CXIX. München: die Glyptothek und Pinakothek Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Dritter Band (1836) von Joseph Meyer
CXX. Delphi
CXXI. Dowlutabad in Ostindien
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DELPHI

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CXX. Delphi.




Dichte Schleier verhüllen die Natur, den Ursprung und die Geschichte aller Religionen. Durch Macht und Gewalt aufgezwungen, durch Erziehung eingesogen, durch Beispiel unterhalten, pflanzen sie von Zeitalter zu Zeitalter sich fort, und Gewohnheit, Absonderungshang und Gedankenlosigkeit befestigen ihr Reich. Indem jede ihren Bekennern die freie und vorurtheilsfreie Prüfung untersagt, und den Glauben, ausschließlich die rechte zu seyn, festhält, sehen wir, trotz des buntesten Widerspruchs in ihren Lehren, so viele nebeneinander bestehen, und oft Jahrtausende vergehen, ehe eine die andere aufhebt. Nichts ist so beständig in der Welt, als die Vorurtheile des Glaubens, und nichts übt größere und despotischere Gewalt im Reiche der Geister.

Bei aller Mannichfaltigkeit der Religionssysteme, der bestehenden wie der erloschenen, werden sie gleichwohl in vielen Hauptzügen gleichförmig und in den Grundideen beharrlich erfunden. Für’s Erste sehen wir allenthalben die Menschen, wiewohl im Wirken und Leiden auf die Sinnenwelt beschränkt, dennoch über ihre Grenzen hinaus ahnend und verlangend blicken; höhere, lebendige, moralische Gewalten über den blinden Naturkräften anerkennen, bei dem Triumph übermächtiger Bosheit auf eine Zeit der Vergeltung hoffen, und, umgeben von den Bildern der Verwesung, eine Fortdauer jenseits des Grabes glauben. Diese hohen Gefühle – wenigstens der Zunder dazu – in der gemeinsten Menschenbrust, dies unauslöschliche, fast instinktartige Sehnen nach einer Heimath, die Keines Auge sah, werden für den unbefangenen Denker eine erhebende Betrachtung, und sie überwiegen der grübelnden Vernunft kleinmüthige Zweifel.

Aber jener Götterfunken in der menschlichen Seele, ein Zeuge höherer Abkunft, wie schlecht sehen wir ihn meistens gepflegt! Seine Erweckung ist das Werk des Zufalls; denn ob du in Shiras, oder in Marokko, in Thibet, oder am Ganges, oder „im himmlischen Reiche,“ oder am Niger, oder an der Tiber, oder in Petersburg, oder in Stockholm geboren wurdest, bist du, ohne dein Zuthun, und ohne daß du es hindern kannst, ein Feueranbeter, ein Gläubiger des Koran, ein Verehrer des Dalai Lama, des Brahma, oder des Confuzius Jünger; oder du bist ein schwarzhäutiger Götzendiener, oder ein rechtgläubiger Katholik; oder ein Bekenner der griechischen Kirche, oder des reinen Evangeliums. – Ungeläutert ist auch jenes Götterfunkens Nahrung, und Dummheit und Betrug ersticken seinen Glanz. Von jeher wurden die hohen Ideen, die lebendigen Gefühle der natürlichen Religion, das kostbarste Angebinde unsers Geschlechts, [77] in todte Formeln verwandelt; – wurde das Gold in Schlacken vergraben, und es übertönten Menschensatzungen den himmlischen Ruf. Oft vermögen wir kaum unter den Auswüchsen der übel gewarteten Pflanze und bei den darauf geimpften, fremdartigen, manchmal giftigen Früchten, die edle Wurzel noch zu erkennen! –

Die Harmonie der Natur verkündet einen höchsten, waltenden Geist. Aber in der Kindheit der Menschheit vermochte der Verstand nicht, sich zur Majestät eines Gottes aufzuschwingen, welcher in allen Naturkräften lebt und mit seiner Gegenwart Himmel und Erde füllt. Eine lange Bahn hatte der Mensch im Dunkel der Geschichte erst zu durchlaufen, ehe er über seinen Zustand überhaupt nur nachzudenken anfing und wahrnahm, daß er höhern und von seinem Willen unabhängigen Mächten unterworfen sey. Die Sonne erleuchtete, erwärmte ihn; das Feuer brannte ihn; der Donner erschreckte ihn. Alles um ihn her wirkte mehr oder minder mächtig auf ihn zurück. Lange war er eine Maschine, die sich diesen Wirkungen, ohne der Ursache nachzuspüren, unterwarf. Spät erst erwachte sein Nachdenken, und eine Reihe von Vernunftschlüssen bahnte zum Begriff höherer Wesen den Weg.

