Das kirchliche Leben Dresdens im Jahrhundert der Orthodoxie

Glückwunsch des Rathes zu Dresden zur Thronbesteigung Kurfürst Christians I. Das kirchliche Leben Dresdens im Jahrhundert der Orthodoxie (1901) von Paul Flade
Erschienen in: Dresdner Geschichtsblätter Band 3 (1901 bis 1904)
Aus Julius Schnorrs Tagebüchern. Teil 18
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Das kirchliche Leben Dresdens im Jahrhundert der Orthodoxie.
Vortrag von Pfarrer Lic. theol. Paul Flade.

Das 17. Jahrhundert ist das Jahrhundert des 30jährigen Krieges, dieses unseligsten und thränenreichsten aller Kriege, die je Deutschland zerrissen. Durch ihn ward die Weltmachtstellung des deutschen Kaiserthums auf Jahrhunderte hinaus gebrochen, ihm freilich verdankt Deutschland andererseits seine Geistes und Religionsfreiheit. In der Kirche herrschte im 17. Jahrhundert die Orthodoxie, d. i. eine strenge Rechtgläubigkeit, die gegenüber der Betonung der rechten Lehre die Bewährung und Verinnerlichung des kirchlichen Lebens theilweise versäumte, die Orthodoxie, die aber andererseits von der Wahrheit der lutherischen Lehre felfenfest überzeugt war und es vermocht hat, auch das ganze Volk mit derselben unerschütterlichen Ueberzeugung zu erfüllen. Schauen wir in diesem Jahrhundert der Orthodoxie auf das kirchliche Leben unserer Residenz, dieser viel thürmigen, starken, auch im 30 jährigen Kriege nicht eroberten Festung Dresden, deren damaligen Umfang der Kern von Alt- und Neustadt heute noch zeigt und deren Aeußeres uns aus Bildern, sonderlich auch aus deren Zusammenfassung in Richters Atlas zur Genüge bekannt ist.

Vielthürmig ist das damalige Dresden und schon damals geben die Kirchen dem ganzen Stadtbild das Gepräge. Die geringen Befestigungen und niedrigen Häuser von Altendresden, der heutigen Neustadt, überragt die schon aus dem 15. Jahrhundert stammende schindelgedeckte älteste Dreikönigskirche; höher noch erscheint über den wenigen Häusern der Fischersdorfer und Poppiter Gemeinde die Annenkirche mit dem 1619 erbauten spitzen Thurm. In der eigentlichen Festung aber tritt neben dem hohen Dach der Kirche des alten Franziskanerklosters und neben der ziemlich nichts sagenden alten Frauenkirche, der ältesten Dresdner Kirche überhaupt, besonders die Kreuzkirche hervor. Breit und massig ist das Dach; das mächtige, die ganze Stirnseite der Kirche deckende Thurmhaus aber, das oben in drei verhältnismäßig kleine, aber außerordentlich spitze Thürme ausläuft und über der Glockenstube mit vier Feldschlangen bewehrt ist, macht geradezu den Eindruck eines Theils der Stadtbefestigung und ist für das ganze Stadtbild wesentlich bestimmend.

Viel mehr noch freilich, als so äußerlich im Stadtbild, tritt uns im geistigen Leben des damaligen Dresden der Alles überwiegende Einfluß der Kirche entgegen. Und es konnte dies schon deshalb nicht anders sein, weil Dresden ja die Residenz von Fürsten war, die sich als die durch die Geschichte dazu bestimmten Schirmherren des orthodoxen Lutherthums ansahen. Hier residirte Christian II., der die Ableistung eines Eides auf die Concordienformel allen öffentlichen Beamten zur Pflicht machte und der auf seinem Sterbebett den Lehrer des nachmaligen Johann Georg I. mahnte, diesen streng in der kirchlichen Rechtgläubigkeit zu erziehen: „Wenn ihr das thut“, sprach er, „wird es euch wohl ergehen, wo aber nicht, so hol euch der Teufel“. Hier in seinem prächtig erneuerten Schlosse wohnte Johann Georg I., dieser warmherzige Evangelische, der stets Luthers Siegelring am Finger trug, der den böhmischen Exulanten Aufnahme in Dresden gewährte und der 1617 und 1630 große Reformationsjubiläen veranstaltete, [34] dieser starre Lutheraner freilich anderseits, in dessen Mund „du Calvinist“ das ärgste Schimpfwort bedeutete und dessen ganze unselig schwankende Politik so sehr vom Haß gegen die Reformirten bestimmt war, daß er sogar in Osnabrück noch versuchte, diese von dem Schutz des Religionsfriedens auszuschließen. Wenn aber bei den Nachfolgern Johann Georgs I. die Abneigung gegen den Calvinismus zurücktrat und ihr Lebenswandel so wenig auf kirchliche Charakterfestigkeit schließen ließ, daß in Dresdens Bürgerschaft sich sogar Besorgnisse zu regen begannen, ob sie nicht etwa zur römischen Kirche über treten würden – äußerlich zeigten sich auch Johann Georg II., III. und IV. durchaus als treue Söhne ihrer Kirche, hielten sich zu den Gottesdiensten, feierten regelmäßig das heilige Abendmahl und wollten als Vertreter der Vormacht des lutherischen Glaubens auch angesehen werden. Da mußte denn, zumal in jener Zeit unbeschränktester fürstlicher Macht, das äußerliche Lutherthum des kurfürstlichen Hofes naturgemäß auch auf die nur 15 – 20 000 Seelen umfassende kleine Residenz den nachhaltigsten Einfluß ausüben, ganz abgesehen davon, daß der Kurfürst damals jeden in Dresden anzustellenden Geistlichen zu bestätigen hatte, und daß somit an sich von dem Eindringen eines anderen Geistes, als des vom Landesherrn begünstigten streng lutherischen nicht die Rede sein konnte.

