Hände. „Mensch! Ich beschwöre Dich! Wie heißt die Burg, in der das Kind geboren wurde?“

Kaum merklich schüttelte Wolfrat den Kopf, er wußte keine Antwort.

„Wo stand die Burg?“

„Ich … weiß es … nicht …“

„Wie kamst Du zu dem Kinde?“

„Aus dem … Feuer … hab’ ich’s …“ Er wollte weiter sprechen, doch quellendes Blut erstickte seine Stimme.

„Wolfrat! Wolfrat!“ schrie Pater Desertus aus gemartertem Herzen.

Herr Heinrich legte die Hand auf seinen Arm. „Dietwald, sieh, Pater Eusebius bringt das Sakrament!“

Desertus bedeckte das Gesieht mit beiden Händen und trat zurück. Ein großer von drei Knechten geführter Kahn hatte am Ufer angelegt. Haymo stieg ans Land; er trug das ewige Licht; einen Blick warf er auf Wolfrat und wandte sich ab mit nassen Augen. Pater Eusebius, eine kleine gebeugte Greisengestalt, ließ sich auf die Knie neben Wolfrat nieder, dessen Haupt auf dem Arm des Propstes ruhte. – Niemand sprach.

Die Knechte knieten entblößten Hauptes und mit gefalteten Händen im Schiff. Auf den Zinnen der Berge erlosch der letzte Schein der sinkenden Sonne. Tiefe Stille lag über Wald und Wasser. Als Pater Eusebius mit murmelnder Stimme das Gebet zu sprechen begann, fing drüben über dem See in der Bartholomäer Klause die Glocke zu läuten an, und von allen Felswänden klang ein leises Echo der schwebenden Töne.

Mit erlöschenden Sinnen empfing Wolfrat das Sakrament und lag schon bewußtlos, da Pater Eusebius sich erhob.

Als letzterer die volle Gefahr für den Verwundeten erkannte, da verwandelte sich der Priester rasch in den Arzt; er that, was seine Kunst an solchem Orte nur zu thun vermochte.

„Ist noch Hilfe?“ fragte Herr Heinrich, schon mit Zweifel in der Stimme.

„Nicht mehr bei Menschen!“ lautete die ruhige Antwort des Greises.

Mit matter Stimme rief Haymo einen der Knechte. „Nimm das ewige Licht!“

„Was ist Dir, Haymo?“ fragte der Propst erschrocken.

„Mir ist so schwindlig, Herr!“ Er hatte kaum ausgesprochen, als er ohnmächtig zu Boden sank.

Man hob ihn auf und labte ihn; er kam zu sich, aber die Füße wollten ihn nicht mehr tragen. Vom Seedorf waren zwei Knechte mit einem Kahn gekommen, es waren die beiden, aus deren Händen Gittli von Haymo erlöst worden war. Sie trugen den Jäger in den Nachen. „Schaffet ihn auf einer Bahre in [430] das Kloster,“ befahl der Propst, „und schweiget von allem, damit nicht ein Unberufener dem armen Weib des Sudmanns die schlimme Botschaft zutrage!“ Und auf Wolfrat deutend, sagte er zu Pater Eusebius. „Diesen da vertrau’ ich Deiner Pflege; bessere weiß ich nicht. Nimm ihn mit in die Klause, thue, was Du vermagst, opfere Deine Tage und Nächte, vielleicht läßt sich sein Leben doch noch erhalten ...“

Eusebius zuckte die Schultern, während die Knechte den Bewußtlosen achtsam in das Schiff hoben. „Er muß eine Natur haben, wie ein Baum ... doch die Säge ist zu tief gegangen! Er kann noch Stunden, noch Tage ringen, aber ...“ Eusebius schwieg.

„Sollte er noch einmal sprechen können, so frag’ ihn um alles, was er weiß von seiner Schwester.“

„Er wird nicht sprechen. Eh’ ich ihn noch in die Klause bringe, wird das Wundfieber kommen ... oder das Ende!“

„Herr!“ stammelte Pater Desertus. „Darf ich nicht mit ihm ziehen? Ich will wachen bei ihm, und wär’ es durch tausend Nächte ... und harren auf ein Wort ...“

„Nein, Desertus, Du bleibst!“ sagte Herr Heinrich, den Namen betonend, den er sonst nicht zu gebrauchen pflegte.

Der Kahn mit Haymo schwamm bereits der Seeklause zu, um Walti abzuholen. Nun stieß auch der andere Nachen in den dunkelnden See, dessen Spiegel sich im sanft anhauchenden Abendwind zu kräuseln begann.

Pater Desertus war auf einen Stein gesunken, erfüllt von wirbelnden Gedanken und stürmischem Empfinden.

Herr Heinrich trat an das Ufer und blickte den ziehenden Schiffen nach. Da sah er auf dem Wasser einen dunklen Körper treiben. Es war die Leiche der armen Hel.

„Jetzt hab’ ich sie umsonst gebrannt!“ murmelte Herr Heinrich ... und sein Blick suchte den Nachen, der den todwunden Sudmann nach der Klause trug.


21.

Pater Desertus und Herr Heinrich waren allein. Sie mußten warten, bis das Schiff von Bartholomä zurück kam, um sie abzuholen. „Komm’, Dietwald, mir graut vor diesem Fleck Erde!“ sagte Herr Heinrich und schritt dem Pater voran der Klause zu. Schweigend folgte Desertus; doch immer wieder blieb er stehen und preßte die Fäuste auf seine wogende Brust.

Nun saßen sie auf der Bank. Herr Heinrich seufzte: „Ein böser, böser Tag! Ich glaubte, ein Menschenleben gerettet zu haben, und nun ist es verloren!“

„Und ein Mund geschlossen, der nur halb geredet!“ brach es mit fiebernden Worten von den Lippen des Paters. „Doch nein, nein, nein! Muß ich denn noch warten auf dieses Mannes Rede – es redet ja doch mein Herz. Wie blind waren meine Augen, wie taub und irrend meine Sinne, daß ich die Wahrheit nicht ahnte, nicht gleich erkannte! Es ist mein Kind! Und dennoch . . . was hätt’ ich nicht gegeben für ein klares, unumstößliches Wort. Ach Herr! Weshalb habt Ihr mich nicht gehen lassen mit diesem Manne ...“

„Weil Du noch reisen wirst in dieser Nacht!“

Pater Desertus sprang auf. „Das könntet Ihr begehren von mir? Jetzt? In dieser Stunde? Da die Brust mir springen will vor Bangen und Hoffen? Da ich in zitternder Sehnsucht die Arme strecke nach meinem Kind!“

„Pater Desertus? Ein Mönch?“ fiel Herr Heinrich mit ernsten Worten ein. „Ich verstehe Deine Rede nicht! Ein Irrwahn ist aus Deinem Herzen gerissen, und schon droht ein neuer all Dein Sinnen und Fühlen zu verschlingen und Dich vergessen zu machen, daß mit der Stunde, da Du in Gottes Haus getreten, ein eisern Thor sich geschlossen hat zwischen Dir und allem, was hinter Dir in der Welt liegt. Ich trage selbst die Schuld daran, denn ich hätte schweigen sollen von dieser Ahnung, die auch jetzt noch keine Gewißheit ist! ... unterbrich mich nicht ... und so seh’ ich für mich auch doppelte Pflicht, Dich einem neuen Kampf und Zwiespalt zu entreißen. Du wirst reisen noch in dieser Nacht. Dein Propst befiehlt es Dir!“

Pater Desertus schlug die Hände vor das Antlitz.

Herr Heinrich aber zog sie ihm nieder. „Nun komm’ und setze Dich zu mir. Jetzt will Heinrich von Inzing reden mit seinem Freunde Dietwald!“

Desertus fiel auf die Bank und drückte das Antlitz schluchzend an Herrn Heinrichs Schulter.

Eine Weile schwieg der Propst; dann sagte er: „Höre mich ruhig an. Und wenn Dein Herz nicht verstummen will, so halte die Lippen fest. Ich gebe ja zu: diese seltsame Aehnlichkeit und auch schon das halbe Geständniß, das der nahende Tod diesem armen Menschen entpreßte ... das sind verführerische Zeugen. Aber wie zweifelhaft sie doch auch wieder sind, das magst Du daraus entnehmen, daß Du selbst ohne mein unvorsichtiges Wort mit keinem Gedanken auf solchen Zusammenhang gerathen hättest. Siehst Du? Nun läßt Du den Kopf wieder hängen! Noch darfst Du keine Gewißheit hegen, kaum eine zitternde Hoffnung! Die laß’ ich Dir ... denn ich kann sie Dir nimmer nehmen. Aber sie zittert, Dietwald! Wenn dieses Mädchen schon nicht die Schwester des Sudmanns ist, muß es deshalb die Tochter jenes Grafen Dietwald von Falkenberg sein, der, wenn ich mich recht entsinne, gestorben ist ... für die Welt! Kann das Mädchen nicht auch eines anderen Vaters ... Sprich nicht, Dietwald, denn ich muß Dir weh thun, wenn die mögliche Enttäuschung Dich nicht mit doppeltem Schmerz beladen soll. Muß Deine Burg die Heimath dieses Kindes gewesen sein? In dieser mörderischen Zeit, in der man Burgen wirft wie Maulwurfshügel und Schlösser niederbrennt wie Flachs in den Kunkelstuben . . . ist es in solcher Zeit denn ein so seltener Fall, daß sich ein Herrenkind in die Bauernhütte verirrt? Doch wer nun auch der Vater dieses Kindes sein mag, eines wissen wir gewiß ... es ist ein Herrenkind, und ich will es seinem Stande zurückgeben, will ihm zu seinem Recht verhelfen. Und auch hier, Dietwald, kann ich nicht wissen, nur hoffen, daß sein Recht auch sein Glück sein wird. Schon morgen send’ ich das Mädchen in das Heim der Domfrauen nach Salzburg ...“

„Fort von hier?“ stammelte Desertus.

„Ja, Dietwald, fort . . . fort vor allem! Und aus einem zwingenden Grunde.“

„Herr ...?“

„Das Mädchen liebt den Jäger.“

Desertus erschrak. „Ein Kind!“

„Ein Kind, das ein Augenblick herzbrechender Angst zum Weibe machte. Noch aber weiß sie selbst nicht, daß sie aus Liebe that, was sie gethan. Ich hoffe nur von ihrer Jugend, daß dieses Gefühl noch nicht so fest verwurzelt ist, um sich nicht wieder zu lösen in langer Entfernung, unter neuen überraschenden Eindrücken. Um meinen guten treuen Haymo ist mir freilich leid und bang, er wird das Mädchen nie vergessen; er hat um ihretwillen gethan, was er nicht gethan hätte um sein Leben . . . er hat seiner Pflicht zuwider den Raubschützen und Mörder verleugnet. Er wird schwer gestraft, der arme Bursch’.“

„Daß doch keine Freude blühen kann, ohne Schmerzen zu reifen!“ flüsterte Pater Desertus mit bebender Stimme.

„Wir wollen sehen! Ich thue, was ich muß – alles andere liegt nicht in meiner Hand.“

„Was meint Ihr, Herr?“

„Nichts!“ sagte Herr Heinrich, wie aus Gedanken erwachend. „Morgen schicke ich das Mädchen fort. Noch aber darf niemand erfahren, weshalb. Alles soll erscheinen wie eine Laune von mir, die das Glück dieses Kindes will. Wir dürfen sie in das neue Leben nur langsam einführen, vorsichtig ... oder aus diesem scheuen Häslein wird eine junge Löwin, die sich wehrt! Es steckt Blut in diesem Kind. Weißt Du, was sie gesagt hat, als sie dem Haymo von ihrer Begegnung mit einem Bären erzählte und der Jäger erschrocken fragte, was sie wohl gethan haben würde, wenn der Bär sie angenommen hätte. Sie sagte: ‚Ich weiß es selber nicht, aber wenn er gekommen wär’, ich glaub’ wohl, daß ich zugeschlagen hätt’!‘“

Pater Desertus drückte die Hände auf seine Brust, und es blitzte in seinen feuchten Augen. Das sollte sein Kind nicht sein?

„Und ich glaube, Dietwald, wenn Du jetzt vor sie hintreten und ihr sagen wolltest, ein König wär’ ihr Vater, eine Königin ihre Mutter ... sie würde das Köpfchen schütteln, minder in Unglauben als in Unwillen. Denn selten noch hing ein Kind an seinen leiblichen Eltern mit solcher Liebe und Verehrung wie dieses Mädchen an den Bettelleuten, die seine Pfleger wurden ...“

„Und all seine Liebe genossen!“

[431] „Nein, Dietwald, sage: all seine Liebe verdienten, so sehr, daß die Stimme der Natur zum Schweigen kam und sich verwandelte. Es wird lange, lange währen, bis mit diesem Kind von einem neuen Vater zu reden ist. Sie darf, daß sie ein Herrenkind ist, nicht erfahren, bevor sie sich nicht an Herrenleben gewöhnt hat. Inzwischen . . . und während Du fort bist . . . will ich forschen und forschen. Und wenn auch der Mund, den dieser Tag geöffnet und geschlossen, nicht wieder reden sollte . . . eine Fährte wird sich doch wohl finden lassen, der ich folgen kann. Und gebe Gott, daß ich Dir gute Botschaft senden darf.“

„Und dann, dann . . .“ stammelte Desertus, „wenn ich sie auch nicht halten darf in meinen Armen, ein Vater sein Kind, so darf ich mich ihrer doch freuen in verschlossenem Herzen mich erquicken an ihrem sonnigen Dasein, darf bauen helfen an ihrem Glück!“

Es war dunkle Nacht geworden, doch hoch vom Himmel funkelte in die enge Schlucht hernieder ein heller Stern; der Wildbach rauschte, und plätschernd gingen die Wellen im See.

„Dietwald? wie lang ist es her, daß wir so wie jetzt an dieser Stelle saßen? Damals aber schien die Sonne . . .“

„Und es war Nacht in mir. Jetzt liegt die Finsterniß um mich gebreitet, und eine Freude geht auf in meinem Herzen, hell wie ein Frühlingstag.“ Weinend stürzte er auf seine Knie. „Herr Heinrich, mein Falter fliegt!“

„So? So?“ lächelte der Propst. „Mir aber scheint, er liegt erst recht zu Boden! O Du Mensch! Du Mensch!“ Zärtlich strich er mit der Hand über das Haupt des Paters.

„Als ich den Bären jagte in meinem Forst, ward mir mein Dirnlein geboren ... als ich den Bären schlug in diesem Wald, ward mein Kind mir neu gegeben! O Wege Gottes!“

„Natürlich! Der liebe Herrgott muß eigens die Bären erschaffen und von ihnen die Menschen zerreißen lassen . . . nur damit Du seine Wege erkennst! O Du Fliege Du; gieb acht, daß Du Dir die Flügel nicht versengst! Nun aber steh’ auf! Ich höre schon die Ruder klatschen. Es ist Zeit, daß Du reisest und Arbeit findest! Und wiege Dich nicht in der Hoffnung ... sie soll Dich beleben! Du nimmst ein schweres Werk auf Dich ... sie haben harte Köpfe – der Papst und seine Kardinäle. Aber schlage Dich für Deinen Kaiser, als trügest Du noch die Rüstung und das Schwert. Und wenn Du vor dem Papste stehst, so sei vorerst ein Mann . . . vergiß aber auch nicht, daß Du ein Priester bist. Und sollte er Dich fragen, weshalb sein ‚getreuer Kaplan‘ Heinrich von Berchtesgaden der Satzung zuwider die Kirchen offen hält und die Sakramente spendet, derweil der Kaiser im Bann ist, so sag’ ihm mit meinen ehrfurchtsvollen Grüßen: erstens, weil meine Bauern und Lehensleute die Kirche und die Sakramente brauchen . . . zweitens, weil Heinrich von Inzing ein deutscher Kirchenfürst ist, und also das ‚Deutsch‘ vor der Kirche steht . . . und drittens ... da kannst Du wieder von vorne anfangen. Jetzt aber komm’! Dort warten sie mit dem Schiff.“

Herr Heinrich schritt dem Ufer zu. Pater Desertus aber eilte in die Klause; als er wieder ins Freie trat, hielt er Gittlis Veilchenkränzlein in den Händen; er drückte einen heißen Kuß auf die welkenden Blüthen und barg sie an seiner Brust.

„Wie steht es mit dem Wolfrat?“ fragte Herr Heinrich.

„Er liegt in bösem Fieber, und Pater Eusebius nähet an ihm wie der Schneider an einer ledernen Hos’,“ sagte der Knecht. „Der arme Teufel hat ja Löcher, daß man sieben könnt’ durch seine Haut.“

Sie bestiegen das Schiff. Schnell ging die Fahrt vonstatten. Als sie das Seedorf erreichten, sagte Herr Heinrich: „Fahret morgen zeitig hinüber zu der bösen Stelle und suchet meine Waffen zusammen; ich weiß nicht, wo sie liegen.“

„Und was soll mit dem Bären geschehen?“

„Streifet ihm die Haut ab. Den Leib aber soll man mit Steinen in den See versenken. Niemand soll davon essen.“

Einer der Knechte ging mit brennender Fackel voran, als Herr Heinrich und Pater Desertus an der rauschenden Albe entlang die Wanderung durch das nächtige Thal begannen. In allen Hütten waren schon die Fenster dunkel, auch am Haus des Sudmanns, das sie nach einer Stunde erreichten. Pater Desertus blieb in tiefer Bewegung stehen.

„In dieser elenden Hütte lebte mein Kind!“

„Dein Kind?“ lächelte Herr Heinrich. „Ach so, Du meinst das Herrenkind, dessen Vater wir finden müssen? Nein, Dietwald, Du darfst die Hütte nicht schelten. Denn in keiner Burg hätte das Mädchen besser und holder an Gemüth und Herz gerathen können, als es in dieser Hütte geschah. Und zum Dank dafür muß ich morgen Kummer und Schmerz unter dieses Dach tragen! Komm’, Dietwald!“ Er zog den Widerstrebenden mit sich fort. –

Als sie vorübergingen, warf der Schein der Fackel eine falbe Helle durch das Fenster in die Stube. Sepha richtete sich auf im Bett und lauschte. „Noch allweil kommt er nicht!“ seufzte sie und ließ sich wieder zurücksinken.

Neben ihr schlief der Bub; er hatte Mimmidatzis Plätzchen geerbt; immer von neuem tastete Sepha zu ihm hinüber, ob er auch zugedeckt wäre. Dann lag sie wieder ruhig und starrte in die Nacht hinein. Draußen rauschte die Albe, und in dem Pfosten der Thür, welche zu Gittlis Kammer führte, tickte ein Holzwurm.

Mit jeder verrinnenden Stunde der Nacht wuchs Sephas Angst. Freilich, sie hatte sich so recht von Herzen auch nicht freuen können, als Gittli in die Stube hereingestürmt war mit den Worten: „Seph’, Seph’, sie haben ihn freilassen müssen, der Haymo hat für ihn gezeugt!“ Der schwerste Stein war ihr wohl von der Brust gefallen: ihr Mann war frei! Aber . . . gethan hatte er’s ja doch!

Und nun lag sie und wachte, warf sich hin und her, wartete und lauschte, setzte sich auf und fiel zurück, weinte in die Hände und drückte die nassen Augen wieder in das Polster. Und die Sorge um ihren Mann wechselte mit dem Kummer um ihr verlorenes Kind. Ach, solch eine Sorgennacht! Jede Minute wird zur qualvollen Ewigkeit. Jeder Kummer wächst dir ins Riesenhafte, Ungemessene. Wohin du in der Finsterniß auch blickst, überall siehst du ihn . . . das Dunkel hat ja keine Grenzen, und so weit es reicht, so weit hin stehen auch die Gespenster deiner Sorgen, eins am anderen; sie drängen näher, sie ziehen an dir vorüber, und jedes hält eine Weile still, sieht dich an mit drohenden Augen und drückt dir die knöcherne Faust auf die Brust, daß dein Athem fast ersticken will. Ach, solch eine Sorgennacht!

Sepha hielt es nimmer aus. Sie sprang auf, kleidete sich an und machte Licht. Mit erhobener Kerze leuchtete sie in Gittlis Kammer. Das Mädchen lag mit offenen Augen, ein Bild, wie aus Dietwalds Träumen herausgelöst: „... das weiße Gesichtchen auf schwarzem Kissen, nein doch, das sind ja nur die gelösten Haare, die um ihre Wangen gebreitet liegen wie schwarze Seide.“

„Gelt?“ nickte das Weib. „Kannst auch nicht schlafen?“

Gittli seufzte. „Weißt, ich muß halt auf so viel denken. Wie ein Spinnradl geht’s mir herum im Kopf und laßt mir schon gar keine Ruh’ nimmer!“

„Machst Dir auch schon Sorgen um den Polzer?“

Mit verwunderten Augen blickte Gittli zu der Schwäherin auf. „Um ihn? Ja warum denn? Sie haben ihn doch freigelassen. Ich hab’s ja doch selber gehört und gesehen.“

„Aber er müßt’ ja doch lang schon daheim sein!“

„Geh’, Du! Ich hab’ Dir’s ja doch erzählt, daß er noch ’was schaffen hat müssen für den Herrn. Er wird halt lang gebraucht haben dazu und hat nimmer heim können vor der Nacht. Wirst sehen, er hat in der Almenhütt’ geschlafen, und in der Früh ist er daheim, noch vor das Glöckl im Sudhaus läutet. Kannst mir’s glauben, um den sorg’ ich mich nicht ein lützel!“

Ihre Sorgen galten einem anderen. Jetzt war er „harb“ auf sie, und sie hatte ihm doch nichts gethan!

„Weswegen mußt Dich denn nachher sorgen?“

Gittli schüttelte das Köpfchen und schob die Hände unter den Nacken.

„Aber so red’ doch!“

„Geh’! Thu’ mich Du auch noch plagen!“ Sie drehte das Gesicht gegen die Wand, denn Thränen standen ihr in den Augen.

Sepha stellte das Licht in die Fensternische und ließ sich seufzend auf den Rand des Bettes nieder. Lange schwiegen sie. Da begann an der Thür der Holzwurm wieder zu pochen.

[432] „Hörst ihn klopfen?“ flüsterte Sepha, während ein Frösteln über ihre Schultern lief. „Das erste Mal hab’ ich ihn gehört in der Nacht, in der über mein Kindl der Krank gekommen ist. Jetzt weiß ich, was der Würbel[56] selbigsmal hat sagen wollen!“ Sie schlug die Hände vor das Gesicht.

Gittli richtete sich auf, legte den Arm um Sephas Schultern und tröstete sie mit herzlicher Rede. Sie hatte sich ja Wörtlein um Wörtlein alles gemerkt, was Herr Heinrich mit ihr von dem Kinde gesprochen.

Als Sepha endlich ruhiger wurde, begannen sie von Mimmidatzi zu plaudern. Sie erinnerten sich an jeden herzigen Zug des Kindes, an jedes verstümmelte Wörtchen, das der kleine Mund geplappert, an jede drollige Gebärde … und Gittli verstand es so gut, die Weise des Kindes nachzuahmen daß zuweilen sogar ein schüchternes Lächeln über Sephas Lippen huschte. Darüber verging ihnen Stunde um Stunde, so daß sie kaum merkten, wie draußen der Tag zu grauen begann. Sie wurden es erst gewahr, als das niedergebrannte Talglicht mit hoher Flamme zu lodern begann.

„Schau, Seph’, es taget schon,“ sagte Gittli. „Geh’, thu’ Dich noch ein paar Stund’ hinstrecken. Ich mein’ doch, Du thätst die Ruh’ brauchen.“

Sepha löschte das qualmende Licht aus. „Jetzt muß er ja doch bald kommen!“ seufzte sie und wollte die Kammer verlassen. Aber noch einmal kehrte sie zurück. „Du, Gittli, sag’, was ist denn das eigentlich mit dem Schatz?“

„Mit was für einem Schatz?“

„Der Polzer hat gesagt, Du thätst einen Schatz wissen, der zum Heben wär’, und Du hättest den Schlüssel dazu?“

Gittli machte große Augen und schüttelte den Kopf …

Durch das Fenster klang von der Straße her der ferne Hufschlag mehrerer Pferde. An der Albenbrücke zogen sie vorüber und lenkten auf den Weg ein, der zur Grenzwarte des Klosterlandes, zum festen Hallthurm führte, und von dort hinunter in das Reichenhaller Thal, hinaus ins ebene Land. Zwei gewaffnete Knechte zu Pferd, jeder ein beladenes Saumthier führend. Ihnen voran ritt Pater Desertus auf einem frisch ausgreifenden Eisenschimmel, dessen violette Schabracke, fast auf der Erde schleifend, in jedem Zipfel das Wappen des Klosters zeigte. Desertus trug nicht mehr die schwarze Kutte, sondern das festliche Kleid der Chorherren: das Pelzbarett, den mit Otterfell verbrämten Mantel und darunter den seidenen Talar, der, für den Ritt berechnet, bis zum Gürtel geschlitzt war. Es klirrte bei jedem Tritt des Rosses; denn unter dem Talar trug Pater Desertus den Harnisch und das Schwert. Ein Lächeln spielte um seine Lippen, und träumend blickten seine Augen in den erwachenden Tag.


22.

Herr Heinrich kehrte von einem schweren Gang in das Kloster zurück. Welch eine Stunde des Jammers hatte er im Hause des Sudmanns erlebt! Mit zögernder Vorsicht hatte er dem armen Weibe den bitteren Trank gereicht … und doch, als Sepha das volle Unglück erkannte, da stürzte sie bewußtlos nieder, als hätte ein fallender Balken ihr Haupt getroffen. Dazu das Mädchen in seinem rathlosen Schmerz und Kummer … und das kleine Bürschlein, das sich schreiend an die Mutter klammerte! Wohl war es gelungen, die Ohnmächtige wieder zu erwecken. Aber was sollte nun weiter werden? Denn Sepha war krank, ernstlich krank, das hatte Herr Heinrich mit dem ersten Blick von ihren Wangen und Augen abgelesen. Hier war Hilfe nöthig wie Feuer im Winter.

Als der Propst das Stift erreichte, ließ er die Oberin der frommen Schwestern rufen, die in einem freundlichen Klösterlein auf dem Nonnberg hausten. Er hatte mit ihr eine lange Unterredung, welche, wie Herr Schluttemann mit Kopfschütteln bemerkte, hinter verschlossener Thür geführt wurde. Der Vogt war an diesem Morgen merkwürdig still; Frau Cäcilia hatte ihn zwar nicht sanfter behandelt als sonst, im Gegentheil, sie hatte in einer einzigen Stunde ausgegeben, was sie als gute Hausfrau während dieser Tage der Trennung sich zusammengespart hatte an spitzigen Dolchblicken und bitterscharfen Wörtlein – in Herrn Zchluttemann aber hatte die Predigt des Propstes nachgewirkt. Dazu reifte unter seiner gefurchten Stirn ein verwegener Plan. Mit rollenden Augen und gesträubtem Schnauzbart, die Arme verschränkt, wanderte er lange, lange in seiner Amtsstube rings um den Tisch. Die Sache mußte wohl überlegt werden, denn sie konnte auch ein schiefes Ende nehmen.

Endlich war er mit sich im reinen. Er ließ einen von den Schreibern des Klosters kommen und befahl ihm, einen Gänsekiel fein säuberlich zu spitzen und aus dem Pergamentkasten das schönste Blatt hervorzusuchen. Als nun der Schreiber zum Werke bereit war, stellte sich Herr Schluttemann in kühner Haltung vor den Tisch und begann zu diktieren: „Urtheil … in Sachen der zänkischen Hausfrau …“ Er unterbrach den hohen Ton und sagte: „Den Platz für den Namen laß nur einstweilen frei, den Namen wird Herr Heinrich einzeichnen, wenn er das Urtheil unterschreibt.“ Wieder diktierte er: „In nomine Reverendissimi et Celsissimi Principis Praepositi Henrici von Berchtesgaden wird anmit zu Rechtes Kraft gesprochen: weil genannte Hausfrau das Pagen und Keifen gegen den ihr von Gott zum Herren gesetzten Ehegatten gar nicht lassen will, so soll ihr der Frohnbot den Pagstein um den Hals hängen und soll sie an hohem Feiertag nach der Messe eine ganze Stund’ durch die Gassen führen, im Wiederholungsfalle aber zwei Stund’, und so immer deß mehr um eine ganze Stund’.“

Herr Schluttemann schnaufte. Er diktierte noch die übliche Schlußformel des Urtheils, dann fiel er erschöpft in den Lehnstuhl.

Als nun Herr Heinrich die Oberin durch die Vogtstube zur Treppe geleitet hatte und zurückkam, wurde ihm das Urtheil zur Unterschrift vorgelegt. Er zeichnete den Namen der Frau „Caeciliae Schluttemanae“ in die Lücke ein und unterschrieb. Herr Schluttemann warf sich stolz in die Brust; der Propst aber lächelte, als er sagte: „Das wird Eurer Hausfrau, einen gehörigen Schrecken einjagen! Ich hoffe, Ihr werdet Ruhe haben für lange Zeit.“

Eine Stunde später traf die Oberin mit zwei dienenden Schwestern im Haus des Sudmanns ein. Sepha sollte, um gute Pflege zu genießen, in das Klösterlein auf dem Nonnberg verbracht werden. Stumpf und willenlos ließ das kranke, von Kummer gebrochene Weib alles mit sich geschehen, ohne Frage ohne ein Wort. Gittli aber war ein Bild der Verzweiflung und Sorge. Was sollte denn mit Lippele geschehen? Der dürfe bei der Mutter bleiben. Und mit den beiden Ziegen, mit den Hennen? Und wer würde die Bienenstöcke und das Haus überwachen, im Garten mähen und den Klee schneiden? Sie selbst müsse doch ihre Zeit jetzt theilen: einen Tag bei der Schwäherin, den anderen beim Bruder! Es hieß, sie möge sich beruhigen, Herr Heinrich habe für alles gesorgt.

Auf einer Bahre wurde Sepha nach dem Klösterlein getragen und in einer kleinen freundlichen Stube untergebracht. Lippele versöhnte sich rasch mit seinem neuen Aufenthalt, da er den großen Garten gewahrte, den eine hohe Mauer umzog. Als Sepha versorgt war und nach dem Buben fragte, war er schon verschwunden. Nach langem Suchen wurde er im Garten gefunden; er hockte am Ufer eines kleinen Teiches und warf Steinchen nach den erschrocken hin und herschießenden Forellen.

Auf Gittli wartete im Zimmer der Oberin eine seltsame Ueberraschung. Sie solle gleich zu Herrn Heinrich kommen, hieß es; aber bevor sie ginge, solle sie die neuen Kleider anziehen, die der Herr Propst ihr geschenkt hätte.

„Aber schauet doch her, Frau Mutter,“ lispelte das Mädchen, „ich hab’ ja doch eh’ schon mein gutes Gewand an. Ich brauch’ kein neues!“

Weder durch freundliches Zureden, noch durch ernste Worte war sie zu bewegen, die schönen Kleider anzulegen. Sie schüttelte nur immer das Köpfchen, wehrte mit den Händen, und Zähre um Zähre perlte aus ihren angstvollen Augen.

Auch zu Herrn Heinrich, zu dem die Oberin sie begleitete, ging sie nicht gern; sie wäre lieber bei der Schwäherin geblieben.

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 15, S. 471–476

[471] Als Gittli im Zimmer des Propstes stand, hob sie keinen Blick vom Boden und zitterte, als stünde sie fröftelnd im Schnee. Herr Heinrich faßte sie bei der Hand, zog sie an seine Seite und redete zu ihr mit herzlich tröstenden Worten. Es sei freilich ein schweres Unglück, das über den Wolfrat und die Seph’ gekommen. Allein noch dürfe man ja die Hoffnung nicht verlieren; die Seph’ werde ganz gewiß in guter Pflege wieder genesen. Aber was solle inzwischen mit ihr selbst geschehen? Sie könne doch nicht allein im Lehen bleiben. Im Klösterlein auf dem Nonnberg sei kein Platz mehr, und in der Bartholomäer Klause sei ihr nach kirchlicher Satzung sogar der Eintritt verboten.

„Und sieh’, mein Kind, da hab’ ich nun dem Wolfrat in seiner Noth gelobt, daß ich sorgen will für seine Leute. Für die Seph’ hab’ ich’s ja schon gethan.“

Ein dankbarer Blick traf ihn aus Gittlis Augen.

„Jetzt muß ich aber auch an Dich denken. Und schau, da wüßt’ ich recht ein gutes Plätzchen für Dich, in Salzburg bei den Domfrauen!“

Gittli erbleichte vor Schreck.

„Nun, was meinst Du?“

„Ich bitt’ schön, Herr,“ stammelte sie mit versagender Stimme, „lasset mich doch hier bleiben. Ich müßt’ ja sterben vor Angst, wenn ich nicht alle Tag’ hören thät’, wie’s der Schwäh’rin und dem Bruder geht!“

„Das wirst Du hören, jawohl. Es gehen doch alle Tag’ Schiffe und Karren vom Sudhaus weg nach Salzburg. Da schick’ ich Dir täglich eine Botschaft, ich versprech’ es Dir.“

„Ich bitt’, Herr, bitt’, lasset mich doch bleiben! Und wenn ich schon kein Heimathl nimmer haben soll, schauet, ich thät’ mich ja auch gern eindingen bei einem Bauer. Ich hab’ freilich recht klebere Hände und Arm’, aber ich kann deswegen doch schaffen wie eine richtige Dirn’.“

„So? Und was möchte Dein Bruder dazu sagen? Er ist ja doch kein Höriger, sondern ein freier Mann. Soll er sich jetzt in seiner Noth noch kümmern, weil seine Schwester dienen muß?“

„Schaffen ist doch keine Schand’, Herr! Er hat doch auch geschafft all seiner Lebtag’!“ Und da kam ihr plötzlich ein Gedanke, den sie in sprudelnden Worten hervorstürzte: „Herr! Und wenn es sein müßt’, aufs Almen thät’ ich mich schon auch noch verstehen und vielleicht nimmt mich der Eggebauer auf seine Alm in die Röth’ hinauf.“

„In die Röth’ hinauf?“ wiederholte Herr Heinrich mit wehmüthigem Lächeln. „Nein, mein Kind, das ist zu harte Arbeit für Dich. Und sieh, ich habe einmal Deinem Bruder versprochen, daß ich für Dich sorgen will. Oder willst Du mich zum Lügner machen? Oder hab’ ich Dir schon so viel Böses gethan, daß Du mir nicht vertrauen kannst?“

Gittli verstummte in rathloser Qual.

