Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Dritter Band | |
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Pythia genannt, die Eingebungen des Gottes, welche als begeisternde Dünste aufsteigen sollten, empfing und verkündigte. Diese Wahrsagerin war ein von den Priestern zu dem Blendwerk abgerichtetes, verrücktes Mädchen. Nachdem sich die arme Wahnsinnige zuvor im nahen castalischen Quell gebadet, dann mit Lorbeer bekränzt und unter Weihgesängen auf den mit Lorbeer geschmückten Dreifuß niedergelassen hatte, gerieth sie – nach einigen Minuten tiefen Schweigens – in den Zustand der Verzückung. Sie zitterte und aus ihrem Munde ertönte Klaggeschrei und langes Stöhnen. Diesem Zustande folgte völlige Raserei. Ihre Augen funkelten, der Mund schäumte, die Haare sträubten sich, handfeste Priester hielten die sich gräßlich Windende gewaltsam auf dem Dreifuß zurück: da endlich offenbarte sich der Gott, unter fürchterlichem Geheul, durch einzelne Worte und Sylben, welche die Priester mit Sorgfalt und Ehrfurcht auffaßten, ordneten und schriftlich den Fragenden überlieferten. Anfangs waren die Sprüche in Versen; später begnügte sich der Gott, sie in Prosa zu ertheilen. So toller, ekelhafter Spuk einer Betrügerrotte dauerte 1500 Jahre, und das verrückte Werkzeug der Priesterarglist empfing die ehrfurchtvollsten Huldigungen und die reichsten Geschenke der Abgesandten aller griechischen Staaten nicht nur, sondern auch die aller Mächtigen und Könige der alten Welt. Mehr als einmal bestimmten die Antworten der Pythia das Schicksal ganzer Reiche, und ihre Wirksamkeit auf Griechenland, als ein gemeinschaftliches Band der Nation und als Stütze der Regierung, während so langen Zeitraums war unermeßlich. –
Als die Nationalregierungen aufhörten, oder nur Schattenspiele waren ohne Ansehen und ohne Macht im Volke, als die weltbeherrschenden Machthaber in Griechenland den Beifall des Gottes nicht mehr nöthig hatten, und seine Mißbilligung ungnädig würden aufgenommen haben: da beschränkte sich sein Orakel auf Privatanliegen, und nachdem Nero den Apollotempel um den letzten Rest seiner Schätze beraubt hatte und der erloschene Glaube an des Gottes Macht die Priester hungern ließ – da verstummte er. Constantin endlich schleppte den goldenen Tripos nach Constantinopel und schmückte damit – eine Rennbahn! –
Von der ehemaligen Pracht Delphi’s, von der uns, von Homer bis Strabo, alle alten Schriftsteller so viel Wunderdinge erzählen, ist keine Spur mehr übrig. Nur die Scenen der Natur und eine Menge in des Parnaß Felsenmauer gehauene Grabmäler bezeichnen noch Delphi’s Stätte, auf der ein kleines, schlechtes Dörfchen, Castri, liegt, das Hirten bewohnen.
Von dem Ort, wo Apoll’s berühmtes Heiligthum gestanden, gibt der Stahlstich eine treue Ansicht. Die castalische Quelle ist noch so herrlich wie vor 3000 Jahren. Hoch aus dem Felsen entspringt sie, und stürzt als Kaskade in ein Bassin herab, dem einstigen Bade der Pythia. Die hohen Felswände sind glatt gearbeitet, und hie und da sieht man noch die ausgehauenen Nischen, in welche die Geschenke für den Gott niedergelegt wurden. Rechts erblickt man die Höhle, über welcher der Dreifuß gestanden; aber ihren engen Eingang betritt kein Gott mehr: – unsere profane Zeit hat ihn in einen Ziegenstall verwandelt.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Dritter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam und New York 1836, Seite 135. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_3._Band_1836.djvu/145&oldid=- (Version vom 4.8.2024)