Zuerst, wenn er den Einfluß der Elemente auf sich betrachtete, schloß er auf Schwäche und Unterwürfigkeit bei sich, so wie bei jenen auf Macht und Herrschaft. Und diesen Begriff einer höhern Macht als derjenigen, welche er selbst besaß, war die erste Grundlage von der Vorstellung der Gottheit.

Sodann sah er sich durch die Wirkung der mächtigern Naturkräfte entweder angenehm oder unangenehm erregt. Sie schafften ihm Vergnügen oder Schmerz, Freud oder Leid. Für jene faßte er Liebe, für diese Abneigung; jene nannte er gute, diese böse. Er wünschte oder fürchtete ihre Gegenwart, und so wurden Furcht oder Hoffnung die Grundlage seiner Religionsbegriffe.

In der Folge, weil er über Alles durch Vergleichung urtheilte und in den Aeußerungen der Naturkräfte Abwechselung wie in seinen eigenen bemerkte, vermuthete er als bewegende Ursache eine Seele mit Willen und Verstand von der Art seiner eigenen, und er zog daraus weitere Schlüsse. Aus dem Umgang und der Erfahrung wußte er, daß man durch Ehrfurchtsbezeugungen, Bitten, Geschenke und Dienstleistungen die Stärkern besänftigen, oder sie den Schwächern geneigt machen könne; – er sagte sich, wenn mein Nebenmensch, gewaltiger als ich, mir Uebel zufügen will, so demüthige ich mich vor ihm, und als Lohn meiner Unterwerfung giebt er mir Schutz. Ich werde es mit den unsichtbaren Gewalten über mir eben so machen. Ich will die Geister der Winde, der Sonne, des Mondes, der Sterne, des Wassers, des himmlischen Feuers anrufen, sie bitten, daß sie mir Gutes erzeigen und mich mit Bösem verschonen; ich will die Geister der wilden, reißenden, giftigen Thiere beschwören, daß sie mir keines der Uebel zufügen, die zu thun in ihrer Macht steht. Ich will sie durch mein Bitten, durch meine Unterwerfung rühren, und durch Geschenke für mich einzunehmen suchen. So entstanden die Begriffe von den Genien, von den Göttern; von Verehrung und von Opfern bei den Menschen.

[78] Im Anfange waren diese dem Zustande ihrer Erfinder angemessenen Begriffe dunkel, verworren und roh. Liebe zur Freiheit und Haß des Zwangs ist Grundzug der menschlichen Natur; und so lange die Menschen noch Ueberfluß an Raum fanden auf der Erde, in den ersten Jahrtausenden nach ihrer Schöpfung, lebten sie familienweise, wandernd von Thal zu Thal, von den wilden Früchten der Erde und von der Jagd. Sie hatten in diesem einfachen Verhältniß keine Aufforderung, ihre Vorstellungen von einem höhern Wesen zu erweitern oder zu ordnen. Ihre Gottesverehrung beschränkte sich auf das natürliche Gebet und auf das einfachste Opfer. In ihrem Zustande der Gleichheit warf sich Keiner zum Mittler zwischen Menschen und Göttern auf. Ueberfluß hatte Keiner, folglich auch nichts Bedeutendes zu verschenken. Es konnte also auch keine Schmarotzer geben unter dem Namen Priester, die Steuern forderten unter dem Namen Geschenke, und auch keine Herrschaft unter dem Namen eines Altars. Glaubenssätze und Moral waren gleich einfach und hatten nur einen Zweck, den der Selbsterhaltung. Die Religion war ein willkührlicher Begriff, den sich jeder Mensch selbstständig bildete, ohne beschränkenden Einfluß auf die Verhältnisse der Menschen untereinander; sie war weiter nichts als eine den mächtigern Naturkräften von den schwächern Wesen dargebrachte Huldigung.

In den Thälern Indiens, in der Nähe der Wiege der Menschheit, nöthigte die Vermehrung des Geschlechts zuerst die Menschen, sich in Gesellschaften zu vereinigen, ihre Subsistenzmittel künstlich zu erweitern. Sie lernten den Ackerbau.

