Das Wesen des Christentums/Vierzehnte Vorlesung

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[153]
Vierzehnte Vorlesung.




Die christliche Religion im römischen Katholizismus.

soll uns in der heutigen Vorlesung beschäftigen.

Die römische Kirche ist das umfassendste und gewaltigste, das komplizierteste und doch am meisten einheitliche Gebilde, welches die Geschichte, soweit wir sie kennen, hervorgebracht hat. Alle Kräfte des menschlichen Geistes und der Seele und alle elementaren Kräfte, über welche die Menschheit verfügt, haben an diesem Bau gebaut. Der römische Katholizismus ist durch seine Vielseitigkeit und seinen strengen Zusammenschluß dem griechischen weit überlegen. Wir fragen wiederum:

Was hat die römisch-katholische Kirche geleistet?

Wodurch ist sie charakterisiert?

Welche Modifikationen hat das Evangelium in ihr erlebt, und was ist von ihm geblieben?

Was hat die römisch-katholische Kirche geleistet? Nun zunächst – sie hat die romanisch-germanischen Völker erzogen und zwar in einem anderen Sinn als die östliche Kirche die Griechen, Slaven und Orientalen. Mag auch die ursprüngliche Anlage, mögen elementare und geschichtliche Verhältnisse jene Völker begünstigt und ihren Aufstieg mitbewirkt haben, das Verdienst der Kirche wird darum nicht geringer. Sie hat den jugendlichen Nationen die christliche Kultur gebracht, und nicht nur einmal gebracht, um sie dann auf der ersten Stufe festzuhalten – nein, sie hat ihnen etwas Fortbildungsfähiges geschenkt, und sie hat selbst diesen Fortschritt in einem fast tausendjährigen Zeitraum geleitet. Bis zum 14. Jahrhundert ist sie Führerin und Mutter gewesen; sie hat die Ideen[154] gebracht, die Ziele gesetzt und die Kräfte entbunden. Bis zum 14. Jahrhundert – von da ab sieht man, wie die selbständig werden, die sie erzogen hat, und nun Wege einschlagen, die sie nicht gewiesen hat und auf denen sie nicht folgen will und kann. Aber auch dann noch, in dem Zeitraum der letzten sechshundert Jahre, ist sie nicht so zurückgeblieben wie die griechische Kirche. Der ganzen politischen Bewegung hat sie sich, mit verhältnismäßig kurzen Unterbrechungen, vollkommen gewachsen gezeigt – wir in Deutschland spüren das hinreichend! – und auch an der geistigen Bewegung nimmt sie noch immer einen bedeutenden Anteil. Sie ist freilich längst nicht mehr die Führerin, im Gegenteil, sie hemmt; aber gegenüber den Fehlern und Überstürzungen in den Fortschritten der Modernen ist ihr Hemmen nicht immer ein Unsegen.

Zweitens aber, diese Kirche hat in Westeuropa den Gedanken der Selbständigkeit der Religion und der Kirche aufrecht erhalten gegenüber den auch hier nicht fehlenden Ansätzen zur Staatsomnipotenz auf geistigem Gebiet. In der griechischen Kirche hat sich die Religion, wie wir gesehen haben, so sehr mit dem Volkstum und dem Staat verschwistert, daß sie außer in dem Kultus und der Weltflucht keinen selbständigen Spielraum mehr besitzt. Auf dem Boden des Abendlandes ist das anders; das Religiöse und das mit ihm verbundene Sittliche hat sein selbständiges Gebiet und läßt es sich nicht rauben. Das verdanken wir vornehmlich der römischen Kirche.

In diesen beiden Thatsachen liegt das wichtigste Stück Arbeit beschlossen, welches diese Kirche geleistet hat und zum Teil noch leistet. Die Schranke in Bezug auf die erste haben wir angegeben; auch die zweite hat eine empfindliche Schranke; wir werden sie im Lauf unserer Darstellung kennen lernen.