Gelt, nein? Und sieh, wenn ich jetzt schon sorge für Dich, will ich es so thun, daß es Dir zum Guten ausfällt, zu Deinem Glück! Ich bin Dir ja zu Dank verpflichtet, Du hast ja für meinen Jäger soviel gethan ...“

Da schlug sie die Hände vors Gesicht und brach in krampfhaftes Schluchzen aus.

Die Oberin wollte das Mädchen beruhigen. Herr Heinrich aber hielt sie zurück. „Lasset das Kind nur, es soll sich ausweinen.“

Die Stille beängstigte Gittli; sie hörte zu schluchzen auf und ließ die Hände in den Schoß sinken.

„Schau, Gittli, wer Gutes gethan hat, der muß sich auch den Dank gefallen lassen. Wenn Du Dich wehrst dagegen, da müßte der Haymo fast glauben, daß Dich wieder reut, was Du für ihn gethan hast.“

Mit zuckenden Lippen und nassen Augen blickte sie zu Herrn Heinrich auf.

„Gelt, ja? Und nun wirst Du mir auch folgen in allem?“

„Wenn es halt sein muß,“ lispelte sie, „in Gottesnam’!“

„So ist’s recht, mein Dirnlein! Und jetzt sei tapfer, Du gehst einer freundlichen Zeit entgegen. Warte nur, bis ich Dich einmal besuche, dann wirst Du lachend auf mich zukommen. Und jetzt sträube Dich auch nimmer und laß Dir die Kleider anlegen, die ich Dir geschenkt habe!“

Mit verlorenem Blick vor sich hinstarrend. nickte sie zu allem, was Herr Heinrich sagte. Sie fand auch kein Wörtlein, als er ihr glückliche Reise wünschte, und ließ sich zur Thür hinausziehen, ohne recht zu wissen, daß es geschah.

Sie waren schon auf der Straße, als die Oberin sagte: „Warte hier ein Weilchen, ich habe Herrn Heinrich noch etwas zu fragen.“

Gittli stand allein; die Knie zitterten ihr, daß sie sich kaum aufrecht zu halten vermochte; sie mußte sich auf den Eckstein neben der Thür niederlassen. Da spürte sie einen Puff an der Schulter. Erschrocken blickte sie auf ... Walti stand vor ihr.

Mit beiden Händen faßte sie ihn an der Brust. „Walti! Sag’ mir! Wo ist der Haymo?“

„Drin liegt er im Kloster. Es geht ihm wieder schiecher seit gestern. Was sagst, was das für Sachen sind! Ganz schütteln thut’s mich vor Grausen, wenn ich dran denk’!“

„Walti! Ich thu’ Dich bitten, führ’ mich nur grad zu ihm!“

„Zum Haymo? Ja bist denn närrisch? Ins Kloster darf doch keine Dirn’ hinein.“

„Aber ich muß, ich muß zu ihm!“

Walti zog die Brauen in die Höhe und schob den Hut in die Stirn. Das that er immer, wenn er schwer zu denken hatte. Dann blickte er sich forschend um und flüsterte: „Seine Stub’ geht in den Garten hinaus, und das Fenster ist gar nicht hoch. Aber ... kannst denn über die Mauer kraxeln?“

„Und wenn sie so hoch wär’ wie der Watzmann,“ stammelte sie, „ich müßt’ hinüber!“

„So komm’!“

Sie huschten um die Ecke und schlüpften durch das Gebüsch zur Klostermauer. Zwischen wirrem Gezweig kletterte Walti in die Höhe, setzte sich rittlings auf die Zinnen der Mauer und half dem Mädchen mit beiden Händen empor. Von oben sprangen sie in den Garten hinunter. Walti spähte durch das offene Fenster. „Er ist ganz alleinig!“ flüsterte er, schwang sich auf die Fensterbrüstung und zog das Mädchen nach.

Es war eine freundlich eingerichtete Zelle, in welcher Haymo auf einem mit Wildschuren überdeckten Lager ruhte.

Als der Jäger das Mädchen erblickte, hob er sich erschrocken auf und starrte Gittli an, als könnte er seinen Augen nicht trauen.

„Ich geh’ an die Thür und paß auf, ob keiner kommt,“ kicherte Walti und huschte zur Zelle hinaus.

Als Gittlis Augen dem Blick des Jägers begegneten, war es wieder zu Ende mit all’ ihrem Muth. Mit zitternder Hand strich sie sich über die Stirn. Weshalb nur war sie denn eigentlich hierher gekommen?

„Ja Gittli, bist Du’s denn wirklich?“ stotterte Haymo. „So sag’ mir doch um Herrgottswillen, was ist Dir eingefallen? Hast ja den Klosterbann gebrochen! Schau, in mir drin ist alles völlig kalt vor lauter Angst. Wenn einer käm’ und thät’ Dich finden, sie thäten Dich ausweisen aus dem Klosterland’.“

„Ich muß ja eh’ fort!“ lispelte sie mit gesenkten Augen.

Haymo schwieg und seufzte tief.

„Weißt Du’s vielleicht schon?“ fragte sie und blickte zögernd auf.

Er nickte langsam vor sich hin. „Vor einer Weil’ ist Herr Heinrich dagewesen und hat minr’s gesagt.“

Mit einem raschen Schritt trat sie auf Haymos Lager zu. Ihre Hände ballten sich, ihre Lippen wurden schmal, und ein heiß funkelnder Blick erwachte in ihren Augen. „Ich will aber nicht fort, weil ... weil ich bleiben möcht’, Haymo ... bleiben ...“

Seine Hände zitterten; er wagte nicht aufzuschauen.

Sie beugte sich flüsternd zu seinem Ohr. „Was meinst? Wenn ich davonlaufen thät’, jetzt gleich, und thät’ mich verstecken, daß mich keiner mehr findet ... und ... und Dir allein thät’ ich’s sagen, wo ich bin!“

Da griff er hastig nach ihren Händen und stammelte ihren Namen. Dann aber wieder schüttelte er den Kopf und athmete [474] schwer. „Sie thäten Dich doch allweil wieder finden. Und ... Herr Henrich hat ja gesagt, daß es Dein Glück sein wird ... Dein Glück! Da thät’ ich mir doch lieber die Zung’ abbeißen, als daß ich eine Widerred’ hätt’, und gar jetzt, wo ich durch meine Unsinnigkeit das Unglück über Deinen Bruder gebracht hab’!“

„Du? Ueber ihn?“ flog es mit bebenden Lauten von ihren Lippen. „Es ist halt gekommen, wie es hat kommen müssen. Wenn ich Du gewesen wär’, ich hätt’ das arme Hundl auch nicht im Stich gelassen ... und wenn ich der Wolfrat gewesen wär’, ich hätt’ auch zugegriffen und den Bär’ gepackt, wenn er mich gleich zerrissen hätt’ in lauter Stückl.“

Haymos Augen blitzten, als das Mädchen so vor ihm stand mit funkelndem Blick, die Fäuste vorgestreckt, die Lippen halb offen, daß man die übereinander gepreßten Zähne sah. „Gittli!“ stammelte er, und ein Wort, welches heiß und gewaltsam empordrängte aus seinem Herzen kämpfte gegen den erlöschenden Willen, der es unterdrücken wollte. Da stürzte Walti in die Stube. „Dirn’, mach, daß Du weiter kommst! Der Frater Küchenmeister hatschet den Gang herauf . . . gleich wird er da sein!“

Bleich und zitternd stand das Mädchen, nach Athem und Worten ringend. „Ich ... ja ... ich geh’ ja schon ... aber sag’ mir, Haymo, sag’ ... schau, oder ich kann nicht gehen ... sag’, Haymo, bist mir noch allweil harb?“

„Ich? Harb sein? Dir?“ stotterte er. „Ja wie kannst denn auf so was denken?“

Da lachte sie in Thränen und von dem Buben fortgerissen, schwang sie sich auf die Fensterbrüstung. „Behüt’ Dich Gott, Haymoli!“ stammelte sie. Er streckte die Arme nach ihr, sie zögerte ... aber Walti versetzte ihr einen Puff, daß sie wankte und springen mußte. Draußen klang noch die flüsternde Stimme des Buben, ein Rascheln im Gebüsch – und alles war stille.

Haymos Augen hingen am leeren Fenster. „Jetzt seh’ ich sie nimmer . . . nimmer . . . nimmer . . .“ Schluchzend fiel er zurück und schlug die Arme über das Gesicht.

Die Thür begann zu zittern unter den schweren Tritten, die sich näherten. Haymo biß die Lippen übereinander und trocknete die Augen.

Der Frater Küchenmeister kam, um seinem jungen Freunde den ersten Krankenbesuch abzustatten. Als er sich auf den Rand des Bettes niederließ, krachten die Bretter in allen Fugen. Er begann fröhlich zu plaudern, rühmte die göttliche Vorsehung, welche alles Bose für Haymo zum guten gewendet habe, und jammerte über das schlimme Aussehen des Jägers, über seine Blässe und den matten Blick seiner Augen. „Aber warte nur,“ sagte er, „ich will Dich schon wieder herausfüttern wie ein Hühnl, das den Zipf gehabt hat. Ja, und daß ich nicht vergesse . . . ‚Vergelt’s Gott!‘ will ich Dir auch sagen. Der Knecht, der heut’ mit dem Saumpferd gekommen ist, hat mir die Nießwurzen gebracht. Da hast mir schon die schönsten ausgesucht! Hast Du sie aber auch zur guten Zeit gegraben? Hat die Schneeros’ auch schon völlig verblüht gehabt?“

Ein Zittern ging über Haymos blasse Wangen. „Ja, Frater ... die Schneeros’ hat ausgeblüht ... für mich!“ Da war seine Kraft zu Ende. Laut schluchzend warf er sich gegen die Wand, so daß der Frater erschrocken aufsprang. – –

Gittli hatte den Platz vor dem Thor der Klostervogtei gerade erreicht, als die Oberin zurückkam, von Herrn Heinrich begleitet. Der machte verwunderte Augen, als er das Mädchen gewahrte. „Ich hab’s ja doch gewußt!“ flüsterte die Oberin. Er nickte dem Mädchen einen freundlichen Gruß zu und trat in das Thor zurück.

„Denke nur, Dirnlein,“ lächelte die Oberin, „Herr Heinrich hat mich gescholten, um Deinetwillen, weil ich Dich allein ließ. Er glaubte wahrhaftig, Du würdest davonlaufen.“

Ein müdes Lächeln huschte über Gittlis Lippen, und von der Mauerecke her ließ sich ein Kichern hören. Die Oberin blickte sich um, aber Waltis Nase war schon hinter der Mauer verschwunden.

Als Gittli das Klösterlein erreicht hatte, ließ sie alles mit sich geschehen, stumm und geduldig wie ein Lamm, das geschoren wird. Die neuen Kleider, die man ihr anlegte, weckten keinen hellen Blick in ihren Augen, kein Wörtlein der Ueberraschung auf ihren Lippen. Sie schämte sich wohl, als sie das lange, blaue Gewand nach der Sitte der Zeit bis über die Schultern ausgeschnitten sah; aber sie sagte nichts, denn sie bekam ja auch gleich ein weißes, bis zu den Ellbogen reichendes Mäntelein um den Hals. Ein Gürtel aus weißem Leder umspannte die schlanke Hüfte. Um die Stirn und das offene Haar wurde ein blaues Band geknüpft. Als sie aber nun die gelben Schuhe mit den scharfgespitzten, spannenlangen Schnäbeln an den Füßchen hatte, schaute sie doch mit scheuen Augen an sich hinunter.

Die Oberin und die beiden dienenden Schwestern lachten hell auf, als Gittli so hilflos stand, mit seitwärts gestreckten Armen, als wage sie das Kleid nicht zu berühren; sie zitterte und getraute sich keinen Schritt mehr zu thun, denn wenn sie auftrat, so knickten die unheimlichen Schnäbel gleich spitzigen Dolchen in die Höhe. Und je lauter die anderen lachten, desto näher kam ihr das Weinen. Plötzlich stürzte sie der Thür zu und als sie dieselbe verschlossen fand, sank sie schluchzend zu Boden.

Man hob sie auf, man schalt und tröstete, man säuberte das verstaubte Kleid, und dann wurde sie zu Sepha hinüber geführt, damit sie von der Schwäherin und dem Büblein Abschied nehmen möchte.

Vor der Mauer des Klösterleins wartete eine Sänfte, welche zwischen gegabelten Stangen von zwei Maulthieren getragen wurde. Man mußte Gittli hineinheben; aus freien Stücken wäre sie nimmer eingestiegen. Die Oberin setzte sich zu ihr. Zwei Knechte führten die Mautthiere, und ein dritter, der gewaffnet war, ritt nebenher. Die Leute auf der Straße blieben stehen, als sie die Sänfte kommen sähen und guckten neugierig hinein aber niemand erkannte die Schwester des Sudmanns; ihr schmales, blasses Gesichtchen verschwand fast in der weißen, über dem Scheitel steif aufgeschnäbelten Haube, die man ihr für die Reise aufgesetzt hatte.

Da gingen zwei Dirnen vorüber; eine brennende Röthe flog über Gittlis Wangen: die beiden Dirnen, das waren die Zenza und eine Magd des Eggebauern.

„Du, da schau,“ flüsterte die Magd, „was ist denn das für ein Fräulen?“

„Ich kenn’s nicht,“ sagte Zenza, in die Sänfte spähend, „es muß ein Fremdes sein.“

Die Sänfte war vorüber; wie ein Schwindel fiel es über Gittli, alles wirbelte vor ihr. Die Häuschen an der Straße, das Sudhaus, dem sie sich näherten, die rauschende Albe mit Ufer und Bäumen, der Berg mit dem Kloster, alles, alles versank vor ihrem Blick ... und mit einmal war ihr, als sehe sie nichts anderes mehr denn eine weite weite sonnige Alm; grasend, mit läutenden Glocken ziehen die Kühe, und in der Sennhütte singt eine Mädchenstimme, da kommt vom Bergwald ein Jäger über das Almfeld hergegangen, vor der Hütte steht er still, lehnt das Griesbeil an die Blockwand und stoßt die genagelten Schuhe gegen die Schwelle; die singende Stimme verstummt, der Jäger aber fragt: „Darf man einkehren, Sennerin?“ Aus der Hütte klingt die lachende Stimme der Zenza: „Freilich, freilich, Haymo, komm’ nur herein!“ ...

Die Frau Oberin in der Sänfte war erschrocken aus ihren Gedanken erwacht, denn das Mädchen an ihrer Seite hatte sich mit gellendem Schrei die weiße Haube vom Kopf gerissen, war aufgesprungen und wollte sich aus der Sänfte stürzen.

„Aber Kind! Kind!“ stammelte die Oberin, Gittli mit beiden Armen umschlingend. Der gewaffnete Knecht kam herbeigesprengt ... mit starren Augen blickte Gittli zu ihm auf, dann fiel sie in die Polster zurück und schluchzte und drückte die Fäuste auf die Brust, als wäre ihr das Herz zersprungen.

Ein paar Leute waren zusammengelaufen, aber die Knechte trieben die Maulthiere an, und immer rascher, immer weiter schwankte die Sänfte.




23.

Am anderen Morgen wandelte Herr Heinrich zu früher Stunde im Garten auf und nieder. Was war in diesen wenigen sonnigen Tagen alles gewachsen und erblüht! Alle Bäume und Sträucher standen in vollem Grün, und jeder Windhauch war gewürzt mit den süßen Düften der jungen Blumen.

Frater Severin arbeitete an einem kahlen Beet. Er stand, um sich das Bücken zu erleichtern, mit weit gespreizten Füßen [475] und blies mit vollen Backen den Athem aus; dicke Schweißtropfen perlten ihm von der Stirn.

„Guten Morgen, Bruder!“ grüßte Herr Heinrich.

„Guten Morgen, Reverendissime!“ Frater Severin richtete sich auf und drückte, eine schmerzliche Miene ziehend, die Faust in den Rücken.

„Heute hält’s wieder schwer mit dem Bücken, gelt? Hab’ schon gehört! Gestern hat es wieder unchristlich lange gedauert im Kellerstüblein!“

„Nicht durch meine Schuld!“ stotterte der Frater. „Aber der Vogt hat gestern gar nicht weichen wollen!“

„Haben ihn denn die Knechte der Frau Cäcilia nicht geholt?“

„Wohl wohl, Herr, aber er ist nicht gegangen, er hat ihnen ein Pergament mit heim gegeben und ist hocken geblieben.“

„Und da habt Ihr ihm Gesellschaft leisten müssen?“

Frater Severin machte ein ehrerbietiges Gesicht. „Er ist der Vogt, Herr! Wer seiner Würde nicht achtet, beleidigt das Kloster.“

„Natürlich! Nur immer eine gute Ausrede! Ich werde dieser Höflichkeit einen Riegel vorschiebeu müssen! ... Aber sag’, was machst Du da?“

Der Frater athmete auf, als er das heikle Thema beendet sah. Eilfertig gab er zur Antwort. „Die Nießwurz reiß’ ich aus.“

„Die Nießwurz? Wie kam sie in den Garten?“

„Ich hab’ gemeint, ich könnt’ ein Beet mit Schneerosen anlegen, und da hab’ ich vergangenes Jahr im Frühling ein paar Dutzend Wurzen mit heruntergenommen von der Röth’, hab’ sie hier eingelegt und hab’ gethan, was ich nur allweil gemeint hab’, daß es gut wär’. Aber nicht eine einzige hat getrieben im Winter, und wie ich jetzt nachschau’, da find’ ich, daß alle Wurzen vertrocknet sind. Schauet nur!“ Er nahm eine der ausgerissenen Wurzeln, brach sie entzwei und zeigte dem Propst das dürre Gewebe. „Kein Tröpferl Saft mehr! Eine Schneeros’ laßt sich halt nicht verpflanzen. Die will Felsen, Bergstürm’ und Lahnen. Die Thalluft und der feine Boden thun ihr nicht gut! Da kann einer machen, was er will ... eine Schneeros’ laßt sich halt nicht verpflanzen.“ Er warf die dürren Strünke von sich. „Schad’ um die Wurzen! Droben hätten sie geblüht!“

Herr Heinrich nickte sinnend vor sich hin; seine Blicke folgten der Straße im Thal, die über Schellenberg hinaus führte gegen Salzburg, und wortlos schritt er weiter.

Als er eine Weile später sein Gemäch betrat, hörte er von der Vogtstube her das alte, polternde Gewitter. Er ging den grollenden Lauten nach, und als er die Thür öffnete, beförderte Herr Schluttemann soeben unter einem ganzen Hagelwetter von dröhnenden Scheltworten einen Zinsbauern zur Stube hinaus. Da der Vogt den Propst gewahrte, wurde er verlegen.

„Das also ist die Wirkung des Urtheils?“ fragte Herr Heinrich.

Herr Schluttemann stotterte ein paar Worte und kraute sich hinter den Ohren.

„Man sagte mir doch, daß Ihr gestern Eurer Hausfrau das Urtheil gesendet habt?“

„Das hab’ ich freilich gethan, Reverendissime!“ gab der Vogt kleinlaut zur Antwort.

„Nun, und was sagte sie, als Ihr nach Hause kamt?“

„Nichts!“

„Und heute früh?“

„Auch nichts! Aber“ – Herrn Schluttemanns Nase begann zu brennen – „aber das Urtheil hat sie mir um den Kopf gehauen! Was sagt Ihr, Reverendissime? Eine solche Mißachtung des ... des Gesetzes!“

Herr Heinrich verwand das Lächeln. „Das muß geahndet werden! Bringet mir das Urtheil, ich will ihm Wirkung verschaffen.“

In heimlicher Schadenfreude rieb sich Herr Schluttemann die Hände, als der Propst die Stube verließ.

Eine Stunde später stieg Herr Heinrich zu Pferd, um nach dem See zu reiten. Als er den Hag des Eggehofes erreichte, sah er Zenza beim Bienenhäuschen stehen. Er rief das Mädchen.

„Bist Du die Tochter des Bauern?“

„Wohl wohl, Herr!“ sagte sie, mit trotzig finsteren Augen zu ihm aufblickend.

„Ist Dein Vater daheim?“

„Wohl wohl, Herr!“

„So ruf’ mir Deinen Vater, ich habe mit ihm zu reden!“

Zenza ging davon. Der Eggebauer erschrak nicht wenig, als das Mädchen mit dieser Botschaft kam; er saß gerade in Hemdärmeln am Tisch und löffelte die Morgensuppe. In der schreckhaften Eile warf er den Napf um, fuhr in den verkehrten Rockärmel und rannte sich den Ellbogen an den Thürpfosten. Keuchend lief er um das Haus herum, aber je näher er dem Propste kam, desto langsamer wurde sein Gang, desto scheuer sein Blick.

„Grüß’ Gott, Eggebauer!“

Der Bauer rührte nur die Lippen und zog das Käpplein.

„Ich höre, Dein Weib war krank, wie geht es jetzt?“

„Es macht sich, Herr, wohl wohl!“ seufzte der Bauer und strich mit der Hand über das Haar. „Der Bader meint, sie könnt’ in acht Tagen schon wieder aufstehen.“

„So, so! Das hör’ ich aber gern! Ja, ja, Eggebauer, Du mußt halt gut angeschrieben stehen beim lieben Herrgott. Schau’ nur, Dir schickt er Freude und Genesung ins Haus und Deinem Nachbar, dem armen Sudmann, hat er Noth und Tod geschickt.“

Der Eggebauer schlotterte an Händen und Füßen.

„Nun? Du fragst gar nicht, wie es dem Wolfrat geht? Ich höre doch, Du wärest allweil sein bester Freund gewesen? Hast ihm ja doch am Ostersonntag erst das Lehent geliehen?“

„Wohl wohl, Herr, ja, das Lehent, ja, das hab’ ich ihm schon geliehen, weil ... weil er halt gar so ein armer Hascher ist!“ stotterte der Bauer. „Wohl wohl ... und ... freilich, Herr, freilich möcht’ ich fragen, wie’s ihm geht, dem Wolfrat?“

„Schlecht, Eggebauer, schlecht! Der Arme geht seinem letzten Stündlein entgegen.“

Der Bauer athmete auf; denn einer, der vor dem letzten Schnaufer steht, so dachte er, der redet nimmer!

Herr Heinrich blickte auf den Sattelknauf und schüttelte nachdenklich den Kopf. „Was mag der Wolfrat nur gethan haben, daß Gott eine so schwere Straf’ über ihn schickt? Er war doch allweil ein braver, redlicher Mensch. Wenn er was Uebles gethan hat ...“ Herr Heinrich blickte auf, „da muß ihn völlig ein anderer verhetzt haben! Meinst nicht auch, Bauer?“

„Wohl wohl, Herr ... allweil ... ist er ein braver Mensch gewesen ... der Wolfrat ... allweil ...“ Dem Eggebauer trat der kalte Schweiß auf die Stirn.

„Gelt, ja! Wenn ich nur den heraausfinden könnt’, der den Wolfrat auf dem Gewissen hat ... dem wollt’ ich aber warm machen.“ Das Pferd bäumte sich, denn Herr Heinrich hatte den Zügel gar unsanft angezogen.

Erschrocken trat der Bauer zurück und fuhr sich mit dem Arm über die Stirn.

„Was hast denn, Eggebauer?“ fragte der Propst.

„Schwül, Herr ... schwül ist mir ... ich mein’, die Sonn’ wird heut’ noch richtig brennen.“

„So? Meinst?“ Herrn Heinrichs Augen blickten hinüber nach dem benachbärten Gehöft. „Das ist ja das Haus des Sudmanns, gelt?“

„Wohl wohl, Herr!“

„Jetzt liegt der arme Mensch verblutend in der Klause, und sein krankes Weib liegt droben bei den frommen Schwestern ... ja wer behütet denn jetzt das Lehen? Wer schaut denn auf Gras und Klee? Wer sorgt denn für die Hennen, für die Bienen und für die Geißen?“

„Das könnt’ ja ich besorgen,“ fiel der Bauer mit hastigen stotternden Worteu ein. „Ich hab’ ja Leut’ genug im Haus!“

„Brav, Eggebauer! Das will ich dem Wolfrat gleich erzählen, wenn ich in die Klause komm’.“

„Ja, Herr, ja ... saget ihm nur, was ich ihm für ein guter Freund bin,“ sprudelte es über die bleichen Lippen des Bauern. „Und ... schauet, Herr ... weil sich die armen Leut’ halt gar so fretten müssen ... ja ... da hab’ ich schon oft so gemeint ... man könnt’ ja auch an das Häusl einen Stall anbauen ... und ... und ich könnt’ ihm eine Kuh hinüber stellen! Und ich thu’s auch, meiner Seel’. Ja, Herr ... und ... und saget es ihm nur gleich, was ich alles für ihn thu’.“

„Der Wolfrat wird freilich nimmer viel davon haben, aber doch sein armes Weib ... und das wird dem Mann ein Trost sein in der letzten Stund’! Ja, Bauer, thu’s nur ... und damit Deine Kuh nicht einschichtig steht, stell’ ich eine andere [476] dazu! Und weil es doch Klostergut ist, das Du verbesserst, so will ich auch mein Theil dazu geben. Das Holz, das Du nöthig hast zum Bau, kannst Du in meinen Wäldern schlagen, und das Eisenwerk, das Du brauchst, magst Du in der Klosterschmiede holen. So bleibt Dir nur die Arbeit zu leisten … und wenn Du schon grade daran bist, magst Du auch gleich das ganze Häuschen ein wenig nachbessern, neue Dielen legen, im Dach die Lücken schindeln … was halt nöthig ist. Gelt?“

„Wohl wohl, Herr! Und … und saget es ihm nur gleich, was ich alles für ihn thu’!“

„Das will ich ihm freilich sagen. Fang’ nur gleich an zu schaffen … und alles fest und gut, Eggebauer! Gelt? Ich will schon nachschauen jede Woch’.“

Lächelnd, doch ohne Gruß, ritt Herr Heinrich davon.

Es schien, als wäre dem Eggebauer schwindlig geworden, denn er griff mit beiden Armen in die Hecke. Mit starren Augen blickte er dem Propste nach, und als er ihn zwischen den Bäumen verschwinden sah, wischte er sich den Schweiß vom Gesicht, trocknete die nassen Hände an der Hüfte und murmelte: „Da hab’ ich mir eine schöne Supp’ eingebrockt! Jetzt friß, Bauer, friß!“

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 16, S. 500–508

[500] In frischem Trab ritt Herr Heinrich durch das frühlingsblühende Thal. Als er den See erreichte, sah er neben einer der Fischerhütten die mit Stangen ausgespreizte Bärenhaut zum Trocknen in der Sonne stehen.

Das Pferd wurde versorgt, und ein Knecht ruderte den Propst im Einbaum nach der Bartholomäer Klause.

Stiller Friede athmete um das steinerne Kirchlein, das den schwindelnd hoch gethürmten Wänden des Watzmann zu Füßen lag: ein Bröselein Menschenwerk neben dem ewigen Riesenbau des Schöpfers. Das Sonnenlicht glitzerte über dem weißen Kiesgrund, aber vom nahen Gletscher der „Eiskapelle“ wehte eine kühle Luft. Weit draußen in der Wiese sang ein Knecht, der am hohen Hag das von den Lawinen zerdrückte Flechtwerk besserte.

Nahe bei dem Kirchlein stand die aus Blöcken erbaute Klause, in welcher Pater Eusebius mit einem Laienbruder und zwei Knechten hauste. Eusebius, der das Boot schon hatte kommen sehen, erwartete den Propst am Ufer.

„Nun, wie geht es ihm?“ fragte Herr Heinrich, während sie zur Klause gingen.

Der Pater zuckte die Schultern. „Er kann noch Tage, noch Wochen kämpfen. Seine Riesennatur wehrt sich gegen den anstürmenden Tod wie im Bett des Wildbaches ein Felsblock gegen das anstürzende Wasser ... aber das Wasser läßt nimmer nach, der Block muß weichen. Bis vor einer Stunde lag der Mann in wildem Fieber ...“ Eusebius blieb stehen. „Wisset Ihr, Herr, daß der Mann eine schwere Schuld auf dem Gewissen hat?“

„Was meinst Du?“

„Er hat es im Fieber ausgeredet ... er war es, der den Haymo gestochen hat.“

Ich weiß es. Und Du, Eusebius, bewahre, was der Mann Dir im Fieber gebeichtet hat! Ist er jetzt bei Sinnen?“

„Ein Weilchen immer, bis die Schwäche wieder kommt.“

„Und daß er das Fieber überstand, das giebt keine Hoffnung?“

Eusebius schüttelte den weißen Kopf. „Es wird wieder kommen. Und die größte Gefahr liegt dort, wo ich nicht hin kann mit meinen Händen, in der Brust. Fast alle Rippen sind gebrochen und in die Lunge gedrückt. Die äußerlichen Wunden, die hätte seine Natur vielleicht noch überstehen können. Freilich, die rechte Schulter, du mein Gott, die sieht bös aus; alle Nervenstränge sind zerrissen, der Arm ist tot und die Schulter lahm.“

„Die rechte Schulter? ... In die rechte Schulter hat er dem Haymo das Messer gestoßen!“

„Ja, ja,“ sagte Eusebius, während ein feines Lächeln seine welken Lippen umspielte, „der liebe Gott schickt mitunter merkwürdige Zufälle.“

Herr Heinrich that, als hätte er das Wort überhört.

Sie traten in die Stube, in welcher Wolfrat gebettet lag; er ruhte auf blutigen Kissen, die Brust mit wulstigen Verbänden umschnürt, die Arme geschindelt und gebunden, damit er sie nicht rühren konnte, das Gesicht mit Leinwand überklebt, so daß man kaum die Augen und den Mund erkannte ... ein Bild des Jammers zum Erbarmen.

Er war bei Bewußtsein und erkannte den Propst. „Herr ... guter Herr!“ klang es mit leisem Stöhnen von seinen starren Lippen.

„Geh, Eusebius, laß mich allein mit ihm!“ sagte Herr Heinrich.

Eusebius verließ die Stube und setzte sich vor der Klause auf die sonnige Bank. Drinnen klang in Zwischenräumen die Stimme des Propstes, er schien Frage um Frage zu stellen, auf welche Wolfrat mit matten Lauten Antwort gab. Eusebius lauschte nicht. Mit verschränkten Armen saß er an die Wand gelehnt, [501] und seine klugen, forschenden Augen schauten mit langsam gleitenden Blicken umher, als läge die Natur vor ihm wie ein aufgerolltes Pergament; jeder Baum ein Buchstabe, jeder Fels ein Wort.

Da fühlte er ein leises Kribbeln auf der Hand; eine Ameise lief über seine Finger; er bückte sich und ließ das verirrte Thierchen von seiner Hand auf die Erde kriechen; hier fand es Gesellschaft, denn eine zweite Ameise kam eilig über den Kies gehuscht – auf einem flachen Steinchen trafen sich die beiden; sie stutzten voreinander, hielten erregte Zwiesprach mit den Fühlern, liefen ein wenig zurück, dann wieder vor, und plötzlich fielen sie sich kämpfend an.

„Es ist doch allweil das Gleiche!“ lächelte Pater Eusebius und tippte die Streitenden mit dem Finger an, daß sie erschrocken auseinander fuhren. „So groß ist die Welt – es könnt’ doch eines am andern vorbeigehen in Ruh’ und Fried’. Aber nein, just nicht ... raufen müssen sie, beißen, schlagen und stechen!“

Herr Heinrich trat aus der Klause. Eine tiefe Erregung sprach aus seinen Zügen und Augen. Mit eindringlichen Worten empfahl er den Sudmann der Pflege des Paters. „Und was ich Dir sagen will ... Du brauchst den Mann nicht mehr zu fragen wegen seiner Schwester!“ Mit raschen Schritten ging der Propst dem Ufer zu, um die Heimfahrt anzutreten.

Als er eine Stunde später am Haus des Sudmanns vorüberritt, sah er den Eggebauer schon im verlassenen Gehöft umherspazieren, die Hände auf dem Rücken, mit verdrossenen Augen das Dach und die Mauern musternd.

Der Bauer schien mit seiner Freundschaft für Wolfrat große Eile zu haben; denn schon am folgenden Morgen begann er die Arbeit, zum keifenden Verdruß seines Weibes, auf dessen scheltende Fragen der Bauer nur immer die kleinlaute Antwort wußte: „Es muß sein ... der Herr will’s haben! Frag’ ihn, warum!“

Tag um Tag verging.

Bei Sepha war eine schwere Krankheit zum Ausbruch gekommen. Die Nachrichten aus der Bartholomäer Klause lauteten immer gleich: ein zähes, doch nutzloses Ringen wider den Tod. Mit den Salzfuhren aber ging alltäglich die freundliche Botschaft nach Salzburg: Gittli möge sich trösten, es stehe besser bei allen.