Auch das persönliche Verhältniß der Fürsten zu der Geistlichkeit mußte dem Ansehen der orthodoxen Kirche förderlich sein. Zwar die Zeiten waren vorüber, wo Hofprediger Peucer Gevatter des Kurfürsten war und wo die Kurfürstin dem Hofprediger Kademann ein wildes Schwein zum Geschenk machte und darin einen Beutel Dukaten, so daß sich der Empfänger für das Schwein bedankte, „das so gute Würste gehabt“. Dafür aber trat Christian II. seinem Hofprediger Polycarp Leyser nur entblößten Hauptes gegenüber und auch persönliche Beziehungen der Fürsten zu den Geistlichen fehlten nicht. Noch 1675 betheiligte sich der Kurfürst mit seiner ganzen Familie an der feierlichen Amtseinführung des Superintendenten Bulaeus und an dem darauf in der Pfarre zugerichteten Festmahl und als Oberhofprediger Geyers Tochter Hochzeit hielt, wohnte Johann Georg II. und der Kurprinz der Hochzeit in dessen Hause bei. Bezeichnend aber für die Stellung, die die Fürsten des 17. Jahrhunderts der Geistlichkeit überhaupt zuwiesen, ist es, daß Hoe von Hoenegg, dem zu Liebe der Titel eines Oberhofpredigers eingeführt wurde, bei den Reisen Johann Georgs I. mit den Geheimen Räthen d. i. den ersten Staatsbeamten zusammen speiste und daß Weller von Molsdorf jederzeit unangemeldet zur Audienz kommen durfte. Und wenn zuerst der Oberhofprediger und später der Dresdner Superintendent Mitglied der Censurbehörde war, wenn der Oberhofprediger bis zur Mitte des Jahrhunderts über die Aufführungen der Kurfürstlichen Kapelle thatsächlich eine geistliche Aufsicht führte, ja wenn Hoe von Hoenegg sich sogar unterfangen durfte, seinem kurfürstlichen Herrn politische Rathschläge zu ertheilen, so sind das Beweise genug dafür, welch einen Einfluß die damaligen Fürsten den Dienern der Kirche einräumten.

Aber auch ohnedies war der Einfluß der Dresdner Geistlichkeit ein außerordentlicher. Schon durch ihre Gelehrsamkeit überragte sie nicht nur weitaus die Bevölkerung im Allgemeinen, die zumeist weder lesen noch schreiben konnte, sondern auch die wenigen Gebildeten. Führte doch die große Mehrzahl der Dresdner Geistlichen den Magistertitel, die Superintendenten und Hofprediger aber waren fast alle Doktoren der Theologie und theilweis wissenschaftliche Größen ersten Ranges. Vor allem aber waren die rechtgläubigen Geistlichen Dresdens Männer von Charakter. Sehen wir von einem römischen Renegaten in Altendresden ab und von dem eigennützigen Kirchenfürsten Hoe von Hoenegg, so besteht im Uebrigen die Dresdner Geistlichkeit aus Männern untadeliger Frömmigkeit und heiliger Glaubensbegeisterung. Um ihre Glaubensfreudigkeit zu erkennen, braucht man nur die Bekenntnisse zu lesen, die sie vor ihrem Ende ablegten. An Muth aber, für ihren Glauben einzutreten, hat es ihnen erst recht nicht gefehlt. Hier straft Superintendent Glaser auf der Kanzel die Sünden des Raths und als ein Rathsmitglied sich räuspert, ruft er: „Räusper dich, wie du wilt, noch dennoch ist es wahr und doch muß ich dirs sagen“. Dort eifert Stadtprediger Schmidt in der Frauenkirche gegen die gewaltsamen Werbungen des Feldmarschalls von Schöning. Hier stellt Derselbe am Taufstein eine Frau wegen ihrer schamlosen Tracht zur Rede, dort treten Leyser und Weller, Geier und Spener kühn mit Nathansworten ihren Fürsten gegenüber und nicht ein Dresdner Geistlicher findet sich, der der Neitschütz, der Maitresse Johann Georgs II., die Absolution ertheilt. Wahrlich den Führern der orthodoxen Kirchlichkeit Dresdens war ihr Glaube nicht eine todte Formel, sondern die Kraft ihres Lebens und Sterbens und das Kleinod ihres Herzens, und es ist selbstverständlich, daß solche Männer der Sache, die sie vertraten, auch Nachdruck verliehen.

