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ihren Privatanliegen die unwandelbaren ewigen Gesetze der Natur verändern, und dienstbare Geister um dich her versammeln, mit dem Berufe, dir durch geheime Zeichen deine Zukunft anzudeuten? – Genug, diese sonderbare Schwäche der Menschenmehrzahl, die zu allen Zeiten geblüht hat, wurde früh schon von schlauen Betrügern als ein Umstand bemerkt, aus welchem große Vortheile zu ziehen wären. So entstand Ahnungs- (Zeichen-) Deuterei, und die Priester bemächtigten sich dieses Gewerbes, eifersüchtig alle geistige Gewalt in ihren Händen zu vereinigen, und trieben es als Monopol. Die weltlichen Gewalten, befreundet mit den Priestern, sahen in demselben ein wirksames Mittel zur Leitung der Völker. Alles, was Dummheit und Aberglauben verbreitete, immer gern begünstigend, nahmen sie die Zeichendeuter in ihren Schutz und beförderten durch ihr eigen Beispiel den Glauben an die „heilige Kunst,“ aus Träumen, Ahnungen, Zeichen, den Constellationen, aus den Eingeweiden der Opferthiere, dem Fluge der Vögel etc. etc. die Zukunft zu verkündigen. – Mit diesem Gewerbe des Betrugs hing das auf gleichem Grunde ruhende Institut des eigentlichen Orakels auf das genaueste zusammen. Gewöhnlich wurden Orakel – Orte, wo man auf bestimmte Fragen von den Dollmetschern der Gottheit offenbarende Antworten erhielt, – an Plätzen gegründet, wo entweder Schrecken der Natur, oder auf Sagen gestützte heilige Erinnerungen das Gemüth zu gläubiger Andacht stimmten. Die Priester waren klug genug, bevor sie ihren Gott sprechen ließen, den Fragenden über alle Umstände auszuforschen, die eine vernünftige Muthmaßung über sein künftiges Schicksal begründen konnten; und sie waren welterfahren genug, um aus den jedesmaligen Verhältnissen der Staaten und dem Charakter ihrer Machthaber wahrscheinliche Schlüsse auf die kommenden Ereignisse zu ziehen. Traf das Orakel zu, so wurde es zur Ehre des Gottes laut durch die Welt verkündigt; schlug’s fehl, blieb’s sorgfältig verschwiegen. Auch waren die Antworten stets so abgefaßt, daß immer eine andere, oft die entgegengesetzte, Auslegung des Spruchs möglich blieb, und daß, wie auch der Würfel fiel, eine wahre Vorhersagung ganz gut herausgedeutelt werden konnte. Gesetzgeber, Feldherren und Könige ehrten die Orakel, weil sie ihnen ein wirksames Beförderungsmittel ihrer Plane waren; denn oft, wo Vernunftgründe und Gewalt nicht durchdrangen, da schlug der Ausspruch des Gottes den Widerstand nieder.

Es gab Orakel, die nicht bei einem Volke blos, sondern in der ganzen damals bekannten Welt in Ansehen standen. Die urältesten und berühmtesten waren die des Jupiter-Ammon in der libyschen Wüste, und das zu Dodona, gleichfalls ägyptischer Gründung. Jünger, aber nicht weniger berühmt, war das von Delphi in Griechenland, am südlichen Fuße des Parnaß. Der Ort, wo die Sprüche desselben ertheilt wurden, war eine Höhle in einer engen Felsschlucht, unfern vom großen Tempel des Apollo; an derselben Stelle, wo einst der Gott den Drachen Python, wie die Mythe erzählt, getödtet hatte. Die Höhle hieß Pytheion. Ihre Entdeckung schreibt die Sage einem Hirten zu, der am Abhange des Parnaß weidete, und, als er an ihrem Eingang ausruhete, in prophetische Begeisterung gerieth; vermuthlich ein Taschenspielerstückchen der Apollo-Priester. Diese bauten durch lange Säulenhallen das neue Heiligthum in das alte ein, und stellten über die Höhle den goldenen Dreifuß, auf welchem die Priesterin,