Wodurch charakterisiert sich die römische Kirche? Das war die zweite Frage. Sehe ich recht, so läßt sie sich, so kompliziert sie ist, doch auf drei Hauptelemente zurückführen. Das erste teilt sie mit der griechischen Kirche; es ist der Katholizismus. Das zweite ist der lateinische Geist und das in der römischen Kirche sich fortsetzende römische Weltreich. Das dritte ist der Geist und die Frömmigkeit Augustin’s. Augustin hat das innere Leben dieser Kirche, sofern es religiöses Leben und religiöses Denken ist, in maßgebender Weise bestimmt. Nicht nur in vielen Nachfolgern[155] ist er immer wieder aufs neue aufgetreten, sondern, von ihm erweckt und entzündet, sind zahlreiche Männer erschienen, selbständig in ihrer Frömmigkeit und Theologie und doch Geist von seinem Geist.

Diese drei Elemente, das katholische, das lateinische im Sinne des römischen Weltreichs und das augustinische, konstituieren die Eigenart dieser Kirche.

Was das erste betrifft, so mögen Sie seine Bedeutung daran erkennen, daß die römische Kirche heute noch jeden griechischen Christen ohne weiteres aufnimmt, ja sich mit jeder griechischen Kirchengemeinde sofort „uniert“, sobald sie nur den Papst anerkennt und sich seiner apostolischen Oberhoheit unterwirft. Was man sonst noch von den Griechen verlangt, ist ganz unbedeutend; man läßt ihnen sogar den Gottesdienst in der Muttersprache und die verheirateten Priester. Bedenkt man, welcher „Reinigung“ sich die Protestanten unterwerfen müssen, bevor sie in den Schoß der römischen Kirche aufgenommen werden können, so springt der Unterschied in die Augen. Nun kann sich aber doch eine Kirche nicht so sehr über sich selbst täuschen, daß sie bei der Aufnahme neuer Mitglieder, zumal aus einer andern Konfession, wesentliche Bedingungen außer acht ließe. Es muß also das Element, welches die römische Kirche mit der griechischen teilt, ein so bedeutendes und entscheidendes sein, daß es unter der Voraussetzung der Anerkennung der päpstlichen Oberhoheit ausreicht, um die Union zu ermöglichen. In der That sind die Stücke, die den griechischen Katholizismus bestimmen, sämtlich auch in dem römischen zu finden und werden von ihm unter Umständen ebenso energisch geltend gemacht wie von jenem. Der Traditionalismus, die Orthodoxie und der Ritualismus spielen hier ganz dieselbe Rolle wie dort, sofern nicht „höhere Erwägungen“ eingreifen, und von dem Mönchtum gilt das nämliche.[AU 1]

Sofern nicht „höhere Erwägungen“ eingreifen – damit sind wir bereits zur Betrachtung des zweiten Elements übergegangen, nämlich des lateinischen Geistes im Sinne der römischen Weltherrschaft. Sehr frühe schon hat in der abendländischen Hälfte der Christenheit der lateinische Geist, der Geist Rom’s, eigentümliche Modifikationen des allgemein Katholischen bewirkt. Schon seit dem Anfang des dritten Jahrhunderts sehen wir, daß bei den lateinischen Vätern der Gedanke aufkommt, das Heil – mag es wie immer bewirkt und beschaffen sein – werde in Form eines Ver-[156] trages unter bestimmten Bedingungen und nur nach Maßgabe ihrer Beobachtung verliehen, es sei „salus legitima“; in der Feststellung dieser Bedingungen habe die Gottheit ihre Barmherzigkeit und Nachsicht bekundet, aber um so eifersüchtiger wache sie über ihre Befolgung. Ferner, der ganze Offenbarungsinhalt ist „lex“, die Bibel sowohl als die Tradition. Weiter, diese Tradition hängt an einem Beamtenstand und an der richtigen Succession dieser Beamten. Die „Mysterien“ aber sind „Sakramente“, d. h. einerseits sind sie verpflichtende Handlungen, andererseits enthalten sie bestimmte Gnadenstücke in genau umschriebener Form und in präzisierter Anwendung. Weiter, die Bußdisziplin ist ein rechtlich geordnetes Verfahren, welches sich an die Prozesse im Zivilrecht und bei der Beleidigungsklage anlehnt. Endlich, die Kirche ist Rechtsanstalt; sie ist das nicht nur neben ihrer Funktion, das Heil zu bewahren und auszuspenden, sondern um dieser Funktion willen ist sie Rechtsanstalt.