Kenntniß von der Folge der Jahreszeiten, der Monate, des Jahreswechsels war bei der neuen Beschäftigung unentbehrlich. Es wurde also erfordert, zuerst auf den Gang der Sonne zu merken, die in ihrem scheinbaren Umlauf durch den ganzen Thierkreis, als die Mutter des Lichts und der Wärme, sich als die erste und höchste Kraft der ganzen Schöpfung ankündigte; dann des Mondes, nach dessem Wechsel und Wiederkehr man die Zeit ordnete und eintheilte; endlich der Sterne und der Planeten, nach deren Erscheinen und Verschwinden am nächtlichen Horizonte man die kleineren Zeitabschnitte bemaß; kurz Ackerbau führte zur Sternkunde, und bei den ackerbauenden Völkern entstand daraus von selbst eine neue Art, die herrschenden und regierenden Weltkräfte zu betrachten. Denn nachdem die Menschen bemerkt hatten, daß die Erzeugnisse der Erde in regelmäßigen und steten Beziehungen mit den Himmelskörpern standen; daß die Zeit des Entstehens, Wachsens und Vergehens jeder Pflanze nicht nur, sondern auch die Thätigkeit der Elemente, Gewitter, Stürme, Frost, Hagel etc. mit der Zeit der Erscheinung, dem Steigen und der Abnahme desselben Sterns, oder derselben Gruppe von Sternen zusammen traf: daß, mit einem Worte, das Stocken und die Thätigkeit des Wachsthums der Pflanzen vom Einfluß der Himmelskörper abhing; so schlossen sie auf die größere Gewalt dieser leuchtenden Wesen, und die Gestirne, als Schöpfer und Spender von Ueberfluß oder Mangel, von Glück oder Unglück, wurden zu höheren Mächten, zu Haupturhebern des Guten und Bösen. So entstand der Indier zusammengesetztes System von höhern und niedern Gottheiten, und der Götter Wohnung wurde nun der Himmel. Götter-König – Youh-Piter – war die Sonne. Der Mond war sein Gefährte, die Planeten Diener, [79] Ueberbringer seiner Befehle, Boten, Gesandte; das Heer der Gestirne: – Geister, Genien, oder Engel, sein Volk; der Himmel sein Reich. Jedes einzelne Gestirn erhielt Benennungen, Geschäfte, Attribute, Symbole, die alle aus ihren sichtbaren oder eingebildeten Wirkungen gezogen wurden.

Aus dem menschenüberfüllten Indien wanderten Volkskerne, und mit ihnen Ackerbau, Sternkunde und die auf sie gegründeten Religionsbegriffe, nach Aethiopien, von da nach Aegypten. Hier, eingeschlossen im schönen Nilthal, wo die periodischen Ueberschwemmungen, von denen der Bewohner Wohlfahrt abhing, diese mehr als irgendwo auf der Erde die Wichtigkeit astronomischer Kenntnisse und der mathematischen Wissenschaften (des Messens und Rechnens) erkennen ließen, bildeten sich die indischen Religionsbegriffe vollkommener aus. Anfangs so einfach, (denn was kann einfacher und dem Gang des menschlichen Geistes in der Kindheit angemessener seyn, als jene erste Verehrung der Gestirne unter ihren natürlichen Gestalten oder Attributen, in ihren allen Menschen sichtbaren, und von ihnen verstandenen Beziehungen auf die Erzeugnisse der Erde und auf die Arbeiten des Ackerbaus!) – wurden, als die Kenntnisse der Wirkungen der Gestirne auf die Erde und auf irdische Verhältnisse sich mehrten, die Begriffe verwickelter, und wie die Kultur fortschritt, auch die Symbole und die Zeichen, welche sie andeuteten, immer zahlreicher. Kein Wunder, daß am Ende dem gemeinen Verstande der Faden des Erkenntnisses verloren ging.

