David Hilbert Gesammelte Abhandlungen Erster Band – Zahlentheorie/Kapitel 7
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Die Zahlentheorie gehört zu den ältesten Zweigen mathematischen Wissens, und es wurde der menschliche Geist sogar auf tief liegende Eigenschaften der natürlichen Zahlen frühzeitig aufmerksam. Doch als selbständige und systematische Wissenschaft ist sie durchaus ein Werk der neueren Zeit.
An der Zahlentheorie werden von jeher die Einfachheit ihrer Grundlagen, die Genauigkeit ihrer Begriffe und die Reinheit ihrer Wahrheiten gerühmt; ihr kommen diese Eigenschaften von Hause aus zu, während andere mathematische Wissenszweige erst eine mehr oder minder lange Entwicklung haben durchmachen müssen, bis die Forderungen der Sicherheit in den Begriffen und der Strenge in den Beweisen überall erfüllt worden sind.
Es nimmt uns daher die hohe Begeisterung nicht wunder, von der zu allen Zeiten die Jünger dieser Wissenschaft beseelt gewesen sind. „Fast alle Mathematiker, die sich mit der Zahlentheorie beschäftigen“, so sagt Legendre, indem er Eulers Liebe zur Zahlentheorie schildert, „geben sich ihr mit einer gewissen Leidenschaft hin“. Weiter erinnern wir uns, welche Verehrung unser Meister Gauss für die arithmetische Wissenschaft empfand, wie, als ihm zuerst der Beweis einer ausgezeichneten arithmetischen Wahrheit nach Wunsch gelungen war, „ihn die Reize dieser Untersuchungen so umstrickten, daß er sie nicht mehr lassen konnte“, und wie er Fermat, Euler, Lagrange und Legendre als „Männer von unvergleichlichem Ruhme“ preist, weil sie „den Zugang zu dem Heiligtume dieser göttlichen Wissenschaft erschlossen und gezeigt haben, von wie großen Reichtümern es erfüllt ist“.
Eine besondere Eigentümlichkeit der Zahlentheorie bildet die oft entgegentretende Schwierigkeit der Beweise einfacher und durch Induktion leicht entdeckter Wahrheiten. „Gerade dieses ist es“, sagt Gauss, „was der höheren Arithmetik jenen zauberischen Reiz gibt, der sie zur Lieblingswissenschaft der ersten Geometer gemacht hat, ihres unerschöpflichen Reichtums nicht zu gedenken, woran sie alle anderen Teile der Mathematik so weit übertrifft.“ Bekannt ist auch Lejeune Dirichlets Vorliebe für die Arithmetik; Kummers wissenschaftliche Tätigkeit war weitaus in erster Linie der Zahlentheorie geweiht, und Kronecker gab dem Empfinden seines mathematischen Herzens Ausdruck durch die Worte: „Die ganze Zahl schuf der liebe Gott, alles übrige ist Menschenwerk.“
In Anbetracht der Schlichtheit ihrer Voraussetzungen ist sicher die Zahlentheorie der Wissenszweig der Mathematik, dessen Wahrheiten am leichtesten zu begreifen sind. Aber die arithmetischen Begriffe und Beweismethoden erfordern zu ihrer Auffassung und völligen Beherrschung einen hohen Grad von Abstraktionsfähigkeit des Verstandes, und dieser Umstand wird bisweilen als ein Vorwurf gegen die Arithmetik geltend gemacht. Ich bin der Meinung, daß alle die anderen Wissensgebiete der Mathematik wenigstens einen gleich hohen Grad von Abstraktionsfähigkeit des Verstandes verlangen – vorausgesetzt, daß man auch in diesen Gebieten die Grundlagen überall mit derjenigen Strenge und Vollständigkeit zur Untersuchung zieht, welche tatsächlich notwendig ist.