Rechtsanstalt aber ist sie als verfaßte Kirche. Wir müssen uns über diese Verfassung kurz orientieren; ihre Grundlagen sind der östlichen und westlichen Kirche gemeinsam. Nachdem sich der monarchische Episkopat entwickelt hatte, begann die Kirche ihre Verfassung an die staatliche Administration anzulehnen. Der Metropolitanverband, an dessen Spitze in der Regel der Bischof der Provinzialhauptstadt stand, entsprach der provinzialen Einteilung des Reichs. Darüber hinaus entwickelte sich im Orient die kirchliche Verfassung noch um eine weitere Stufe, indem sie sich an die diokletianische Reichseinteilung, die große Gruppen von Provinzen zusammenfaßte, anschloß. So entstand die Patriarchatsverfassung, die jedoch nicht ganz streng durchgeführt und durch andere Rücksichten teilweise durchkreuzt worden ist.

Im Abendland kam es nicht zu einer Einteilung in Patriarchate; dagegen trat etwas ganz anderes ein: das weströmische Reich ging im fünften Jahrhundert an innerer Schwäche und durch die Einfälle der Barbaren zu Grunde. Was vom Römischen nachblieb, das rettete sich in die römische Kirche – der orthodoxe Glaube gegenüber dem arianischen, die Kultur, das Recht. Sich zum römischen Kaiser aufzuwerfen und in das leer gewordene Gehäuse des Imperiums einzuziehen, das wagten aber die Barbarenhäuptlinge nicht; sie gründeten ihre eigenen Reiche in den Provinzen. Unter diesen Umständen erschien der römische Bischof als der Hüter der[157] Vergangenheit und als der Hort der Zukunft. Überall in den von den Barbaren occupierten Provinzen – auch in solchen, die früher ihre Selbständigkeit trotzig gegenüber Rom behauptet hatten – blickten nun Bischöfe und Laien auf ihn. Was Barbaren und Arianer in den Provinzen an Römischem bestehen ließen – und es war nicht weniges –, wurde verkirchlicht und zugleich unter den Schutz des römischen Bischofs gestellt, des vornehmsten Römers,[AU 2] seit es einen Kaiser nicht mehr gab. In Rom aber saßen im fünften Jahrhundert Männer auf dem bischöflichen Stuhl, die die Zeichen der Zeit verstanden und ausnutzten. Unter der Hand schob sich so die römische Kirche an die Stelle des römischen Weltreichs; in ihr lebte dieses Reich thatsächlich fort; es ist nicht untergegangen, sondern hat sich nur verwandelt. Wenn wir behaupten – und zwar noch für die Gegenwart gültig –, die römische Kirche sei das durch das Evangelium geweihte alte römische Reich, so ist das keine „geistreiche“ Bemerkung, sondern die Anerkennung eines geschichtlichen Thatbestandes und die zutreffendste und fruchtbarste Charakteristik dieser Kirche. Sie regiert noch immer die Völker; ihre Päpste herrschen wie Trajan und Mark Aurel; an die Stelle von Romulus und Remus sind Petrus und Paulus getreten, an die Stelle der Prokonsuln die Erzbischöfe und Bischöfe; den Legionen entsprechen die Scharen von Priestern und Mönchen, der kaiserlichen Leibwache die Jesuiten. Bis in die Details hinein, bis zu einzelnen Rechtsordnungen, ja bis zu den Gewändern läßt sich das Fortwirken des alten Reichs und seiner Institutionen verfolgen. Das ist keine Kirche wie die evangelischen Gemeinschaften oder wie die Volkskirchen des Orients, das ist eine politische Schöpfung, so großartig wie ein Weltreich, weil die Fortsetzung des römischen Reichs. Der Papst, der sich „König“ nennt und „Pontifex maximus“, ist der Nachfolger Cäsar’s. Die Kirche, schon im 3. und 4. Jahrhundert ganz von römischem Geist erfüllt, hat das römische Reich in sich wiederhergestellt. In allen Jahrhunderten seit dem 7. und 8. haben es patriotische Katholiken in Rom und Italien nicht anders verstanden. Als Gregor VII. in den Kampf mit dem Kaisertum trat, feuerte ihn ein italienischer Prälat also an:[AU 3]