Nach der zweiten Woche war Haymo so weit genesen, daß er seinen Hegedienst wieder antreten konnte. Aber seine Wangen wollten sich nicht wieder röthen, seine Augen blieben trüb und müde. Aus dem heiteren, lebensfrohen Bursch war ein stiller, in sich versunkener Mann geworden. Mit eisernem Fleiß versah er seinen Dienst. Das Bleiben in der Hütte aber war ihm eine Qual; und als die Nächte wärmer wurden, legte er sich, wo der Abend ihn überraschte, unter freiem Himmel schlafen. Lange Stunden saß er oft dem Kreuz in der Röth’ zu Füßen und starrte die Nägel an, von denen der Föhnsturm Gittlis Schneerosen hinausgeweht hatte in die brausenden Lüfte. Wohin? Wohin?

Zwei weitere Wochen . . . und es war Almenzeit geworden. Die Niederalmen waren schon mit Jungvieh befahren; nun ging es mit den Milchkühen auf die Hochalmen.

An einem sonnigen Morgen war im Gehöft des Eggebauern alles Leben und Bewegung. Die freigelassenen Kühe rannten mit gestreckten Schweifen umher und brüllten ... aber noch lange nicht laut genug, um die kreischende Stimme der Eggebäuerin zu übertönen, welche seit Tagen schon das Krankessbett verlassen hatte und wieder in Haus und Hof umherfuhr wie ... der Bauer pflegte zu sagen: wie der ledige Teufel. Zwei Knechte standen vor einem Ziehkarren bereit, auf den das Almengeräth geladen war. Auch Zenza hatte sich schon zur Bergfahrt gerüstet, Hut und Griesbeil mit Blumen geschmückt.

Der Eggebauer schlich brummend umher, bis ihm Zenza zurief: „Was ist denn, Vater, wo bleibt denn der Hüter? Du wirst doch einen eingedingt haben!“

„Wohl wohl! Vor vier Wochen schon hat sich einer angetragen. Und nur die Zehrung hat er verlangt, keinen Heller Lohn. Da hab’ ich ihn freilich gleich genommen. Schau, dort kommt er.“

Zenza blickte auf und sah den Kropfenjörgi das Gehöft betreten. Ein zorniges Gelächter klang von ihren Lippen; aber sie sagte kein Wort.

Die Bergfahrer sammelten sich um die Bäuerin, welche den Almensegen sprach und Menschen und Vieh mit geweihtem Wasser besprengte. Dann begann die Almfahrt, mit Lärm und Geschrei, mit Brüllen und Läuten.

Spät am Abend wurde die Sennhütte in der Röth’ erreicht; am Morgen zogen die Knechte wieder ab, und am folgenden Tag war alles im Geleise. Mit fahriger Verdrossenheit that Zenza ihre Arbeit; über ihrem ganzen Wesen lag eine brennende Unruhe, die sich steigerte von Tag zu Tag.

Eines Abends ging Haymo nahe bei der Hütte vorüber. Zenza erblickte ihn durch das Fenster, und mit brennendem Gesichte sprang sie zur Thür’. „Haymo! Willst denn nicht ein lützel einkehren?“

„Vergelt’s Gott, Sennerin, aber ich hab’ keine Zeit!“ Er rückte die Kappe und stieg seines Weges weiter.

Erblassend trat sie in die Hütte zurück. Ihre Fäuste ballten sich. „Das war das letzte Wörtl, das ich ihm gegeben hab’.“

Der Kropfenjörgi kam; er erschrak, als er Zenzas Gesicht erblickte. „Was hast denn, Sennerin?“ fragte er stotternd. „Bist letz?“

„Laß mich in Ruh’, Du Tapp!“

Er setzte sich in den Herdwinkel und starrte sie unverwandt mit seinen glotzenden Augen an, bis sie ihn aus der Hütte jagte.

Tag um Tag verging, und Zenza wurde immer stiller und verdrossener. Der Kropfenjörgi hatte viel mit der Herde zu schaffen aber in jeder freien Minute lief er hinter dem Mädchen her wie ein Hund hinter seinem Herrn. Mit dem Spürsinn der Eifersucht fand er bald heraus, wo die Ursach’ ihrer schlimmen Laune zu suchen wäre. Zenzas Augen blickten ja nie so finster, als wenn Haymo auf seinem Hegergang in die Nähe des Almfeldes kam.

„Sennerin! Hat Dir der Jäger was angethan?“ so fragte der Kropfenjörgi zu dutzendmalen.

Doch Zenza hatte nur immer die gleiche Antwort. „Laß mich in Ruh’, Du Tapp!“

Eines Abends aber trat ihr der verschlossene Zorn doch auf die Lippen. Da saßen sie am Herdfeuer. Draußen ging ein Schritt vorüber, den sie alle beide kannten. Zenzas Augen flammten, und ihre Hände zitterten.

Jörgi schlich aus dem Winkel hervor. „Sennerin?“ fragte er mit heiserer Stimme. „Sag’ mir’s! Hat Dir der Jäger was angethan?“

[502] „Ja! Einen Schimpf hat er mir angethan, an dem ich erstick’! Und jetzt laß mich in Ruh’ und frag’ nimmer!“

Jörgi trat vor die Hütte. Ringsumher, mit leise klingenden Glocken, lagen die wiederkäuenden Rinder im Gras. Sie hatten alle den Kopf nach dem Jäger gewendet, der in der sinkenden Dämmerung über den Almenhang emporstieg. Jörgi ballte die Fäuste. „Wart’, Du – wir zwei, wir wachsen zusammen!“ zischte es durch seine Zähne, und seine funkelnden Blicke folgten der Gestalt des Jägers, bis sie im schwarzen Schatten des Waldes verschwand.


24.

Zwei Monate waren seit dem Ostertag vergangen, und es kam der Abend vor dem Sonnwendfeste. Walti, der dem Jäger frische Zehrung gebracht, hatte am Morgen die Hütte verlassen. Auf die Botschaft, daß Herr Heinrich dem Jäger gestatte, am Tag nach Sonnwend, am Fronleichnamsfeste, in das Kloster zu kommen, um dem feierlichen Umzug beizuwohnen, hatte Haymo kopfschüttelnd erwidert: „Ich kann nicht fort, das Hochwild ist in der Setzzeit, ich muß auf die jungen Kälber acht haben, daß mir keiner darüber kommt, der vier Füß’ hat oder weniger.“ Dann hatte er die Armbrust auf den Rücken genommen, hatte die Hütte gesperrt und war hinaus gewandert in die vom Sonnenduft des Morgens umflimmerten Berge.

Müde, aber mit Augen, die sich nach keinem Schlummer sehnten, kehrte er abends in die Hütte zurück. Er bereitete sich den Imbiß, löschte das Feuer und zog, gewaffnet, wie er gekommen, wieder hinaus in die sinkende Nacht. Nicht allzufern von der Hütte, auf einer Felskuppe, die das weite Steinthal beherrschte, ließ er sich nieder. Das war ein Lieblingsplätzchen seiner schlummerlosen Nächte.

Tausend Sterne funkelten über ihm, aber ihr Glanz erblaßte schon vor dem Schimmer des steigenden Mondes, dessen Scheibe voll und groß emporschwamm über die wie mattes Silber glänzenden Firnen des „Steinernen Meeres“. In zartem Grau, als wären sie nicht körperlich, sondern gebildet aus erstarrtem Nebel, hoben sich alle Grate, Zinnen und Kuppen der Berge mit duftverschwommenen Linien in den mondbleichen Himmel, und über sie alle hinaus ragte der Watzmann mit seinem schneebedeckten Haupt wie ein greiser Ahn inmitten seiner Kinder.

Haymo saß, die Arme um die aufgezogenen Knie geschlungen, das Haupt an den kühlen Fels gelehnt. Mit heißen Augen blickte er hinweg über alle Berge, weit, weit in die verschleierte Ferne, wo zwischen Göhl und Untersberg das finstere Thal gegen das ebene Land hinauskroch wie eine schwarze riesige Schlange. Dort draußen konnte Haymo, wenn es Tag und reiner Himmel war, die Thürme von Salzburg blinken sehen. Jetzt aber zeigte ihm die Ferne nichts als ein unentwirrbares, eintöniges Grau, in das der steigende Mond weder Helle noch Schatten brachte. Doch nein ... je länger Haymo in die Ferne starrte, desto deutlicher sah er ein sanftes Leuchten, wie von zwei Sternen, die ein dünner Nebel umflossen hält ... und immer näher schienen sie zu kommen, immer heller wurde ihr Glanz, und nun standen sie vor ihm, zum Greifen nahe, zwei große, schöne, räthselhafte Augen in einem schmalen, blassen Gesichtchen, das ihn anlächelte, selig und traurig zugleich.

„Gittli! Gittli!“ Er schrie den Namen mit schluchzenden Lauten in die Nacht hinaus und barg das Gesicht in den zitternden Händen.

Stunde um Stunde verging. Es mochte Mitternacht vorüber sein, als ein Geräusch den Jäger lauschen machte. Aus dem Steinthal klangen Schritte, welche immer aussetzten und nach einer Weile, gedämpft und näher, sich wieder hören ließen. Da kam einer emporgestiegen, der für seine Schritte die grasigen Stellen des Pfades zu suchen schien ... er mußte also Gründe haben, nicht gehört zu werden.

Lautlaus glitt Haymo über den Hang herab und barg sich im schwarzen Schatten eines Gebüsches. Da sah er einen dunklen, unförmlichen Klumpen langsam durch das Thal empor schwanken. Haymo vermochte lange nicht zu erkennen, was das wäre; endlich sah er: es war ein Mensch, der einen gewaltigen Pack von dürrem Reisig auf dem Kopfe trug. Nun erreichte der Fremde den freien Platz, auf welchem die Hütten standen, und legte vorsichtig den Pack zu Boden. Da erkannte Haymo im Mondlicht den nächtlichen Besucher ... es war Zenzas Hüter, der Kropfenjörgi.

„Was will denn der Unverstand?“ murmelte Haymo und schaute kopfschüttelnd zu, wie Jörgi die Schuhe von den Füßen streifte und auf die Jägerhütte zuglitt. Der Bursche lauschte an Thür und Fenster, dann schleppte er einen Felsblock herbei, holte einen zweiten, einen dritten ... und so thürmte er lautlos einen dicken Steinwall vor der Thür empor. Das Reisig vertheilte er um die Blockwand und kauerte sich mit leisem Kichern auf die Erde nieder. Ein Schwefelfaden leuchtete bläulich auf, und aus dem Reisig züngelte eine helle Flamme. Jörgi schlich davon und rief mit häßlichem Gelächter gegen die Hütte zurück: „Du wirst der Zenza keinen Schimpf mehr anthun!“

Da traf ihn ein Faustschlag, daß er bewußtlos zu Boden stürzte. Haymo eilte auf die Hütte zu, riß das brennende Reisig auseinander und zertrat die Flammen.

Jörgi kam zur Besinnung; er wollte sich erheben, aber der Jäger warf sich über ihn, und da half es dem Burschen nichts, ob er auch um sich schlug, biß und kratzte wie ein wildes Thier ... ein kurzer Kampf, und er lag wehrlos mit geknebelten Händen.

„Steh auf!“ sagte Haymo.

Jörgi erhob sich.

„Geh’ voran!“

Der Bursche schoß aus seinen schielenden Augen noch einen Blick des Hasses auf den Jäger, dann trottete er mit gesenktem Kopf auf dem Steig dahin. Mit geschultertem Griesbeil ging Haymo hinter ihm her.

Es war Morgen geworden, als sie die Almen erreichten. Die Kühe zogen schon läutend über das Feld; aber an Zenzas Hütte war die Thür noch geschlossen. Haymo stieß das Griesbeil gegen die Bohlen. „Sennerin! Mach’ auf!“

Man hörte in der Hütte eine stammelnde Stimme, ein Geräusch ... dann wurde die Thür aufgerissen, und Zenza erschien, mit ungeordnetem Haar und nackten Schultern, den Jäger anstarrend mit erschrockenem Blick.

„Da bring’ ich Dir Deinen Hüter!“ sagte Haymo. „Er hat mich in meiner Hütt’ verbrennen wollen ... damit ich Dir keinen Schimpf mehr anthu’!“

Zenza wurde kreidebleich, dann wieder schoß ihr brennende ZornrÖthe in die Wangen, mit heiserem Schrei stürzte sie auf Jörgi zu und schlug ihm, eh’ es Haymo verhindern konnte, die Faust ins Gesicht. Jörgi wankte, sein Gesicht verzerrte sich, aber kein Laut kam über seine Lippen, und mit gläsernem Blick hingen seine Augen an dem Mädchen.

Haymo hatte sich abgewandt und war davongegangen. Da kam ihm Zenza nachgerannt und umklammerte seinen Arm mit zitternden Händen. „Haymo! Haymo!“ stotterte sie. „Ich thu’ Dir schwören bei allem, was heilig ist im Himmel und auf der Welt, ich hab’s ihm nicht geschafft ... ich hab’ nichts gewußt davon ...“

„Das weiß ich, Zenza.“

„Schau’, Haymo, schau’, wenn’s geschehen wär’ ... ich hätt’ ja selber sterben müssen ...“

Er schaute sie mit traurigen Augen an, löste sanft ihre Hände von seinem Arm, nickte einen Gruß und ging seiner Wege.

Wie zu Stein verwandelt stand das Mädchen und starrte ihm nach. Sie strich mit der Hand über die Stirn und kehrte müden Ganges zur Hütte zurück. Mit einem Messer zerschnitt sie den Strick an Jörgis Händen.

„Geh’, sag’ ich, und komm’ mir nimmer unter die Augen!“

Der Bursch glotzte sie an und rührte sich nicht.

„Mach’ fort, sag’ ich! Und wenn Du hinunterkommst, dann richt’ meinem Vater aus, er soll mir einen anderen Hüter schicken.“

Jörgi stand unbeweglich; nur ein Zittern lief über seinen Körper, als Zenza in die Hütte trat; dann athmete er schwer auf, rieb die Knöchel seiner Hände, faßte die Geißel, die an der Hüttenwand lehnte, und begann wie alltäglich seinen Hüterdienst.

Als es Mittag wurde, sah ihn Zenza die Kühe zum Stall treiben. „Du bist noch allweil da?“ rief sie ihn mit zornbebender Stimme an.

Ein wildfunkelnder Blick traf sie aus seinen Augen. „Ich [503] geh’ nicht, Sennerin! Und wenn einer mit zehn Ross’ käm’ und thät’ mich fortziehen wollen ... ich bleib’, ich bleib’!“

Sie trat auf ihn zu, riß ihm die Geißel weg und hob sie zum Schlag. „Willst geh’n oder nicht?“

„Hau’ nur zu ... ich wehr’ mich nicht! Aber bleiben thu’ ich!“

Klatschend flog ihm die Schnur der Geißel ins Gesicht und zeichnete einen blaurothen Striemen über Stirn und Wange. Jörgi rührte sich nicht; aber das Wasser lief ihm aus den starren Augen.

Wieder fragte sie: „Willst geh’n oder nicht?“

Er biß die Lippen übereinander und schüttelte den Kopf.

Sie wollte aufs neue schlagen, allein ein Gefühl des Ekels überkam sie ... und sie wußte nicht, war es Ekel vor sich selbst oder Ekel vor diesem menschenähnlichen Thier. Sie warf ihm die Geißel vor die Füße und ging der Hütte zu.

Keuchend hob Jörgi die Geißel auf, ließ die Schnur durch die Finger gleiten und machte sich wieder an seine Arbeit. –

Gegen Abend wurde es lebendig auf der Alm. Eine Schar junger Burschen kam, mit ihnen ein Sackpfeifer und ein Zitherschläger. Die Spielleute begannen eine lustige Weise, während die Burschen singend und jauchzend den Holzstoß zum Sonnwendfeuer rüsteten. Dann wurde die Bahn für das Scheibenspiel geebnet. Auf dem untersten Hang des Almfeldes baute sich eine grasige Kuppe über den steil zum See abfallenden Bergwald hinaus; man mußte schwindelfreie Augen haben, um von dieser Stelle furchtlos hinunterzublicken in die gähnende Tiefe, in welcher der See gebettet lag. Ein geflochtener Zaun umschloß den Platz, um das grasende Vieh von der gefährlichen Stelle zurückzuhalten. Diesen Zaun entfernten jetzt die Burschen, und mit Holzpflöcken stampften und schlugen sie den sacht ansteigenden Grasboden der Kuppe glatt, um eine ebene Bahn für die rollenden Scheiben zu gewinnen; das machte ihnen nur wenig Mühe, denn der Boden war noch leidlich glatt vom vergangenen Sommer her. Es wurde ja auf dieser Kuppe, welche der „Feuerpalfen“[57] hieß, seit grauen Zeiten, Jahr um Jahr, das Sonnwendspiel gehalten.

Lange biegsame Stangen wurden zugerichtet, eine mächtige Fichte wurde gefällt, der Stamm mit der Säge in Scheiben zerschnitten, und aus jeder dieser Scheiben das Mark herausgebohrt.

Der Abend dämmerte schon, als alle Vorbereitungen getroffen waren. Der Gäste wurden es immer mehr – ein Bursch um den anderen kam aus dem Thal emporgestiegen, mit hellem Jauchzer sich ankündend; von allen Almen her, oft viele Stunde weit, kamen die Sennerinnen, und jede brachte ein mit geweihtem Wasser besprengtes Scheit zum Sonnwendfeuer und eine lange Kienfackel, um die heilige Flamme heimzutragen durch die finstere Nacht.

Als am dunklen Himmel das erste Sternlein blinkte, wurde Feuer an den Stoß gelegt. Alle standen schweigend im Kreis umher, um acht zu haben, wie hoch die erste Flamme emporzüngle: denn so hoch würde der Flachs gerathen in diesem Jahr.

Mit Knistern und Prasseln wuchs das Feuer, und es währte nicht lange, da loderte es baumhoch empor mit rauschenden Flammen, die sich durcheinander flochten und ringelten wie hundert glühende Schlangen. Und da begannen auch in der finsteren Ferne, auf allen sichtbaren Gebirgsstöcken, auf den Lattenbergen und dem Watzmann, auf dem Göhl und Untersberg, die Sonnwendfeuer aufzuleuchten, daß es anzusehen war, als hätte der Himmel seine Sterne wie feurige Flocken heruntergeschüttelt auf die Berge.

Die Pfeife klang, die Zither fiel ein, jeder Bursch faßte sein Mädchen um die Mitte, und in geschlossenem Reigen wirbelten die jauchzenden Paare rings um das Feuer, bis der Holzstoß zerfiel und die Flammen zu schrumpfen begannen. Da stellten sich die Paare ist langer Reihe auf.

„Springet, Dirnen und Buben,“ rief der Zitherschläger, „daß Euch beim Traidschneiden das Kreuz nicht weh thut!“

Und der Bursch, der zuvorderst in der Reihe stand, warf seinen Hut in die Luft und sang dazu:

0„Unterm Kopf, überm Kopf
Thu’ ich mein Hütl schwingen!
0Dirndl, wie lieber mich hast,
So höher mußt springen.“

Lachend reichte ihm sein Mädchen die Hand, in gleichem Schritt begann das Paar den immer flinker werdenden Anlauf ... „Hupp auf!“ schrien alle anderen ... und in hohem Schwung flog das Paar über die breite Gluth hinweg und durch die züngelnden Flammen. Jauchzender Zuruf folgte dem glücklichen Sprung, und der Bursch halste das Mädchen. „Schatzl! Wir haben uns ein glückselig Jahr erschwungen!“

Paar um Paar sprang über das Feuer; mißlang der Sprung, dann regnete es spottende Scherze über die Ungeschickten, die mit verdrossenen Gesichtern hinter die Reihe zurücktraten, um ihr Glück ein zweites Mal zu versuchen.

Zenza stand mit verschränkten Armen unter der Hüttenthür und schaute finsteren Blickes dem fröhlichen Treiben zu.

Da trat ein Bursch zu ihr. „Zenza, willst Dich nicht schwingen mit mir?“

Sie blickte auf, es war Ulei, der Bildschnitzer. Sie gab ihm keine Autwort, nicht einmal den Kopf schüttelte sie; schweigend trat sie aus der Thür, wendete dem Burschen den Rücken und wanderte mit langsamen Schritten in die Nacht hinaus.

Das letzte Paar war glücklich über das Feuer gesprungen, und nun begann das Scheibenspiel. Ein Bursch um den anderen faßte mit langer Stange eine der durchlöcherten Scheiben auf und hielt sie ins Feuer, bis sie zu glühen begann; dann sagte er den altherkömmlichen Scheibenspruch, setzte das glühende Rad auf die ebene Bahn und begann gegen den Feuerpalfen zu laufen; nahe vor dem Abgrund ließ er die rollende Scheibe mit kräftigem Schwung von der Stange gleiten, daß sie funkensprühend hinausflog in die Luft und verglimmend in die Tiefe sank. Auch hier gab es Lob und Spott, je nachdem der Wurf gelang. Unter den Scheiben war eine, mit welcher keinem Burschen der Schwung gelingen wollte, sie war zu plump und schwer gerathen; bald wollte sie nicht richtig glühen, bald brach unter ihrem Gewicht die Stange, bald wieder rollte sie seitwärts davon, noch ehe der Feuerpalfen erreicht war. Am Ende ließ man sie liegen und hielt sich an die leichteren Scheiben, die sich flink und lustig treiben ließen. Wohl eine Stunde währte das fröhliche Spiel, das sich wundersam ausnahm in der finsteren Nacht.[58]

Da kam noch ein Gast zum Sonnwendfeuer – Haymo, der Klosterjäger.

„Schenket mir auch eine Scheibe,“ sagte er zu den Burschen, die ihn mit herzlichem Willkomm’ empfingen.

„Schad’, Jäger, Du bist zu spät gekommen. Die Scheiben sind all’ schon vertrieben.“

„Dort liegt ja noch eine,“ sagte Haymo.

„Die will sich nicht treiben lassen.“

„Sie muß,“ murmelte der Jäger, packte den rußigen Klotz und warf ihn ins Feuer. Als die Scheibe um und um glühte, hob er sie mit der Stange aus den Flammen und sagte mit bebender Stimme den Spruch:

„Eine Scheiben
Will ich treiben
Meiner Herzallerliebsten zu Ehren!
Will’s einer wehren?“

Mit jähem Ruck setzte er den brennenden Klotz auf die verkohlte Grasbahn, fing zu laufen an und wirbelte die Scheibe, daß die Funken emporstoben wie aus einer Esse. Dicht vor dem Absturz hielt er inne. „Gittli, ich thu’ Dich grüßen,“ klang es von seinen Lippen mit zitterndem Ruf in die Nacht hinaus ... und von mächtigem Schwung getrieben, surrte das feurige Rad in weitem Bogen über den Abgrund.

Alles rannte zum Feuerpalfen. „Schauet, schauet,“ riefen die Dirnen, „so hat noch keiner eine Scheib’ getrieben.“

Inmitten der Lärmenden stand Haymo schweigend und blickte mit feuchten Augen seiner Scheibe nach, die einer fallenden Sonne gleich in die Tiefe sank und immer, immer noch keinen Grund erreichte.

„Schauet, schauet,“ rief es rings um ihn her, „sie fallt hinunter bis in den See!“

Tiefer und tiefer sank das kreisende Feuerrad, es wurde [504] kleiner und kleiner, nun glich es schon einem winzigen Stern, und jetzt ... die Scheibe mußte auf einen Fels gefallen und zersplittert sein ... jetzt sprühte der Stern in hundert Funken auseinander, welche sacht erloschen.

Zwei Zähren rollten über Haymos Wangen. So war sein leuchtendes Glück zerbrochen, versunken und erloschen.

Er wand sich aus dem jubelnden Kreis und trat in die Finsterniß des Waldes. Dort stand er im schwarzen Schatten der Bäume und starrte nach dem erlöschenden Sonnwendfeuer, dessen zuckende Flammen vor dem Licht des steigenden Mondes erblaßten. Er sah, wie eine Sennerin nach der anderen zum Feuer trat, um die Kienfackel zu entzünden. Paarweis zogen sie davon, bergab oder seitwärts über die Halden, jede Dirn’ mit ihrem Buben. Grüße, Jauchzer und Jodler hallten von allen Pfaden durch die mondhelle Nacht, und vom Steig herauf, der hinunterführte ins Klosterdorf, klangen noch die gurgelnden Töne der Sackpfeife. Bald waren die letzten Gestalten der Heimwärtsziehenden im Dämmerschein der Mondnacht entschwunden, und man sah auf allen Wegen nur noch die Fackeln ziehen, gleich gaukelnden Sternen ... und jeder von ihnen leuchtete einem heimlichen Glück, zärtlichem Geplauder und endlosen Küssen ...

Haymo wollte aus dem Walde hervortreten. Da sah er noch einen letzten zu dem erlöschenden Feuer treten. Jörgi war es. Er steckte ein Bündel Spähne in die Gluth, und als sie Feuer gefangen hatten, trng er die heilige Sonnwendflamme in Zenzas Hütte.

Haymo wollte ihm nicht begegnen; im Schatten des Waldes schritt er langsam dahin. Als er dann quer über das Almfeld wanderte, hörte er plötzlich in seiner Nähe ein bitterliches Weinen. Unter einer einsam stehenden Fichte sah er Zenza auf der Erde sitzen; sie hielt das Gesicht mit beiden Händen bedeckt, und ihr ganzer Körper erschauerte von Schluchzen. Sie hörte seine Schritte nicht; erst als er, leise ihren Namen nennend, die Hand auf ihre Schulter legte, blickte sie erschrocken auf, und da sie ihn erkannte, fuhr sie ihn mit rauher Stimme an: „Was willst von mir?“

Ich hab’ Dich weinen hören ... und das hat mir weh gethan! Und ich möchte Dir’s abbitten, wenn ich Dir was Ungutes angethan hab’ ... schau, Zenz’, ich kann ja nichts dafür.“

Sie lachte zornig auf und stieß seine Hand zurück.

„So mußt nicht sein, Zenza! Es kann ja doch keins was dafür ... es hat halt nicht sein mögen, daß wir zwei uns zusammenfinden in Freud’ und Fried’ ... schau, Zenz’, so laß uns halt jetzt zusammenstehen und gute Kameradschaft halten im Herzleid! Könntest nur hineinschauen in mich, wie’s ausschaut da drin ... ich weiß, Du thät’st mir nimmer zürnen, sondern thät’st ein Erbarmen mit mir haben.“ In einem müden Seufzer erlosch seine leise, zitternde Stimme.

„Haymo!“ stammelte sie und zog ihn mit beiden Händen an ihre Seite. „Komm, schau, thu’ Dich vor mir nicht scheuen! Vor mir kannst alles reden. Was hast denn für ein Herzleid? Sag’s, Haymo, sag’s!“

In heiß überquellendem Schmerze rang es sich von seinen Lippen: „Ich kann die Dirn’ halt nicht vergessen ... und ich würg’ mich und plag’ mich und zwing’ mich, und ich kann’s halt nicht vergessen. Wo ich hinschau’ bei Tag und Nacht, überall steht ihr Gesichtl und schaut mich an. Jedes Lüftl im Wald, jedes Wasserl, das ich rinnen hör’, alles hat der Dirn’ ihre Stimm’. Jedes schlanke Bäumerl, jedes Blümerl thut mich mahnen dran. Und den See, den darf ich schon gar nimmer anschauen. Und nienderst hab’ ich kein Bleiben nimmer. Bin ich draußen, so treibt’s mich heim, und bin ich daheim, so treibt’s mich wieder fort! Das ganze Herz brennt’s mir zusammen wie ein dürres Scheitl Holz ... ich spür’s, Zenza, ich spür’s ... ich muß versterben dran!“

„Haymo! Jesus Maria! Du mein lieber Bub’ ...“ Sie verstummte. Dann gleich wieder sprach sie weiter, mit ruhiger, fester Stimme. „Ja, weswegen sollst Du denn die Dirn’ vergessen müssen? Thut Dich vielleicht die Gittli nicht mögen? Aber geh’, so eine dumme Frag’! Wie soll denn Dich eins nicht lieb haben! Ich weiß schon ... ich hab’s ja auch gehört ... man hat die Dirn’ fortgeschafft, gelt?“

„Ja, Zenza, ja!“

„Und warum denn?“

„Ich weiß nicht, es hat geheißen, man thät’ ihr Glück machen.“

„Glück?“ murrte das Mädchen. „Das Glück, das die Herrenleut’ für unsereins übrig haben, das geb’ ich keiner Kuh zu fressen. Aber sag’, wo ist denn die Dirn’ hingekommen?“

„Nach Salzburg zu den Domfrauen.“

„Wo schafft sie denn dort? Im Stall oder in der Küch’?“

„Ich weiß es nicht!“

Zenza blickte sinnend vor sich hin; dann sprang sie auf. „Schau, es muß schon mitternächtige Zeit sein ... das Mondmandl steigt schon wieder hinunter über die Berg’. Geh’, Bub’, steh’ auf und mach’, daß Du heim kommst ... schau, bist ja so müd’ und übernächtig, daß Dich schier nimmer auf den Füßen heben kannst. Da ... da hast Dein Kappl und Dein Griesbeil! So! Und jetzt schau, daß Du heimkommst und leg’ Dich richtig schlafen! Gut’ Nacht, Bub’!“

„Gut’ Nacht, Zenza!“ sagte Haymo mit versagender Stimme. „Und ... Vergelt’s Gott für den Haimgart!“

„Wohl wohl! Kehr’ nur wieder einmal zu auf meiner Alm! Morgen ... morgen bin ich nicht daheim. Aber übermorgen, ich mein’, da find’st mich schon wieder.“ Ein schmerzliches Lächeln zuckte um ihre Lippen. „Und jetzt schau, daß Du heim kommst – und schlaf’ auch! Gelt?“

„Wenn ich’s fertig bring’! Gut’ Nacht, Zenza!“

„Gut’ Nacht, Haymo! Und Glück auf Sonnwend!“

Sie schüttelten sich die Hände, und müden Ganges stieg Haymo über den Almenhang empor.

Zenza stand und blickte ihm nach, bis seine Gestalt im Zwielicht der Mondnacht zerfloß. „Nein, Bub’,“ stammelte sie, während ihr die Zähren über die Wangen kollerten, „versterben sollst mir nicht, solang’ ich noch eine Zung’ hab’ und Füß’ am Leib!“

Sie eilte der Hütte zu. Als sie zur Thür kam, sah sie Feuer auf dem Herd, Jörgi kauerte im Winkel und glotzte in die züngelnden Flammen. Mit leisen Schritten entfernte sich Zenza wieder; als sie den Steig erreichte, der in das Klosterdorf hinunterführte, begann sie zu laufen. Der helle Mondschein leuchtete auf ihren Weg.




25.

Bei grauendem Morgen erreichte Zenza das Dorf. Sie rastete nicht. Eilenden Ganges wanderte sie auf der Straße weiter; sie hatte das Röcklein geschürzt und führte in der Hand einen Stab, den sie im Bergwald gebrochen. Noch stieg keine Rauchsäule aus den Dächern, und Stille herrschte über allen Feldern und Wiesen. Es war ja Fronleichnamstag, das höchste Fest des Jahres! Viele Häuser waren schon mit Birkenbäumchen und Laubkränzen geziert, und vor anderen Gebäuden, die noch ungeschmückt waren, lagen die Birken haufenweise bereit. Niemand begegnete ihr; die Leute schliefen noch; nur manchmal fuhr kläffend aus einem Gehöft ein Hund hervor, der ein schweres Scheit Holz an den Hals geknebelt trug, das ihn hindern sollte, in den Klosterwäldern ein kleines Jagdvergnügen aufzusuchen.

Zwei Stunden tüchtigen Marsches, und Zenza erreichte den Markt Schellenberg. Hier waren die Leute schon munter; Erwachsene zierten die Häuser, Kinder bestreuten die Straße mit Blumen, die Salzknappen schmückten das Sudhaus und bauten unter dem Thor desselben einen Altar.

Zenza hungerte es. Sie trat in die Taferne. „Grüß Dich Gott, Leutgeb!“ sagte sie zum Wirth. „Kennst mich?“

„Wenn ich recht mein’, bist Du dem Eggebauer seine Tochter?“

„Wohl wohl!“

„Wo gehst denn hin in aller Früh?“

„Auf Salzburg hinein.“

„Willst Dir den Umgang anschauen?“

„Wohl wohl! Und weißt, ich bin völlig überhops von meiner Alm davon und hab’ vergessen, daß ich einen Zehrpfennig mitgenommen hätt’. Willst mir Essen und Trinken geben? Mein Vater zahlt schon, wenn er vorbeikommt. Und wenn noch ein Uebriges thun magst, so gieb mir zwanzig Heller mit auf den Weg!“

Die Tochter des reichen Eggebauern hatte ein leichtes Fordern; hätte sie nicht zwanzig Heller sondern zwanzig Schilling begehrt, der Leutgeb hätte auch einen Katzebuckel gemacht und wär’ gesprungen, um den Kasten aufzuthun.

[506] Zenza nickte nur zum Dank; die Münzen schob sie in die Tasche, den Stutzen Rothwein leerte sie auf einen Zug, Brot und Selchfleisch nahm sie in die Hand und begann zu essen, während sie weiter wanderte.

Abermals zwei Stunden, und der Untersberg lag hinter ihr. Weit und eben, noch von den zarten Nebeln des Morgens überflossen, dehnte sich das Grödiger Moos. Bald verwehte ein frischer Wind den grauen Duft, der über die Landschaft gebreitet war, und im Glanz der Morgensonne, stolz und schön, winkte ihr die leuchtende Stadt entgegen. Auf den ragenden Zinnen der Hohensalzburg, auf dem steilen Dach des Domes zu St. Peter, auf dem schlanken, zierlichen Thurm der Franziskanerkirche, auf jedem Herrenhaus, überall wehten die weißen und rothen Fahnen des Festes.