Es fanden sich nun Menschen, welche das Studium der Gestirne und ihrer Kräfte und Einflüsse, ihrer Symbole und deren Auslegung zur ausschließlichen Aufgabe ihres Lebens machten, und es als ihren Beruf ansahen, dem Volke die Resultate ihrer Forschungen mitzutheilen. Diese, welche sich Wissende (Weise) nannten, sagten die Zeiten der Veränderungen der Himmelskörper, der Ueberschwemmungen u. dgl. voraus, und gaben Regeln zum Vorausbestimmen des Witterungswechsels, der besten Zeit zur Aussaat und zur Aerndte etc. In Betracht solcher dem Volke geleisteten Dienste überhob man jene Menschen der gemeinen Arbeit, und der Staat sorgte für ihren Unterhalt. Bei ihren Forschungen über die Eigenschaften der Früchte und Kräuter lernten sie deren nährende und medizinische Kräfte kennen; die Beobachtung des Spiels der Elemente führte zur Erforschung ihrer Gesetze, zur Kenntniß ihrer Natur und ihrer gegenseitigen Verwandtschaften. So wurden sie Begründer der mathematischen, medizinischen und physikalischen Wissenschaften. Weil sie aber in Ermangelung der Buchstabenschrift kein anderes Mittel zur Mittheilung dieser Kenntnisse besaßen, als den mühsamen mündlichen Unterricht, so trugen sie dieselben nur auf Verwandte und Freunde über, und die Folge davon war, daß alle Wissenschaft und aller Unterricht sich in eine Anzahl Familien zusammen drängte, die sich den ausschließlichen Besitz derselben anmaßten, und dem Volke, den Layen, gegenüber einen stolzen Kasten- und Absonderungsgeist annahmen. Alle höhere Erkenntniß war für das Letztere in ein undurchdringliches Geheimniß gehüllt, und in eben dem Maße, als der Lichtkreis der Geweiheten sich erweiterte, umhüllte die Menge dichtere Finsterniß. War es dann zu verwundern, daß das Volk jene Menschen, die Sonnen- und Mondfinsternisse und Kometen voraus verkündigten, gleichsam auf ihr Geheiß entstehen ließen, deren Kunst den Tod vom Krankenbette wies und die gebrochenen [80] Glieder heilte, die Schlangen betasten und wundergleiche Erscheinungen hervorbringen konnten, am Ende als eine höhere Gattung von Wesen und als Befreundete der himmlischen Mächte betrachtete? War es zu verwundern, daß es, um das Gute, was es wünschte, zu erhalten, und das Böse abzulenken, jene Menschen zu Mittlern und Dollmetschern annahm zwischen sich und den Göttern? – Seht! auf solche Art ist die Kaste der Priester, jenes Ungeheuer entstanden, welches unter dem Namen der Religion ein Reich der Mysterien und ein Monopol des Wissens aufrichtete, jene fluchbeladene Kaste, welche im Bunde mit der Despotie die Völker verdummt und das Fortschreiten der Menschenbildung auf Jahrtausende gehemmt hat.

Durch Kekrops nach Griechenland getragen, und durch die phönizischen und ägyptischen Handelscolonien in alle Küstenländer des mittelländischen und atlantischen Meeres bis zu den Säulen des Herkules und dem Meerbusen von Guinea verbreitet, wurde das Religionssystem der Aegypter zur Mutter des ganzen abendländischen Polytheismus, der, von den Griechen verschönert, unter der Weltdiktatur Roms fortblühete, bis er, geschwächt durch die Forschungen der Philosophen, vor den einfachen, von einer trostlosen Menschheit mit Jubel begrüßten Lehren des Gekreuzigten allmählich schwand. Kein System hat länger gedauert, keines eine gleiche Herrschaft geübt. Die ganze alte Welt trug seine Fesseln; ja, durch Zeiten, Umstände und Vorurtheile gemodelt, macht es sich jetzt noch bei vielen Völkern und Religionen offenbar, und selbst bei denjenigen, die es verachten, lebt es in den Symbolen fort, und zieht wie ein geheimer Faden durch ihre theologischen Systeme. –

Bei der Ausbreitung des ägyptischen Kultus entwickelte die Priesterkaste eine rastlose Thätigkeit; denn sie sah in dieser Ausbreitung das wirksamste Mittel zur Erweiterung und Befestigung ihrer Macht, und zur Ausführung ihres ungeheuern Planes, der, durch die Bevormundung aller Völker, nichts Geringeres als die Weltherrschaft erstrebte. –