Nimm des ersten Apostels Schwert,
Petri glühendes Schwert, zur Hand!
Brich die Macht und den Ungestüm

[158]

Der Barbaren: das alte Joch
Laß sie tragen für immerdar!

Sieh’, wie groß die Gewalt des Banns:
Was mit Strömen von Kriegerblut
Einstmals Marius’ Heldenmut
Und des Julius Kraft erreicht,
Wirkst du jetzt durch ein leises Wort.

Rom, von neuem durch dich erhöht,
Bringt dir schuldigen Dank; es bot
Nicht den Siegen des Scipio,
Keiner That der Quiriten je
Wohlverdienteren Kranz als dir!

Wer wird hier angeredet, ein Bischof oder ein Cäsar? Ich denke ein Cäsar oder vielmehr ein priesterlicher Cäsar; so wurde es empfunden, und so wird es noch heute empfunden. Er beherrscht ein Reich – also ist es auch ein Versuch mit untauglichen Waffen, dieses Reich bloß mit dem Rüstzeug dogmatischer Polemik anzugreifen.

Die ungeheuren Konsequenzen der Thatsache: die katholische Kirche ist das römische Weltreich, vermag ich hier nicht darzulegen. Nur ein paar Folgerungen, welche die Kirche selbst zieht, seien angeführt. Dieser Kirche ist es ebenso wesentlich, Regierungsgewalt auszuüben, wie das Evangelium zu verkündigen. Das „Christus vincit, Christus regnat, Christus triumphat“[WS 1] ist politisch zu verstehen: er herrscht auf Erden, indem seine von Rom geleitete Kirche herrscht, und zwar durch Recht und Gewalt, d. h. durch alle die Mittel, deren sich die Staaten bedienen. Es soll daher auch keine Frömmigkeit geben, die sich nicht allem zuvor dieser Papstkirche unterwirft, von ihr approbiert wird und in stetiger Abhängigkeit von ihr bleibt. Diese Kirche lehrt ihre „Unterthanen“ also sprechen: „Wenn ich alle Geheimnisse wüßte und hätte allen Glauben, und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib brennen und hätte die Einheit in der Liebe nicht, die allein aus dem unbedingten Gehorsam gegen die Kirche fließt, so hätte ich nichts.“[WS 2] Aller Glaube, alle Liebe, alle Tugenden, selbst die Martyrien sind außerhalb der Kirche wertlos. Natürlich – auch ein irdischer Staat schätzt nur die Verdienste, die man sich um ihn[159] selbst erworben hat. Dieser Staat aber identifiziert sich mit dem Himmelreich; im übrigen verfährt er wie andere Staaten auch. Von hier aus mögen Sie selbst alle Ansprüche der Kirche ableiten; sie ergeben sich ohne Schwierigkeit. Auch das Exorbitanteste erscheint als das Selbstverständliche, sobald nur die beiden Obersätze richtig sind: „Die römische Kirche ist das Reich Gottes“, und „die Kirche muß wie ein irdischer Staat regieren.“ Daß auch christliche Motive in diese ganze Entwicklung mit hinein gespielt haben – der Wille, die christliche Religion wirklich mit dem Leben in Verbindung zu setzen und alle Verhältnisse von ihr durchdringen zu lassen, sowie die Sorge um das Heil der einzelnen und der Völker –, soll nicht geleugnet werden. Wie viele ernste katholische Christen haben wirklich nichts anderes gewollt, als die Herrschaft Christi auf Erden aufzurichten und sein Reich zu bauen! Allein so gewiß sie durch diese Absicht und die Energie ihrer Arbeit den Griechen überlegen gewesen sind, so gewiß ist es ein schweres Mißverständnis der Anweisung Christi und der Apostel, das Reich Gottes durch politische Mittel herbeiführen und bauen zu wollen. Dieses Reich kennt keine anderen Kräfte als religiöse und sittliche und steht auf dem Boden der Freiheit. Die Kirche aber, die wie ein irdischer Staat auftritt, muß alle Mittel desselben, also auch verschlagene Diplomatie und Gewalt, brauchen; denn der irdische Staat, selbst der Rechtsstaat, muß unter Umständen zum Unrechtsstaat werden. Die Entwicklung, die die Kirche als irdischer Staat genommen hat, mußte sie dann folgerecht bis zur absoluten Monarchie des Papstes und bis zur Unfehlbarkeit desselben führen; denn die Unfehlbarkeit bedeutet in einer irdischen Theokratie im Grunde nichts anderes als das, was die volle Souveränität in dem Weltstaate bedeutet. Daß aber die Kirche vor dieser letzten Konsequenz nicht zurückgeschreckt ist, ist ein Beweis, in welchem Maße das Heilige in ihr verweltlicht ist.