Als Zenza das Nonnthaler Thor erreichte, begannen schon alle Glocken zu läuten. Der junge Thorwächter hielt ihr die Hellebarde vor und wollte die Mauth von ihren Lippen erheben; aber statt eines Kusses zahlte sie mit einem Nasenstüber, schlug den Spieß beiseite und rannte die enge Gasse dahin, im Strom der Leute verschwindend, die zum Domplatz eilten. Sie überließ sich dem schiebenden Gedränge, rathlos, was sie nun beginnen sollte. Das Heim der Domfrauen würde sie wohl erfragen können. Aber wie sollte sie ins Kloster gelangen? Wie sollte sie Gelegenheit finden, Gittli ohne Zeugen zu sprechen? Während sie grübelte und sann, wurde sie gedrückt und geschoben; vom Hall der vielen Glocken, der alle Lüfte zittern machte, begannen ihr die Ohren zu singen; und mitten in dem hundertstimmigen Lärm, bei dem klappernden Getrappel der Pferde, bei dem Geschrei der vor den Hufen Flüchtenden wurde ihr völlig wirr und taub zu Sinne. Schließlich stand sie mitten in einem Knäuel Menschen auf einem großen Platz: rings umher Kirchen und ragende Gebäude, alle reich geziert mit Fahnen, Bildern, kostbaren Teppichen und Stickereien, mit Birkenbäumchen, Laubgewinden und leuchtenden Blumen.

Das Geläut der Glocken hatte ausgesetzt; nun mit einmal begann es wieder, und mit ihm vermischten sich, aus einer nahen Gasse schallend, die schmetternden Klänge der Posaunen, die hellen Töne der Zinken, die dumpfen Wirbel der Pauken, dazu ein mächtig anwachsender Gesang von Kinder-, Frauen und Männerstimmen, welche durcheinanderflossen wie brausende Wellen … Vor Zenzas Augen, deren Herz erzitterte in frommem Schauer, entwickelte sich mit funkelnder Pracht und überwältigender Wirkung die Prozession. Voran auf weißen Rossen die Herolde in goldgestickten Wappenröcken, dann die bunt gewandete Truppe der Bläser, Zinkenisten und Pauker, eine Schar Kriegsknechte, ein rasselnder Reitertrupp, die Fronboten und alles Gesinde des erzbischöflichen Hofes, die Richter im Scharlachkleid, die Räthe in schwarzen Talaren, mit schweren Goldketten; auf tänzelnden Pferden die Lehensritter in funkelndem Harnisch und mit blanken Schwertern, welche blitzten in der hellen Sonne; eine schier endlose Reihe von Mönchen und Laienpriestern, flackernde Lichter tragend; zwischen allen Gruppen wehende Kirchenfahnen und gaukelnde Laternen, heilige Statuen und Reliquienschreine; und jetzt der Baldachin, strotzend von Gold, mit nickenden Straußenfedern auf jeder Stange, behangen mit Bändern und Goldschnüren, deren Quasten in den Händen schmucker Edelknaben ruhten, umgeben von gepanzerten Wächtern, umwallt von duftenden Weihrauchwolken … und unter dem schwankenden „Himmel“ die Domherren im goldschweren Levitenkleid, in ihrer Mitte Herr Heinrich von Pirnbrunn, der neuerwählte Erzbischof von Salzburg, die weiße, goldgebänderte Inful auf dem Haupt, um die Schultern den von edlen Steinen blitzenden Rauchmantel, in den Händen die strahlende Monstranz …

Es stockte der Zug, der Erzbischof bestieg die Stufen des unter freiem Himmel erbauten Altars, der Gesang verstummte, die Posaunen und Zinken schwiegen, das Geläut der Glocken setzte jählings aus, über dem von Farben, Silber, Gold und Sonne leuchtenden Platz lag athemlose Stille … da schrillten die Klingeln, die Weihrauchwolken wallten, es hob sich die Monstranz, alles Volk sank in die Knie.

Ein Augenblick ... und alles war wieder Bewegung und Gewoge, Gesang und Tönen, Klang und Geläut’, Funkeln und Geflimmer …

Der Baldachin war an Zenza schon vorübergezogen, aber sie hatte immer noch zu schauen und zu staunen in Hülle und Fülle. Da kamen in prächtigen Gewändern die Edelherren und Edelfranen in langer, langer Reihe, dann wieder Mönche und Priester, singende Knaben und Mädchen, und jetzt …

Durch Zenzas Herz zuckte ein heißer Schreck, und mit brennenden Angen starrte sie in den Zug.

„Das sind die Domfrauen,“ sagte ein Weib an ihrer Seite, „und die adeligen Fräulen!“

Voran ging die Oberin mit sechs Schwestern, in schlichten blauen Gewändern, die blassen Züge überschattet von weißen Hauben, am Gürtel den Rosenkranz aus rothen Korallen. Ihnen folgte, einem wandelnden Blumengarten vergleichbar, eine blühende Mädchenschar, alle gleich gewandet, in weißen schleppenden Kleidern, die entblößten Schultern und Arme von zarten Schleiern übergossen, weiße Rosenkränzlein im gelösten Haar. Und von den Schönen die Schönsten, sechs an der Zahl, trugen auf duftender Blumenbahre ein liebliches Marienbild.

An einer dieser Trägerinnen hing Zenza mit starren Augen. Als die Bahre vorüber war, fuhr sie auf, wie aus einer Betäubung erwachend. Mit stoßenden Ellbogen drängte sie sich aus dem Knäuel der Menschen hinaus in die freie Gasse.

Der Zug hatte gewendet und zog nun an sich selbst vorüber. Es gab ein wirres Gedränge, bei welchen es niemand auffiel, daß eine neugierige Bauerndirn’ fast mitten in die Schar der adeligen Fräulein hineingestoßen wurde. Aus nächster Nähe starrte Zenza in das Gesicht der Marienträgerin, über deren schmächtige Wangen eine brennende Röthe flog.

„Kennst mich?“ flüsterte Zenza, während in der vorüberziehenden Spitze des Zuges die Posaunen schmetterten und die Zinken klangen.

„Kennst mich, Gittli?“ wiederholte sie und flüsterte weiter: „Deinetwegen bin ich gekommen! Du mußt davonlaufen aus dem Kloster! Noch heut’! Ich wart’ vor dem Klosterthor … den ganzen Tag … und wenn’s sein muß, die ganze Nacht. Aber kommen mußt Du ... Du mußt … der Haymo stirbt!“

Zenza hatte kaum ausgesprochen, als ein Stadtknecht sie mit unsanftem Arm zurückstieß in das Gedränge.

Der Zug gerieth in Stockung. Eine der Marienträgerinnen war ohnmächtig geworden, und als sie niedersank, konnten die hinzuspringenden Mädchen nur mit Mühe noch das heilige Bild vor dem Sturz bewahren. Zenza sah, wie Gittli von zwei Domfrauen an den Armen gestützt und fortgezogen wurde.

Es währte noch eine volle Stunde, bis die Feier vorüber war und das Gewoge der Menschen sich löste. Von Gasse zu Gasse fragte sich Zenza bis zum Heim der Domfrauen. Auf einem Eckstein kauerte sie sich nieder und wartete, bis die Domfrauen mit ihren Pfleglingen in das Kloster zurückkamen. Gittli war nicht dabei. Zwei Schwestern hatten sie schon vorher nach Hause geführt und zu Bett gebracht; die Ohnmacht wurde dem Staub und der Hitze zugeschrieben, und man legte es für Schwäche aus, als Gittli auf keine Frage Antwort gab. Geduldig ließ sie alles mit sich machen, nahm die stärkenden Tropfen, die man ihr reichte … und nun lag sie in ihrem Nestlein, von einer Schwester behütet, und starrte mit angstvollen Augen ins Leere. Wohl war es ihre erste Regung gewesen, auf den Knien und mit aufgehobenen Händen zu betteln: „Lasset mich heim!“ Aber das hatte sie ja seit jenem Tag, der sie ins Kloster brachte, schon zu hundert Malen nutzlos gethan. Sie mußte schweigen und den günstigen Augenblick zur Flucht erwarten; den Weg für eine solche Flucht hatte sie sich schon lange ausgesonnen, doch immer hatte ihr der Muth gefehlt, ihn zu betreten. Jetzt aber mußte sie fort, sie mußte. „Der Haymo stirbt!“ … dieses Wort hätte ihr den Muth gegeben, sich durch Feuer und Wasser hindurch zu schlagen. „Der Haymo stirbt!“ Immer, immer hörte sie nur dieses eine Wort. Das Herz schlug ihr wie ein Hammer, und dennoch rann das Blut so kalt wie Eis durch ihre zitternden Glieder. „Der Haymo stirbt!“ War er denn nicht genesen? Hatte Herr Heinrich gelogen, als er ihr diese Botschaft sandte … diese erste und einzige Freude, welche sie hier zwischen den dumpfen, ihren ganzen Lebensmuth erdrückenden Mauern erfahren hatte? Oder war Haymos Wunde wieder aufgebrochen? Oder hatte ihn neues Unheil getroffen? War er auf seinen gefährlichen Wegen gestürzt? Oder hatte ein Raubschütz, ein wildes Thier ihn angefallen? [507] Quälende Bilder stiegen vor ihren Augen auf, und aus jedem dieser Bilder schrie ihr eine jammernde Stimme zu: „Der Haymo stirbt! Der Haymo stirbt!“

Fröhlicher Lärm unterbrach sie in ihren martervollen Gedanken. Etwa zwanzig Mädchen stürmten in den großen Schlafsaal, um die Kleider zu wechseln und sich vom Straßenstaub zu reinigen. Rings an den Wänden standen die weißen Betten, jedes neben einem schmalen Schrein; die freie Mitte des Saales nahm der riesige Waschtisch ein, dessen Innenraum, einem gewaltigen flachen Trichter gleichend, mit blankem Kupfer ausgeschlagen war; rings auf dem breiten Rande war für jedes Mädchen ein Krüglein mit Wasser in Bereitschaft gestellt. Das gab nun ein lieblich heiteres Bild, wie sich all die Mädchen um den Waschtisch drängten, mit gelösten Haaren, im kurzen Unterkleid, mit nackten Armen und Schultern, plaudernd und kreischend, lachend und kichernd mit dem Wasser spritzend und plätschernd, die Augen leuchtend, die Wangen brennend ... Und daneben Gittli in den Kissen, stumm und bleich, verzehrende Angst in jedem Blick, in jedem Herzschlag zitternde Furcht und heiße Sehnsucht ...

Den ganzen Tag über blieb Gittli kaum ein Viertelstündchen allein; sie hatte ja so viele Freundinnen, als das Heim der Domfrauen junge Mädchen barg. Zu Anfang wohl hatten all’ diese anderen das scheue, unbeholfene Ding mißachtet, verspottet und gehänselt wegen seiner bäurischen Sprache, wegen seines furchtsamen Wesens und seiner ewigen Thränen. Aber das Geheimniß, das um die kleine „Brigitte von Dorfen“ gebreitet schien, reizte die Neugier, ihre stille, träumerische Schwermuth weckte das Mitleid, und schließlich bezwang Gittlis natürlicher Liebreiz auch das widerspenstigste dieser jungen Mädchenherzen. Allein sie nahm diese zärtlichen Freundschaften hin wie etwas Aufgezwungenes; sie lebte nur in sich selbst, und so war ihr alles, was sie hier umgab, an diesem letzten Tage noch so fremd und bedrückeud, wie es ihr am ersten Tag gewesen. Sie kam sich vor wie in einem Fastnachtsspiel, darin man ihr die Rolle der verwunschenen Prinzessin wider Willen aufgenöthigt hatte. Und wenn sie jetzt um Haymos willen in Angst und Bangen der Stunde entgegensah, welche ihre Flucht ermöglichen würde, so mischte sich in ihre beklemmende Marter doch auch ein Aufathmen, ein tröstendes Vorgefühl ihrer Erlösung aus diesen schrecklichen Mauern.

Als es zu dämmern begann, blieb Gittli, während im Refektorium die Abendmahlzeit gehalten wurde, eine halbe Stunde allein. Zitternd erhob sie sich und zog das Gewand an, welches neben dem Bette noch auf dem Sessel lag: das weiße, ausgeschnittene Schleppkleid und die gelben Schnabelschuhe. Ein Mäntelein, welches sie aus dem Schrein hervorholte, versteckte sie unter dem Kissen. So völlig angekleidet, legte sie sich wieder nieder.

Jetzt kamen Minuten quälender Angst; denn kaum hatte sie die Decke bis an das Kinn gezogen, da brachte ihr eine dienende Schwester das Abendessen. Zuerst stellte sie sich schlafend; und als sie geweckt wurde, betheuerte sie unter Stammeln und Thränen, daß sie nicht „ein lützel“ Hunger hätte ... denn um zu essen, hätte sie sich aufrichten und dabei verrathen müssen, daß sie angekleidet im Bette lag. Die Schwester ging, aber gleich wieder kam eine neue Gefahr: die Frau Oberin erschien, um sich nach Gittlis Befinden zu erkundigen.

„Dank der Nachfrag’, ehrwürdige Mutter,“ stotterte das Mädchen, „mir ist schon völlig wieder gut. Aber schläfrig bin ich halt ... so viel gern schlafen möcht’ ich!“

„So schlaf, mein Kind! Aber mummel’ Dich nicht so in die Decke; da muß Dir ja heiß werden, und dann wirst Du Dich in der Nacht erkälten!“

„Wenn mich aber so viel frieren thut!“ stammelte Gittli mit versagender Stimme und hielt die Decke krampfhaft fest.

„Frieren, Kind? Du wirst doch kein Fieber haben?“ sagte die Oberin ganz erschreckt. „Komm’, gieb Deine Hand her, ich will den Puls fühlen.“

Ein ganz klein wenig schob Gittli die zitternde Hand unter der Decke hervor.

„Ach Du armes Kind! Dein Händchen glüht ja wie Feuer, und Dein Puls fliegt ...“ Die Oberin eilte zur Thür und zog an einer Schellenschnur. Die dienende Schwester, welche auf dieses Zeichen erschien, wurde um eine fieberstillende Arznei geschickt. Und wie sich Gittli auch wehrte und sträubte ... sie mußte schlucken. Ein naßkaltes Tuch wurde ihr um die Stirn gebunden ... aber das „Fieber“ wollte nicht weichen, die Gluth ihrer zitternden Hände nicht verschwinden.

Die Oberin schickte die dienende Schwester um Essig fort und richtete an Gittli eine besorgte Frage um die andere. In der quälenden Angst vor der drohenden Entdeckung verwirrten sich die Antworten des Mädchens immer mehr, so daß es wahrhaftig den Anschein gewann, als spreche aus ihr das sinnverwirrende Fieber.

„Kind, Kind! Du wirst mir doch nicht ernstlich erkranken!“ jammerte die Oberin. „Gieb die Decke weg, ich höre die Schwester schon kommen, wir müssen Dich mit Essig waschen.“

Gittli schluchzte und bettelte ... aber es half ihr nichts ... die Oberin löste ihr die Hände und nahm die Decke fort. Trotz der tiefen Dämmerung, welche schon in dem Raum herrschte, erkannte die Oberin sofort, daß das Mädchen völlig gewandet mit den Schuhen im Bette lag.

„Brigitte! Was soll das heißen?“

Gittli hatte sich aufgerichtet, die Füße unter das Kleid gezogen und hielt die zitternden Arme über der Brust verschlungen, mit starren Augen zur Oberin aufblickend.

Da half keine Ausrede mehr; nun mußte man ihre Absicht durchschauen, man würde ihre Flucht verhindern ... und „der Haymo stirbt, der Haymo stirbt!“

Sie mußte fort, jetzt, gleich auf der Stelle, und wenn es ihr Leben galt! Sie sprang aus dem Bett, riß mit jähem Ruck das Mäntelein unter dem Kissen hervor, warf es um die Schultern und stürzte der Thür zu, als eben die Schwester mit der Essigschüssel eintreten wollte. Ein Schrei, ein Klatsch auf den Dielen, und vorüber an der taumelnden Nonne, welche die Schüssel hatte fallen lassen, rannte Gittli in den dunklen Säulegang hinaus. Hinter ihr her die beiden Frauen mit lautem Geschrei. Im Spielsaal verstummte der fröhliche Lärm, die Thür wurde aufgerissen, und mit erschreckten Gesichtern kamen die Mädchen herbeigelaufen.

„Was giebt es? Was ist geschehen?“ So rief es mit zwanzig Stimmen durcheinander.

Die beiden Nonnen konnten sich dem Ring, der sich um sie gebildet hatte, kaum entwinden ... Gittli gewann einen weiten Vorsprung, verschwand um die Ecke des Ganges, und während hinter ihr der Lärm der Stimmen verhallte, rannte sie Treppen auf und ab, durch dunkle Korridore, bis sie die Klosterkirche erreichte.

Sie öffnete die eiserne Thür, welche laut in ihren Angeln kreischte. Ein Schauer faßte ihr Herz, als sie zwischen den Säulen der Krypta den fahlen Schein des ewigen Lichtes zittern sah; ein stammelndes Gebet auf den Lippen, eilte sie der finsteren Thurmhöhle zu und hastete über die steile Treppe hinauf, bis sie das erste unvergitterte Fenster erreichte. Es lag über der Erde fast so hoch wie der Giebel an ihres Bruders Haus. Sie zögerte ... „Der Haymo stirbt!“ schrie es in ihr ... und da sprang sie. Der harte Sturz betäubte sie fast, aber nur einen Augenblick währte ihr Taumeln, dann rannte sie an der öden Mauer entlang und schrie mit gellender Stimme. „Zenza! Zenza!“

Wie ein Wiesel kam das Mädchen herbeigeschossen. „Bist endlich da! Ich hab’ mir ja die Seel’ schier herausgewartet.“

„Fort, fort, Zenza,“ stieß Gittli mit erlöschender Stimme aus keuchender Brust hervor, „oder sie kommen und holen mich wieder!“

Zenza faßte die Wankende am Arm und riß sie mit sich fort. Sie erreichten das Nonnthaler Thor und huschten hinaus, gerade bevor es geschlosen werden sollte.

Als sie aus dem dunklen Schatten der die Straße einfassenden Bäume hinausgelangten auf das offene Grödiger Moos, blieb Gittli stehen. „Ich kann nimmer laufen, das dumme Gewand kommt mir allweil unter die Füß’.“

„Ja,“ spottete Zenza, „fein hat man Dich aufgeputzt, das muß ich schon sagen! Wie ein Heiligenbild in der Kirch!“

„Gelt?“ jammerte Gittli, faßte das Kleid, riß um den ganzen Saum herum eine handbreite Borte mitsammt der Schleppe weg und warf sie in den Straßengraben.

Dann fingen sie wieder zu laufen an. Und im Laufen [508] fragte Gittli mit zagender Stimme. „Zenza, mein Gott sag’ mir doch ... was fehlt ihm denn?“

„Was wird ihm denn fehlen?“ lautete die murrende Antwort. „Du fehlst ihm!“

„Zenza!“ stammelte Gittli, und weiter brachte sie kein Wort mehr über die Lippen; nur ein erstickter Laut quoll aus ihrer Kehle, als wollte ihr das jählings schwellende Herz die Brust zersprengen; dazu schoßen ihr die heißen Thränen in die Augen, und sie hastete vorwärts, daß ihr Zenza kaum folgen konnte.

Noch ehe sie Schellenberg erreichten, waren die feinen Schnabelschuhe zertreten und die dünnen Sohlen durchgetreten. Gittli ließ sich auf einen Straßenstein nieder und zerrte die zerfetzten Schuhe von ihren Füßen.

„So ein Gelumpert!" brummte Zenza. „Aber was machst denn jetzt?“

„Ich lauf’ halt barfuß! Komm’ nur, komm’, komm’ ...“

Und weiter ging es, immer weiter auf der mondhell gewordenen Straße.


26.

Bald nach dem Ostertag war im Berchtesgadener Klosterland ein neues Sprichwort aufgetaucht. Wenn Sturm und Regen sich über Nacht in einen sonnigen Tag verwandelten, dann hieß es: „Das Wetter hat sich gewendt wie der Klostervogt!“ Und in der That, Herr Schluttemann war kaum mehr zu erkennen; die Leute wußten es nicht genug zu rühmen, wie gut und freundlich der Vogt sie jetzt behandle. Mit rechten Dingen könne das nicht zugegangen sein, darüber waren sie alle einig. Und es verbreitete sich die Märe: Herr Schluttemann habe an der Wand in seiner Amtsstube einen „Zauber wider die Galle“ hängen; wenn immer nur ein Fünklein Zorn in ihm aufsteige, dann thue er schnell einen Blick nach dem unheimlichen Ding an der Wand und sei plötzlich verwandelt in die leibhaftige Sanftmuth.

Der „Zauber“ hing unter dem Bilde, welches den heiligen Georg im Kampf mit dem Drachen darstellte, und sah einem zierlich beschriebenen, unter geschnitztem Rahmen verwahrten Pergamentblatt zum Verwechseln ähnlich.

Als Herr Schluttemann in der Woche nach Ostern eines Morgens seine Amtsstube betrat, gewahrte er den „Zauber“ an der Wand. Er trat mit verblüfften Augen näher, fuhr mit glühender Nase zurück ... und rannte wuthschnaubend in das Gemach des Propstes.

„Reverendissime! Alles kocht in mir!“

„Weshalb?“ fragte Herr Heinrich lächelnd.

„Man hat mich beschimpft, man hat mir einen schmählichen Possen angethan! Das Urtheil, Reverendissime, das Urtheil wider meine Hausfrau ...“

„Das sie Euch an den Kopf gehauen?“

„Ja ... das hat man in meiner Amtsstube aufgehangen! Aber ich will nimmer schlafen, bis ich den gefunden habe, der mir das angethan hat.“

„Da braucht Ihr nicht lange zu suchen. Das hab’ ich selbst gethan!“

„Re ... Re ...“ Herr Schluttemann wollte sagen: „Reverendissime!“ Allein der Schreck lähmte seine Zunge.

„Eurer Klugheit mag es überlassen bleiben, herauszufinden, weshalb es geschah. Wenn Euch das aber nicht gelingen sollte ...“ Herr Heinrich machte eine bedenkliche Pause. „Ihr wißt, mein Vogt im Pongau ist gestorben. Ich muß einen anderen an seine Stelle setzen. Es ist ein böser, mühsamer Posten. Indeß ... wenn Ihr drüben im Pongau mit den Leuten umschreiet, dann hör’ ich’s nicht.“ Herr Heinrich trat zu seinem Pult und begann in einem aufgeschlagenen Buch zu lesen.

Wie ein begossener Pudel ging Herr Schluttemann davon. Draußen in der Amtsstube stand er lange, lange mit gespreizten Beinen und verschränkten Armen vor dem „Zauber“. Dann plötzlich stülpte er den Hut über das borstige Haar und rannte nach Hause wie ein angeschossener Dachs in seinen Bau. Da ging nun ein Spektakel los, daß die Leute auf der Straße zusammenliefen und lauschend stehen blieben. Eine geraume Weile hörte man zwei Stimmen; dann nur noch eine: die donnernde Stimme des Vogtes. Frau Cäcilia hatte zum ersten Male in ihrem Leben den kürzeren gezogen.

Herr Schluttemann ließ sich den Vortheil dieses ermuthigenden Sieges nicht wieder entschlüpfen. Das merkte man ihm deutlich an, wenn er allmorgendlich behäbigen Ganges zur Amtsstube wanderte, gründlich ausgeschlafen, mit lachendem Gesicht.

Frau Cäcilia versenkte sich in stummen Groll; da sie aber schließlich merkte, wie wenig ihr das Grollen eintrug, spielte sie die Klügere ... und gab nach. Am Morgen des Fronleichnamstages wurde die Versöhnung geschlossen; und bei der feierlichen Prozession schritt Herr Schluttemann Hand in Hand mit seiner „getreuen Hausehre“, wie er jetzt zu sagen pflegte, hinter dem Baldachin einher.

Als er anderen Tages seine Amtsstube betrat, war der „Zauber“ verschwunden. Er stürzte in das Gemach des Propstes.

„Reverendissime! Das Ding ist weg von der Wand!“

„So?“ lächelte Herr Heinrich. „Da mag es wohl einer weggenommen haben, der gefunden hat, daß es nimmer nöthig wäre.“

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 17, S. 536–546

[536] Herr Schluttemann wollte zu einer langen Rede ausholen; aber da kam Frater Severin in athemloser Eile über die Schwelle gestolpert; „Herr! Herr! Pater Desertus ist heimgekehrt!“

„Wo ist er?“ rief der Propst in freudiger Bewegung.

„Da kommt er schon!“

Von Staub bedeckt, wie er vom Pferd gesprungen war, erschien Pater Desertus unter der Thüre. Sein Haupthaar, auch der lange schwarze Bart, war leicht ergraut, aber seine Augen blickten hell und frei, und frische Lebensfarbe lag auf seinem sonnverbrannten Antlitz.

„Dietwald! Dietwald!“ Und Herr Heinrich umschloß mit beiden Armen den Heimgekehrten.

Frater Severin und der Vogt verließen das Gemach.

„Rede, Dietwald, rede! Wie ist es Dir ergangen? Aber ich frage noch! Und die Antwort steht in Deinen Augen, auf jedem Zuge Deines Gesichtes!“

„Wie hätt’ es mir übel ergehen können – süßer Trost und hoffende Freude zogen ja mit mir! Sagt, Herr, sagt, wie geht es dem holden Kinde?“

„Ich meine, gut. Die Kleine ist wohl aufgehoben bei den Domfrauen. Aber mir scheint, das neue Kleid will ihr noch immer nicht sitzen.“ Herr Heinrich lächelte. „Die Berichte der Oberin laufen von Jammer über wie heiße Milch. Bis heute hat das Mädchen im Kloster nicht mehr gewonnen ... als alle Herzen!“

Die Augen des Paters leuchteten. Dann faßte er die Hände des Propstes. „Ihr habt mich knapp gehalten mit Botschaft.“

„Ich schrieb Dir, was ich schreiben konnte. Der Sudmann weiß weder Ort noch Namen. Aber Du selbst magst alles von ihm hören.“

„Er lebt noch?“ fragte Pater Desertus mit ungläubigem Staunen.

„Zwei Monate liegt er nun in schwerem Siechthum. Doch als ich ihn das letzte Mal besuchte, da schien es mir, als beginne Eusebius zu hoffen. Wir wollen morgen zu ihm ...“

„Nein, Herr, heute noch, ich bitte!“

„Kann ich Dir die erste Bitte versagen? Aber nun rede, erzähle! Wie hat Dich der Kaiser aufgenommen?“

„Wie einen Sohn!“

„Und konntest Du ihm diese Liebe vergelten? Wie ist Deine Sendung ausgefallen?“

Das Antlitz des Paters verdüsterte sich. „Wir wurden abgewiesen.“

Herr Heinrich nickte vor sich hin, als hätte er diese Antwort erwartet. „Wer zog mit Dir?“

„Heinrich von Virneburg, der Mainzer. Einundzwanzig Tage währte unser Ritt. Wie staunte ich, als wir Avignon erreichten!“

„Du fandest einen weltlichen Hof, schwelgend in allen Freuden des Lebens?“

„Und inmitten dieses Taumels sitzt der Papst, ein williger Höfling Frankreichs, das den Streit zwischen Ludwig und der Kirche schürt und sich dabei durch Länderraub auf Kosten Deutschlands zu bereichern sucht. Wenn der Papst auch den Frieden mit Deutschland wollte, er darf ihn nicht wollen . . . Frankreich erlaubt es nicht!“ Mit zornigem Lachen hatte Pater Desertus diese letzten Worte begleitet.

„Laß nur gut sein, Dietwald! Für alles kommt eine zahlende Zeit!“ Herr Heinrich erhob sich. „Komm’, Du wirst müde sein; erhole Dich einige Stunden! Dann magst Du mir alles erzählen, während wir zum See reiten.“

Pater Desertus aber wollte nichts wissen von Ruhe. Er ging nur, um das Kleid zu wechseln . . . und schon ein halbes Stündlein später ritten sie zum Klosterhof hinaus. Vor Mittag noch erreichten sie Bartholomä.

„Nun? Wie geht es Deinem Kranken?“ fragte Herr Heinrich den Pater Eusebius, der sie begrüßte.

Eusebius lächelte. „Sagt, Herr, habt Ihr schon einmal einen Stein in die Höhe fallen sehen und ein Wässerlein bergauf laufen? Nein? Dann passet nur auf . . . Ihr seht es gewiß noch! Denn der Mann wird gesund. Freilich den lahmen Arm muß er sich gefallen lassen.“

Herr Heinrich und Pater Desertus traten in die Klause. Auf reinlichem Lager ruhte Wolfrat, abgemagert bis auf Haut und Knochen. Brust und Arme lagen noch im Verband; die Rißwunden im Gesicht aber waren schon geheilt und hatten kaum merkliche Narben zurückgelassen.

Wolfrats Augen leuchteten auf, als er den Propst in der Thür erscheinen sah. „Grüß Gott, Herr, grüß Gott! Gelt, ich darf schon gleich fragen . . . wie geht’s denn meiner Seph’?“

„Ein paar Wochen noch, Wolfrat, und Dein Weib ist wieder kerngesund!“

„Vergelt’s Gott, Herr. und . . . und mein Bub?“

„Gieb acht, den wirst Du gar nicht wiedererkennen! Der ist kugelrund geworden! Freilich ....“ Herr Heinrich lachte, „er war ja in Klosterkost.“

Pater Desertus trat in mühsam verhehlter Erregung an das Lager des Sudmanns.

„Jetzt kenn’ ich Euch erst, Herr Pater!“ sagte Wolfrat mit schwankender Stimme. „Euch muß ich wohl auch ein festes ‚Vergelt’s Gott!‘ sagen. Hättet Ihr selbigsmal nur ein kleine Weil später zugestoßen, dann wär’s aus gewesen mit mir!“

„Sieh, Wolfrat,“ flel Herr Heinrich ein, „da kannst Du ja Deinem Retter gleich ein Liebes erweisen! Pater Desertus möchte hören, wie es kam, daß Gittli Deine Schwester wurde. Erzähl’ es ihm!“

„Wohl wohl! Setzet Euch nur her!“

Pater Desertus ließ sich neben dem Lager auf einen Sessel nieder, und Wolfrat begann: „Wisset Herr, ich bin im zweiundzwanziger Jahr bei dem Salzburger Erzbischof als Reisiger gestanden und hab’ den Ampfinger Tag mitgemacht ... auf der feindlichen Seit’. Gewurmt hat es mich freilich, daß ich hauen und stechen sollte gegen meine eigenen Landsleut’. Aber was hab’ ich machen können ... ein Eid ist halt allweil ein Eid! Ich hab’ meine Pflicht gethan als richtiger Soldat ... aber gar ungern hab’ich’s nicht gesehen, wie der Kaiser obenauf gekommen ist und die Unsrigen auf den Abend das Laufen angefangen haben. Da hat keiner mehr stehen können, einen jeden hat’s mitgerissen ... und wer nicht laufen hat wollen, hat laufen müssen. So vier, fünf Tag’ ist es allweil hergegangen um unser Leben, keiner hat die Gegend gekannt, und die bayrischen Reiter sind hinter uns her gewesen wie die ledigen Teufel. Ich hab’ mich mit ein Stücker vierzig von den Unsrigen zusammengehalten ... und da war’s in einer stürmischen Nacht ... da sind wir in einen Markt gekommen ...“

„Wie hieß der Markt?“

„Ich weiß nicht. Aber ich besinn’ mich noch ... gleich bei der Tafern’ ist eine Kirch’ gestanden, die hat hint’und vorn’ einen Thurm gehabt und ein ebenes Dach ....“

„Pfarrkirchen war es!“ sagte Pater Desertus in lateinischer Sprache zu Herrn Heinrich. „Zwei Wegstunden von meiner Burg.“

„Die Tafern’ war gesteckt voll mit flüchtigem Volk. An die dreihundert sind da beisamm’ gewesen; und es war ein fürchtiges Gejammer, was man jetzt anfangen soll und wo man die Zehrung hernimmt? Und da war einer unter uns, ein Salzburger Rottführer, Klees hat er geheißen ....“

„Klees?“ stammelte Pater Desertus; und lateinisch sagte er zu Herrn Heinrich: „Der Mann hat einen Monat in meiner Schar gedient ... ich hab’ ihn fortjagen müssen, denn er bestahl mich!“

„Der Klees ist auf den Tisch gesprungen und hat geschrien, er wüßt’ ein Mittel, daß man sich die Säck’vollstopfen könnt’. Nicht weit vom Markt wär’ ein reicher Herrensitz . . . der thät’ einem Ritter gehören, der in der Ampfinger Schlacht mit dem Flammberg unter uns herumgehauen hätt’ wie der Mähder mit der Sense im Traidfeld. Die Handvoll Leut’ auf der Burg könnt’ man leicht überrumpeln. Wie er das gesagt hat, da hat’s einen Höllenlärm gegeben, und die meisten sind auch gleich dabei gewesen, daß man den Handstreich wagen sollt’. Ein paar haben freilich dawider geredt ... ich selber auch. Aber da hat’s gleich geheißen, man wär’ in Feindsland, und Krieg wär’ Krieg. Wer [537] sich noch lang’ gewehrt hätt’ ... ich glaub’, den hätten die anderen niedergeschlagen. Der Klees hat Wein anfahren lassen, und wie wir all’ miteinander heiße Köpf’ gehabt haben, da ist der Klees zum Hauptmann ausgeschrien worden ... und der hat auch gleich die richtige Stund’ ausgenützt ... noch in der Nacht sind wir fort aus der Tafern’, und allweil durch Wald ist der Weg gegangen, den der Klees uns geführt hat. Ich muß schon sagen, die Sach’ hat mir nicht recht hineingepaßt in mein Hirnkastel ... aber wie der Mensch ist ... wo ein paar hundert laufen, da lauft man halt mit. Und der Wein hat auch uns allen die Köpf’ dumper gemacht! Ich glaub’, der Klees ist der einzig’ gewesen, der recht gewußt hat, was es gilt. So um die zweite Morgenstund’ muß es gewesen sein, da sind wir aus dem Holz ins Feld gekommen, und ganz schwarz sind die Burgmauern vor uns aufgestiegen in der Nacht!“

Pater Desertus athmete schwer und drückte die Fäuste auf seine Brust.