Kinder ihrer Zeit sind die Geistlichen des 17. Jahrhunderts in Dresden freilich auch gewesen. Das zeigen sie vor Allem in ihrem Eifern wider alle Andersgläubigen. Der sonst äußerst zurückhaltende und liebenswürdige Leyser verneint mit aller Entschiedenheit die Frage: ob ein Landesherr mehr als einer Religion Verwandte in seinem Lande dulden solle. Der streitbare Hoe von Hoenegg bezeichnet den Papst als Antichrist und stellt in 99 Punkten die Calvinisten mit den Muhamedanern auf eine Stufe. Dem Hofprediger Jenisch wird in seiner Leichenpredigt besonders nachgerühmt, [35] daß er mit allen Ketzern, Papisten, Calvinisten, Wiedertäufern, Arianern und Schwarmgeistern wacker gekämpft habe und Superintendent Glaser erklärt noch auf dem Sterbebette seinen Abscheu gegen alle Ketzereien. Immerhin läßt sich nicht verkennen, daß im weiteren Verlauf des Jahrhunderts der streitbare Eifer gegen Andersgläubige allmählich erkaltete. So rühmt sich Carpzow, daß er alle Ursache zu Glaubensstreit vermieden habe und Weller erkannte, wie er sagt, daß statt der unfruchtbaren Streitigkeiten die theologia biblica wieder in die Kirche hineingebracht werden müsse; von einem Geier, der selbst von sich sagte, daß er, was er sei, durch Arndts wahres Christenthum geworden wäre, versteht sich von selbst, daß er unmöglich ein Orthodoxer der alten Schule sein konnte, und Speners bloßer Name genügt, den neuen Geist erkennen zu lassen, der am Ende des Jahrhunderts in Dresden einzuziehen begann und der auch bei Val. Löscher, dem letzten Ritter der Orthodoxie, trotz seines erbitterten Kampfes gegen die „Pietisten“ deutlich genug zu Tage tritt.

Blicken wir auf die Pflege des kirchlichen Lebens, so wurden damals der Gottesdienste in Dresden nicht weniger als 23 abgehalten „und kann jeder andächtige Christ jeden Sonntag von früh 5 Uhr bis 3 Uhr allein in Neudresden mit guter Bequemlichkeit 4 Predigten hören“. Was das Aeußere dieser Gottesdienste anlangt, so sei nur erwähnt, daß das ganze 17. Jahrhundert hindurch die Geistlichen beim Abendmahl noch prunkvolle bunte, gold- und silbergestickte Meßgewänder trugen, wie sich Reste von solchen in der Sophienkirche bis heute erhalten haben. Die Sophienkirche zeigt auch in verschiedenen Denkmälern und Reliefs, sowie in prächtigen heiligen Gefäßen aus dem 17. Jahrhundert, wie der Aufschwung der Kunst in der Renaissanceperiode auch der kirchlichen Kunst in Dresden insonderheit durch die Walthersche Schule und Nosseni zu Gute gekommen ist. Die Ordnung der Gottesdienste damals entsprach wesentlich der heutigen. Doch finden wir in der Stadt damals nicht eine, sondern in den 5 Kirchen 5 verschiedene Gottesdienstordnungen. Eine große Rolle spielte noch das Latein im Gottesdienst; zahlreich waren die lateinischen Lieder, die der Chor und besonders an den hohen Festen auch die Gemeinde zu singen hatte. Auch lasen die Geistlichen die Epistel und das Evangelium theilweis noch in lateinischer Sprache, nicht ohne daß freilich dies, wie der lateinische Kirchengesang, der Gemeinde verschiedentlich Anlaß zu Beschwerden gegeben hätte. Den Gemeindegesang jener Zeit dürfen wir uns im Allgemeinen insofern als erbaulich vorstellen, als die Gemeinde alle Lieder aus dem Gedächtniß anstimmte. Immerhin wird es bei dem fehlen eines Dresdner Gesangbuchs und der Verschiedenheit der anderwärts gedruckten unter einander im Bezug auf Text und Weise wohl öfter an der rechten Einmüthigkeit der Singenden gefehlt haben. Auch würde es uns jetzt schwerlich gefallen, wenn wir, wie es damals geschah, wieder anfangen wollten, auch die längsten Lieder glatt durch, ja oft 2 und 3 Lieder hinter einander zu singen. Im Uebrigen war Frau Musika in Dresden trefflich vertreten. Wirkte doch hier als Hofkapellmeister seit 1615 Heinrich Schütz, der größte Tonsetzer des 17. Jahrhunderts, der „Vater der deutschen Musik“. Leider wurde aber seine Musik von der Mitte des Jahrhunderts an nach und nach zumal in der Hofkapelle durch die der italienischen Hofkapellmeister verdrängt.