Daß nun dieses zweite Element die charakteristischen Züge des Katholizismus im Abendland – den Traditionalismus, die Orthodoxie, den Ritualismus und das Mönchtum – durchgreifend verändern mußte, ist offenbar. Der Traditionalismus gilt nach wie vor; wenn aber ein Element in ihm unbequem geworden ist, so fällt es, und der Wille des Papstes tritt an die Stelle: „Die Tradition bin ich“, soll Pius IX. gesagt haben.[WS 3] Ferner die „rechte Lehre“ ist noch immer ein Hauptstück; aber die Kirchenpolitik des Papstes vermag sie faktisch zu ändern;[AU 4]durch kluge Distinktionen hat so[160] manches Dogma einen andern Sinn erhalten; auch neue Dogmen werden aufgestellt; die Lehre ist in vieler Hinsicht arbiträr geworden, und eine ungefüge Formel in der Glaubenslehre kann durch eine konträre Anweisung in der Ethik und im Beichtstuhl aufgehoben werden. Überall können die festen Linien der Vergangenheit zu Gunsten gegenwärtiger Bedürfnisse aufgelöst werden. Dasselbe gilt wie vom Ritualismus so auch vom Mönchtum. Ich kann hier nicht nachweisen, in welchem Maße, keineswegs immer nur zu seinem Nachteil, das alte Mönchtum sich hier verändert, ja sich in großen Erscheinungen geradezu in sein Gegenteil verwandelt hat. Diese Kirche besitzt in ihrer Organisation eine Fähigkeit, sich dem geschichtlichen Gang der Dinge anzupassen, wie keine andere: sie bleibt immer die alte – oder erscheint doch so – und wird immer neu.


Das dritte Element, welches den Geist dieser Kirche charakteristisch bestimmt hat, ist dem eben besprochenen entgegengesetzt und hat sich doch neben ihm behauptet: es ist durch die Namen Augustin und Augustinismus bezeichnet. Im 5. Jahrhundert, in derselben Zeit, in welcher diese Kirche sich anschickte, das römische Reich zu beerben, hat sie einen religiösen Genius von außerordentlicher Tiefe und Kraft erlebt, ist auf seine Empfindungen und Ideen eingegangen und vermag sie bis auf den heutigen Tag nicht abzustoßen. Es ist die wichtigste und wunderbarste Thatsache in ihrer Geschichte, daß sie gleichzeitig cäsarisch und augustinisch geworden ist. Was ist das aber für ein Geist und eine Richtung gewesen, die sie durch Augustin empfangen hat?