„Beherrsche Dich, Dietwald!“ mahnte Herr Heinrich in lateinischer Sprache. „Der Mann soll nicht wissen, wie nahe Dich berührt, was er erzählt.“ Und zu Wolfrat sich wendend, sagte er: „Sprich nur weiter!“

„Der Klees hat uns halten lassen .... keinen Laut und keinen Tritt hat man gehört . . und dann ist der Klees bis an den Burgwall hingegangen und hat den Thorwart angeschrien. Ich hab’s nicht recht hören können, denn ich bin einer von den Letzten gewesen .... aber ich mein’, er hat dem Thorwart zugerufen, daß er eine Botschaft brächt’ vom Burgherrn, und die Sach’ hätt’ Eil’. Ich weiß nicht, hat der Klees die Losung gewußt, oder war der Thorwart so ein guter Hascher, der gleich das erste Wörtl geglaubt hat . . . wie ich halt sag’. ich hab’ noch kaum recht gewußt, was los ist, da war die Zugbrück’ schon herunt’, eine Hauerei und ein fürchtiges Geschrei ist losgegangen ... und bis ich nach einer Weil’ mit den Letzten hineingekommen bin in den Burghof, da sind die paar Herrenleut' schon im Blut herumgelegen, die Unsrigen haben schon alle Thüren eingedrückt, und die brennenden Pechkränz’ sind in die Fenster geflogen. Da bin ich mit einem Male nüchtern worden ... und wie ein steiniges Mandl bin ich gestanden hab’ nur allweil geschaut und hab’ mir an den Kopf gegriffen ... und gegraust hat’s mir in der tiefsten Seel’! Hätt’ mich einer am Ampfinger Tag niedergeschlagen, ich glaub’, mir wär’ wohler gewesen als in derselbigen Stund’. Ich hab’ freilich keinen Finger gerührt und keine Hand gestreckt . . . aber dabei gewesen bin ich halt doch! Und die ganzen Jahr’ her . . . so oft was Unguts über mich und meine lieben Heimleut’ gekommen ist . . . allweil hab’ ich an dieselbige Nacht denken müssen und mir sagen: Schau, jetzt mußt zahlen dafür!“

Wolfrat schwieg, und tiefe Stille herrschte in der Klause. Das Antlitz des Paters war erblaßt, und seine heißen Augen starrten ins Leere.

„Wie die Flammen herausgeschlagen sind aus jedem Dach, da haben sie’s drunten im Dorf gemerkt, was vorgeht, und haben die Sturmglock’ geläutet. Haufenweis’ sind die hörigen Leut’ aus dem ganzen Burgbann herbeigelaufen, die einen mit Schwert und Spieß, die andern mit Dreschflegeln und Sensen. Da ist die Hauerei aufs neu’ wieder angegangen. Ich aber hab’ mir gedacht, ich will mit so einer schiechen Sach’ nichts mehr zu schaffen haben. Doch wie ich mich schon hab’ hinausschleichen wollen beim Thor und abschieben, da hör’ ich auf einmal ein fürchtiges Gejammer von einer Weiberstimm’ . . . und wie ich aufschau’, steht auf dem Thurmaltan, mitten im Feuer, eine junge schöne Frau. Ein kleines Bübel ist bei ihr gestanden, und auf dem Arm hat sie ein Kind im Wickel gehalten. ‚Jesus Maria!‘ hab’ ich geschrien und bin zugesprungen und hab’ gemeint, ich könnt’ noch hinauf in den Thurm und helfen. Aber derweil thut’s schon einen fürchtigen Krach. Das ganze Sparrenwerk ist eingefallen, und als wär’ die Höll’ zersprungen, so fliegt der Thurm auseinander in lauter Feuer.“

Am ganzen Körper erzitternd, schlug Pater Desertus die Hände vor das Antlitz.

[538] „Gelt, Herr? Das greift einem ans Herz!“ murmelte Wolfrat. „Ich bin selbigsmal gestanden, als wär’ in mir drin alles ein Eisbrocken worden! Und wie mich das Grausen wieder aufschauen laßt ... von dem armen Weiberleut und dem Büberl hat kein Aug’ mehr was zu sehen gekriegt . . . aber auf einem spießigen Balken, der aus dem Gluthhaufen herausgestanden ist, hab’ ich das Kindl hängen sehen, das sich am Wickel verfangen hat. Da hab’ ich kein’ Glut und kein Feuer gescheut und bin mitten hineingesprungen und hab’ das weinende Würml gepackt ... und das Glück hat’s wollen: ich bin herausgekommen. Aber da springt schon der Klees auf mich zu. ‚Gieb her‘, schreit er, ‚hörst ja, das Kindl weint nach seiner Mutter!‘ Er will mir’s wegreißen, ich aber hab’ ihm mit der Faust eins übers Gesicht gewischt, daß er hingeschlagen ist wie ein Ochs. Derweil hat’s schon geschienen, als thäten die hörigen Leut’ Herr werden über die Unsrigen ... der Klees ist wieder aufgesprungen und auf mich zu mit der blanken Wehr ... und wie’s der Zufall will, springt grad ein scheues Roß gegen mich her ... ich erwisch’ es bei der Mähn’, komm’ in einem Schwung hinauf ... und zum Thor geht’s hinaus in einem Sauser, gleich über zwanzig Köpf’ weg!“

„Kein Zweifel mehr!“ rief Pater Desertus mit bebenden Lippen; und seine flammende Erregung, in welcher Schmerz mit Freude kämpfte, mühsam beherrschend, stammelte er in lateinischer Sprache: „Das war mein Weib ... das ist mein Kind! Mein Kind!“ Die hellen Thränen rannen ihm über die Wangen in den Bart.

Erschrocken schaute der Sudmann zu ihm auf und warf dann einen fragenden Blick auf den Propst.

„Sprich weiter, Wolfrat!“ sagte Herr Heinrich.

„Ich bin auf dem scheuen Roß gehangen wie der Frosch auf dem Mühlenrad und hab’ nur allweil das Kindl an mich hingedrückt . . . und das Roß ist fortgesaust, fort und fort, bis weit hinter mir das brennende Schloß untergesunken ist in der finstern Nacht. Wie nachher der Tag gegrauet hat, sind dem Roß die Kräfte ausgegangen. Eine Weil’ ist es stehen geblieben und hat den Grind hängen lassen, dann ist es wieder fortgetrabt, Schrittl um Schrittl. Das Kind hat geschlafen, und ich hab’s auf dem Arm gehalten und hab’ nicht gewußt, was ich anfangen soll. Ich hab’ die Gegend nicht gekannt, und in ein Dorf hab’ ich mich nicht hineingetraut – ich hab’ gemeint, es müßt’ alle Welt schon wissen, was in der Nacht geschehen ist. Wenn ich gleich mit keinem Finger dazu geholfen hab’ ... dabei gewesen bin ich halt doch! So bin ich allweil zu und zu geritten, weil ich nichts anderes gedacht habe als grad das einzig: schau nur, daß du weit, weit fort kommst von dem Fleck! Auf Mittag hab’ ich einen Einödhof gefunden mitten drin im Holz und einer Dirn’ ein Reindl Milch abgebettelt für das Kind. Und so bin ich wieder fortgeritten, allweil fort, bis ich auf die Nacht zu einem Wasser gekommen bin und bald darauf in einen Markt. Da hab’ ich mich ausgekannt: das Wasser ist die Vils gewesen, und der Markt hat Velden geheißen . . . und von da hab’ ich keine drei Stund’ mehr in mein Heimathl gehabt. Wie hätt’ mir denn jetzt noch ein anderer Weg einfallen sollen! Ich bin halt geritten und geritten, bis ich daheim war. Meiner Mutter hab’ ich das Kindl in’ Arm gelegt . . . aber wie ich dazu gekommen bin, das hab’ ich verhehlt, denn ich hab’ mich gescheut vor Mutter und Vaters Aug’ . . . dabei gewesen bin ich halt doch!“

Wolfrat vermochte kaum mehr zu sprechen, seine Stimme zitterte vor Schwäche.

„Die Nacht darauf bin ich wieder fort. Aber das Kriegshandwerk hab’ ich satt gehabt bis an den Hals. In Landshut hab’ ich mich eingedingt als Flößer. Es hat lang gedauert, bis ich die schieche Sach’ in mir hab’ geschweigen können. Ich hab’ mir freilich allweil fürgesagt, daß ich ein Unrecht thue wenn ich das Kindl um sein Recht und seinen Namen bring’. Aber ich hab’ mir halt nicht getraut, daß ich umfrag’ und red’ ... dabei gewesen bin ich halt doch ... da hätt’s mir leicht an den Kragen gehen können, wenn ich mich verschnappt hätt’ . . . und sein bissel Leben hat halt doch ein jeder gern! Und wie ich wieder einmal heimgekommen bin nach Dorfen und gesehen hab’, daß mein Mutterl mit der ganzen Seel’ an dem lieben Kindl hängt, da hab’ ich erst recht nimmer reden können und hab’ mir gedacht: laß halt alles gehn, wie’s geht ... in Gottesnam’!“

„Und niemals,“ fragte Pater Desertus mit schwankender Stimme, „niemals wieder hast Du von jener furchtbaren Nacht gehört? Nie den Namen jener Burg erfahren?“

Wolfrat schüttelte den Kopf.

„Aber es muß doch ein Bild jener Burg in Deiner Erinnerung haften?“

Wolfrat schien sich zu besinnen. „Mein, es hat halt ausgeschaut, wie es ausschaut in einer Burg. Thürm’ und Mauern, ein weiter Hof und ein großmächtiges Haus,“ sagte er mit matter, kaum noch verständlicher Stimme. „Aber . . . wohl wohl, Herr ... auf eins besinn’ ich mich noch. Ueber dem Thor und über der Thür in den Thurm hinein hab’ ich im taglichten Feuerschein ein gemaltes Wappen gesehen!“

„Sprich, Wolfrat, sprich!“ klang es mit erstickten Lauten von den Lippen des Paters.

Wolfrat bewegte lallend die Zunge; man verstand nicht mehr, was er sprach; die Erregung hatte seine schwachen Kräfte völlig erschöpft; er schien einer Ohnmacht nahe.

„Sprich, Wolfrat, sprich!“ Und Pater Desertus warf sich vor dem Lager auf die Knie und neigte das Ohr dicht über die Lippen des Sudmanns.

Mit erlöschenden Sinnen rang Wolfrat nach Sprache. „Es war ... ein weißer Falk ... in blauem Feld ..."

„Das Wappen meines Hauses!“ schrie Pater Desertus auf. Sich erhebend, schlug er die Hände vor das Antlitz und wankte hinaus, als erdrücke ihn der enge Raum; draußen ließ er sich schluchzend niedersinken auf die sonnige Bank.

Herr Heinrich eilte ihm nach. Im gleichen Augenblick legte ein Boot mit zwei Schiffern und einem Reisigen am Ufer an.

„Dietwald, ermanne Dich!“ flüsterte der Propst. „Es kommen Leute!“ Er ging dem fremden Kriegsknecht entgegen. „Wen suchst Du?“

„Herrn Heinrich von Inzing, den Propst!“

„Du bist an rechter Stelle. Wer bist Du?“

„Ein Salzburger Fronbot’. Die Oberin der Domfrauen schickt Euch diese Botschaft.“ Er reichte dem Propst ein versiegeltes Pergament.

Herr Heinrich las; er erschrak nicht; nur ein Lächeln glitt über seine Lippen. „Du kannst heimkehren!“ sagte er zu dem Boten. „Man soll Dir im Kloster den Botenlohn reichen und Dich köstigen.“ Der Knecht ging zum Ufer zurück. Herr Heinrich wartete, bis das Boot abgestoßen war, dann wandte er sich zu Pater Desertus.

„Willst Du lesen, Dietwald? Eine Botschaft von Deinem Kinde!“

Mit hastigen Händen griff der Pater zu und entfaltete das Pergament. Er erblaßte. „Mein Kind ... aus dem Kloster entflohen?“ „Entflohen? Weshalb das hohe Wort?“ meinte Herr Heinrich lächelnd. „Sag’ lieber: davongelaufen.“

Pater Desertus faßte die Hand des Propstes. „Herr! Ich bitt’ Euch! Lasset uns gleich zurückkehren! Im Seedorf stehen unsere Pferde. Wir wollen nach Salzburg reiten!“

„Nach Salzburg? Nein, Dietwald, ich weiß einen näheren Weg, um Dein Kind zu finden. Wir wollen hinaufsteigen in die Röth’!“

Desertus erschrak. „So meint Ihr ...? Nein, nein, es ist unmöglich! In dieser einen Nacht sollte das zarte Kind einen Weg bezwungen haben, der die Kräfte eines rüstigen Mannes erschöpfen würde?“

„Die Liebe vermag viel!“ lächelte Herr Heinrich. „Komm, Dietwald!“

In bebender Erregung, aber schweigend, folgte Desertus dem Propst an das Ufer. Ein Knecht holte zwei Bergstöcke, der Einbaum wurde ins Wasser geschoben, rasch war die schmale Wasserzunge übersetzt, und die beiden stiegen empor durch den sonnigen Bergwald.

Mit ungeduldigen Schritten eilte Pater Desertus voran.

Herr Heinrich aber rief ihm lachend zu: „Dietwald, willst Du nicht hinter mir gehen? Weißt Du, ich möchte doch mit ganzer Lunge droben ankommen!“


27.

Am Morgen, noch vor Tag, hatte Haymo die Jagdhütte verlassen, um die Grenzen seines Bergreviers zu umwandern. Nahe den Funtensee-Tauern traf er mit dem Jäger Renot zusammen, der am Ufer des Grünsees hauste. Unter den steilen Wänden [539] saßen sie wohl eine Stunde lang bei einander, das jubelnde Glück neben der stillen Schwermuth.

„Hast denn meine Gundi nie gesehen?“ fragte Renot.

Haymo schüttelte den Kopf.

„Weißt, zwei Jahr’ lang bin ich ihr schon um den Weg gegangen. Und da war’s jetzt in der letzten Mondzeit, da komm’ ich einmal hinauf zum Funtensee und hör’ auf den Halden das Almvieh läuten. Denk’ ich mir. jetzt muß ich doch schauen, was für eine Sennerin der Bauer geschickt hat. Ich geh’ auf die Hütten zu, und wie ich hineinschau ... was sagst? ... steht die Gundi vor mir! Vor lauter Seligkeit hab’ ich einen Luftsprung gethan, daß ich mir an der Thür das Hirnkastel angeschlagen hab’. Und Du ... ich sag’ Dir ... ein Sommer ist das jetzt, jeder Tag eine Freud’, die vom Himmel fallt. Gelt, das hast ja doch auch schon gespürt: es giebt nichts Liebers und Schöners auf der Welt, als wenn zwei junge, kreuzbrave Leut’ zusammenhalten mit Herz und Hand! Und auslassen thu ich nimmer! Und bis der Frühling wiederkommt, wird Hochzeit gehalten – Juhuuu!“

Von allen Wänden klang das Echo des hallenden Jauchzers.

Lachend schaute Renot in Haymos Gesicht; da verstummte sein Lachen und erschrocken fragte er: „Ja Bub’, was ist Dir denn? Du hast ja nasse Augen!“

Haymo sprang auf und schüttelte den Kopf; die Lippen zuckten ihm, er konnte nicht sprechen.

„So red’ doch, Bub’, red’, was hast denn?“ stotterte Renot.

Wortlos nickte Haymo einen Gruß, wandte sich ab und ging seiner Wege. Renot blickte ihm betroffen nach. „Mir scheint ... dem ist die Lieb’ überzwerch gelaufen.“

Als Haymo den Saum eines Lärchenwaldes erreichte, blieb er tief athmend stehen und wischte sich die Zähren aus den Augen. Während er weiter schritt, hörte er den am Fuß der Felswand hinsteigenden Jäger singen:

„Der Winter ist zergangen,
In Bluh steht alle Heid’,
Da kam zu mir gegangen
Gar süße Augenweid’.
Mir ward das Herzlein froh,
Zum Schätzlein sprach ich so:
Gelt, Du bist mein? Nein, ich bin Dein!
Der Streit, der muß wohl allweil sein!
 Jo ho!
 Jo ho!
So blank allsam ein Härmeletn[59]
Sind ihre beiden Aermelein.
Mein Schätzelein ist fein und schmal,
Gar wohl geschaffen überall.
 Jo ho!
 Jo ho!
Mein Herzelein ist froh!“

Lange war die jubelnde Stimme schon verhallt, doch immer noch klang es wie quälender Spott in Haymos Ohr: „Jo ho, jo ho ... mein Herzelein ist froh!“

Er hatte die Landthaler Wand erreicht, über deren schroff bis zum See abfallende Felsen ein schmaler Wildsteig hinwegführte. Einzelne Steine lösten sich unter seinen Schuhen und stürzten prasselnd in die Tiefe; mit heißen Augen blickte Haymo ihnen nach; er konnte ihre sausenden Sprünge mit den Augen verfolgen, bis sie nahe dem See auf dem schräg verlaufenden Griesbett liegen blieben.

„Da drunten findet ein jeder seine Ruh’ ... ein jeder!“ glitt es leise von seinen Lippen.

Nun löste er absichtlich Stein um Stein und lauschte, wie ihr Fall, der mit lautem Lärm begann, immer leiser und leiser wurde . . . und jeder fallende Stein redete zu ihm mit verführerischer Stimme: „Schau, so könntest Du Dein schreiendes Herzleid auch geschweigen . . . wirf’s hinunter . . . wirf’s hinunter . . . es thut keinen Laut nimmer, wenn es drunten liegt!“

Mit der Hand an einem Felszacken sich anhaltend, beugte er sich vor, daß sein ganzer Körper über dem Abgrund schwebte. Die verwitterten Schrofen, welche aus dem steilen Gewände ragten, waren anzusehen wie tausend steinerne Arme, die sich ausstreckten nach ihm. Und in der gähnenden Tiefe lag der Obersee wie ein großes rundes Auge, es blickte herauf zu ihm, und dieser Blick hatte Sprache: Ich seh’ Dich schon . . . komm’ nur . . . komm’ nur . . . schau, ich wart’!

Immer weiter beugte sich Haymo vor, ein Frösteln überlief seine Glieder, seine Knie begannen zu zittern ... an der Hand, die den Felszacken umklammert hielt, zuckten schon die Finger, als wollten sie sich öffnen ...

Da tönten weiche, schwebende Klänge durch die Lüfte empor. In der Bartholomäer Klause läutete das Glöcklein zur Frühmesse.

Haymo richtete sich erblassend auf und fuhr mit der Hand über die Stirne, wie um einen bösen Traum zu verscheuchen. Aufathmend bekreuzte er sich und stieg mit ungestümer Eile über die Wand hinweg. Es schien ihm erst wieder wohl zu sein, als er den Bergwald erreichte, um dessen Wipfel der erste Goldglanz der steigenden Sonne schimmerte.

Schon aus weiter Ferne hörte er das Gebrüll des Almviehs.

Was die Rinder nur haben mögen? fragte er sich. Vielleicht missen sie die Sennerin! Sie wird wohl tags zuvor hinuntergegangen sein in das Klosterdorf, um dem heiligen Umgang beizuwohnen. Aber das hätte sie doch dem Hüter sagen müssen und wohl an die hundert Male hatte Haymo am vergangenen Tag, bald im Gewänd, bald auf den Almen, bald im Bergwald, den Hüter schreien hören: „Zenzaaah . . . Zenzaaah . . . hoidoooh!“

Als Haymo die Alm erreichte, sah er die Kühe unruhig um die stille Hütte traben, brüllend und mit den Schweifen schlagend. Ihre Euter strotzten ... sie hatten das Milchbrennen. Langsam kamen ihm, da er sich der Hütte näherte, die Thiere entgegen, streckten keuchend die Köpfe, und eine Blässin fuhr ihm mit der rauhen Zunge über die Hand. Er kraute ihr die Stirn, und mit läutender Glocke lief sie ihm nach bis zur Hütte. Er trat in die Thür. Die Hütte war leer. „Zenza!“ rief er . . . aber keine Antwort kam. Er lehnte das Griesbeil an die Wand, legte die Armbrust ab und setzte sich auf den Herdrand. In der Asche lagen noch glimmende Kohlen; er stöberte sie zu einem Häuflein zusammen, legte Spähne darüber und blies in die Gluth. Ein Flämmlein züngelte über das Holz, die Spähne knisterten und krachten, und als das Feuer wuchs, legte er, in träumende Gedanken versunken, Scheit um Scheit in die Flammen.

Er hörte nicht mehr das Brüllen und Läuten der Kühe ... immer, immer summte es in seinen Ohren: „Jo ho, jo ho ... mein Herzelein ist froh!“

Weit da drüben, in der Sennhütte am Funtensee, flammte jetzt wohl auch ein Feuer auf dem Herde . . . und Renot saß bei seiner Gundi und hielt sie umschlungen und zog sie an seine Brust und lachte. „So blank, allsam ein Härmelein . . . sind Deine weißen Aermelein . . .“

Haymo schlug die Hände vor die Augen, als könnte er das Bild verscheuchen, das mit seinem jauchzenden Glück ihn quälte und verhöhnte, ihn und sein brennendes Leid, seine dürstende Sehnsucht . . .

Ganz in sich verloren saß er und hörte nicht, wie draußen alle die Kühe läutend zusammendrängten nach einer Stelle . . . er merkte nicht, daß ihr Brüllen jählings verstummte ... er hörte die raschen Schritte nicht, die sich der Hütte näherten . . . es war ihm nur, als hätte sich mit einem Mal die Thür verfinstert. Mit müden Augen blickte er auf, aber da traf es ihn wie ein Blitz. Er schnellte in die Höhe, streckte mit ersticktem Laut die Arme . . . und stand nun wieder wie versteinert. War es denn Wirklichkeit oder nur ein Traum? War sie es denn wahrhaftig, die da vor ihm unter der Thür stand . . . über und über mit Staub bedeckt, im weißen Röcklein, dessen zerfetzter Saum über die Knöchel der nackten, vom Gestrüpp zerkratzten Füße hing, ein weißes Mäntelein um die schmalen Schultern, die gelösten Haare um den Hals geknotet, mit erschöpften Zügen, aber mit lachendem Mund und leuchtenden Augen?

Jetzt rührte sie die Lippen. „Haymo!“ stammelte sie.

„Gittli!“ schrie er jauchzend auf, und sie flogen sich entgegen, hingen Lippe an Lippe und hielten sich mit zitternden Armen umschlungen, fest, fest, als wollten sie sich nimmer lassen.

„Haymo!“

„Gittli!“

Das war alles, was sie sprachen zwischen Küssen und Küssen.

Und als wäre das Glück über sie hergefallen, so groß und so erdrückend, daß sie es nicht mehr zu tragen vermochten auf ihren schwachen Schultern, so sanken sie auf den Herdrand nieder ... und da streichelte Gittli unter rinnenden Thränen Haymos Gesicht mit beiden Händen und lispelte:

„Gelt? Jetzt thust mir aber nimmer sterben?“

[540] „Sterben . . . sterben ... vor Freud’“ . . . schluchzte er, und was er weiter stammeln wollte, erstickte schon wieder in einem heißen, dürstenden Kuß.

Zenza stand in der Thür, mit geballten Fäusten und kalkweißem Gesicht. Sie konnte den Anblick dieses Glückes nicht länger ertragen, heiser auflachend wandte sie sich ab, rannte wie eine Wahnsinnige hinaus in das offene Almfeld, schlug in einem fort die Fäuste an ihre Stirn und schrie: „Giebt’s denn auf der Welt noch einen Narren, wie ich einer bin! Erschlagen hätt’ ich sie sollen heut’ in der Nacht . . . umbringen, umbringen . . . ins Wasser werfen . . . und ich selber hab’ sie hergeholt! So ein Narr! So ein Narr, wie ich einer bin!“

Unter der einsam stehenden Fichte warf sie sich auf die Erde, schlug die Nägel in den Rasen und schluchzte, schluchzte . .

Dann sprang sie wieder auf und trocknete mit dem Arm die Augen. „Da heroben bleib’ ich keine Stund’ nimmer!“ Ihre heißen Blicke spähten über das Almfeld, während sie mit gellender Stimme schrie. „Jörgi! Jörgi!“ Ihr Ruf verhallte, keine Antwort ließ sich hören. Eine Weile wartete sie . . . und wiederholte den Ruf. Alles blieb still. Nur die Kühe trabten ihr brüllend entgegen. „Meinethalben . . . mag alles hin sein ... das Vieh und alles . . . ich bleib’ und ich bleib’ nimmer!“

Mit eilenden Schritten ging sie dem Steige zu. Die Kühe zogen ihr nach, aber mit Steinwürfen trieb sie das Vieh zurück. An der Stelle, an welcher der Pfad sich in den Wald verlor, blieb sie stehen und blickte, zornig auflachend, noch einmal zurück nach der Hütte. „So ein Narr, wie ich einer bin!“ Und immer wieder lachte sie, während sie dem steil abwärtsziehenden Pfade folgte.

Ueber eine Stunde war sie schon gewandert, als sie schwer ermüdet auf einen Steinblock sank. Die beiden durchwachten und durchwanderten Nächte hatten ihre Kraft erschöpft. Sie schluchzte und lachte dann wieder gellend auf. Aber lange ertrug sie das ruhige Sitzen nicht. Während sie weiterlief, raffte sie einen dürren Stecken auf und zerschlug mit zornigem Hieb jeden grünenden Zweig, der über den Pfad hereinhing. Sie hatte schon den tieferen Bergwald erreicht. Da hörte sie plötzlich eine rufende Stimme, halb ubertäubt vom dumpfen Rauschen des nahen Wildbachs.

„Zenza . . . Zenza . . . Hoidoooh!“

Es war ein wild kreischender, angstvoller Ruf. Auflachend blieb das Mädchen stehen, und da klang es wieder – ein wenig näher schon:

„Zenza . . . Zenza . . . Hoidoooh!“

„Mir scheint, er sucht mich . . . der Tapp!“ stieß das Mädchen zwischen den Zähnen hervor; und da der Ruf nun abermals erklang, flammte eine dunkle Röthe über Zenzas Gesicht, und ihre Fäuste ballten sich. „Der! Der ist schuld an allem! Hätt’ er den Jäger in Fried’ gelassen, so wär’ der Haymo nicht zu mir gekommen, ich hätt’ mich nicht scheuen und schämen müssen vor ihm, er hätt’ nicht geredet mit mir, sein Herzleid hätt’ mir nicht die Seel’ umgedreht im Leib, und . . . und ich wär’ nicht hinein auf Salzburg . . . und müßt’ jetzt nicht einen Zorn in mir haben, daß ich mich selber gleich zerreißen könnt’. Der! Der ist schuld an allem! So schrien die jagenden Gedanken in ihr . . . alles, alles, was Jörgi verbrochen hatte, stand ihr vor Augen, wie mit Geißelschlägen ihren Zorn weckend, ihre Wuth schürend. Nur an eines dachte sie nicht: an jene Stunde, in der sie beim Ostertanz den von allen Verachteten, ihn und sich selbst verhöhnend, hervorgezerrt hatte aus seinem dunklen Winkel.

Nun sah sie ihn um die Wendung des Pfades biegen, in keuchendem Lauf, mit brennendem Gesicht und verstört umherspähenden Augen . . . und zwischen ihr und ihm lag das breite Bett des mit reißenden Wassern steil abstürzenden Wildbachs.

„Zenza . . . wollte Jörgi rufen, aber der Laut erstickte auf seinen Lippen; er hatte das Mädchen erblickt. Mit jauchzendem Schrei, mit Stammeln und Schluchzen kam er herbeigerannt, stieß das lange Griesbeil in das Wasserbett, warf sich hinüber mit hohem Schwung, brach in die Knie, raffte sich auf, und den Stock beiseite schleudernd, umschlang er Zenza mit beiden Armen . . .

Sie aber gab ihm einen Stoß vor die Brust, daß er rückwärts taumelte und niedersank, mit dem halben Körper in das Wasser klatschend. Er wollte sich aufraffen, allein eine Sturzwelle packte ihn, er drehte und überschlug sich, verschwand im Wasser und tauchte halb wieder auf. „Jesus Maria! Jörgi! Jörgi!“ schrie Zenza mit bleichen Lippen. Sie stürzte dem steilen Ufer zu, es gelang ihr, die eine Hand des Versinkenden zu erfassen, mit der anderen haschte er noch ihren Rock und klammerte sich an . . . brausend schlugen die Wellen uber ihn her und drückten ihn nieder . . in stummer Todesangst wollte Zenza aus seinen Händen sich losreißen, aber während sie kämpfte mit dem ganzen Aufgebot ihrer müden Kraft, wich der brüchige Grund unter ihren Füßen, ein röchelnder Laut noch rang sich von ihren Lippen, dann stürzte sie vornüber mit dem Gesicht in den Wildbach, und über sie hinweg gingen die schäumenden Wasser . . .

Welle rauschte über Welle, eine warf sich auf die andere, mit drängender Eile und zorniger Wucht. Aus allem Rauschen heraus noch hörte man das dumpfe Rollen der Steine, welche der Wildbach auf seinem Grunde trieb. Ueber steile Gehänge warf er sich hinunter, tobte zwischen verwaschenem Gestein hindurch, hinweg über gebrochene Bäume und verschwand in einer Schlucht, so eng und tief, daß der Himmel in der Nähe nur noch als ein dünner, blauer Streif schimmerte, während auf dem Grunde der Schlucht alles grau war, ohne Farbe, einzig weiß nur noch das schäumende Wasser. Dünne Quellen rieselten in die Tiefe hinunter, und die frei fallenden Tropfen leuchteten ein wenig, als möchte jeder von ihnen ein Stäubchen Sonne aus dem hellen Tag mit hinunter stehlen in die Finsterniß.

Brausend schoß der Wildbach aus der dunklen Schlucht wieder hervor in ein breites Bett, umschleiert von Wasserstaub, jede Welle bedeckt mit flockigem Schaum. Die Uferwände senkten und erweiterten sich. Blühende Büsche neigten sich über den Rand der Felsen und griffen wie mit hundert kleinen Fingerchen in den blauen Himmel. Buntfarbiges Moos und üppiges Flechtwerk spann sich um alles Gestein, an welchem der Wildbach vorüber rauschte, und die tanzenden Wellen spielten mit dem niederhängenden Gezweig, bis sie breit und ruhig hinausflossen in den stillen sonnigen See. – – –

Von Bartholomä einher kam langsam ein plumper Nachen geschwommen, beladen mit kleinen Blöcken von Ahorn und Zirbenholz. Ein alter Mann führte das Ruder. Im Bug des Schiffes saß Ulei, der Bildschnitzer; er hatte sich neuen Vorrath für seine Werkstätte geholt; in der Hand hielt er ein Klötzchen Holz und bosselte daran mit einem kurzen Messer. Gewandt und sicher führte er jeden Schnitt, und immer deutlicher trat aus dem Holz ein weibliches Köpfchen hervor.

Da sagte der Alte: „Ulei! Was liegt denn da drüben im Wasser?“

„Wo, Vater?“

„Wo der Wildbach auslauft.“

Ulei blickte auf und deckte die Hand über die Augen. „Wohl wohl, jetzt seh’ ich’s auch.“

„Es schaut sich schier an, als thät’ ein Häs[60] im Wasser liegen.“

„Vielleicht hat einer was verloren. Geh, Vater, fahr’ hinüber!“ Ulei steckte das halb vollendete Köpfchen mit dem Messer in die Tasche und erhob sich.

Der Alte drehte den Kahn und steuerte dem Ufer zu.

„Mein Gott, Vater,“ stammelte Ulei, „da hat’s ein Unglück gegeben . . . das ist ja ein Weiberleut! O du mein lieber Herrgott. Ja was kann denn da nur geschehen sein!“

Sie kamen näher. Von den Wellen des Wildbaches seitwärts getrieben, lag die Leiche auf seichtem Grund, überdeckt von durchsichtigem Wasser, auf welchem das Kleid und die bleichen Hände schwammen. Uleis Augen wurden starr und sein Gesicht erblaßte; mit schluchzendem Schrei sprang er aus dem Nachen und riß den leblosen Körper empor in seine zitternden Arme. „Vaterl, schau nur, schau ... die Zenza! Die Zenza!“ Die Worte erstarben ihm. In fassungslosem Schmerze blickte er auf die Entseelte nieder, deren Haupt mit triefendem Haar, mit geschlossenen Augen und blutlosen Lippen in den Nacken hing. Aus dem Mieder und unter den zerrissenen Zöpfen sickerte Blut in dünnen Tropfen hervor. Das Antlitz war unentstellt, fast schöner noch als einst im Leben, denn jeden Zug von Trotz und Wildheit hatte der Tod verwandelt in stillen Frieden.

Schluchzend watete Ulei an das Ufer, bei jedem Schritte wankend unter seiner Last.

„So ein Unglück!“ jammerte der Alte. „Mein Gott, die arme Dirn’! So ein junges lebfreudiges Leut! Geh, Ulei, [541] bleib’ bei ihr! Ich fahr’ davon und lauf’ ins Ort hinein ...“ Er hatte schon den Kahn gewendet und trieb ihn mit eilenden Ruderschlägen über den See.