Gepredigt wurde im 17. Jahrhundert Sonntag früh jahraus, jahrein über die Evangelien, in den anderen Gottesdiensten dagegen meist fortlaufend über irgend ein biblisches Buch. So predigt Hofprediger Lucius in 200 Predigten über die Offenbarung Johannis, Stadtprediger Zimmermann 40 Jahre lang in 1500 Predigten über die Bücher Samuelis und der Superintendent Strauch schließt am 22. August 1635 die Auslegung des 1. Buchs Mose mit der 1130. Predigt. Konnte bei derartig fortlaufenden Predigten eine gewisse Ermüdung der Hörer nicht ausbleiben, so mußte diese Wirkung noch erhöht werden, wenn man wie Geier ein Jahr lang bei den verschiedenen Texten dasselbe Thema aufstellte. So predigte er 1666 bei allen Evangelien über „das sündliche Fleisch“, und zwar an den Adventssonntagen über das lüsterne, das sichere, das prächtige, das unvorsichtige Fleisch, an beiden Weihnachtstagen über das lauliche und eigenwillige, den folgenden Sonntag über das vergeßliche Fleisch u. s. f. 1667 war seine allsonntägliche Disposition: die erfüllte Zeit, das nahe Reich, die ernste Buße, der selige Glaube, und 1668 betrachtete er auf Grund von Matth. 3, 10 in jeder Predigt den Baum, die Frucht, den Hieb und den Brand.

Anderseits wieder suchten die Geistlichen vielfach durch besonders wirkungsvolle und eigenthümliche Dispositionen die Hörer zu fassen, wobei auch das Latein als Gelehrtensprache nicht fehlen durfte. Stadtprediger Schneider läßt eine Predigt drucken mit dem Titel: „Vivum viduitatis speculum d. i. lebendiger Witwenspiegel, in welchem gesehen wird der Witwe herzgebranntes Elend und der kräftige Trost Jesu Christi“. Desgleichen eine Jubelfestpredigt unter der Aufschrift: „Jehovah clypeus religionis Evangelico-Lutheranae cordituus aeternum flammigerans, d. i. hertzeschirmender ewigflammender evangelisch lutherischer Religions- und Glaubensschild“. Als Hofprediger Hänichen eingewiesen wird, ist der Text der „Hahnenschrei des Hohenpriesters“, und gleich geschmackvoll heißt es in seiner Leichenpredigt: „Obwohl sein Zuname etwas schwach und diminutive von Hahn, so hat doch dies Hänichen stark und helle gekrähet“. Aehnlich predigt Magister Seebisch bei der Glockenweihe [36] der Annenkirche über „die zwo silbernen Drommeten aus 4. Mose 10“. Paul Bohr giebt 1665 einen Band „dürre Linden oder Leichenreden und Gedichte, erstes Reisgebund“ heraus, Reden, deren Art erkennbar ist aus einer nach Prov. 9 einer Frau von Erdmannsdorf gehaltenen Leichenpredigt über das himmlische Bankett der Auserwählten: 1. die lieben Gäste, 2. der milde Gastherr, 3. das prächtige Gasthaus, 4. das stattliche Traktement, 5. die ewige Währe oder Folge.