Einig in der Verfolgung dieses Ziels überall und durch alle Zeiten, waren auch der Geist der Priester, ihr Verfahrungssystem und ihre Handlungsweise bei allen Völkern gleich. Die Religion, hinfort blos der Deckmantel und die Dienerin dieses Strebens, wurde zum Mittel erniedrigt, den Verstand der Nationen durch Aberglauben zu verhüllen, und sie in Finsterniß nach Gefallen zu lenken. – Das Nachdenken über religiöse Mysterien stempelte man zum ärgsten Frevel an der rächenden Gottheit. Autorität trat an die Stelle der freien Forschung, die Schrecken der Strafgewalt an jene der Ueberzeugung, das Monopol der Wissenschaften endlich lieferte den Priestern die Verwaltung des Staats in die Hände und immer neue Mittel, das erniedrigte Volk nach Gefallen zu plündern. Alle Tugenden sogar wurden in den Händen dieser Menschen zum Mittel, ihren heuchlerischen und unbegrenzten Egoismus zu befriedigen. Um den Sorgen des Reichthums zu entfliehen, hüllten sie sich in den Mantel freiwilliger Armuth; und arm, sicherten sie sich des Reichthums Genuß. Um von häuslichen Sorgen und Mühen verschont zu bleiben, lebten sie im Cölibate. Sie erhoben die Selbstbeschauung und die Andacht zur Tugend, damit man ihren Müssiggang achte, und sie von der Arbeit Anderer in geehrter Faulheit leben konnten. Sie nannten Gaben und Opfer den Göttern gefällige Werke, damit [81] es ihnen an sichern und kostenfreien Einkünften niemals ermangelte. Sie erfanden das Schaugepränge des Kultus, um zu spielen dabei vor dem gaffenden Volke die Rolle der Götter, für deren Dollmetscher und Mittler sie sich ausgaben, und deren Macht sie sich anmaßten; und sie erhoben die Gewalt der Könige und heiligten ihre Personen, um als Schöpfer dieses Nimbus, ihre eigene Erhabenheit den Völkern um so eindringlicher, die Gesalbten um so gewisser zu ihren Verbündeten zu machen, welche sie an unsichtbaren Fäden leiteten. Sie predigten die Schädlichkeit der Aufklärung, um im alleinigen Besitz alles Wissens zu bleiben, und verkehrten den öffentlichen Unterricht da, wo sie ihn nicht gänzlich hindern konnten, so, daß er das Volk nur dümmer und knechtischer, nicht klüger und verständiger machte: kurz, diese Kaste, die sich zu allen Zeiten und unter allen Völkern so zu stellen wußte, daß sie allen Lasten und Beschwerden anderer Stände entging, und „die Rosen des Lebens ohne Dornen brach,“ übte Jahrtausende lang das Geheimniß: mitten in der Anarchie in Frieden, unter dem Despotismus, den sie stets begünstigte, in Sicherheit, unter der Arbeit, die sie predigte, in Ruhe und im Nichtsthun, im Schooße des Mangels in Ueberfluß, und in der Demuth als Herrscher über Zeitlichkeit und Ewigkeit zu leben.

Was man aber dem Volke als heilige Wahrheit lehrte, das, die Religion des großen Haufens, konnte die Geweiheten, die Priester nicht befriedigen. Außer dem allgemeinen Kultus bestand daher überall, wo der ägyptische das Fundament bildete, noch eine geheime Lehre für den engern Kreis der Auserwählten. Man kann sich denken, daß es damals, mehr noch wie jetzt, Wahrheiten gab, deren unverhüllte Anschauung dem Volke niemals vergönnt werden durfte. – Erst in spätern Zeiten, als auch profane, nicht zur Kaste gehörige Denker (vorzüglich griechische Philosophen) auf dem Wege der einfachen Speculation zur Erkenntniß des Nichtigen und Trügerischen im öffentlichen Kultus, und zur höheren Wahrheit gelangten, bildeten sie, diese edlen Männer, die immer das Ziel der Verfolgung der Priesterkaste waren, einen ausgewählten Kreis von Zöglingen um sich, um diese Erkenntniß dauernd zu machen; und so entstanden Verbrüderungen, aus deren Mitte auch in die Völkerkreise so viel Licht strahlte, als der allgemeine Kulturzustand und die Verhältnisse nur immer erlaubten. Diese waren es, welche den orthodoxen Polytheismus untergruben, die Allmacht und das Ansehen der Priester schwächten, und die Massen für die Aufnahme der Christuslehre allmählich vorbereiteten. –

Eines der allermächtigsten und dauerhaftesten Werkzeuge in den Händen der Priester zur Erhaltung ihrer Herrschaft waren die Orakel. Ihre Erfindung zeugt von einer tiefen Kenntniß der menschlichen Natur.