Ulei war auf einen Steinblock niedergesunken. Mit beiden Armen drückte er den entseelten Körper an seine Brust, als könnte er die Kälte des Todes noch verscheuchen durch die Wärme seines eigenen Lebens. Von Kind auf war sie ihm lieb gewesen. Doch immer gingen ihre Wege an ihm vorüber. Sein Herz aber geduldete sich und hoffte. Wenn er in seiner stillen Werkstatt bei der Arbeit saß, stand es immer und immer vor ihm wie ein Traum, der sich einst noch erfüllen müßte: daß er sie umfangen hielte mit seinen Armen und dürfte sie herzen und küssen . . .

Jetzt hatte sein Traum sich erfüllt! Nun lag sie ja in seinen Armen! Mit scheuem Zögern neigte er das Gesicht und drückte seine thränennassen Lippen auf ihren kalten Mund. Und sie duldete seinen Kuß . . . und wehrte sich nicht . . .

„O du mein liebes, liebes Schatzl!“ schluchzte er. Mit zitternder Hand strich er ihr blutiges Haar beiseite und flüsterte ihr ins Ohr. „Und wenn ich gleich hundert Jahr’ alt werd’ ... ich bleib’ Dein treuer Bub’! Gelt?“

Auf weichem Rasen legte er sie nieder, ordnete ihr das Kleid und die Haare und schob ihr seine Joppe als Kissen unter den Kopf. Einen Zweig mit blühenden Alpenrosen, den er von der nahen Felswand holte, legte er in ihre Hände.

Auf den Knien sprach er ein Gebet. Dann setzte er sich neben der Toten auf die Erde und zog aus seiner Tasche das hölzerne Köpfchen und das Messer hervor. Zähre um Zähre tropfte ihm auf die Hände. Vor jedem Schnitt, den er führte, hing sein Blick lange, lange an dem stillen Antlitz des Mädchens.

Zwei Stunden vergingen. Dann kam ein Schiff mit Leuten, unter ihnen der Eggebauer. Als er mit kalkweißem Gesicht und schlotternden Knien an das Ufer stieg, mußten ihn zwei Männer stützen.


28.

„Wo nur die Zenza bleibt?“ So fragten sie immer wieder, wenn sie für kurze Weile aus ihrem wortlos träumenden Glück erwachten. „Wo nur die Zenza bleibt?“

Sie traten vor die Hütte und riefen Zenzas Namen über das Almfeld und gegen den Bergwald. Alles blieb still.

„Wirst sehen, sie kommt nicht ... und ich mein’, ich weiß warum!“ flüsterte Haymo.

Gittli blickte ihn mit fragenden Augen an; dann schüttelte sie das Köpfchen. „Sie wird halt müd’ gewesen sein und hat sich an einem stillen Platzl schlafen gelegt.“

„Meinst?“ sagte er. „Aber gelt, wirst auch recht müd’ sein!“

„Nicht ein lützel! Ich mein’ völlig, ich hätt’ tausend Jahr’ lang geschlafen und wär’ mit einmal aufgewacht, und derweil ist alles anders geworden, und ich selber bin auch eine andere!“

„Was? Eine andere bist? So, schön, jetzt hab’ ich gar zwei Schätzlein. Ich weiß nur nicht, welches ich lieber hab’: das selbig’, das gewesen bist, oder das selbig’, das geworden bist.“ So scherzte Haymo und wollte sie umfangen. Sie aber schlüpfte in die Hütte und wehrte ihn zurück, als er folgen wollte. Er mußte sich auf die Bank setzen und warten . . . bevor sie ihn rufe, dürfe er beileib nicht kommen.

Er saß noch keine zwei Minuten, da fragte er schon. „Darf ich noch allweil nicht hinein?“

„Untersteh’ Dich!“ hörte er sie ganz erschrocken stammeln.

So weilte er nun geduldig, schaute mit leuchtenden Augen hinauf ins Blau und lauschte dabei jedem leisen Geräusch, das sich in der Hütte vernehmen ließ.

Jetzt trat sie kichernd aus der Thür. Er machte zuerst große Augen, dann schlug er mit glückseligem Lachen die Hände ineinander. Sie stimmte fröhlich ein. „Ich hab’ ein lützel in der Zenza ihrer Truhen gekramt. Meinst, sie wird harb sein? Gelt, nein? Sie hat ja selber allweil über das dumme Häs gescholten. Was sagst, wie ich ausschau’?“ Sie hob die Arme und drehte sich. Er wollte kaum aus dem Lachen kommen. Gittli sah aber auch gar zu drollig aus. Das weiße, bis an den Hals geschlossene Pfaid und das kurze Röcklein hätten ihr wohl leidlich gepaßt. In dem schwarzen Mieder aber hätte ihr schlankes Persönchen noch ein zweites Mal Platz gefunden und jedes ihrer Füßchen stak in dem plumpen Schuh wie ein Spatz im Hühnerkorb. „Was sagst, wie ich ausschau’?“

„Aber lieb! So lieb!“ Er haschte sie mit beiden Armen und zog sie auf die Bank. „Da hast einen gescheiten Einfall gehabt. Ich hab’ mich ja ehnder schier nicht getraut, daß ich Dich anrühr’!“ Wie sehr ihm jetzt der Muth gewachsen war, das fühlte sie aus dem ungestümen Kuß, mit dem er ihre stammelnden Lippen schloß.

So saßen sie in der hellen Sonne, bald still versunken in ihr zärtliches Glück, bald wieder in traulichem Geplauder. Kein Wort, das sie sprachen, kein Gedanke, den sie dachten, ging über den Augenblick hinaus. Sie fragten nicht, was vor diesem Tag gewesen, fragten nicht, was nach diesem Tag kommen sollte ... eine selige Stunde war ihnen vom Himmel gefallen wie Sonnenschein nach Ungewitter, und sie freuten sich ihrer so recht als zwei Glückliche, die zusammengehören, einzig und allein deshalb, weil der liebe Herrgott sie für einander geschaffen. Ihr Glück und ihre Liebe war so still zufrieden wie eine Blume, die in dem Augenblick, da ihr Kelch sich dem warmen Licht erschließt, auch nicht fragt, wer ihren Samen in die Erde legte ... oder wer sie brechen wird in der nächsten Stunde. Sie blüht und freut sich.

Endlich löste sich Gittli, tief aufathmend, aus den Armen des Jägers. Ihre Wangen glühten wie zwei Rosen. Mit zitternden Händen strich sie die Haare von den Schläfen zurück.

„Schau’, Haymoli, die Sonn’ steht schon über Mittag. Hast denn keinen Hunger?“

Er schüttelte lachend den Kopf.

„Aber ich!“ sagte sie kleinlaut.

Da sprang er ganz erschrocken auf. „Ja komm’ doch, [542] Schatzl, komm’! Es wird in der Hütt’ wohl ein lützel was zu finden sein. Und die Zenza wird’s schon erlauben!“

„Was die aber lang ausbleibt! Völlig bangen thut’s mich, daß ich ihr ein Vergelt’s Gott sagen möcht’. Aber gelt, wenn sie kommen thut, müssen wir schon recht gut sein mit ihr. Sie hat’s doch verdient um uns! Gelt?“

Haymo nickte; dann traten sie in die Hütte. Mehl, Milch und Butter fand sich im Ueberfluß. Als aber Gittli auf dem Herd das Feuer schüren wollte, haschte Haymo ihre Hände.

„Nein, Schatzl, heut’ darfst nicht schaffen, heut’ mußt schon mir die Sorg’ lassen. Da wirst schauen, was ich Dir aufkoch’! Und Du . . .“ Er hob sie mit beiden Armen empor und legte sie sanft auf das Heubett nieder, „Du thust mir derweil ein lützel rasten! So, Schatzl, so! Gelt, da liegst gut?“

Erst war sie ein wenig erschrocken, dann aber ließ sie ihn lächelnd gewähren, und als sie in das weiche, duftende Heu versank, schlang sie die Arme um seinen Hals und drückte sein Gesicht an ihre heiße Wange. „Gelt, Haymoli, wir thun nimmer voneinander lassen?“

„Nimmer, Gittli, nimmer, nimmer!“

Eine Weile saß er auf dem Rand des Bettes. Schweigend hielten sie sich bei den Händen und schauten sich lächelnd in die Augen. Plötzlich sprang er auf. „Jetzt muß ich aber schaffen, sonst thust mir am End’ noch verhungern, Du Hascherl, Du arm’s!“

Sie schob die gefalteten Hände unter die Wange, schmiegte sich tief in das duftende Heu und während Haymo auf dem Herd das Feuer schürte, blickte sie unter halb gesunkenen Lidern hervor, mit dankbar zärtlichen Augen jede seiner Bewegungen verfolgend. Leise strömten ihre tiefen Athemzüge über die leicht geöffneten Lippen. Ihr war so wohl! Sie hätte sich für das ganze Leben nichts anderes mehr gewünscht, als nur immer so liegen zu dürfen, so weich zu ruhen, mit dieser sanften Wärme im Herzen, mit diesem süßen Gefühl, daß treue Liebe ihre Ruhe behüte, für sie sorge und schaffe.

Immer und immer wieder nickte ihr Haymo lächelnd zu. Er ging auf den Zehen und suchte jedes Geräusch zu vermeiden, während er alles herbeitrug, was er zur Bereitung der Mahlzeit nöthig hatte. Auf dem Herde knisterten die brennenden Späne, ganz leise rauschten die züngelnden Flammen, durch die Lücken des Schindeldaches fielen einzelne Sonnenstrahlen gleich goldig schimmernden Fäden, und der dünne Rauch, der sich langsam zwischen dem berußten Sparrenwerk verzog, umspann alle Balken mit bläulichem Duft.

Immer tiefer sanken über Gittlis Augen die schwarzen Wimpern . . . ein wohliges Rieseln rann durch ihre Glieder . . . und sacht, unmerklich flossen ihre Träume aus dem Wachen hinüber in einen tiefen Schlaf.

Haymo ließ die Arbeit ruhen; er wäre mit seinem Werk in einem halben Stündlein zu Ende gewesen, und dann hätte er Gittli wecken müssen. Er sah aber, wie wohl ihr der Schlummer that. Leise trug er einen Holzpflock neben das Heubett, ließ sich nieder, schlang die Hände um die Knie, lehnte das Haupt an die Kante des Lagers und blickte mit unverwandten Augen in das Gesicht der Schlummernden.

Sie lag und regte sich nicht; nur manchmal bewegten sich ein klein wenig ihre Lippen, als spreche sie im Traum; dann zuckten auch die Wimpern, welche gleich dunklen Sicheln auf den sanft gerötheten Wangen lagen, und mit tieferem Athemzuge hob sich die junge Brust unter dem weißen Linnen. Haymo streckte die Arme ... es war, als möchte er aufspringen, als möchte er sie aus dem Schlaf emporreißen an sein Herz; doch immer wieder duckte er sich scheu und leise auf den Holzpflock nieder, um die Schlummernde nicht zu wecken.

Stille Stunden verrannen. Als Haymo meinte, daß Gittli nun doch bald erwachen würde, ging er zum Herd. Sie sollte nicht warten müssen aus die Mahlzeit. Als die heiße Butter in der Pfanne zu zischen begann, bewegte sich Gittli, schlug die Augen auf, lächelte . . . und schlief weiter.

Haymo übte sein Küchenamt mit peinlicher Sorgfalt; vor Aufregung, ob die Speise auch wohl gerathen würde, zitterten ihm die Hände. Doch als er einmal kostete, schien er nicht unzufrieden mit seinem Werk. Er schnalzte mit der Zunge, und während er die Pfanne wieder über das Feuer setzte, begann er mit halblauter Stimme zu singen:

„Der Winter war zergangen
In Bluh stand alle Heid’,
Da kam zu mir gegangen
Gar süße Augenweid’ . . .“

Immer lauter wurde sein Lied, bis es endete mit klingendem Jauchzen:

„Jo ho, jo ho,
Mein Herzelein ist froh!“

Da brauchte er Gittli nicht mehr zu wecken, denn als er sich umblickte nach ihr, saß sie aufrecht im Heu, lachte ihn an mit hellen Augen und streckte die Arme.

Als wär’ sie eine Feder, so hob er sie in die Höhe und drehte sie im Kreis. Kichernd zappelte sie mit den Füßchen. Aber auf die Erde kam sie nicht wieder . . . sie saß mit einem Male aus Haymos Schoß. Mit dem einen Arm hielt er sie an sich gedrückt, mit dem anderen zog er die Pfanne herbei. Und da sich in der Hütte nur ein einziger Holzlöffel vorgefunden hatte, mußte es Gittli dulden, daß ihr Haymo jeden bissen in das lachende Mäulchen schob. Sie wehrte sich wohl, aber nur, weil ihr Wehren das zärtliche Mahl verlängerte. Und wie sie jeden Bissen lobte! Haymo wurde ganz stolz auf seine Kochkunst. „Ja, Du,“ sagte sie, „das schmeckt einem halt! Weißt, da drin . . .“ sie machte eine Bewegung mit dem Köpfchen und meinte dabei das Heim der Domfrauen in Salzburg, „da drin hab’ ich Sachen übereinander essen müssen, daß einem völlig hätt’ grausen mögen! Nein, Du, was die Herrenleut’ manchmal für einen Geschmack haben . . . brrr!“

Er lachte und hielt ihr den vollen Löffel entgegen.

„Hait, halt, der gehört ja wieder Dir!“ schalt sie, denn sie wachte gar ängstlich darüber, daß die Theilung auch redlich vollzogen würde: erst sie einen Löffel, dann er einen Löffel – und dazu einen Kuß zum Merkzeichen.

Als die Pfanne leer war, sagte sie ganz erschrocken: „So, schön! Jetzt haben wir der Zenza gar nichts übrig gelassen! Aber was sagst, jetzt ist die noch allweil nicht da! Komm’, Haymo, komm’, ich mein’, wir müssen uns doch ein lützel umschauen nach ihr.“ Sie lief zur Thür hinaus und rief mit heller Stimme: „Zenza! Zenza!“ Doch rings umher hörte sie nur das dumpfe Brüllen der Kühe und das unruhige Gebimmel der Almglocken. Als Haymo zu ihr trat, sagte sie: „Wirst sehen, die hat sich im Wald verschlafen. Aber wart’ nur, ich find’ sie schon!“

Mit klappernden Schuhen lief sie gegen den Bergwald. Haymo aber haschte sie, und nun wanderten sie mit langsamen Schritten, eines ans andere geschmiegt, dem Schatten der Bäume entgegen, den die sinkende Sonne schon dunkel und lang über das Almfeld warf. Als sie den Waldsaum erreichten, hatten sie schon wieder vergessen, was sie hierher geführt. Wo sie gingen, blühte mit dunklem Roth das Almrausch. Sie pflückten die schönsten der blühenden Zweige, und nach einer Weile prangte ein Sträußlein an Gittlis Mieder, ein anderes auf Haymo’s Kappe. Er legte den Arm um ihre Schulter, sie lehnte das Köpfchen an seine Brust, und so wanderten sie dem Feuerpalfen zu, aus dessen verbranntem Rasen schon wieder die grünen Grasspitzen hervorlugten.

„Hast nichts da her denken müssen in der Sonnwendnacht?“ fragte er leise.

Sie nickte erröthend. „Und wie ich eingeschlafen bin, hab’ ich geträumt . . .“

„Was denn?“

„Daß Du mir eine Scheib’ getrieben hätt’st!“

„Aber Narrerl, Du lieb’s ... ich hab’s ja doch gethan!“ lachte er. „Und was für eine! Die allergrößt’ hab’ ich getrieben für mein klein’s Schatzl! Und geflogen ist sie, als wär’ die Sonn’ herunter gefallen!“

Sie umschlangen und küßten sich, als fänden sich ihre Lippen zum ersten Mal. Kein Wunder, daß sie dabei die sich nähernden Schritte zweier Männer und einen stammelnden Ruf überhorten, der vom Saum des Waldes herkam.

Nun wieder standen sie aneinander geschmiegt und blickten mit stillen Augen hinunter in die gähnende Tiefe. Glatt und schwarzgrün lag der See zwischen seinen felsigen, schon von dunklen Schatten umwobenen Ufern.

„Schau, Haymo,“ lispelte Gittli, „siehst das Schiffl im See?“

„Wo, Schatzl?“

„Dort, wo der Wildbach auslauft wie ein weißes Banderl.“

[543] „Wohl wohl, jetzt seh’ ich’s auch.“

„Du, das muß aber ein großes Schiffl sein ... es schaut sich schier an wie ein Scheit.“

„Wohl wohl, ich mein’ auch, es müßten viel Leut’ drin sein. Schau’ nur, und hinter ihm kommt ein anders . . .“

„Ein kleins ... wie ein winzigs Hölzl!“

Sie schauten den beiden kaum merklich gleitenden Schiffen nach, bis dieselben hinter einem steil in den See abfallenden Waldrücken verschwanden waren.

„Geh’, Haymo, komm’,“ sagte Gittli tief aufathmend, „jetzt müssen wir aber die Zenza suchen!“

Sie wollten den Feuerpalfen verlassen, doch als sie sich vom Absturz wandten, fuhr ihnen jäher Schreck in alle Glieder; sie erblaßten und waren wie versteinert. Nur ihre Hände suchten sich noch und schlossen sich fest ineinander.

Herr Heinrich und Pater Desertus standen vor ihnen.

Eine Weile wurde kein Wort gesprochen. Mit ernsten Blicken betrachtete Herr Heinrich das Pärchen, während Pater Desertus, mit feuchtem Glanz in den Augen, nur Gittli zu sehen schien.

„Es schattet schon, Haymo, und ich finde Dich hier?“ sagte Herr Heinrich endlich mit ruhigen Worten. „Hast Du meines Gewildes denn ganz vergessen . . . und Deiner Pflicht?“

„Herr . . .“ stammelte Haymo, während eine brennende Röthe über seine Stirn flog. Kein zornig scheltendes Wort hätte ihn eingeschüchtert, aber diese freundlich ernste Mahnung brachte ihn um den letzten Rest seiner Fassung. Zitternd, mit rathlosem Blick suchte er Gittlis Augen und stotterte.. „Ich muß gehen . . . ich muß . . .“

Da erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Sie umschlang ihn mit beiden Armen, schmiegte den schlanken Leib an ihn, als möchte sie mit ihm in eins verwachsen, und drückte das bleiche Gesicht an seine Brust. „Ich laß’ Dich nimmer . . . und ich laß’ Dich nimmer!“

Mit nassen Augen blickte Haymo zu Herrn Heinrich auf. „Schauet Herr . . . wir haben uns lieb.“

„Und ich laß’ mich nimmer wegschaffen,“ fiel Gittli mit bebender Stimme ein, welche fester klang von Wort zu Wort, „und ich laß’ mich nimmer wegreißen von ihm ... da darf gleich kommen, wer mag ... ich laß’ mich nimmer wegreißen. Ich weiß nicht, was man allweil von mir will ... ich hab’ doch keinem was gethan, ich bin doch ein braves Leut, und keiner hat ein Recht an mich als wie der einzig’, den ich lieb hab’!“ Sie hatte sich aufgerichtet, ihre Augen blitzten, und eine wilde Entschlossenheit verschärfte ihre Züge. „Und eh’ ich mich wieder wegreißen laß’, eh’ spring’ ich lieber da hinunter, wo’s am tiefsten ist. Komm’, Haymo, komm’,“ sie klammerte die zitternden Hände um seinen Arm und zerrte ihn gegen den Abgrund, „komm’ . . . da haben wir gleich eine Ruh’ . . . und bleiben bei einander . . .“

„Kind!“ schrie Pater Desertus erblassend, und auf Gittli zustürzend, umfing er sie mit beiden Armen und riß sie vom Rand der Felsen zurück. Gittli wehrte sich gegen ihn mit zorniger Kraft, er aber ließ sie nicht mehr. „Kind! Du Kind!“ Und die Lippen zu ihrem Ohr neigend, flüsterte er, nur ihr allein verständlich: „Es will Dich ja niemand wegreißen von ihm!“ Da erlahmte ihr Widerstand; scheu erschrocken blickte sie zu ihm auf, und als sie seine Augen sah, diese zärtlich und tief innig leuchtenden Augen, fiel es in ihr gemartertes Herz wie eine Offenbarung: hier ist Hilfe, hier ist einer, der es freundlich meint. „Herr, guter Herr!“ stammelte sie. „Stehet mir doch bei in meinem Herzeleid. Ihr habt ja doch auch eine liebe Frau gehabt und liebe Kindlein ... schauet, ich hab’ ihn halt so lieb, so lieb!“ Laut aufschluchzend barg sie das Köpfchen an seiner Brust.

Haymo stand mit todblassem Gesicht. Sein Athem ging keuchend, und unstet blickten seine Augen. Er sah, wie Pater Desertus die Arme um Gittli geschlossen hielt und ihr Köpfchen zärtlich an sich drückte. Haymos Fäuste ballten sich. Um gewaltsam zu bezwingen, was heiß und sinnverwirrend in ihm aufstieg, packte er mit den Fäusten die eigene Brust.

Herr Heinrich ging auf ihn zu. „Haymo! Haymo! Was hast Du aus diesem Kind gemacht?“

„Ich, Herr?“

„Hast Du nicht gehört, was sie gesprochen hat?“

„Es hat halt in ihr das Herz geredet, wie in mir das meinig’! Und wenn Euch das nicht gefallt, Herr, dann müsset Ihr rechten mit Eurem Herrgott! . . .“

„Mit unserem Herrgott? Und Du hast einen anderen? Oder gar keinen?“

„Wohl wohl, Herr, ich hab’ schon einen, und das ist ein guter ... es ist derselbig’, der das in uns zwei hineingelegt hat, daß es keiner nimmer herausreißt. Und wenn Ihr meinet, daß es halt doch geschehen könnt’, so habt Ihr einen anderen . . .“

„So?“ lächelte Herr Heinrich.

„Ja, und dann vertragt sich auch der meinig’ mit dem Eurigen nicht, und . . .“ Haymos Stimme verlor sich in dumpfes Murmeln, „und wir zwei taugen auch nimmer zu einander!“

„Du sagst mir den Dienst auf?“

Haymo senkte den Kopf, ein Schauer rüttelte seinen Körper, er schaute wieder auf, hing mit verstörten Augen an dem Gesicht des Propstes, seine Lippen bewegten sich, doch aus seiner Kehle wollte kein Laut.

„Gut! Ich kann Dich nicht zwingen!“ sagte Herr Heinrich. „Du bist ja kein Höriger, Du bist ein freier Mann. Aber ich lasse Dich ungern ziehen. Ich war Dir gut, denn Du hast mir treu gedient . . . und so gerne wie Dir hab’ ich noch keinem das Sprüchlein gesagt:

‚Wehr ohne Schart und Fehl,
Graden Sinn ohne Hehl,
Treues Herz ohne Wank ...‘

Was hast Du? Wolltest Du etwas sagen?“

Haymo würgte nach Worten . . . und schüttelte den Kopf.

„Gut also, wenn Du es nicht anders willst. Am Michelstage bist Du meines Dienstes entlassen ... als Klosterjäger!“ Ein feines Lächeln spielte um Herrn Heinrichs Lippen.

„Am Michelstag also, am Michelstag!“ murmelte Haymo vor sich hin, während er sich mit zitternder Hand über die Haare strich. „Wohl wohl ... am Michelstag, da geh’ ich . . . und wenn ich gleich mein halbes Leben dahint’ lass’. Und daß ich bis selbhin meine Pfticht thu’, ich mein’, Herr, dafür kennet Ihr mich.“ Er wandte sich zu Gittli, welche blaß und zitternd stand. „Behüt’ Dich Gott ... es schattet, und ich muß nach dem Gewild schauen . . . behüt’ Dich halt Gott derweil!“

„Haymoli!“ stammelte sie; aber nur eine ihrer Hände ließ Pater Desertus frei, und diese streckte sie dem Jäger hin, der sie mit festem Druck umfaßte.

„Ich muß gehen!“ sagte er mit schwankender Stimme. „Aber am Michelstag, da bin ich mein eigener Herr, da komm’ ich und such’ Dich wieder. Was die Herrenleut’ von Dir wollen mögen, ich weiß es nicht . . . aber ich komm’ und such’ Dich, da kannst Dich verlassen drauf. Und wenn ich Dich nimmer find’ . . . nachher mein’ ich wohl, daß man auch mich wird suchen müssen. Unter der Landthaler Wand ist ein Fleckl, da geht einer nicht irr’ ... der mich suchen mag . . .“

Thränen erstickten seine Stimme.

„Haymo, Haymoli!“ schluchzte Gittli und klammerte die Finger um seine Hand. Aber er riß sich los und stürzte der Hütte zu.

Herr Heinrich blickte ihm nach und schüttelte den Kopf. „Amantes amentes!“[61]

Pater Desertus schlang die Arme um Gittli, zog sie an seine Brust und flüsterte ihr zu: „Laß ihn doch, Du Närrlein, er kommt schon wieder!“

Als Haymo Zenzas Hütte erreichte, riß er die Armbrust von der Wand und faßte das Griesbeil. Auf einer Holzbank sah er das übel zugerichtete weiße Kleid und das Mäntelein liegen – er packte beides mit zornigem Griff und warf es in die glühenden Kohlen. Eine jähe Flamme loderte auf, und im Nu war das dünne Gewebe in Asche zerfallen.

Dann trat er ins Freie. Drüben über dem Almfeld wanderte Gittli langsam, mit gesenktem Köpfchen den Waldsaum entlang, zwischen Herrn Heinrich und Pater Desertus, der sie an der Hand führte.

„Der Schwarze! Und allweil der Schwarze!“ stammelte Haymo. In wirren Gedanken blickte er den Dreien nach, bis sie im Wald verschwunden waren. Dann stieg er den höheren Bergen zu, mit so ungestümer Eile, daß er bald den Athem verlor und rasten mußte.

[544] Sechs lange, bange Stunden währte der Weg, auf dem er kreuz und quer sein ganzes Revier durchwanderte. Er suchte die steilsten Gehänge und die gefährlichsten Pfade, um durch die Erschöpfung des Körpers seine Gedanken und sein Herz zu betäuben.

Als er zu den Hütten kam, lag über den Bergen schon die tiefe sternenhelle Nacht. Aus der halboffenen Thür des Herrenhauses leuchtete ein matter Feuerschein. Haymo wollte zur Jägerhütte gehen; da rief Herr Heinrich ihn an; der Propst und Pater Desertus saßen vor dem Herrenhaus auf der Bank. Haymo spähte und lauschte, aber es war von Gittti weder etwas zu sehen noch zu hören.

„Nun? Wie ist der Pirschgang ausgefallen?“ fragte Herr Heinrich mit gemächlichen Worten. „Hast Du Wild getroffen?“

„Wohl wohl, Herr,“ erwiderte Haymo, sich gewaltsam zur Ruhe zwingend, „unter den Wänden ist eine Steingeiß mit ihrem Kitz gestanden, Gemsen hab’ ich zweiunddreißig gezählt, und auf den Kreuzwaldlahner ist ein guter Hirsch ausgezogen, dem das Geweih bald reifen wird; die Kolben zeigen schon die vierte Kron’.“

„Brav, Haymo, den wollen wir uns holen in der Brunst . . .“ Herr Heinrich stockte. „In der Brunst? Ach so ... ich vergesse ja! Die gute Brunst beginnt um den St. Pelagitag . . . und eine Woche früher fällt schon der Michelstag. Schade! Schade!“

Haymo erzitterte, als hätte er einen Schlag vor die Brust erhalten.

„Aber jetzt geh’, Haymo; koch’ Dir Dein Nachtmahl und dann leg’ Dich schlafen! Du mußt morgen wieder zeitig auf den Beinen sein.“

Ein paar heisere Laute würgte der Jäger zum Gruß heraus und wollte seiner Hütte zugehen.

„Nicht dort ...“ rief ihm Herr Heinrich nach, „in Deiner Hütte schläft das Mädchen, Du mußt Dich für heute mit dem Heuboden begnügen; drinnen auf dem Herde findest Du, was für Deine Mahlzeit nöthig ist.“

Haymo trat in die Herrenhütte, schürte das erlöschende Feuer und begann seinen Imbiß zu bereiten. Er that es nicht, weil ihn etwa hungerte ... er that es nur, weil Herr Heinrich gesagt hatte: koch’ Dir Dein Nachtmahl! Noch eh’ er damit zu Ende war, kamen die Herren in die Hütte. Der Probst ging in das Stübchen, Pater Desertus blieb unter der Thür mit verschränkten Armen stehen und verwandte keinen Blick seiner stillen, warm leuchtenden Augen von Haymo. Dem Jäger wurde unter diesem forschenden Blick unheimlich schwül zu Muth, der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirn – aber er that, als sehe er den Pater nicht, hockte sich mit der Pfanne in einen Winkel und würgte Bissen um Bissen hinunter. Das Mittagsmahl hatte ihm besser geschmeckt! Mit einem tiefen Athemzug sprang er auf; als er über die Leiter emporsteigen wollte, trat Pater Desertus auf ihn zu, streckte ihm die Hand hin und sagte lächelnd:

„Gute Nacht, Haymo!“

„Gut’ Nacht, Herr!“ murmelte der Jäger, die gebotene Hand übersah er. Droben warf er sich der Länge nach über das Heu und grub das Gesicht in die Arme, um sein Schluchzen zu ersticken. Als er nach einer Weile wieder ruhig wurde, hörte er die Herren in der Küche noch miteinander reden. Dann wurde alles still.

Leise strich der Nachtwind über das Schindeldach. Haymo wachte mit klopfendem Herzen. Als er meinte, daß Mitternacht schon vorüber sei, streifte er die Schuhe von den Füßen, stieg lautlos über die Leiter hinunter und tappte sich durch die Finsterniß zur Hüttenthür.

Sie war versperrt . . . und der Schlüssel abgezogen . . .

Fast eine Stunde stand Haymo schwer athmend und zitternd auf einem Fleck. Als er sich endlich wieder zu rühren wagte und in das Heu hinaufstieg, knarrte auch noch die Leiter.

Draußen war der Mond aufgegangen; sein bleicher Schimmer quoll durch die Lücken im Dach. Haymo lag schlaflos; er hielt die Hände unter dem Nacken verschränkt und starrte mit brennenden Augen auf eine der hellen Lücken.

Als der Morgen zu grauen begann, erhob er sich und stieg in die Küche hinunter. Dabei machte er Lärm und hustete. An der Thür rüttelte er, als wüßte er noch nicht, daß sie versperrt sei.

Er trat in die Stube.

„Haymo?“ fragte Herr Heinrich in der Schlafkammer.

„Wohl wohl, Herr! Ich kann nicht hinaus. Es muß einer die Thür versperrt haben!“

„Komm nur her zu mir!“ Herr Heinrich griff unter das Lederpolster und zog den Schlüssel hervor. „Da nimm! und kannst auch gleich am Fenster den Laden aufstoßen. Ich mein’, der Morgen wird schön.“

Haymo that, wie ihm geheißen war. Nun trat er seufzend ins Freie. Das graue Licht des Morgens kämpfte mit dem Mondschein. Still und dunkel lag die Jägerhütte. Als Haymo ihr entgegenschritt, schlug ihm das Herz bis an den Hals herauf. Trotz der Dämmerung ersah er gleich mit seinem Falkenaug’, daß am Fenster der Laden offen stand. Aber ein offenes Fenster war ja auch hinter ihm.

„Wart’ nur,“ murmelte er und raffte ein Steinchen von der Erde, „so gescheit wie die Herrenleut’ bin ich auch noch!“

Als er die Hütte erreichte, warf er, fast ohne die Arme zu rühren, das Steinchen ins Fenster. Ein leiser Schrei klang aus der Stube. Haymo lehnte das Griesbeil an die Blockwand und bückte sich, als müßte er die Schuhriemen fester knüpfen.

„Gittli!“ flüsterte er.

„Haymoli!“ klang es in der Stube mit zitterndem Laut, und gleich darauf erschien ein weißes Gesichtchen am Fenstergitter.

„So, jetzt kann er meinetwegen zuschauen, wie er mag!“ Mit einem flinken Satz sprang Haymo auf das Fenster zu. Das war nun freilich ein beschwerlicher Kuß, denn die Lücken des Gitters waren eng, die Stäbe dick . . . aber ein Kuß war es doch.

„Laß Dich nur nichts verdrießen! Thu’ nur festhalten, Schatzl, thu’ nur festhalten, gelt?“

„Wie ein Astl am Baum!“

Und wieder fanden sich ihre Lippen.

„Behüt’ Dich Gott, Schatzl!“

„Behüt’ Dich Gott tausendmal, mein lieber, lieber Bub’!“

Haymo griff nach dem Griesbeil und taumelte davon, das Herz zum Springen voll von Leid und Freude.

Hinter dem offenen Fenster des Herrenhauses standen der Propst und Pater Desertus.

„Es eilt, Dietwald, es eilt!“ sagte Herr Heinrich lächelnd.

„Das merk’ ich, Herr! Wenn ich nicht das Elend meines Kindes will, dann muß ich flink die Hände rühren zu seinem Glück!“

Haymo war in der Dämmerung schon entschwunden. Er kam an diesem Morgen mit seinem Hegergang so rasch zu Ende wie noch nie. Als die Sonne über die Berge emportauchte, war er schon wieder auf dem Heimweg. Von der Kreuzhöhe sah er die Hütten; sie waren geschlossen. Spähend blickte er über die Thäler, welche der Pfad durchschnitt. Nahe dem Bergwald sah er die Herren mit Gittli gegen die Almen wandern; sie verschwanden unter den Bäumen und kamen auf dem Almfeld wieder zum Vorschein. Aus der Sennhütte lief ihnen eine Dirn’ entgegen. Das mußte wohl die Zenza sein! Eine Weile standen die viere beisammen. Dann gingen sie der Hütte zu . . . und trotz der weiten Ferne meinte Haymo zu erkennen, daß Gittli von den Herren gestützt und geführt wurde.