In den Predigten selbst schritt die Sprache zumeist in unglaublichem Schwulst wie auf Stelzen daher und vor Allem brachten die damaligen Geistlichen ihre ganze Gelehrsamkeit mit auf die Kanzel und prunkten dort mit Philosophie, sowie lateinischer und griechischer, hebräischer und arabischer Wissenschaft. Beweisen uns das zur Genüge die erhaltenen Predigten und zahlreichen Leichenpredigten, so wird uns vom Stadtprediger Schneider sogar ausdrücklich berichtet, daß er selbst für seine Zeit „die Philologie allzustark traktieret“ habe. Die Folge davon war, daß die Meisten aus seinen Predigten wegblieben und viele im Scherze sagten, er habe alle seine Zuhörer aus der Kirche deklinirt. Glücklicherweise kann der Chronist aber weiter berichten, daß Schneider diesen Fehler später abgelegt hat, wie sich überhaupt gegen Ende des Jahrhunderts in Dresden, Wellers und Geiers Predigten besonders beweisen es, eine sichtliche Besserung im Bezug auf die Predigtweise nicht verkennen läßt. Dagegen haben die Geistlichen nicht aufgehört, übermäßig lang zu predigen. Und wie eine 7/4 stündige Festpredigt 1630 gar nichts Sonderliches war, so gelang es noch am Anfang des 18. Jahrhunderts trotz aller Verbote und Erinnerungen Löscher nicht, die Geistlichen zu bestimmen, sich auf eine Predigt von 1½ Stunde zu beschränken.

Daß der bekannte Kirchenschlaf, um deßwillen in der Mitte des Jahrhunderts der Klingelbeutel aufkam, unter diesen Umständen auch in Dresden nicht gefehlt hat, ist erklärlich und wiederholt bezeugt. Der Kirchenbesuch selbst aber war trotz der übermäßigen Länge der Gottesdienste und trotz der theilweisen Langweiligkeit der damaligen Predigten ausgezeichnet. Haben doch im Lauf des Jahrhunderts nicht weniger als 7 Emporen in den verschiedenen Kirchen Dresdens gebaut werden müssen, um bei der sich mehrenden Bevölkerung Raum für die Kirchgänger zu schaffen. Will man zwischen dem damaligen und dem heutigen Kirchenbesuch einen Vergleich ziehen, so entspricht die damalige Bevölkerungszahl der Stadt etwa der Seelenzahl der heutigen Dreikönigs- oder Matthäusgemeinde. Für diese 20 000 Menschen wurde damals in allen alten Dresdner Kirchen Gottesdienst gehalten und es reichten also diese fünf Kirchen für den damaligen Kirchenbesuch so wenig zu, daß man zu Emporenbauten schreiten mußte. In der Frauenkirche ward die Garnison sammt den Bewohnern der eingepfarrten 26 Dörfer sogar auf dem Kirchenboden untergebracht, weil sonst kein Raum da war. Dabei wurde die Kirchendecke mit Durchschnitten versehen, um den da oben Befindlichen wenigstens einige Theilnahme am Gottesdienste zu ermöglichen. Auf die Dauer stellte sich diese Einrichtung freilich doch als unzulänglich heraus und so pfarrte man denn 1674 eine Anzahl Dörfer aus der Frauenkirche aus und nach Leuben, Leubnitz und Plauen ein. Loschwitz und Wachwitz wurden 1706 zu eigenen Kirchspielen erhoben, und es beweisen uns diese ersten Dresdner Auspfarrungen ebenso, wie die 1680 erfolgte Erhebung der Annenkirche zur wirklichen Parochialkirche nicht nur, daß die Bevölkerung damals Gottes Wort hören wollte, sondern vor Allem auch, daß das vielverrufene Zeitalter der Orthodoxie viel mehr Verständniß für kirchliche Nothstände besessen hat, als man glaubt, viel mehr auch als die anderthalb Jahrhunderte, die auf das sogenannte todtrechtgläubige folgten.