Nun zunächst, Augustin’s Frömmigkeit und Theologie bedeuteten eine eigentümliche Wiedererweckung der paulinischen Erfahrung und Lehre von Sünde und Gnade, von Schuld und Rechtfertigung, von göttlicher Prädestination und menschlicher Unfreiheit. Während diese Erfahrung und Lehre in den vergangenen Jahrhunderten verloren gegangen waren, erlebte Augustin in seinem Inneren die Erlebnisse des Apostels Paulus, brachte sie auf ähnliche Weise wie dieser zur Aussprache und faßte sie in bestimmte Begriffe. Von bloßer Nachahmung ist hier nicht die Rede – die Unterschiede sind im einzelnen höchst bedeutend, zumal in der Auffassung der Rechtfertigung, die sich für Augustin als ein stetiger Prozeß darstellte, bis die Liebe und alle Tugenden das Herz ganz ausfüllen; aber wie bei[161] Paulus ist alles individuell erlebt und alles innerlich gedacht. Wenn Sie seine Konfessionen lesen, so werden Sie trotz aller Rhetorik, die nicht fehlt, erkennen, daß hier ein Genius spricht, der Gott, den geistigen Gott, empfunden hat als den Fels und als das Ziel seines Lebens, der nach ihm dürstet und außer ihm nichts begehrt. Und weiter, all das, was er Trübes und Furchtbares an sich erlebt hat, alle Zerspaltung mit sich selbst und den ganzen Dienst des vergänglichen Wesens, das „stückweise Zerfallen an die Welt“ und die mit dem Verlust der Freiheit und Kraft bezahlte Eigensucht – das führte er auf eine Wurzel zurück: Sünde, d. h. Mangel an Gottesgemeinschaft, Gottlosigkeit. Wiederum aber das, was ihn losgerissen hat aus der Verflechtung mit der Welt, aus der Eigensucht und dem inneren Verfall, was ihm Kraft, Freiheit und ein Ewigkeitsbewußtsein gegeben hat, das nennt er mit Paulus Gnade. Mit ihm empfindet er auch, daß sie ganz und gar Gottes Werk ist, daß er sie aber durch und an Christus gewonnen hat und als Sündenvergebung und Geist der Liebe besitzt. Viel unfreier und skrupulöser jedoch als der große Apostel achtet er auf die Sünde – das giebt seiner religiösen Sprache und allem, was von ihm ausgegangen ist, eine ganz besondere Färbung. „Ich lasse, was dahinten ist, und strecke mich nach dem, was vor mir liegt“[WS 4] – diese apostolische Maxime ist nicht die Augustin’s. Getröstetes Sündenelend – diese Farbe behält sein ganzes Christentum. Zum Gefühl der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes hat er sich nur selten aufzuschwingen vermocht, und wo er es vermochte, von ihr nicht so zeugen können wie Paulus. Aber die Empfindung des getrösteten Sündenelends hat er mit solcher Kräftigkeit des Gefühls und in so hinreißenden Worten ausdrücken können wie keiner vor ihm; noch mehr – er hat mit dieser Aussage die Seelen von Millionen so sicher zu treffen, ihre innere Verfassung so genau zu beschreiben und den Trost so eindrucksvoll, ja überwältigend vorzustellen vermocht, daß seit nun 1500 Jahren das immer wieder erlebt wird, was er erlebt hat. Bis auf den heutigen Tag ist im Katholizismus die innere, lebendige Frömmigkeit und ihre Aussprache ganz wesentlich augustinisch. Von seinen Empfindungen entzündet, empfinden sie wie er und denken mit seinen Gedanken. Bei vielen Protestanten, und nicht den schlechtesten, ist es nicht anders. Dieses Gefüge von Sünde und Gnade, dieses Ineinander von Gefühl und Lehre scheint eine[162] unverwüstliche Kraft zu besitzen, der die Zeit nichts anzuhaben vermag; dieses schmerzlich-selige Empfinden bleibt denen unvergessen, die es einmal erlebt haben, und, wenn sie sich auch selbst nachträglich von der Religion emanzipiert haben, ist es ihnen eine heilige Erinnerung.