„O Du lieber Herrgott!“ stammelte er, „sie wird doch nicht letz geworden sein!“ Und geraden Weges, über Felsen und Büsche, stürmte er hinunter ins Thal.

Als er nach einer Stunde die Alm erreichte, trat ihm unter der Hüttenthür eine fremde Dirn’ mit verweinten Augen entgegen.

Er starrte sie an. „Sind die Herrenleut’ schon wieder fort?“

„Schon lang wieder.“

„Wo ist denn die Sennerin?“

„Die bin ja ich! Oder weißt noch nicht, was geschehen ist?“ Weinend erzählte sie.

Haymo, dem die Knie brachen, sank erblassend auf die Bank.

„Gestern um Mittag hat man das arme Leut gefunden. Und der Jörgi geht auch ab. Seit der Früh schon sucht man nach ihm.“

„Wo denn, wo?“ stotterte Haymo.

„Beim Wildbach drunten.“

Haymo sprang auf; Zähren rannen über seine Wangen, während er davonstürzte, um sich den Suchenden anzuschließen.


Textdaten
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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 18, S. 562–570
[562]
29.

Es war Herbst geworden. Von den Buchen fiel bereits das welke Laub, und in den kühlen Nächten begannen vereinzelt schon die Hirsche zu röhren.

Wieder erwachte ein Morgen über dem See. Ein grauer, schwerer Nebel lagerte auf dem Wasser und fluthete um die Bartholomäer Klause. Man konnte kaum auf zwanzig Schritte sehen. Die Thür des Kirchleins war offen, und drinnen, im Dämmerlicht der schmalen Halle, stand Pater Eusebius neben dem Altar. Auf den Stufen kniete Wolfrat. Als er sich erhob, schlug er das Kreuz mit der linken Hand; der rechte Arm, den der Aermel umhüllte wie einen dürren Stecken, hing in einer ledernlen Schlinge.

Schweigend traten sie ins Freie und gingen zum Ufer.

„Schau, Wolfrat, da wartet schon das Schiffl,“ sagte Pater Eusebius und legte seine Hand auf die Schulter des Sudmanns. „Jetzt schau’ halt, daß Du gut heimkommst. Und gelt ... sei gescheit und mach’ keine Streich’ mehr!“

Wolfrat schüttelte den Kopf und griff nach der Hand des Paters. Die Augen gingen ihm über. „Vergelt’s Gott für alles, vergelt’s Gott tausendmal ...“ So stammelte er immer wieder und drückte und quetschte dabei die Hand des Paters, als wär’ sie eine Nuß, die er knacken müsse.

„Ja hörst nicht auf!“ stöhnte Eusebius und befreite seine roth überlaufenen Finger. „Der Kerl druckt noch mit einer Hand wie ein anderer mit zwei. Jetzt mach’ aber, daß Du weiter kommst . . . oder hast vielleicht an den fünf Monaten daherin nicht genug gehabt? Geh’, Wolfrat, geh’! Wenn der Schnee fallt, komm’ ich auch hinaus, und dann schau’ ich schon einmal nach, wie’s geht bei Dir daheim!“ Er schob den Sudmann in das Schiff, in welchem ein Knecht schon das Ruder bereit hielt.

Wolfrat konnte nicht sprechen, er nickte nur immer und winkte mit der Hand. Ein Ruck des Schiffes warf ihn auf den Sitz nieder. Schon nach wenigen Ruderschlägen war die Klause im Nebel verschwunden. Wolfrat trocknete die Augen und starrte mit verlorenem Blick in die grauen Schleier, die ihn umhüllten, ihn und das dunkle Los, dem er entgegenfuhr. Sein Herz dürstete nach Weib und Kind. Aber wie durfte er sich freuen, da ihm das Schwerste noch bevorstand. Mit dem lieben Herrgott war er vielleicht auf gleich gekommen; aber der Vogt hatte auch noch ein Wörtlein zu reden. Und wenn die Strafe überstanden war, wie sollte er dann schaffen für Weib und Kind mit seinem lahmen Arm? Im Sudhaus war es vorbei mit der Arbeit; da brauchte man Leute, die ihre ganzen, gesunden Glieder hatten. Mit der Bauernarbeit war es auch nichts; noch weniger mit Holzen und FlÖßen. Vielleicht aber fand sich etwas für ihn im Bergwerk? Auf einen Hauerdienst durfte er freilich nicht rechnen; aber einen guten Schlepper[62] gäbe er wohl noch ab; so schwer mochte keiner den „Hund“ laden daß er ihn nicht vom Fleck brächte. Ein Schlepper also! Er seufzte tief auf und strich mit zitternder Hand über den dürren Arm.

Da blies ihm ein frischer Wind in den Nacken; der See begann sich zu kräuseln, und der Nebel kam in Bewegung. Wie in Streit und Kampf wallten die grauen Massen durcheinander, wirbelten in drängender Eile über das Wasser, rissen entzwei, zeigten für einen Augenblick ein blaues Flecklein Himmel oder eine sonnig schimmernde Bergzinne, schlossen sich wieder und flossen wogend durcheinander. Doch immer dünner wurden die grauen Schleier, bald waren sie nur noch anzusehen wie ein bläulicher Duft, durch welchen schon der Glanz der Sonne herniederquoll auf das Wasser ... jetzt theilten sie sich mit einem klaffenden Riß über den ganzen See hin, legten sich an beiden Ufern mit fließenden Falten über den steilen Bergwald und schwammen langsam in die Höhe, spurlos zerrinnend in der leuchtenden Luft.

Ach, welch ein schöner Morgen! Mit nassen Augen blickte Wolfrat umher in all dieser farbigen Pracht des Herbstes: tiefblau der Himmel, weißglänzend alle Kalksteinfelsen der hohenl Wände, die Nadelwälder saftig grün, alles Laub so feurig gelb und roth, als stünde jede Buche und jeder Ahorn in hellen Flammen ... und über dem ganzen See, auf jeder kleinen laufenden Welle, blitzte der Widerschein der Sonne mit tausend gaukelnden Lichtern.

Der Nachen fuhr ans Land. Wolfrat stieg aus, reichte dem Knechte wortlos die Hand und ging mit raschen Schritten davon. Er athmete freier; es war etwas in seine bedrückte Seele gefallen wie ein Trost. Wo er auch ging ... überall Glanz und Licht. Die braunen Wiesen im Thau, die von Spinnwebnetzen überzogenen Stoppelfelder, die welken Hecken und Bäume, die weiße Straße, die fliegenden Fäden in der Luft ... alles schimmerte. Aus Höfen und Hütten, das weite Thal entlang, stieg in geraden Säulen der blaue Rauch. In der Ferne, zwischen schlanken Fichtenwipfeln, funkelten die vergoldeten Kreuze auf Thurm und Dach des Stiftes, und dahinter, gleich einem riesenhaften Grenzstein des Klosterlandes, erhob sich der Untersberg, über dessen höchste Felsen schon ein dünner Schnee gefallen war, so zart und duftig, als hätten die rothen Marmorstöcke weiß geblüht.

Nicht weit von der Seelände blieb Wolfrat verwundert stehen. Da war ein neues stattliches Haus aus der Erde gewachsen; es stand zwischen Bäumen und inmitten einer Wiese, die ein frisch geflochtener Hag umschloß. Der Unterstock war gemauert, der Oberstock aus zierlich gefächertem Sparrenwerk gebildet. Auf dem Giebel des weißen Schindeldaches war, die Vollendung des Hauses kündend, ein mit bunten Bändern geschmücktes Tannenbäumchen errichtet. Dem Haus zur Seite stand ein zweiter Bau, Stall und Scheune. Eine Schar von Arbeitern tummelte sich, um den Bauplatz zu räumen; aus allem Lärm klang immer wieder eine befehlende Stimme, die der Sudmann zu kennen meinte.

„Wohl wohl, da ist er schon!“ murmelte er und folgte mit sinnendem Blick dem Chorherrn, dessen schwarzes Kleid bald hier, bald dort, an allen Ecken und Enden auftauchte und wieder verschwand in treibender Geschäftigkeit.

Auf der Straße stand ein Wagen, der mit dem Abraum des Baues beladen wurde. Einen der Knechte, welche Gebälk und Steine zum Wagen trugen, fragte Wolfrat: „Wem gehört das Haus?“

„Dem Kloster. Um Sonnwend ist kein Stein noch gestanden ... und jetzt schau das Haus an!“ Der Knecht maß ihn mit zwinkernden Augen. „Wer bist denn Du?“

Wolfrat ging ohne Antwort davon; hinter seinem Rücken hörte er den Knecht noch sagen: „Meiner Seel’, das ist heilig der Sudmann, den der Bär in der Arbeit gehabt hat!“

Je näher Wolfrat dem Klosterdorf kam, desto heißer wurde ihm ums Herz. Von weitem schon suchte er den Giebel seines Lehens; er fand ihn nicht ... und ein quälendes Bangen beschlich ihn, als er neben dem Dach des Eggehofes, dort, wo sonst der moosbehangene Giebel seines Häusleins hervorgelugt hatte, einen First von frischen Brettern leuchten sah. Und immer größer wurden seine Augen, je näher er kam. War denn das noch sein [563] Lehen? Die Lehmwände weiß getüncht, das Dach geschindelt, kein schiefer Laden mehr, überall neue Bohlen und Bretter . . . das ganze Haus um ein doppeltes gewachsen, denn aus dem niederen Schuppen war ein Stall und eine Scheune geworden! Und das Rothe im Garten ... was war denn das? Herr Gott, das waren ja zwei grasende Kühe!

Wolfrat wurde bleich und zitterte. Jetzt wußte er, wie es stand. Sein Lehen war an einen anderen gefallen, der sich das Nestlein schön warm und sauber gerichtet hatte!

Taumelnden Ganges folgte er der Straße. Da sah er das Totenbrett seines Kindes.

„Schau, das hat er doch stehen lassen!“

Aber schief stand es, als wär’ es von einem Wagenrad gestreift worden. Wolfrat richtete es gerade und stampfte den Rasen fest, in dem es stak.

„Mariele!“

Er starrte die Zeichen des Namens an, von denen der Regen fast die ganze Farbe gewaschen hatte. Dann ging er mit hängendem Kopfe weiter. Er machte einen Umweg, um nicht am Sudhaus vorüber zu müssen. Nun stand er am Fuß des Nonnberges, vor der Gartenmauer des Klösterleins, und zog den Glockenstrang. Eine dienende Schwester öffnete.

„Was willst Du?“

„Ist die Seph’ noch da . . . die Polzer-Seph’? ... Ich möcht’ reden mit ihr.“

Die Schwester nickte und schloß die Thür; er hörte sie auf dem knirschenden Kies davongehen. Nach einer Weile näherten sich langsame Schritte, und Seph’ erschien auf der Schwelle. Sie erblaßte vor Schreck und Freude. Wortlos reichten sie sich die zitternden Hände und sahen sich an, mit Zähren in den Augen.

Endlich athmete Sepha tief auf. „Grüß Dich Gott, Polzer!“

„Grüß Dich halt Gott auch, Seph’!“

„Weil Du nur wieder da bist! Mein Gott, ist das eine schieche Zeit gewesen!“

„Gelt, ja!“

Er zog sie sanft von der Thür weg; der Mauer zu Füßen setzten sie sich auf den welken Rasen und ließen die Füße in den Straßengraben hängen. Sie schaute ihn mit kummervollen Blicken an. „Hast denn auch völlig den Gesund wieder?“

„Wohl wohl ... bis auf den da halt!“ Er streifte mit einem Blick seinen lahmen Arm. „Der wird auch nimmer anders ... den muß ich schon haben!“

Ein Schauer rüttelte ihre Schultern, als sie mit den Fingern über den schlotternden Aermel streifte und den leeren Knochen fühlte. Eine stille Weile verrann.

„Aber Du?“ sagte er. „Wie geht’s denn Dir? Ich mein’, Du thust auch noch ein lützel blasselen?“

„Da mußt keine Sorg’ haben. Ich bin lang wieder richtig beinander und kann wieder schaffen wie eh’. Aber jetzt halt ... weißt, ich schau nur so aus, weil ... weil halt ...“ Sie wurde roth. „Merkst es denn nicht?“

Er warf einen Blick über ihre Gestalt. „Seph’! Seph’! O du lieber Herrgott!“ stammelte er und drückte sie mit dem zitternden Arm an seine Brust. So saßen sie lange schweigend und starrten ziellos in den schimmernden Morgen.

„Jetzt kommt’s mir erst doppelt schwer an,“ murmelte er.

„Das wird wohl ein Schmerzenskindl sein . . . das arme Würml.“

„Und der Bub’? Sag’, was macht denn der Bub’?“

Da huschte ein Lächeln über ihre Züge. „Den wirst schier nimmer kennen! Wie der ausschaut! Wie’s helle Leben! Und gut hat er’s. Die besten Bröckerln schieben ihm die Schwestern zu. Ueberhaupt, Polzer . . . wie man da gut mit uns ist, das kann ich Dir gar nicht sagen.“ Die Thränen stürzten aus ihren Augen, aber sie fuhr sich mit dem Aermel über das Gesicht. „Wart’, ich hol’ Dir den Buben, daß doch auch eine Freud’ hast!“ Sie erhob sich und wollte zur Thür.

Er aber schüttelte den Kopf und hielt sie zurück. „Laß ihn, Seph’ .. bis ich wiederkomm’!“

„Wo gehst denn hin jetzt?“ Da sah sie den verstörten Ausdruck seiner Züge und stotterte: „Ja was hast denn?“

„Zum Vogt muß ich ... und muß mich angeben!“

„Polzer!“ schrie sie und blickte sich erschrocken nach allen Seiten um. Die Sprache versagte ihr; nur mühsam brachte sie noch die Frage heraus: „Es muß wohl sein?“

Wolfrat nickte. „Komm’, Seph’, machen wir’s kurz! Behüt’ Dich halt Gott derweil!“

Sie umklammerte seine Hand; aber es kam kein Laut mehr über ihre Lippen. Er machte sich los und ging mit raschen Schritten davon. Als er nach einer Weile zurückschaute, stand Seph’ noch unter dre Thür. Langsam schritt er weiter,. Bei der Wendung der Straße blieb er wieder stehen. Sepha stand noch immer auf dem gleichen Fleck.

„Geh’, Seph’,“ rief er ihr zu, „geh’ doch hinein!“

Da wandte sie sich und verschwand in der Thür.

Aufathmend schritt er dem Markt entgegen. Einige Leute sprachen ihn an, aber er nickte nur einen Gruß und ging vorüber. Bald erreichte er das Kloster. Die Wartestube des Vogtes war überfüllt. Eben schob Herr Schluttemann zur Thür ein altes Bäuerlein hinaus, das unter stotterndem Danke einen Bückling um den anderen machte.

„Ja, Mannerl, ja, ist schon gut!“ sagte der Vogt. „Und wenn Du wieder was brauchst, nachher komm’ nur gleich, gelt?“ Da sah und erkannte er den Sudmann. „Ja, grundgütiger Herrgott, ja, seh’ ich denn recht? Wolfrat, Du? Ja komm’ doch! So komm’ doch gleich herein zu mir!“. Er packte ihn bei der Hand und zog ihn hinter sich her in die Stube.

Wolfrat riß Mund und Augen auf und starrte Herrn Schluttemann an wie ein heiliges Wunder. Eh’ er noch wußte, wie ihm geschah, saß er schon in einem Lehnstuhl, und vor ihm hockte Herr Schluttemann mit schlenkernden Beinen auf dem Tisch. Lachend und immer die Hände reibend, haspelte der Vogt ein Dutzend Fragen herunter, ohne die Antwort auf eine einzige abzuwarten. Erschrocken hielt er inne, als sich Wolfrat plötzlich aufrichtete mit aschfahlem Gesicht.

„Ja was hast denn, Wolfrat, was hast denn?“

„Reden muß ich was! Für’s erst’ aber will ich noch ein Vergelt’s Gott sagen für alles, was man an meinem Weib und Kind gethan hat, und ... und nachher ... nachher will ich sagen ...

„Was denn? Was denn? Was denn?“

„Von wegen dem Jäger ... dem Haymo ... derselbig’, der ihn gestochen hat ... ich bin’s halt doch gewesen!“

Herr Schluttemann verlor alle Fassung. „Ja, Du Mensch, Du,“ stotterte er, „aber das ist ja doch gar nicht möglich!“

„Wohl wohl, ich bin’s gewesen!“

Der Vogt starrte den Sudmann an, griff sich an den Kopf und mit einem Mal rannte er davon, hinein in die Stube des Propstes. Herr Heinrich erhob sich von seinem Schreibpult; die Thüre blieb offen stehen, und Wolfrat konnte jedes Wort vernehmen.

„Reverendissime! Denket! Jetzt kommt dieser Wolfrat und giebt sich an und sagt, daß er es doch gewesen ist, der den Haymo gestochen hat.“

„Der Wolfrat?“ fragte Herr Heinrich ganz erstaunt und schüttelte den Kopf.

„Ja, der Wolfrat! Ich hab’ auch den Kopf geschüttelt! Aber der Mann ist da und sagt, er hat’s gethan!“

„Der Haymo hat aber für ihn gezeugt, und ein Jäger hat gute Augen!“

„Vielleicht hat er ein Erbarmen gehabt ...“

„Der Haymo lügt nicht. Ja, ja, Vogt, Ihr habt dem Mann damals unrecht gethan!“

„Aber meiner Seel’,“ stotterte Herr Schluttemann, „er steht doch draußeu und sagt, er hat’s gethan!“

„Das ist mir unbegreiflich! Aber wißt Ihr, was ich meine! Der Mann trägt es Euch nach, daß Ihr ihm unrecht gethan habt! Jetzt will er Euch den Streich heimzahlen und kommt und spielt Euch einen Possen und bindet Euch einen Bären auf ... zur Heimzahlung für den, der über ihn gekommen ist!“

„Ja, da soll ihn doch gleich ...“ Herr Schluttemann zog mit der Faust aus, um der Tischplatte eins zu versetzen; aber er besann sich noch zur rechten Zeit.

„Ich muß gestehen, das ist ein keckes Stücklein. Der Mann geht zu weit. Das greift hart an Eure Würde, Vogt! Das dürft Ihr Euch nicht gefallen lassen!“

„Und ich laß’ es mir auch nicht gefallen! Da soll ja doch ...“ [564] Herr Schluttemann stürmte mit puterrothem Gesicht hinaus in die Amtsstube. Er war seit Monaten zum ersten Male wieder in hellem Zorn.

Wolfrat stand mit rathlosen Augen, zitternd am ganzen Leib, mit jedem Athemzug die Farbe wechselnd.

Herr Schluttemann hielt ihm die Fäuste unter die Nase und schrie. „Gelt? Jetzt steigt Dir das Grausen auf! Wart, Du Gauner, Du schwollkopfiger, Dir will ich die Späßlein noch austreiben! Du sag’ mir noch einmal, daß Du’s gewesen bist! Gelt, jetzt verschlagt’s Dir die Red’? Wart’ nur! wart’! Den Vogt uzen! Wart’ nur!“ Herr Schluttemann stürzte auf die Wand zu und riß am Glockenstrang; ein Fronbot trat in die Stube. „Pack’ den Kerl! Marsch in den Block mit ihm! Und nur fest hinein!“

Der Fronbot faßte den Sudmann, der wie ein Trunkener zur Thür schwankte.

Herr Schluttemann that einen Pfiff, und als der Fronbot zurückkam, flüsterte er ihm zu: „Aber gieb mir ein lützel acht auf seinen lahmen Arm!“

Der Fronbot nickte und packte den Sudmann wieder beim Kragen. Ein Viertelstündlein später saß Wolfrat im Fronhof des Klosters auf der Erde, mit Arm und Füßen im Block gefesselt. Warm schien die Sonne auf ihn nieder. Einige Sperlinge kamen herbeigeflattert, guckten ihn mit schief gehaltenen Köpfchen neugierig an und flogen wieder auf das Dach. Aus dem offenen Fenster einer hochliegenden Zelle klang das sanfte Spiel einer kleinen Orgel.

Stunde um Stunde verging. Wolfrat rührte sich nicht; wohl brannten die Knöchel, und der Rücken schmerzte . . . aber er saß wie ein Träumender, und aus seinen glänzenden Augen rann Thräne um Thräne.

Als die Glocke zu Mittag läutete, kam Frater Severin mit eiller Holzbitsche und hielt sie an Wolfrats Lippen. „Da, trink!“

In langen Zügen schlürfte der Sudmann den Wein, bis ihm der Frater die Bitsche weg nahm mit den Worten: „Halt’ aus ein lützel, mußt ja nicht alles auf einmal schlucken! Sonst kriegst am End’ noch einen Rausch.“ Er stellte die Bitsche auf die Erde, stemmte die Fäuste in die Hüften und schnaufte. Wahrlich, Frater Severin hatte in all diesen Monaten sein Möglichstes gethan, um das „vollgedrückte Maß“, das ihm der Schöpfer gegeben, in unversehrter Fülle zu erhalten. Die paar Pfündlein, die er auf den Bergfahrten verloren, hatte er reichlich wieder zugesetzt.

„Viel Schweiß hat’s freilich gekostet . . . ui jei!“ sagte er, während er mit Wolfrat ein höchst einseitiges Gespräch führte, denn Frater Severin sprach allein und Wolfrat schwieg. „Aber schön ist’s da droben doch allweil gewesen! . . . Jetzt hat’s aber wohl ein End’ mit dem Bergsteigen. Weißt, jetzt muß ich Tag um Tag in der Küch’ stehen. Mit dem Frater Küchenmeister will’s gar nimmer recht vom Fleck. In der Hitz’ geht halt der Mensch auch auseinander wie der Teig in der Pfann’ . . . was kannst da machen! Er muß sich gar jämmerlich plagen mit dem Schnaufen. Und die Schneeros’ will ihm auch schon nimmer helfen! Ein Kreuz, ein rechtes Kreuz!“ Seufzend hob er die Bitsche von der Erde. „So, schluck’ nur wieder ein lützel!“

Wolfrat trank, und als die Kanne geleert war, ging Frater Severin davon. „Auf den Abend komm’ ich schon wieder!“

Aber er hatte da ein Versprechen gegeben, das er nicht halten konnte. Denn als die Sonne von den Dächern geschwunden war, als es zwischen den hohen Mauern des Fronhofes schon zu dämmern begann und Wolfrat einmal aufblickte aus seinem Träumen und Sinnen, stand Herr Heinrich vor ihm.

„Nun? Wird’s Dir schon bald zu lang?“

Wolfrat schüttelte den Kopf. „Ach, lieber, guter Herr, ich sitz’ ja gern, bis ich umfall’. Das ist ja doch gar keine Straf’!“

„So? Meinst Du?“ Herr Heinrich setzte sich auf den Block. Dann muß ich halt raiten mit Dir. Hast Du nicht Sünde mit Reue, Blut mit Blut bezahlt? Hast Du für das Leben, das Du dem Jäger nehmen wolltest, nicht Dein eigenes Leben schier hingeben müssen? Hat Dich nicht einer, der klüger ist als alle Richter der Welt, ein halb Jahr lang in den Block gelegt? Und trägst Du nicht ein Merkzeichen davon für Deine Lebzeit? Und den Steinbock, den hast Du wohl theuer genug erkauft ... mit dem letzten Blick Deines Kindes. Hätt’ ich Dich härter strafen können?“

Wolfrat ließ den Kopf sinken, und ein dumpfes Schluchzen erschütterte seine Brust.

„Schau, alles, was bös ist, straft sich selber! Noch keiner hat, wo er Böses gesät, eine volle Aehre geschnitten. Einen wachsenden Kern hat nur das Gute . . . man muß nur nicht allweil gleich die eigene Scheuer damit füllen wollen, muß auch säen können, wo andere ernten!“

„Wohl wohl, Herr, das muß heilig wahr sein. Was wär’ denn jetzt mit mir, wenn’s nicht gute Leut’ auf der Welt gäb’!“

„Ja, Wolfrat, das sag’ Dir nur allweil und allweil, dann wirst Du auch nimmer vergessen, daß man zusammenhalten muß und gut sein mit den anderen, hart nur gegen sich selber. Ich mein’, Du hast es doch gespürt, wie schwer und finster das Leben ist, und wie es über einem oft liegen kann, als wär’s ein ganzer Berg. Wenn Du so einem begegnest, der schwer zu tragen hat, dann mußt halt auch flink zuspringen . . . wirf nicht noch einen Stein drauf, sondern hilf ihm tragen! Wirst sehen, Ihr kommt dann allbeid’ zu einem sonnigen Fleckl, wo man rasten und ausschnaufen kann für den weiteren Weg.“

„Wohl wohl, Herr,“ sagte Wolfrat, mit feuchten Augen zu Herrn Heinrich aufblickend. „Aber wie soll denn ich noch was helfen können in der Welt . . . ungrade Finger greifen schlecht.“

„Nützen und zum guten helfen kann einer auch mit halben Armen. Wenn nur ein ganzes Herz dabei ist! Und schaffen wirst auch noch können für Weib und Kind. Man muß halt ein richtiges Geschäftl suchen für Dich.“

„Vergelt’s Gott, Herr, vergelt’s Gott!“ stammelte Wolfrat. „Schauet, da hab’ ich halt gemeint . . . einen Schlepper im Salzberg thät’ ich allweil noch abgeben.“

„So? Hast denn schon einmal im Berg gefördert?“

Der Sudmann schüttelte den Kopf.

„Da wird’s schwer halten! Alles will gelernt sein. Ich mein’, Du wirst im Sudhaus bleiben müssen. Mit dem Feuern und Suden hat’s wohl ein End’, aber Ausschau halten und in die Pfannen lugen und Kerbschneiden[63] wirst allweil noch können. Verdienst ja auch ein lützel mehr dabei. Der alte Rottmann[64] will sich zur Ruh’ setzen . . . was der gehabt hat, wirst ja wissen. Und jetzt komm ... steh’ auf!“

Herr Heinrich erhob sich und öffnete den Block. Wolfrat aber blieb sitzen und rührte sich nicht; er starrte nur immer den Propst an und würgte nach Worten. Herr Heinrich mußte ihn am Arm fassen und aufrichten.

„Geh’ nur, Wolfrat, geh’! Deine Seph’ wartet daheim; sie wird sich ängstigen, wenn Du so lange bleibst. Streck’ Dich . . . und geh’ heim!“

Wolfrat stand mit gebeugtem Rücken; das Sitzen im Block hatte ihn ganz steif gemacht; aber das schien er nicht zu fühlen.

„Heim? Heim?“ stotterte er mit halb erstickten Lauten. „Ja, wo bin ich denn daheim? Jetzt saget nur gleich: im Himmnel . . . und ich glaub’s auch!“

„Später einmal!“ lächelte Herr Heinrich. „Für jetzt noch in Deinem Lehen. Wo denn sonst? Nun aber geh’ und behüt’ Dich Gott!“ Er führte den Wankenden zum Thor und schob ihn auf die Straße.

Ein paar Schritte taumelte Wolfrat vorwärts. Als er hinter sich das Thor ins Schloß fallen hörte, stammelte er erschrocken: „Jesus Maria! Ich hab’ ja ganz vergessen ...“ Er stürzte zurück und schlug mit der Faust an die Bohlen. „Herr, Herr! Lasset mich doch hinein . . . lasset mich doch ein Vergelt’s Gott sagen ...“

„Dank’ einem anderen!“ klang die Stimme des Propstes, während seine Schritte sich entfernten.

Wie ein Berauschter schwankte Wolfrat auf die Straße und starrte in der Dämmerung umher, als wär’ es eine neue Welt, die ihn umgab. Da sah er die Mauer des Friedhofs und hinter ihr die steinernen Kreuze ragen. Aufschluchzend stürzte er hinzu und fand auch hier ein geschlossenes Thor. Am eisernen Gitter sank er nieder und streckte den einen Arm durch die Stäbe, als könnte er hineingreifen bis zum Grab seines Kindes.

[565] Auf dem Thurm begann die Glocke zu läuten. Sanft hallend schwebten ihre Klänge über das weite Thal, zu Ruh’ und Frieden mahnend. Wolfrat bekreuzte sich und murmelte, immer von Schluchzen unterbrochen, den Mariengruß. Dann sprang er auf und stürzte davon. Keuchend erreichte er sein Lehen. In der Stube brannte schon ein Licht. Unter der Thür trat ihm sein Weib entgegen.

„Seph’! Seph’!“

Mehr brachte er nicht heraus. Er wankte, und sie mußte ihn stützen. Als er in die Stube trat, streckte er die Hand, als ob er mit einem einzigen Griff alles erfassen möchte, was ihn umgab. Sie ließ ihn auf die Bank sinken, und da saßen sie nun und hielten sich wortlos umschlungen, bis von draußen ein aufgeregtes Stimmlein tönte:

„Mutterl! Mutterl! All’ beid’ sind hinein in Stall . . . ganz alleinig!“

Wie eine Hummel kam Lippele in die Stube gesurrt und stand erschrocken stille.

„Ja Bürscherl,“ fragte Wolfrat mit schwankender Stimme, „kennst mich denn nimmer?“

„Jegerl, der Vater, der Vater!“ schrie der Bub’ in heller Freude, kletterte auf Wolfrats Knie und drückte und küßte ihn, daß ihnen beiden fast der Athem verging.

„Aber Seph’! Wo ist denn die Dirn’?“

„Ich weiß nicht, was mit der sein muß! Jetzt hat man sie wieder im Klösterl gehalten. Und die ganze Zeit her ...“

Aber Sepha konnte nicht weiter sprechen. Denn Lippele drückte ihr die Hand auf den Mund und gebot: „Sei still, Mutterl, ich muß dem Vater was zeigen!“ Und von Wolfrats Knien auf die Erde niederrutschend, schrie das Büblein mit brennendem Gesicht: „Schau’, Vater, schau’, was ich schon kann!“

Im Hui hatte der kleine Kerl das Jöpplein heruntergerissen; er warf es zu Boden, duckte sich ... und schwupp, stand er kerzengerade auf dem Kopf. Freilich plumpste er gleich wieder auf die Seite, aber das that dem Stolz keinen Eintrag, mit dem er sich erhob.

„Und das hast im Klösterl gelernt?“ staunte Wolfrat.

„Wohl wohl, aber nit von den Klosterfrauen!“

Seph’ und Wolfrat sahen sich an und mußten hellauf lachen ...

Wie lange, lange war es her, seit in dieser Stube das letzte Lachen verhallt war!


30.

Am anderen Morgen, zu früher Stunde schon, verließ Pater Desertus das Stift und ging mit eilenden Schritten dem Klösterlein der frommen Schwestern zu.

Einige Stunden später wanderte Herr Heinrich nach dem See. Als er am Eggehof vorüber kam, sah er beim Hag, der das Gehöft vom Polzerlehen trennte, den Eggebauer mit Wolfrat beisammenstehen; der Bauer ließ den Kopf hängen, Wolfrat aber hatte ihm den Einarm auf die Schulter gelegt und schien dem Bekümmerten mit herzlichen Worten zuzusprechen.

Mit sinnendem Lächeln schritt Herr Heinrich dahin unter dem welkenden Laubdach der die Straße geleitenden Bäume. „Wieder einer, der im Schatten die Sonne fand! Freilich, nur einer! Aber laß ein einzig’ Tröpflein in den See fallen, es zieht doch immer seine Wellen und rühret hundert andere!“

Nach einer Stunde erreichte Herr Heinrich die Seelände. Die beiden Fischerknechte, welche mit dem Spannen der feuchten Netze beschäftigt waren, zogen die Kappen und traten ihm entgegen.

„Habt Ihr den Jäger nicht herkommen sehen über den Steig?“

„Den Haymo? Nein, Herr!“

„Dann habet eine Weil acht, er muß wohl kommen! Doch braucht Ihr ihm nicht zu sagen, daß ich nach ihm fragte. [566] Saget ihm nur: wenn er mich etwa sprechen wollte, dann fänd’ er mich beim neuen Haus.“

Herr Heinrich ging, und die Knechte glotzten ihm nach. Es währte nicht lange, so hörte man auf dem Steig ein Griesbeil klirren und klappernde Schritte näher kommen.

Haymo tauchte unter den Bäumen auf. Sein Gang war langsam und müde; das Antlitz sah verkümmert aus, obwohl es geröthet war; denn er hatte schwer getragen; die Armbrust war um seinen Hals gehängt und der Rücken mit einem vollgestopften Bergsack beladen.

„Was tragst denn da?“ fragte einer der Knechte.

„Mein Sach’!“ erwiderte Haymo mit zuckenden Lippen.

„Ja, was ist denn? Es liegt doch allweil noch kein Schnee droben? Ziehst denn schon ab von der Röth’?“

„Wohl wohl,“ murmelte der Jäger.

„Mußt vielleicht in ein anderes Revier? Auf den Roint oder auf den Griesberg hinauf?“

Haymo schüttelte den Kopf und starrte vor sich nieder.

„Wo willst denn hin jetzt?“

„Ins Kloster hinein zum Herrn.“

„Den kannst näher haben. Grad’ ist er zum neuen Haus hinaufgegangen.“

„Zum neuen Haus?“ Haymo schaute mit verlorenen Blicken auf und that einen schweren Athemzug. „Kann ich bei Euch derweil meinen Sack einstellen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er in die Fischerhütte, legte den Bergsack in die Stube, nickte den Knechten einen Gruß zu und folgte der Straße.