Außer durch zahlreiche Gottesdienste suchte die Kirche das kirchliche Leben durch Kirchenvisitationen zu heben, die freilich im Gegensatz zum Jahrhundert der Reformation nur recht selten und auf besondere Veranlassung hin vorgenommen wurden. Auch zeigen die Protokolle der Dresdner Visitationen von 1602, 1625 und 1672, daß sie erfolgreich nur insofern waren, als sie das gottesdienstliche Leben in der Residenz einheitlich ordneten. Dagegen erwiesen sie sich als ziemlich fruchtlos, sofern sie die aus dem 16. Jahrhundert übernommene Kirchenzucht aufrecht zu erhalten suchten. Zwar 1600 mußte Hans Blaser, der nicht zum Sakrament gegangen, öffentlich Buße thun und 1618 büßte in Altendresden ein Paar, das erst in der 18. Woche taufen ließ, öffentlich am Altar knieend diesen Verstoß gegen die kirchliche Ordnung. Dies aber sind auch die letzten Zeugnisse von in Dresden geübter Kirchenbuße. Dagegen hat allerdings die weltliche Obrigkeit fast das ganze Jahrhundert hindurch das kirchliche Leben durch Zuchtmaßregeln zu heben und fördern gesucht. So sorgt der Rath 1625 dafür, daß die Wirthe den Kindtaufsgästen nicht zuviel zu trinken geben, er verbietet während der Gottesdienste in der Annenkirche das Waschen in der Weißeritz und läßt bei der Kreuzkirche Ketten über die Straße ziehen, um das Vorüberfahren von Wagen zu hindern. Der Rath weist noch 1644 Frauen wegen Unsittlichkeit aus und erhebt bei vorehelichen Geburten 5 Thaler Strafgeld, der Rath ist es auch, der sich gegen das Eindringen der Katholiken entschieden wehrt und der dem Häuflein der Reformirten, die sich seit 1685 in Dresden niedergelassen hatten, allerlei Schwierigkeiten bereitet. Erachtete es doch bei dem damals herrschenden Staatskirchenthum die Obrigkeit einfach als ihre Pflicht, Sittlichkeit und Religion, d. h. natürlich die herrschende Staatsreligion, zu schützen.

[37] Zeigen uns jene kirchlichen Zuchtmaßregeln, zumal in ihrer Verquickung mit staatlichen, eine Verkennung des Wesens der Kirche, so tritt andrerseits verschiedentlich auch die Ohnmacht der Kirche klar zu Tage, wo es sich um deren sittliche Aufgaben handelt. So ist sie trotz aller Predigten völlig machtlos gegen die immer mehr überhandnehmende Völlerei und die Entartung des Luxus. Ebenso schwindet gerade im 17. Jahrhundert immer mehr die strenge Sittlichkeit der reformatorischen Zeit. Noch 1602 hatte, als eine Wittwe dem zweiten Kinde das Leben schenkte, die Gemeinde selbst ihre Vertreibung aus der Stadt gefordert; allmählich aber und zumal im 30jährigen Kriege stumpfte sich das sittliche Gefühl gegenüber der wachsenden Zahl unehelicher Kinder immer mehr ab. Und ob man die Ursache der Unsittlichkeit wie der Altendresdner Diakonus 1671 in dem Treiben der Soldateska oder wie der Rath 1669 in dem Ammenwesen der hohen Herren suchte, vergeblich blieb jedenfalls das Bemühen, sie durch Predigt, kirchliche und weltliche Zuchtmaßregeln zu bekämpfen, vergeblich erst recht, seit das Beispiel des Hofes wie Gift auf das Volksleben wirkte und es der Kirche nicht gelang, das offenkundige Verhältniß Johann Georgs IV. zur Neitschütz irgend zu stören.

Das mangelnde innere Leben der damaligen Kirche aber tritt uns vor Allem entgegen, wenn wir einen Blick auf die Liebesthätigkeit des 17. Jahrhunderts werfen. Natürlich haben die zahllosen Bettler des 30 jährigen Krieges auch aus Kirchenmitteln Unterstützung gefunden und auch Stiftungen für die Gotteshäuser sind zumal nach dem Brand des Kreuzthurmes und der Zerstörung der Altendresdner Kirche durch das Feuer von 1685 verschiedentlich gemacht worden. Im Uebrigen aber ist von einer geordneten kirchlichen Liebesthätigkeit damals so wenig die Rede, daß die Armenversorgung vielmehr sogar immer völliger in die Hände des Raths überging. Oeffentliche Ordnungen waren die Dresdner Bettel- und Almosenordnungen von 1626 und 1656 und wenn auch die für die Armen bestimmten Naturalien noch 1656 in den Gewölben der Kreuzkirche aufbewahrt und bis 1684 unter Mitbetheiligung des Pfarrers beim Almosenhaus an der Johanniskirche ausgetheilt wurden, so spielte doch die Kirche bei der Verwaltung des Almosenkastens thatsächlich nur eine ganz nebensächliche Rolle. Sie hatte eben über dem Eifern um den Glauben und seine Lehre die Liebe vergessen und die Geistlichkeit war durch ihre Predigtthätigkeit und Krankenseelsorge so in Anspruch genommen, daß sie für Pflege kirchlicher Liebe überhaupt keine Zeit fand. So ist denn auch die Entstehung des Findelhauses und 1685 die Gründung unseres Waisenhauses auf Anregung der städtischen Obrigkeit und durch diese, aber ohne Betheiligung der Kirche erfolgt.