Was die Stellung der Zahlentheorie innerhalb der gesamten mathematischen Wissenschaft betrifft, so faßt Gauss in der Vorrede zu den Disquisitiones arithmeticae die Zahlentheorie noch lediglich als eine Theorie der ganzen natürlichen Zahlen auf mit ausdrücklicher Ausschließung aller imaginären Zahlen. Dementsprechend rechnet er die Kreisteilung an und für sich nicht zur Zahlentheorie, fügt aber hinzu, daß „ihre Prinzipien einzig und allein aus der höheren Arithmetik geschöpft werden“. Neben Gauss geben auch Jacobi und Lejeune Dirichlet wiederholt und nachdrücklich ihrer Verwunderung Ausdruck über den engen Zusammenhang zahlentheoretischer Fragen mit algebraischen Problemen, insbesondere mit dem Problem der Kreisteilung. Der innere Grund für diesen Zusammenhang ist heute völlig aufgedeckt. Die Theorie der algebraischen Zahlen und die Galoissche Gleichungstheorie haben nämlich in der allgemeinen Theorie der algebraischen Körper ihre gemeinsame Wurzel, und die Theorie der Zahlkörper insbesondere ist zugleich der wesentlichste Bestandteil der modernen Zahlentheorie geworden.
Das Verdienst, den ersten Keim für die Theorie der Zahlkörper gelegt zu haben, gebührt wiederum Gauss. Gauss erkannte die natürliche Quelle für die Gesetze der biquadratischen Reste in einer „Erweiterung des Feldes der Arithmetik“, wie er sagt, nämlich in der Einführung der ganzen imaginären Zahlen von der Form ; er stellte und löste das Problem, alle Sätze der gewöhnlichen Zahlentheorie vor allem die Teilbarkeitseigenschaften und die Kongruenzbeziehungem, auf jene ganzen imaginären Zahlen zu übertragen. Durch die systematische und allgemeine Fortentwickelung dieses Gedankens, auf Grund der neuen weittragenden Ideen Kummers, gelangten später Dedekind und Kronecker zu der heutigen Theorie des algebraischen Zahlkörpers.
Aber nicht nur mit der Algebra, sondern auch mit der Funktionstheorie steht die Zahlentheorie in innigster wechselseitiger Beziehung. Wir erinnern an die zahlreichen und merkwürdigen Analogien, welche zwischen gewissen Tatsachen aus der Theorie der Zahlkörper und aus der Theorie der algebraischen Funktionen einer Veränderlichen bestehen, ferner an die tiefsinnigen Untersuchungen von Riemann, durch welche die Beantwortung der Frage nach der Häufigkeit der Primzahlen von der Kenntnis der Nullstellen einer gewissen analytischen Funktion abhängig gemacht wird. Auch die Transzendenz der Zahlen und ist eine arithmetische Eigenschaft einer analytischen Funktion, nämlich der Exponentialfunktion. Endlich ruht die so wichtige und weittragende, von Lejeune Dirichlet ersonnene Methode zur Bestimmung der Klassenanzahl eines Zahlkörpers auf analytischer Grundlage.
Am tiefsten aber berühren die periodischen Funktionen und gewisse Funktionen mit linearen Transformationen in sich das Wesen der Zahl: so ist die Exponentialfunktion als die Invariante der ganzen rationalen Zahl aufzufassen, insofern sie die Grundlösung der Funktionalgleichung darstellt. Ferner hatte schon Jacobi den engen Zusammenhang zwischen der Theorie der elliptischen Funktionen und der Theorie der quadratischen Irrationalitäten empfunden; er gibt sogar der Vermutung Raum, daß bei Gauss der oben erwähnte Gedanke der Einführung der ganzen imaginären Zahlen von der Form nicht auf rein arithmetischem Boden erwachsen ist, sondern durch Gauss’ gleichzeitige Untersuchungen über die lemniskatischen Funktionen und deren komplexe Multiplikation mitbedingt wurde. Es sind die elliptische Funktion für geeignete Werte ihrer Perioden und die elliptische Modulfunktion jedesmal die Invariante der ganzen Zahl eines bestimmten imaginären quadratischen Zahlkörpers. Diese als Invarianten bezeichneten Funktionen vermögen für die bezüglichen Zahlkörper gewisse tiefliegende und schwierige Probleme zur Lösung zu bringen, und umgekehrt verdankt die Theorie der elliptischen Funktionen dieser arithmetischen Auffassung und Anwendung einen neuen Aufschwung.