Diesen „Augustin“ hat die abendländische Kirche, eben als sie sich zum Antritt der Herrschaft anschickte, in sich aufgenommen, aufnehmen müssen. Sie war ihm gegenüber ganz wehrlos; sie hatte ihm aus ihrer letzten Vergangenheit so wenig innerlich Wertvolles entgegenzusetzen, daß sie willenlos kapitulierte. So ist die erstaunliche „complexio oppositorum“ im abendländischen Katholizismus entstanden: die Kirche des Ritus, des Rechts, der Politik, der Weltherrschaft, und die Kirche, in welcher eine höchst individuelle, zarte, sublimierte Sünden- und Gnadenempfindung und -Lehre in Wirksamkeit gesetzt wird. Das Äußerlichste und das Innerlichste sollen sich verbinden! Ganz aufrichtig konnte dies von Anfang an nicht geschehen; die innere Spannung und der Widerstreit mußten sofort beginnen; die Geschichte des abendländischen Katholizismus ist von ihm erfüllt. Aber bis zu einem gewissen Grade sind die Gegensätze vereinbar, wenigstens in denselben Menschen vereinbar. Das bezeugt kein Geringerer als Augustin selbst, der auch ein entschlossener Kirchenmann gewesen ist, ja das Ansehen und die Macht der äußeren Kirche samt ihrer ganzen Ausstattung aufs kräftigste gefördert hat. Wie ihm das möglich gewesen ist, das vermag ich hier nicht auszuführen; daß innere Widersprüche dabei nicht fehlen konnten, liegt auf der Hand. Wir konstatieren nur noch das Doppelte: erstlich, daß die äußere Kirche den innerlichen Augustinismus immer mehr zurückgedrängt, umgewandelt und modifiziert hat, ohne ihn doch ganz austilgen zu können; zweitens, daß alle die großen Persönlichkeiten, die in der abendländischen Kirche immer wieder neues Leben entzündet und die Frömmigkeit gereinigt und vertieft haben, direkt oder indirekt von Augustin ausgegangen sind und sich an ihm gebildet haben. Die lange Kette katholischer Reformer von Agobard und Claudius von Turin im 9. Jahrhundert bis zu den Jansenisten des 17. und 18. Jahrhunderts und über sie hinaus ist augustinisch. Und wenn das tridentinische Konzil mit Recht in vieler Hinsicht ein Reformkonzil genannt werden darf, wenn dort die Lehre von Sünde,[163] Buße und Gnade viel tiefer und innerlicher formuliert worden ist, als man nach dem Stande der katholischen Theologie im 14. und 15. Jahrhundert erwarten durfte, so verdankt man das lediglich dem Fortwirken Augustin’s. Die Kirche hat freilich ihrer wesentlich nach Augustin entworfenen Gnadenlehre eine Praxis des Beichtstuhls zugeordnet, die jene Lehre völlig unwirksam zu machen droht. Aber so weit sie ihre Grenzen auch zieht, um alle die bei sich behalten zu können, die sich nicht wider sie auflehnen, so duldet sie doch nicht nur solche, welche Sünde und Gnade beurteilen wie Augustin, sondern sie wünscht, daß womöglich jeder den Ernst der Sünde und die Seligkeit, Gott anzugehören, so stark empfinden möge wie er.

Dies sind die wesentlichen Momente des römischen Katholizismus. Sehr viel anderes wäre noch zu nennen, aber die Hauptstücke sind damit bezeichnet.[AU 5]