Das „neue Haus“ war ja leicht zu finden. Ueber die goldig schimmernden Baumwipfel leuchtete das weiße Dach herüber mit dem bändergeschmückten Tannenbäumchen. Als sich Haymo mit zögernden Schritten dem Thor näherte, das den frisch geflochtenen Hag durchbrach, blieb er plötzlich stehen wie von freudigem Schreck betroffen. Es war ihm, als hätte er aus einem der offenen Fenster ein klingendes Lachen gehört. Er lauschte . . . aber alles blieb still. Ein bitteres Lächeln zuckte um seine Lippen. War ihm das in all diesen langen bangen Wochen nicht zu hundertmalen geschehen? Wenn er durch den stillen Bergwald gestiegen oder hinweggegangen war über ödes Gestein, versunken in seine träumende Sehnsucht, dann hatte er mit einem Mal diese süße, klingende Stimme gehört, bald wie aus weiter Ferne, bald wieder, als wäre sie dicht an seinem Ohr. Doch hatte er sich, mit stockendem Herzschlage jählings umgewandt, so waren rings um ihn nur die leeren Lüfte gewesen, die stillen Bäume und das schweigende Gestein. und wenn er in dunkler Nacht auf der Wolfshaut lag, vor Ermüdung fiebernd an allen Gliedern . . . wenn nach martervollem Sinnen und Grübeln der Schlaf ihm die Lider schwer machte, daß sie sanken, dann klang es plötzlich hell und weckend in seinen Schlummer. „Haymoli!“ Er fuhr in die Höhe, strich die zitternde Hand über die Stirn und lauschte . . . und fand sich allein, umgeben von tiefer Finsterniß, und nur seine Seufzer klangen in der stillen Hütte.

„Es geht mir halt überall nach!“ murmelte er, während er mit irren Blicken das stattliche Haus überflog.

Zögernd betrat er den Hofraum und erbleichte, als er einer alten Ulme zu Füßen, auf einem moosigen Steinblock, Herrn Heinrich sitzen sah.

„Haymo? Du?“

Der Jäger zog die Kappe, und während er sie zwischen den Händen zerknüllte, trat er mit gesenktem Kopfe näher.

„Grüß Gott, Herr!“

„Wie kommst Du da her? Was hat Dich ins Thal geführt?“

„Herr!“ Die Stimme des Jägers schwankte. „Heut’ ist der Michelstag.“

„Der Michelstag?“ sagte Herr Heinrich ganz erstaunt. „Richtig, der Michelstag! So, so! Der Michelstag? Und deshalb kommst Du herunter?“

„Wohl wohl! Ich hätt’ ja nimmer bleiben dürfen . . . auch wenn ich mögen hätt’.“ Immer leiser wurde Haymos Stimme. „Heut’ geht ja mein Dienst aus!“

„Richtig, richtig! Von heut’ an hab’ ich einen Klosterjäger weniger . . . den besten. Und jetzt bist gekommen und willst mir ‚Behüt’ Gott‘ sagen, gelt? Und dann willst Dir einen neuen Herrn suchen?“

Haymo knüllte an der Kappe, verdrehte den Kopf, als quäle ihn ein Krampf im Nacken, und zog die Brauen zusammen wie einer, der auf der Folter liegt und doch keinen Schmerzenslaut will hören lassen.

„So red’ doch, Haymo, schau’ mich an!“

Aber nur noch tiefer senkte Haymo den Kopf, während er mit heiserer Stimme Wort um Wort vor sich hin stieß. „Ich bitt’, Herr, daß Ihr es kurz machet. Wenn’s mich auch gleich nimmer fort lassen will . . . von Euch . . . fort muß ich halt doch.“

„Mußt Du? So? Und was willst Du jetzt . . .?“

„Was ich halt wollen muß – ein einzigs halt! Gerad’ noch ein einzigs im Leben . . . und allweil das einzig’ . . . und ich weiß doch kein Straßl nimmer, wo ich’s find’. Ich hab’ mich halt verschuldigt, und jetzt muß ich’s büßen. Und wenn ich gleich einmal noch hinlauf’ an mein Glück ... es bleibt halt doch allweil nur ein halbet’s.“ Er wandte sich ab, weil er spürte, daß ihm die Augen übergingen.

„Haymo!“

Der Jäger erzitterte bei dem warmen, herzlichen Klang seines Namens.

„Hab’ ich recht gehört? Du möchtest gern bleiben bei mir?“

Haymo sagte nicht Ja und nickte nicht mit dem Kopf; er wandte sich nur noch mehr von Herrn Heinrich ab und drückte das Kinn auf die Brust.

Der Propst betrachtete ihn eine Weile mit leisem Lächeln. „Also bleiben möchtest Du? Schau, Haymo, das merk’ ich gern, daß ich Dir lieb geworden bin als Herr. Schade! Warum hast Du nicht früher gesprochen! Denn jetzt . . . jetzt wird es wohl zu spät sein. Heut’ ist der Michelstag, Du bist nicht mehr mein Klosterjäger.“

Jetzt nickte Haymo, und ein schwerer Athemzug erschütterte seine Brust.

Immer fröhlicher lächelte Herr Heinrich. „Wer weiß ... wir zwei hätten vielleicht noch können auf gleich kommen miteinander.“

Haymos trübe Augen streiften den Propst mit einem scheuen Blick.

„Pater Desertus hat im letzten Kapitel einen Antrag gestellt, und der ist durchgegangen. Das Kloster hat einen Wildmeister ernannt, von heut’ an. Der soll über die ganze Jägerei des Klosters gesetzt sein. Er ist ein weidgerechter und strenger Jäger; wie ich ihn kenne, wird er seine Leute fest an der Schnur halten. Und mit einem, der aus Muthwill’ oder Narretei seinen Dienst aufsagt, mit solch einem wird er sich schwer befreunden! Meinst nicht auch? . . . Was hast denn? Schaust Dir das Haus dort an? Ein schmuckes Haus, gelt? In dem soll der neue Wildmeister wohnen. Ueber vier Wochen hält er Hochzeit. Schau, Haymo, dort unter der Thür . . . das ist sein Bräutlein.“

Haymo, dem die Kappe entfallen war, stand mit zitternden Händen und wankenden Knien. Jetzt erblassend, dann wieder die Wangen überflogen von brennendem Roth, riß er Mund und Augen auf und starrte nach der Thür, aus welcher Pater Desertus trat, Gittli an seiner Hand. Wie hold und schmuck war das Mädchen anzusehen! Ein rothes Röcklein umfloß in weichen Falten ihre schlanke Gestalt, aber es war nicht kurz geschnitten nach Bauernart, sondern reichte, wie bei einem Fräulein, bis auf die Fußspitzen; schneeweißes Linnen umbauschte die Schultern und Arme, und knapp spannte sich ein dunkelgrünes, mit silbernen Kettlein verschnürtes Mieder um den zarten Leib. Ihre Augen leuchteten in heißer Erregung, wie glühende Rosen lag es auf ihren Wangen, und gleich einem schwarzen Krönlein schmückten die straff geflochtenen Zöpfe ihre Stirn.

Haymo lallte unverständliche Worte. Aber da hatte ihn Gittli schon erblickt und kam auf ihn zugeflogen mit frendigem Aufschrei. Stammelnd und schluchzend hing sie an seinem Hals, während Haymo, den das über ihn herstürzende Glück um alle Besinnung brachte, noch immer mit den Händen ins Leere tappte. Gittli nahm sich nicht einmal Zeit zu einem Kuß. In zitternder Hast iöste sie sich wieder von Haymos Brust, und mit der einen Hand seinen Arm umfassend, griff sie mit der anderen nach der Hand des Paters.

„Gelt, Herr Pater, gelt, ja Ich darf ihm schon gleich alles zeigen?“

Pater Desertus nickte ihr zu mit leuchtenden Augen, und da zog sie den Stammelnden mit sich fort, lachend in Thränen, unter sprudelnden Worten: „So schau doch, Haymoli, schau! Was sagst! Schau Dir das schöne Haus nur an! Gelt, da schaust! Ja, Du ... da sollen wir hausen allbeid’ miteinander, hat der gute, liebe Pater gesagt. Und schau nur, das steinerne Bankl [567] vor der Thür … weißt, da können wir allweil sitzen und Haimgart halten auf den Abend, hat der Pater gesagt. Und er selber wird auch manchmal kommen, hat er gesagt! Du, wie der uns mögen thut, ich sag’ Dir’s, ein Vater kann seine Kinder nicht lieber haben! Und schau, Haymo, schau, in das leere Nischerl über der Thür’, da kommt ein Muttergottesbildl hinein … das thut unser Haus hüten und unser Glück! So schau nur grad’, das Anwesen da drüben, das hast ja noch gar nicht gesehen … da kommen zwei Pferd’ hinein, und vier Küh’, weißt, daß wir allweil Milch haben, grad’ was wir brauchen. Und Du …“ Sie schlug die Hände ineinander, und ihre Augen gingen über vor hellem Entzücken, „das Kucherl muß ich Dir zeigen! Ich sag’ Dir, da glänzet nur alles vor lauter Kupferzeug! Und ein Schafferl um das ander’! Und Häferln und Pfannen und Schüsserln! So komm’ doch, Haymoli, komm’ doch …“

Mit beiden Händen faßte sie seinen Arm und zog ihn zur Thür hinein.

Im dämmerigen Flur stand er still, preßte die Fäuste auf die Brust und athmete, athmete …

Noch immer begriff er nicht! Aber eines schien er doch endlich zu glauben: daß wirklich und leibhaftig sein geliebtes Mädchen vor ihm stand. Und plötzlich umschlang er sie unter heißen Küssen …

Draußen standen der Propst und Pater Desertus.

„Komm’, Dietwald,“ sagte Herr Heinrich lachend. „Das warten wir nicht ab, bis es ein Ende nimmt. Komm’, laß uns gehen! Sie sollen diesen Tag für sich allein haben. Wenn sie so weit aus ihrem seligen Rausch erwachen, um nach einem Dritten fragen zu können, dann suchen sie Dich schon.“

Noch lange hing Pater Desertus mit den Augen an der Thür, bis er sich loszureißen vermochte, um dem Propst zu folgen. Zwischen goldig leuchtenden Hecken schritten sie der Straße zu. Weiß glänzte ihnen im Sonnenschein der See entgegen.

Pater Desertus legte die Hand auf Herrn Heinrichs Arm.

„Ich will Euch ein Räthsel zu lösen geben! … Was ist wärmer als diese Sonne, lichter als dieser Tag, reiner als dieser klare See?“

„Deines Kindes Glück … und Deines Herzens Freude! Ja, Dietwald, Du hast recht gethan. Ich habe Dir meinen Rath nicht aufgedrängt. Hier mußte Dein eigenes Herz die richtige Straße finden, ganz allein. Und Du hast sie gefunden!“

„Hätt’ ich mich besinnen sollen? Nur einen Augenblick? Was wollt’ ich denn mehr als meines Kindes Glück? Jeder andere Weg hätte ihr nur Weh und Elend gebracht, hätte ihr Leben zerstört und alle Blüthen abgestreift von ihrem holden Dasein … und kein Rang und Name, nicht Glanz und Reichthum hätte sie dafür entschädigt. Ist denn das Leben noch Leben, wenn ihm die Sonne fehlt, das Glück? Hätte mich in jener finsteren Nacht, die mir alles nahm, das Schicksal vor die Wahl gestellt: willst Du bleiben, was Du bist, oder willst Du ein Bettler werden und nur das Glück Deines Herzens mit hinüber tragen in die arme Hütte … glaubt Ihr, ich hätte mich besonnen? Und hätt’ ich nun anders wählen sollen für mein Kind? Was sie um ihres Glückes willen verliert … entbehrt sie es denn? Würde sie den Geliebten ihrer Liebe werther halten, wenn er den Schild am Arm und die Helmzier über den Locken trüge? Und ich?“ Pater Desertus schüttelte lächelnd das Haupt. „Haymo ist ein freier Mann, und verwahrt er auch keinen Adelsbrief in seinem Schrank … er trägt auf seiner Stirn den Adel tüchtiger Mannheit und eines treuen, redlichen Gemüths. Ich lieb’ ihn … er ist mein Sohn!“

„Und väterlich hast Du für ihn gesorgt!“ lachte Herr Heinrich. „Wär’ der Propst von Berchtesgaden nicht Dein guter Freund und hätt’ er nicht selber seine helle Freude an diesem jungen Glück … er hätte böse Augen gemacht zu dem tiefen Griff, den Du in den Klostersäckel gethan. Und ich vermuthe, es war noch lange nicht der letzte! Aber sag’ …“ Die Stimme des Propstes wurde ernst, „Du hast auch heute nicht mit ihr gesprochen?“

„Nein, Herr … ich konnte nicht!“

„Und das Dirnlein hat genommen und genommen? Und mit keinem Gedanken ist es ihr aufgefallen: woher kommt das alles?“

„Wäre ihr Glück denn voll und ganz, wenn sie fragen könnte, warum?“

Herr Heinrich nickte, und schweigend schritten sie weiter. Immer wieder blickte Pater Desertus zurück nach dem zwischen schimmerndem Laub verschwindenden Dache.

„Oft lag mir das klärende Wort auf der Zunge,“ sagte er nach einer Weile, „aber wenn ich sah, wie dieses große kleine Herzlein so übervoll war von Liebe, dann schwieg ich wieder. Hätt’ ich sie schrecken und betäuben sollen mit Neuem, Unerwartetem? Jetzt? Kommt sie in ihrem Glück erst wieder zu Athem, dann wird sich von selbst die Stunde finden, in der sie mich als Vater erkennen und Vater nennen wird. Es dürstet wohl mein Herz nach dem süßen Laut von meines Kindes Lippen. Und doch … ich will mich gern gedulden. Vaterliebe, das heißt ja nicht ‚nehmen‘ … sondern ,geben‘. Und bin ich denn nicht schon reich geworden nach aller Armuth meines Herzens? Tag und Nacht darf ich sinnen und schaffen für meines Kindes Glück, an seiner Freude darf ich mitgenießen, darf mich erquickt und getröstet fühlen durch seine traute Nähe.“ Pater Desertus blieb stehen und faßte den Arm des Propstes. „Seht, Herr, wie freundlich das Heim meines Kindes herschimmert durch die Bäume.“

„Ein schönes Plätzchen! Komm, wir wollen rasten!“

Aus dem Fuß eines Hügels, welcher dicht an die Straße reichte, schob sich eine Felsplatte gleich einer Bank hervor. Hier ließen sie sich nieder. Kleine Schatten und Lichter zitterten auf der Erde, denn durch die halbentlaubten Bäume fand die Sonne fast freien Weg. Ein leichter Windhauch raschelte durch alles Gezweig, und langsam, wie in gaukelndem Spiel, fielen die welken Blätter; mit stillen Augen betrachtete Pater Desertus ihren lautlosen Fall.

Herr Heinrich fragte lächelnd: „Stimmt es Dich trübe, daß die Blätter fallen?“

„Nein, Herr, der Winter kommt ja nur, um den Frühling zu bringen!“

„So? Es gab aber doch eine Zeit, da Du sagtest: Der Sommer blüht nur, damit all seine Bluht vom Winter verschüttet werde unter Schnee und Eis!“

In bebender Erregung preßte Pater Desertus die Hände auf seine tiefathmende Brust. „Mein Auge ist sehend worden. Ich fühle ja die Sonne wieder, und Schatten um Schatten weicht von mir. Vor dem holden Antlitz meines Kindes löst sich jeder Jammer meines Lebens in süßen Trost, und in Verklärung schweben die Gestalten der Verlorenen um mich her.“

„Ist alles Geschehene denn anders geworden?“ fragte lächelnd Herr Heinrich.

„Nein, Herr, aber ich seh’ es mit anderen Augen. Glaubet mir, so tief wie ich hat noch kein Mensch erfahren, daß wir nicht leben können, wenn wir die Sonne nicht suchen, und daß uns zum Leben so nöthig wie Luft und Brot noch ein Drittes ist: das helle Sehen!“

Eine Thräne rann ihm in den ergrauenden Bart, er faßte die Hände des Propstes und stammelte: „Herr, nehmet meinen Namen von mir! Ich will nicht länger Desertus heißen.“

„So heiße Theophilus!“[65]

Sie saßen schweigend. Ueber Thal und Höhen leuchtete die warme Sonne des Herbstes, und die sinkenden Blätter in ihrem schimmernden Gelb waren anzusehen wie fallende Flämmlein.

Plötzlich streckte der Pater in heller Erregung den Arm. „Sehet, Herr!“

Ein weißer Falter gaukelte vorüber.

„Das ist wohl der letzte!“ sagte Herr Heinrich. „Auch er wird sterben. Aber er war mit der Sonne gut Freund und darf nun einen Tag genießen, den tausend seinesgleichen nicht erlebten!“

Sie blickten dem Falter nach. Er folgte mit seinem Flug dem Lauf der Straße, flatterte um die weißen Steine, hob sich empor zu den Wipfeln der Bäume, gaukelte zurück auf die niedere Hecke, aus deren Gezweig der Wind die silberig blitzenden Spinnfäden wehte, und bald sich verhaltend, bald wieder eilig weiter fliegend, erreichte er die große Wiese vor dem neuen Haus. Hier suchte er jedes verspätete Blümlein auf und sog aus dem welkenden Kelch noch einen Tropfen Seim. Dann flatterte er an der weißen Mauer empor, und lange, lange gaukelte er um das mit Bändern geschmückte Tannenbäumchen auf dem First …

Hand in Hand, mit brennenden Gesichtern, traten Haymo und Gittli aus der Thür.

„Ja wo sind sie denn?“ stammelte Gittli. „Schau nur, Haymo, sie sind ja nimmer da!“

Mit suchenden Augen blickten sie umher. Da näherten sich [570] langsame Schritte dem Thor, und Ulei der Bildschnitzer betrat das Gehöft. Er trug auf den Armen eine hohe Figur, die von grauer Leinwand umhüllt war.

„Das soll ich abgeben, hat’s geheißen. Es gehört über die Thür hinauf,“ sagte er.

„Das Muttergottesbildl!“ erwiderte Gittli leise.

Ulei stellte die Figur auf die Steinbank und löste mit zitternden Händen das Tuch.

„Schau, Haymo, schau nur! So was Liebes und Schönes! Wie wenn’s lebig wär’ und thät uns anschauen!“

Eine leichte Röthe huschte über Uleis bleiche Züge. Das Lob hatte ihm Freude gemacht. Wortlos wandte er sich ab und verließ das Gehöft. Haymo und Gittli merkten nicht, daß er ging. Sie standen schweigend aneinander gelehnt und betrachteten das mit hellen Farben bemalte Schnitzwerk.

Der Sockel stellte eine graue Wolke dar, umringelt von einer Schlange, auf deren Kopf das Bildniß mit beiden Füßen stand. Ein blaues Kleid verhüllte mit eng gereihten, züchtigen Falten den ganzen Körper; die schlanken Fingerchen hielten einen Lilienstengel, das weiße Gesichtchen mit den blauen Augen war leicht geneigt, und gleich einem Mantel fiel das gelöste Blondhaar um die Schultern. Die Stirn schmückte ein Kränzlein blühender Schneerosen.

„Haymo, schau das Gesichtl an,“ flüsterte Gittli, „merkst denn nicht, wem es gleich schaut?“

Er nickte und stand mit feuchten Augen, in den Anblick des Bildes versunken.

Gittli faltete die Hände und sprach leise ein Gebet.

„Was meinst?“ sagte Haymo. „Wenn ich’s gleich hinaufstellen thät’! Weißt, die hütet unser Haus . . . die schon!“

Er wälzte einen hohen Pflock herbei, und während er das Bildwerk achtsam emporhob in die Mauernische, eilte Gittli davon; sie suchte und suchte, aber sie fand nur welke Blumen. Da sah sie das rankende Immergrün, das sich neben dem Hofthor um den Stamm der alten Ulme spann. Sie brach alle Ranken, und Haymo flocht dieselben um den Sockel des Bildes.

Nun standen sie wieder. Seite an Seite, eines den Arm um den Hals des anderen gelegt und blickten zu dem Bild empor.

„Gelt,“ flüsterte Haymo, „die soll die ersten Blümerln haben all’ Jahr’!“

„Und allweil die schönsten. Und wenn es weihnachten thut, steigen wir miteinander hinauf in die Röth’ . . . und da kann der Schnee gleich haustief liegen . . . wir holen ihr ein Schneerosensträußl herunter, gelt?“

Sie reichten sich die Hände.

Nach einer Weile sagte Haymo, tief aufathmend: „Komm, Schatzl, wir müssen die Herren suchen! Mein Gott, sag’ mir nur, Schatzl, wie sollen denn wir soviel Gutthat heimzahlen köunen?“

„Gelt, ja!“ lispelte Gittli. Eine bessere Antwort wußte sie nicht.

Haymo schloß die Thür und zog den Schlüssel ab. Als sie das Hofthor schon erreicht hatten, fragte Gittli. „Hast auch gut zugesperrt? Hast zweimal umgedreht?“

„Wohl wohl!“

„Geh, schauen wir lieber nochmal hin!“

Sie gingen zur Thür zurück, und eins nach dem anderen rüttelte an der Klinke.

Nun machten sie sich auf den Weg. Beim Hofthor blieben sie noch lange stehen, betrachteten das Haus, und immer wieder kehrten ihre Blicke zu dem Bild über der Thür zurück.

Haymo schüttelte in einem fort den Kopf. Plötzlich zog er das Weidmesser aus der Scheide und drückte die scharfe Spitze in den Rücken seiner Hand.

„Ja was treibst denn?“ stammelte Gittli erschrocken.

„Spüren möcht’ ich, ob ich wach’! Allweil mein’ ich, daß ich träumen thu’ und müßt’ aufwachen mit jedem Augenblick.“

„Geh’, wie Du ein’ aber ängsten kannst!“ stotterte Gittli und klammerte die Arme um seinen Hals.

Er küßte sie ... wieder und wieder; das schien ihn doch endlich zu überzeugen, daß er wache.

Langsam gingen sie zwischen den Hecken dahin. Sie mußten sich dicht aneinander schmiegen, denn der Pfad war schmal. Kein Wörtlein sprachen sie . . . doch immer wieder schauten sie sich lächelnd in die Augen, athmeten tief auf und schritten weiter.

*  *  *

Herr Heinrich hatte wahr prophezeit. Ueber vier Wochen hielt der neue Wildmeister Hochzeit. Pater Theophilus legte die Hände des jungen Paares ineinander; als er den Segen sprach, schwankte vor freudiger Bewegung seine Stimme, daß sie bei jedem Worte zu erlöschen drohte. Gittlis Augen, die zu ihm emporgehoben waren, schimmerten in Thränen. Seit dem vergangenen Abend wußte sie, daß es ihr Vater war, dem sie alles Glück verdankte.

Bis auf das letzte Plätzlein war die Kirche gefüllt. Zuvörderst im Herrenstuhl, neben Herrn Heinrich, kniete der Vogt, in dessen nicht gar feierlichem Antlitz eine merkwürdige Erregung zuckte. Er zwirbelte den dicken Schnauzbart und schielte immer wieder zu Herrn Heinrich auf. Die Hochzeit des Haymo mit der Schwester des Wolfrat hatte ihm ein Lichtlein aufgesteckt.

Als die Trauung vorüber war, wurde das junge Paar von Glückwünschenden umdrängt. Nur Seph’ und Wolfrat fehlten. Weshalb nur waren sie nicht gekommen?

Als einer der Letzten trat Herr Schluttemann vor das Paar. Er machte einen Bückling vor der erröthenden Braut und faßte Haymos Hand. „Also, Herr Wildmeister, viel Glück fürs Leben! Und einen guten Rath will ich Euch auch dazu geben: lügen, Herr Wildmeister, lügen müßt Ihr nimmer!“

„Herr Vogt!“ stotterte Haymo. „Wie meint Ihr das?“

„Schon gut, schon gut! Ich weiß schon, was ich weiß!“

Stolz erhobenen Hauptes stakste Herr Schluttemann davon. Er war wohl auch zum Brautmahl geladen; aber er wollte zuvor noch in der Vogtstube Nachschau halten. Als er das Kloster betrat, klangen von der Kirche herüber die Hörner der Jäger, welche das Brautpaar mit schmetterndem Weidmannsgruß empfingen.

Herr Schluttemann fand in der Wartestube nur wenige Leute vor, die er eilig abfertigte. Schon wollte er die Vogtei verlassen, da kam noch einer mit polternden Tritten herbeigerannt.

„Herr Vogt! Herr Vogt!“

Beim Klang dieser Stimme spitzte Herr Schluttemann die Ohren. „Was? Der traut sich noch herein zu mir? Er runzelte die Brauen und stemmte die Fäuste in die Hüften, als er seine Vermuthung bestätigt sah und den Rottmann Polzer erkannte.

Wolfrat blieb unter der Thür stehen und stützte sich mit dem Arm an den Pfosten, keuchend vom raschen Lauf, das Gesicht von Schweiß und Thränen überronnen, lachend und schluchzend.

„Was ist denn das schon wieder für eine Narretei?“ donnerte Herr Schluttemann. „Will man vielleicht wieder den Vogt uzen? Wart’ nur, jetzt will ich Dir aber zeigen . . .“

Weiter kam Herr Schluttemann nicht, denn Wolfrat, der die Worte des Vogtes gar nicht zu hören schien, schluchzte und lachte. „Herr Vogt! Herr Vogt! Nehmet nur gleich das Leutbuch her . . . und schreibet hinein . . . ich hab’ ein Kindl gekriegt . . . ein Dirnlein, Herr Vogt, ein Dirnlein ... blaue Aeugerln hat’s und bluhweiße Lockerln . . . und Mariele soll’s heißen . . . Polzer Mariele! Schreibet, Herr Vogt, schreibet . . . ich muß zum Pfarrer laufen . . .“

Da rannte er schon davon, lachend, schluchzend und keuchend.

Herr Schluttemann stand noch immer mit gespreizten Beinen, die Fäuste in die Hüften gestemmt. „Natürlich!“ knurrte er. „Nur allweil Kinder, allweil Kinder, daß nur ja die Lugenschüppel nicht minder werden auf der Welt! Aber wart’ nur! Du kommst mir schon wieder! Dann sollst Dir aber merken, daß ich mich nur einmal hab’ anschmieren lassen!“ Er hob die Fäuste gegen die Stubendecke. „Ooooh! Die Menschen sind doch schlechte Leut’!“ Zornig riß er an der Glocke. Der Fronbot trat ein. „Geh’ hinüber in die Küch’ und nachher zum Kellermeister, laß’ Dir einen richtigen Korb voll Freßzeug geben und einen Krug Wein . . . trag alles hinunter zum Rottmann Polzer und sag’: Das schick’ ich ihm zur Kindstauf’ . . . dem Gauner!“

Mit vollen Backen blasend ging Herr Schluttemann auf den Schrank zu, nahm das in Schweinsleder gebundene Leutbuch heraus, schlug es auf, tauchte brummend die Gänsefeder ein und schrieb:

„Den 26. des Anderherbst, a. d. 1338, dem Rottmann Wolfrat Polzer ein Dirnlein geboren, heißt Mariele.“

„Punktum!“ sagte Herr Schluttemann und spritzte die Feder aus.

Durch das offene Fenster klangen jauchzende Stimmen und die schmetternden Klänge der Jagdhörner.


  1. Heinrich von Inzing, der 21. Propst des Klosters Berchtesgaden, 1333–1351.
  2. Der Markt Berchtesgaden führt in älteren Urkunden neben „Berhthersgademe“ und „Perchtensgaden“ auch den Namen „Berchtoldsgaden“; der Volksmund sagt noch heute „Bertlsgaden“.
  3. Steinwild gab es im Watzmann- und Wettersteingebiet bis gegen Ende des 14. Jahrhunderts; die Erfindung der Feuerwaffen machte dem edlen Wilde in den bayerischen und Tiroler Bergen den Garaus. „Dann als die Hanndpuxen aufkummen sein,“ heißt es in Kaiser Maximilians Weißkunig, „hat man angefanngen, damit die Stainpökh zu schiessen, das durch die pawrsleut beschehn ist, die dann, wo Sy über das wildpret kumen, kein maß halten, sondern Irer pawrnart nach ausöden.“
  4. Königssee.
  5. Brigitte.
  6. Dialektische Verstümmelung des Ausrufes: „Ach, Jesus!“
  7. Benediktbeuern, in der Nähe von Tölz, ehemals eines der reichsten und mächtigsten Klöster, 740 gegründet, 1803 säkularisiert.
  8. Lautet gesprochen: „Wollwoll“ = ja.
  9. Schwächlich, unscheinbar.
  10. Lawinen.
  11. Kapelle und Klause, 1234 erbaut, an der Stelle des heutigen Jagdschlosses Bartholomä.
  12. Lachsforelle.
  13. Der Biber nährt sich in Wirklichkeit nicht von Fischen, sondern von Pflanzenkost; doch wurde er im Mittelalter als Fischfresser mit dem Otter in eine Reihe gestellt.
  14. In Niederbayern, an einem Nebenbache der Vils gelegen, Spuren der Burgruine finden sich noch heute.
  15. Schneefrei.
  16. Murmelthier.
  17. Wiesel.
  18. Der Pachtschilling für das Hauslehen.
  19. Am 28. Sept. 1322.
  20. Hemdchen.
  21. Schmerz.
  22. Füllen.
  23. Verhören, durch Lauschen den Platz erkunden, auf welchem ein Auerhahn falzt.
  24. Oel des heiligen Quirinus. – Eine halbe Stunde von Tegernsee, in dem Weiler St. Quirin, steht noch heute die Kapelle, welche über der wunderthätigen Quirinusquelle errichtet wurde; die Quelle liefert ein dünnes Erdöl, welches Jahrhunderte hindurch als heilsam für mannigfache Krankheiten galt und vom Kloster Tegernsee in Krügen und Fläschchen als kostbare Arznei an alle übrigen Klöster versendet wurde. Nach der Aufhebung des Klosters Tegernsee erlosch auch im Gebirgsvolk bald der Glaube an die Heilkraft der Quirinusquelle.
  25. Der böse Geist der Krankheit. In gleichem Sinn bedeutet der „G’sund“ die lebensvolle Kraft des gesunden Körpers.
  26. Rechnen, ein Geschäft zum Austrag bringen.
  27. Kaum, knapp.
  28. Der Henker.
  29. Die Nächte vor dem Weihnachtsfest, vor dem Neujahrstag und vor dem Dreikönigsfeste hießen: „Gebnächte“
  30. Ulrich.
  31. Bergstock.
  32. Nicken (bildlich) = grübeln.
  33. Das Setzen der Totenbretter hat sich in einzelnen Dörfern Bayerns als geheiligter Brauch bis in die Gegenwart erhalten.
  34. Name der am Ufer des Obersees gelegenen Alm, welche sich schon in Urkunden aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts erwähnt findet.
  35. Die im Bartholomäersee gefangenen Saiblinge wurden im Kloster zu Berchtesgaden auf folgende Art geräuchert: An langen hölzernen Stäben wurden 10–20 Querstäbchen befestigt und an die Enden dieser Stäbchen die Fische durch den Rachen aufgespießt; der geöffnete Leib der Fische wurde durch kleine Hölzchen auseinandergespreizt. So kam die ganze Spindel (spiez) in den Kamin.
  36. ein wenig, mühsam.
  37. In den Predigten des Bruder Berchtold von Regensburg (13. Jahrhundert) heißt es: „Wilt du zuo dem tanze unde zuo dem haymgartten unde wilt da vil gerüemen unde gelachen unde geweterblitzen unde gezwieren mit den ougen, so mahtu wol bestruchen in den stric des tiuvels.“
  38. Elternhaus.
  39. Den der Durst am meisten plagt.
  40. Welcher goldklare Weine hat.
  41. Aus dem Faß in den Humpen.
  42. Bis die Nacht zu Ende geht.
  43. Ein krankes Kind, Pflegling.
  44. Alter Weidmannsausdruck für das Herz des Wildes.
  45. Das Mühldorfer Stadtrecht im 14. Jahrhundert bestimmte: „Welleich leicht weib pagent (zanken) mit den Worten, di si vermeiden sollen, der soll man den pagstein an an Hals hengen und soll si von gazzen ze gazzen traiben.“
  46. Auge.
  47. Zwei Stunden südwestlich von Passau.
  48. Gekleidet.
  49. Kleine Bündel aus dürren Reisern, in welche beim Feuermachen der brennende Schwefelfaden gesteckt wurde.
  50. Oktober. – Im 14. und 15. Jahrhundert lautete in Ober- und Niederbayern die Reihenfolge der Monate: Jenner, Hornung, Mertz, Abrill, May, Andermay, der Augst, der ander Augst, der Herbst, der ander Herbst, der Winter, der ander Winter.
  51. Den 9. Oktober.
  52. Fünf Wegstunden südlich von Landshut.
  53. Zannen und pagen = keifen und schelten.
  54. Ein Flächenmaß, nach welchem in früheren Zeiten in den Alpen gerechnet wurde; ein „Gras“ d. i. soviel Feld oder Weide, als ein Stück Hornvieh das Jahr oder den Sommer über zur Nahrung braucht.
  55. Die Bergwölfe pflegten mit Einbruch des schweren Winters in das flache Land auszuwandern, um erst mit dem Frühling wieder in das Hochgebirg zurückzukehren.
  56. Totenwurm.
  57. Palfen = Felsen.
  58. Das „Scheibentreiben“, welches in früheren Jahrhunderten fast im ganzen Gebirge als beilige Sitte gepflogen wurde, hat sich in Garmisch bis in die Gegenwart erhalten. Die glühende, in den finsteren Abgrund versinkende Scheibe ist als Sinnbild des niedergehenden Sonnenrades zu deuten.
  59. Wie ein Wiesel.
  60. Gewand
  61. Verliebte Herzen, verdrehte Köpfe.
  62. Ein Bergknappe, der die geförderten Erze auf einem kleinen Wagen (Hund) hinwegschafft.
  63. Jede Schicht eines Arbeiters wurde in zwei aneinander gelegten Stäben durch eine Kerbe verzeichnet; den einen Stab behielt der Aufseher, den anderen der Arbeiter.
  64. Aufseher.
  65. Theophilus – der Gott Liebende.