So sehen wir, wie die Arithmetik, die „Königin“ der mathematischen Wissenschaft, weite algebraische und funktionentheoretische Gebiete erobert und in ihnen die Führerrolle übernimmt. Daß dies aber nicht früher und nicht bereits in noch höherem Maße geschehen ist, scheint mir daran zu liegen, daß die Zahlentheorie erst in neuester Zeit in ihr reiferes Alter getreten ist. Sogar noch Gauss klagt über die unverhältnismäßig großen Anstrengungen, die ihn die Bestimmung eines Wurzelzeichens in der Zahlentheorie gekostet: es habe ihn „manches andere wohl nicht so viel Tage aufgehalten, als dieses Jahre“, und dann auf einmal, „wie der Blitz einschlägt“, habe sich „das Rätsel gelöset“. An Stelle eines solchen für das früheste Alter einer Wissenschaft charakteristischen, sprunghaften Fortschrittes ist heute durch den systematischen Aufbau der Theorie der Zahlkörper eine sichere und stetige Entwickelung getreten.
Es kommt endlich hinzu, daß, wenn ich nicht irre, überhaupt die moderne Entwicklung der reinen Mathematik vornehmlich unter dem Zeichen der Zahl geschieht: Dedekind und Weierstrass’ Definitionen der arithmetischen Grundbegriffe und Cantors allgemeine Zahlgebilde führen zu einer Arithmetisierung der Funktionentheorie und dienen zur Durchführung des Prinzips, daß auch in der Funktionentheorie eine Tatsache erst dann als bewiesen gilt, wenn sie in letzter Instanz auf Beziehungen für ganze rationale Zahlen zurückgeführt worden ist. Die Arithmetisierung der Geometrie vollzieht sich durch die modernen Untersuchungen über Nicht-Euklidische Geometrie, in denen es sich um einen streng logischen Aufbau derselben und um die möglichst direkte und völlig einwandfreie Einführung der Zahl in die Geometrie handelt.
Der Zweck des vorliegenden Berichtes ist es, die Tatsachen aus der Theorie der algebraischen Zahlkörper mit ihren Beweisgründen in logischer Entwickelung und nach einheitlichen Gesichtspunkten darzustellen und so mitzuwirken, daß der Zeitpunkt näher komme, wo die Errungenschaften unserer großen Klassiker der Zahlentheorie Gemeingut aller Mathematiker geworden sind. Historische Erörterungen oder gar Prioritätsuntersuchungen sind ganz vermieden worden. Um die Darstellung auf einem verhältnismäßig so kleinen Raum zu ermöglichen, habe ich mich bemüht, überall den ergiebigsten Quellen nachzuspüren, und ich gab, wenn eine Auswahl sich bot, allemal den schärferen und weiter tragenden Hilfsmitteln den Vorzug. Die Frage, welcher von mehreren Beweisen der einfachste und naturgemäßeste ist, läßt sich meist nicht an sich entscheiden, sondern erst die Erwägung, ob die dabei zugrunde gelegten Prinzipien der Verallgemeinerung fähig und zur Weiterforschung brauchbar sind, gibt uns eine sichere Antwort.
Der erste Teil des Berichtes behandelt die allgemeine Theorie der algebraischen Zahlkörper; diese Theorie erscheint uns als ein mächtiger Bau, getragen von drei Grundpfeilern: dem Satze von der eindeutigen Zerlegung in Primideale, dem Satze von der Existenz der Einheiten und dem Satze von der transzendenten Bestimmung der Klassenanzahl. Der zweite Teil enthält die Theorie des Galoisschen Zahlkörper, in der auch umgekehrt die Gesetze der allgemeinen Körpertheorie enthalten sind. Der dritte Teil ist dem klassischen Beispiel des quadratischen Körpers gewidmet. Der vierte Teil behandelt den Kreiskörper. Der fünfte Teil endlich entwickelt die Theorie desjenigen Körpers, den Kummer bei seinen Untersuchungen über höhere Reziprozitätsgesetze zugrunde gelegt hat, und den ich deshalb nach diesem Mathematiker benannt habe. Es ist die Theorie dieses Kummerschen Körpers offenbar auf der Höhe des heutigen arithmetischen Wissens die äußerste erreichte Spitze, und man übersieht von ihr aus in weitem Rundblick das ganze durchforschte Gebiet, da fast jeder wesentliche Gedanke und Begriff aus der Körpertheorie, zum wenigsten in spezieller Fassung, bei dem Beweise der höheren Reziprozitätsgesetze seine Anwendung findet. Ich habe versucht, den großen rechnerischen Apparat von Kummer zu vermeiden, damit auch hier der Grundsatz von Riemann verwirklicht würde, demzufolge man die Beweise nicht durch Rechnung, sondern lediglich durch Gedanken zwingen soll.