Andrerseits, die Glaubenslehre hat die Kirche der Orthodoxie allerdings auf das treueste gepflegt und hat sie durch unablässige Predigt und besonders auch durch treue Seelsorge an den Kranken thatsächlich dem Volke tief ins Herz geprägt. In welchem Maße die Kirche Dresdens im 17. Jahrhundert überhaupt das ganze öffentliche Denken beherrschte, zeigt uns die Dramatik der Zeit und auch ein Theil der damaligen schönen Literatur. Die Stücke, welche die Kreuzschüler aufführen, behandeln zumeist biblische Stoffe; auch am Hofe werden bis zur Mitte des Jahrhunderts wiederholt noch geistliche Komödien zur Darstellung gebracht. So recht einen Blick in die Anschauungen der Zeit aber thun wir in einem 1666 in Dresden erschienenen Theaterstück des gekrönten Poeten Joh. Jos. Bekh: „der Schauplatz des Gewissens“. Es handelt von der Bekehrung eines Weltkindes, den größten Raum aber nimmt ein theologischer Streit zwischen dem Helden und je einem römischen, calvinistischen und lutherischen Priester ein. Was für einen Reiz mußten theologische Fragen damals auf die Gemüther ausüben, daß solche Schauspiele überhaupt erscheinen konnten! Dasselbe erkennen wir aus den „Christlichen Unterredungen“ des hiesigen Bürgermeisters Brehme, einem Werk von drei Bänden, das in endlosen Wechselgesprächen sich ausschließlich mit allerlei religiösen und kirchlichen Fragen befaßt und das für die damals verbreitete erbauliche Unterhaltungsliteratur bezeichnend ist. Die Zeit war eben durchaus kirchlich beeinflußt und wenn man auch, wie Bekhs Schauspiel im Einzelnen zeigt, sich von der orthodox-lehrhaften Haarspalterei innerlich abgewendet hatte, gegen Papisten und Calvinisten trug man doch noch einen rechtschaffenen Haß im Herzen. Deutlich tritt uns die Abneigung zumal gegen die Calvinisten auch in den Reisetagebüchern der Altendresdner Bürger entgegen, die nach dem großen Stadtbrand 1685 ganz Deutschland Almosen sammelnd durchzogen, nicht minder in zahlreichen Eingaben der Bürgerschaft gegen das Ueberhandnehmen des Katholicismus und das Eindringen Reformirter.

Doch hat die Kirche nicht nur Abneigung gegen Andersgläubige gesäet, sondern auch warme Liebe für den evangelischen Glauben. In dieser ihrer Liebe zum Lutherthum sah Dresdens Bürgerschaft in der Niederlage von Wittstock die Vergeltung für das Judaswerk des Prager Friedens und so groß war damals die Erregung in der Residenz, daß Johann Georg I. sich genöthigt sah, von den Kanzeln eine Rechtfertigung seines Bündnisses mit dem Kaiser verlesen zu lassen, um die evangelische Bürgerschaft zu beschwichtigen. Wie aber am Ende des Jahrhunderts der Uebertritt August des Starken für das evangelische Dresden geradezu ein Schmerz war, dafür sind der Beispiele so viele, daß es unnöthig erscheint, einzelne anzuführen.