Wir gehen zur letzten Frage über: Welche Modifikationen hat das Evangelium hier erlebt, und was ist von ihm geblieben? Nun – darüber braucht es nicht vieler Worte – in allem, was sich hier als äußeres Kirchentum mit dem Anspruch auf göttliche Dignität darstellt, fehlt jeder Zusammenhang mit dem Evangelium. Es handelt sich nicht um Entstellungen, sondern um eine totale Verkehrung. Die Religion ist hier in eine fremde Richtung abgeirrt. Wie der morgenländische Katholizismus in mehr als einer Hinsicht zutreffender in die griechische Religionsgeschichte eingestellt wird als in die Geschichte des Evangeliums, so muß der römische in die Geschichte des römischen Weltreichs eingestellt werden. Seine Behauptung, Christus habe ein Reich gestiftet, das sei die römische Kirche, und er habe diese Kirche mit dem Schwert, ja mit zwei Schwertern ausgestattet, dem geistlichen und dem weltlichen, säkularisiert das Evangelium und vermag sich nicht durch den Hinweis zu decken, in der Menschheit solle doch der Geist Christi herrschen. Das Evangelium sagt: „Christi Reich ist nicht von dieser Welt,“[WS 5] diese Kirche aber hat ein irdisches Reich aufgerichtet; Christus verlangt, daß seine Diener nicht herrschen, sondern dienen, diese Priester aber regieren die Welt; Christus führt seine Jünger aus der politischen und der ceremoniösen Religion heraus und stellt jeden vor das Angesicht Gottes – Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott –, hier dagegen wird der Mensch mit unzer-[164] reißbaren Ketten an ein irdisches Institut gebunden und soll gehorchen; dann erst mag er sich Gott nahen. Einst haben die römischen Christen ihr Blut vergossen, weil sie dem Cäsar die Anbetung verweigerten und die politische Religion verschmähten; heute beten sie zwar einen irdischen Herrscher nicht geradezu an, aber sie haben ihre Seelen dem Machtgebot des römischen Papstkönigs unterworfen.




Anmerkungen des Autors (1908)

  1. Am Schlusse dieses Abschnittes hätte die Folgerung ausdrücklich gezogen werden müssen, daß das Christentum in der römischen Kirche auf dasselbe tiefe Niveau herabzusinken vermag wie in den orientalischen Kirchen und auch faktisch in einigen Ländern herabgesunken ist.
  2. „des römischen Bischofs, des vornehmsten Römers“ – hier wäre der Bedeutung zu gedenken gewesen, den der Gedanke der Nachfolgerschaft des Petrus, ja Jesu Christi für den römischen Stuhl in steigendem Maße gewonnen hat. Der römische Bischof griff nicht nach der Krone des weströmischen Imperators; er nannte sich auch zunächst nicht „Universalbischof“ oder ähnlich; wohl aber nahm er namentlich seit Leo I. für sich in Anspruch, was dem Petrus gesagt war, und deutete es im Sinne eines Hirtenamtes über die ganze Christenheit. Das Hirtenamt aber erscheint sofort als Regierungsamt, und damit ist die persönliche Weltherrschaft gegeben.
  3. Das Gedicht stammt von Alphanus, dem Freunde Gregors und des Desiderius von Monte Cassino; s. Giesebrecht, Gesch. d. deutschen Kaiserzeit, 4. Aufl. III. S. 54.
  4. Die Kirchenpolitik des Papstes vermag die Lehre faktisch zu ändern – dieser Satz ist bestritten worden; aber auf dem „faktisch“ liegt der Nachdruck, und dann kann er nicht bestritten werden, oder ist z. B. die Unfehlbarkeit des Papstes wirklich die alte katholische Lehre?
  5. „Die Hauptstücke sind damit bezeichnet“ – indessen charakterisieren die drei genannten Stücke (Vulgär-Katholizismus, Römische Reich, Augustinismus) den modernen Katholizismus doch nicht vollständig, weil, vorbereitet durch den Nominalismus, seit der Contrareformation in die Leitung der Seelen ein laxes Element eingedrungen ist (Prohabilismus), welches die frühere Zeit so nicht gekannt hat, und weil durch die Anpassung an die moderne Welt Weltlichkeiten aller Art nebst einem politischen Kirchenchristentum einen außerordentlichen Spielraum erlangt haben.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Der sogenannte Lobgesang Hinkmars (um 750).
  2. Paraphrase von 1. Kor 13.
  3. In einer Auseinandersetzung mit dem Erzbischof von Bologna, Filippo Maria Guidi, über die päpstliche Unfehlbarkeit (1870).
  4. Phil 3,13.
  5. Vgl. Joh 18,36.


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