Die im dritten, vierten und fünften Teile behandelten Theorien sind sämtlich Theorien besonderer Abelscher oder relativ-Abelscher Körper. Ein weiteres Beispiel für eine solche Theorie ist die komplexe Multiplikation der elliptischen Funktionen, indem wir diese als eine Theorie derjenigen Zahlkörper auffassen, welche in bezug auf einen gegebenen imaginären quadratischen Körper relativ-Abelsche sind. Die Untersuchungen über die komplexe Multiplikation der elliptischen Funktionen mußten jedoch von der Aufnahme in den vorliegenden Bericht ausgeschlossen werden, weil die Tatsachen dieser Theorie noch nicht bis zu dem Grade der Einfachheit und Vollständigkeit ausgearbeitet sind, daß eine befriedigende Darstellung derselben gegenwärtig möglich ist.
Die Theorie der Zahlkörper ist wie ein Bauwerk von Wunderbarer Schönheit und Harmonie; als der am reichsten ausgestattete Teil dieses Bauwerkes erscheint mir die Theorie der Abelschen und relativ-Abelschen Körper, die uns Kummer durch seine Arbeiten über die höheren Reziprozitätsgesetze und Kronecker durch seine Untersuchungen über die komplexe Multiplikation der elliptischen Funktionen erschlossen haben. Die tiefen Einblicke, welche die Arbeiten dieser beiden Mathematiker in die genannte Theorie gewähren, zeigen uns zugleich, daß in diesem Wissensgebiete eine Fülle der kostbarsten Schätze noch verborgen liegt, winkend als reicher Lohn dem Forscher, der den Wert solcher Schätze kennt und die Kunst, sie zu gewinnen, mit Liebe betreibt.
Die erwähnten fünf Teile des Berichtes gliedern sich in Kapitel und Paragraphen, und in diesen schreitet die Entwickelung in der Weise fort, daß allemal die Sätze und Hilfssätze voranstehen und dann ihre Beweise folgen. Ich denke mir den Leser wie einen Reisenden: die Hilfssätze sind Haltestellen, die Sätze sind größere Stationen, im voraus bezeichnet, damit an ihnen das Auffassungsvermögen ausruhen kann. Diejenigen Sätze, die wegen ihrer prinzipiellen Bedeutung an sich Hauptziele sind, oder die als Ausgangspunkte zu weiterem Vordringen in noch unentdecktes Land hervorragend geeignet erscheinen, sind durch kursiven Druck ausgezeichnet; es sind dies die Sätze: 7 (S. 75), 31 (S. 85), 40 (S. 97), 44 (S. 100), 45 (S. 100), 47 (S. 102), 56 (S. 116), 82 (S. 142), 94 (S. 155), 100 (S. 168), 101 (S. 169), 131 (S. 206), 143 (S. 240), 144 (S. 242), 150 (S. 257), 158 (295), 159 (S. 302), 161 (S. 312), 164 (S. 329), 166 (S. 332), 167 (S. 332).
Wegen des genauen Inhaltes und der zur Erhöhung der Übersicht getroffenen Einrichtungen verweise ich auf die Verzeichnisse S. III–S. XII und S. 356–S. 363; vor allem möchte ich hier auf das ganz an den Schluß gestellte Verzeichnis der im Berichte vorkommenden Begriffsnamen aufmerksam machen[1].
Mein Freund Hermann Minkowski hat die Korrekturbogen dieses Berichtes einer sorgfältigen Durchsicht unterworfen und auch den größten Teil des Manuskripts gelesen. Wesentliche und mannigfache Verbesserungen formaler und sachlicher Art erfolgten auf seine Anregung hin, und ich spreche ihm für diese Hilfe meinen herzlichsten Dank aus.
Mein Dank gilt auch meiner Frau, die das ganze Manuskript geschrieben und die Verzeichnisse angefertigt hat.
Endlich gebührt der Redaktionskommission der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, insbesondere Herrn A. Gutzmer, für die Durchsicht der Korrekturbogen und der Verlagsbuchhandlung Georg Reimer für ihr weitgehendes Entgegenkommen bei Herstellung des Satzes meine dankbare Anerkennung.
- Göttingen, den 10. April 1897.
- ↑ Dieses Verzeichnis ist unter Einbeziehung der übrigen Arbeiten dieses Bandes erweitert und an das Ende des Bandes gesetzt worden.
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