[38] Dresdners Volk lebte eben in seinem evangelischen Glauben. Man las regelmäßig und fleißig die Bibel, und es erscheint durchaus nicht als etwas Sonderliches, daß Rudolf von Bünau sie in 11 Jahren mal durchliest. Man hielt mit dem Gesinde Hausandacht; das Tischgebet ward auch bei Hofe nicht vergessen. Fleißig prägte man den Kindern biblischen und religiösen Memorirstoff ein und zwar nicht nur in den drei Lateinschulen der Stadt, nicht nur durch kirchliche Katechismusexamina und auf Grund des 1688 erschienenen Kreuzkatechismus, sondern vor Allem auch durch häusliche Unterweisung. Ein 1663 verstorbenes zehnjähriges Mägdlein konnte 26 Psalmen, 38 Gebete und 17 Kirchenlieder auswendig, Johann Georg II. aber hatte gar mit sechs Jahren von Pfingsten bis Weihnachten 14 Reimgebete, 64 geistliche Sprüche, die Torgauer Artikel und den deutschen und lateinischen Katechismus Luthers auswendig gelernt. Man sprach bei Hofe über den Glauben; und der Streit Speners mit dem englischen Gesandten entspann sich bei der Hoftafel. Aber auch die Bürgerschaft liebte religiöse Gespräche; sind doch die „Unterredungen“ Brehmes auf Grund von Unterhaltungen im kleinen Gemeinschaftskreise niedergeschrieben. So selbstverständlich war der sonntägliche Kirchgang, daß auch ein junger Dresdner auf seiner Kavaliertour 1661 in Italien alle Sonntage auf seiner Kammer die Predigt aus Luthers Postille las und aus seinem Gesangbuch die dazu geordneten Lieder sang. Was war das für ein Abendmahlsgang: 1617 hat die Stadt bei etwa 15000 Seelen 21507 Kommunikanten, die Zahl steigt und erreicht mitten in den Nöthen des 30jährigen Kriegs 1632 mit 32416 ihren Höchststand. Dann fällt sie, aber alsbald hebt sie sich wieder und beträgt 1699 bei 21298 Köpfen 59662, d. i. 283% gegen 28%, im Jahre 1899. Und wieviel mögen in dieser Zahl von Abend mahlsempfängern Kranke und Sterbende gewesen sein; gab es doch kaum einen Dresdner, der nicht bei der Krankheit alsbald auch an Sterbevorbereitung und Abendmahlsgenuß dachte.

Fleißig führte man auch den lieben Gott im Munde: er bescheert dem Landesherrn den Bären in der Falle und giebt Glück zur kurfürstlichen Jagdparthie. Aber man trug seinen Gott auch im Herzen: die Dankesworte für Gottes Bewahrung am Schluß seines Reiseberichts kommen, man fühlt es, dem jungen Griebe aus dem Herzen. Eine wirklich innige Religiosität spricht theilweise aus Brehmes Liedern; geradezu ergreifend aber sind die Frömmigkeitszeugnisse in Trübsalszeiten in den Briefen des 1670 verstorbenen Kanzleiverwandten Damm. So meldet er dem Bruder den Tod seines Kindes mit den Worten: Es ist Gottes Wille gewesen, dem hat es also gefallen, denn ohne Gottes Willen hätte ihr nichts widerfahren können"; und beim Tode der dritten Frau schreibt er: „weil es nun dem Allerhöchsten also gefallen, so muß ich mich hierin ergeben, daß ich so wiederum in dem betrübten Wittwerstand stehe; derselbe verleihe mir christliche Geduld". Gewiß, es entsprach einfach nur der damaligen Sitte, daß Damm bei seiner Erkrankung erst zum Priester und dann zum Doktor schickte, aber es war doch eben eine schöne Sitte, wie jenes Geschlecht sich auf das Sterben vorbereitete. Man rief den Geistlichen, man betete Tage lang mit ihm und sang Glaubenslieder, man bestimmte seinen Leichentext und legte noch auf dem Sterbebette ein fröhliches Glaubensbekenntniß ab: so hat die planmäßige kirchliche Erziehung ein Geschlecht geschaffen, das seinen Glauben liebte und das sich nicht nur in viel Gottesdiensten äußerlich zu ihm bekannte, sondern das auch in ihm fröhlich starb.

Licht und Schatten, wie jede Zeit, zeigt uns auch das Zeitalter der Orthodoxie. Und doch, so wenig wir den Glaubenshaß jener Zeit entschuldigen und das Fehlen an Liebe und mancherlei Erweisen kirchlichen Lebens beschönigen wollen, das Licht überwiegt. Gewiß, es waren harte Männer, die auf Dresdens Kanzeln selbst an den Reformationsjubiläen gegen die Andersgläubigen eiferten, aber es war auch eine harte Zeit, in der sie lebten. Es galt, dem Volke trotz des namenlosen Elends des 30jährigen Krieges seinen Glauben zu erhalten, es galt, das Volk dem Lutherthum zu erhalten, wenn es nicht in der Folgezeit nach August des Starken Uebertritt alsbald den Lockungen Roms folgen sollte. Diese Aufgabe aber hat die orthodoxe Kirche erfüllt und gerade in Dresden glänzend erfüllt. Und wenn man so gern über das Gewohnheitschriftenthum jener Zeit die Achseln zuckt: nun, die todten Gewohnheitschriften von damals sind im Stande gewesen, dem Tode ins Auge zu schauen und des ewigen Lebens gewiß zu sterben. Das hat sie ihre Kirche gelehrt, die Kirche der Orthodoxie, und eine Kirche, die das vermag, trägt bei aller menschlicher Unvollkommenheit doch das Siegel göttlichen Lebens an sich.