Unaufhörlich wird die Mehrzahl der Sterblichen von dem unruhigen Verlangen geplagt, den Schleier zu lüften, welcher über ihrer Zukunft liegt. Immer vermuthen sie zwischen vorhandenen oder eingebildeten Gefühlen, die sie Ahnungen nennen, und künftigen Ereignissen ein geheimnißvolles Band, ein Glaube, der sich am Ende auf die lächerlichste Eigenliebe gründet, welcher der Mensch sich nur hingeben mag. Denn was ist dein Ahnungsglaube, bei Licht betrachtet, anders, als der Wahn, die Allmacht werde aus absonderlicher Theilnahme an deiner kleinen Persönlichkeit und [82] ihren Privatanliegen die unwandelbaren ewigen Gesetze der Natur verändern, und dienstbare Geister um dich her versammeln, mit dem Berufe, dir durch geheime Zeichen deine Zukunft anzudeuten? – Genug, diese sonderbare Schwäche der Menschenmehrzahl, die zu allen Zeiten geblüht hat, wurde früh schon von schlauen Betrügern als ein Umstand bemerkt, aus welchem große Vortheile zu ziehen wären. So entstand Ahnungs- (Zeichen-) Deuterei, und die Priester bemächtigten sich dieses Gewerbes, eifersüchtig alle geistige Gewalt in ihren Händen zu vereinigen, und trieben es als Monopol. Die weltlichen Gewalten, befreundet mit den Priestern, sahen in demselben ein wirksames Mittel zur Leitung der Völker. Alles, was Dummheit und Aberglauben verbreitete, immer gern begünstigend, nahmen sie die Zeichendeuter in ihren Schutz und beförderten durch ihr eigen Beispiel den Glauben an die „heilige Kunst,“ aus Träumen, Ahnungen, Zeichen, den Constellationen, aus den Eingeweiden der Opferthiere, dem Fluge der Vögel etc. etc. die Zukunft zu verkündigen. – Mit diesem Gewerbe des Betrugs hing das auf gleichem Grunde ruhende Institut des eigentlichen Orakels auf das genaueste zusammen. Gewöhnlich wurden Orakel – Orte, wo man auf bestimmte Fragen von den Dollmetschern der Gottheit offenbarende Antworten erhielt, – an Plätzen gegründet, wo entweder Schrecken der Natur, oder auf Sagen gestützte heilige Erinnerungen das Gemüth zu gläubiger Andacht stimmten. Die Priester waren klug genug, bevor sie ihren Gott sprechen ließen, den Fragenden über alle Umstände auszuforschen, die eine vernünftige Muthmaßung über sein künftiges Schicksal begründen konnten; und sie waren welterfahren genug, um aus den jedesmaligen Verhältnissen der Staaten und dem Charakter ihrer Machthaber wahrscheinliche Schlüsse auf die kommenden Ereignisse zu ziehen. Traf das Orakel zu, so wurde es zur Ehre des Gottes laut durch die Welt verkündigt; schlug’s fehl, blieb’s sorgfältig verschwiegen. Auch waren die Antworten stets so abgefaßt, daß immer eine andere, oft die entgegengesetzte, Auslegung des Spruchs möglich blieb, und daß, wie auch der Würfel fiel, eine wahre Vorhersagung ganz gut herausgedeutelt werden konnte. Gesetzgeber, Feldherren und Könige ehrten die Orakel, weil sie ihnen ein wirksames Beförderungsmittel ihrer Plane waren; denn oft, wo Vernunftgründe und Gewalt nicht durchdrangen, da schlug der Ausspruch des Gottes den Widerstand nieder.

Es gab Orakel, die nicht bei einem Volke blos, sondern in der ganzen damals bekannten Welt in Ansehen standen. Die urältesten und berühmtesten waren die des Jupiter-Ammon in der libyschen Wüste, und das zu Dodona, gleichfalls ägyptischer Gründung. Jünger, aber nicht weniger berühmt, war das von Delphi in Griechenland, am südlichen Fuße des Parnaß. Der Ort, wo die Sprüche desselben ertheilt wurden, war eine Höhle in einer engen Felsschlucht, unfern vom großen Tempel des Apollo; an derselben Stelle, wo einst der Gott den Drachen Python, wie die Mythe erzählt, getödtet hatte. Die Höhle hieß Pytheion. Ihre Entdeckung schreibt die Sage einem Hirten zu, der am Abhange des Parnaß weidete, und, als er an ihrem Eingang ausruhete, in prophetische Begeisterung gerieth; vermuthlich ein Taschenspielerstückchen der Apollo-Priester. Diese bauten durch lange Säulenhallen das neue Heiligthum in das alte ein, und stellten über die Höhle den goldenen Dreifuß, auf welchem die Priesterin, [83] Pythia genannt, die Eingebungen des Gottes, welche als begeisternde Dünste aufsteigen sollten, empfing und verkündigte. Diese Wahrsagerin war ein von den Priestern zu dem Blendwerk abgerichtetes, verrücktes Mädchen. Nachdem sich die arme Wahnsinnige zuvor im nahen castalischen Quell gebadet, dann mit Lorbeer bekränzt und unter Weihgesängen auf den mit Lorbeer geschmückten Dreifuß niedergelassen hatte, gerieth sie – nach einigen Minuten tiefen Schweigens – in den Zustand der Verzückung. Sie zitterte und aus ihrem Munde ertönte Klaggeschrei und langes Stöhnen. Diesem Zustande folgte völlige Raserei. Ihre Augen funkelten, der Mund schäumte, die Haare sträubten sich, handfeste Priester hielten die sich gräßlich Windende gewaltsam auf dem Dreifuß zurück: da endlich offenbarte sich der Gott, unter fürchterlichem Geheul, durch einzelne Worte und Sylben, welche die Priester mit Sorgfalt und Ehrfurcht auffaßten, ordneten und schriftlich den Fragenden überlieferten. Anfangs waren die Sprüche in Versen; später begnügte sich der Gott, sie in Prosa zu ertheilen. So toller, ekelhafter Spuk einer Betrügerrotte dauerte 1500 Jahre, und das verrückte Werkzeug der Priesterarglist empfing die ehrfurchtvollsten Huldigungen und die reichsten Geschenke der Abgesandten aller griechischen Staaten nicht nur, sondern auch die aller Mächtigen und Könige der alten Welt. Mehr als einmal bestimmten die Antworten der Pythia das Schicksal ganzer Reiche, und ihre Wirksamkeit auf Griechenland, als ein gemeinschaftliches Band der Nation und als Stütze der Regierung, während so langen Zeitraums war unermeßlich. –

Als die Nationalregierungen aufhörten, oder nur Schattenspiele waren ohne Ansehen und ohne Macht im Volke, als die weltbeherrschenden Machthaber in Griechenland den Beifall des Gottes nicht mehr nöthig hatten, und seine Mißbilligung ungnädig würden aufgenommen haben: da beschränkte sich sein Orakel auf Privatanliegen, und nachdem Nero den Apollotempel um den letzten Rest seiner Schätze beraubt hatte und der erloschene Glaube an des Gottes Macht die Priester hungern ließ – da verstummte er. Constantin endlich schleppte den goldenen Tripos nach Constantinopel und schmückte damit – eine Rennbahn! –

Von der ehemaligen Pracht Delphi’s, von der uns, von Homer bis Strabo, alle alten Schriftsteller so viel Wunderdinge erzählen, ist keine Spur mehr übrig. Nur die Scenen der Natur und eine Menge in des Parnaß Felsenmauer gehauene Grabmäler bezeichnen noch Delphi’s Stätte, auf der ein kleines, schlechtes Dörfchen, Castri, liegt, das Hirten bewohnen.

Von dem Ort, wo Apoll’s berühmtes Heiligthum gestanden, gibt der Stahlstich eine treue Ansicht. Die castalische Quelle ist noch so herrlich wie vor 3000 Jahren. Hoch aus dem Felsen entspringt sie, und stürzt als Kaskade in ein Bassin herab, dem einstigen Bade der Pythia. Die hohen Felswände sind glatt gearbeitet, und hie und da sieht man noch die ausgehauenen Nischen, in welche die Geschenke für den Gott niedergelegt wurden. Rechts erblickt man die Höhle, über welcher der Dreifuß gestanden; aber ihren engen Eingang betritt kein Gott mehr: – unsere profane Zeit hat ihn in einen Ziegenstall verwandelt.