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trages unter bestimmten Bedingungen und nur nach Maßgabe ihrer Beobachtung verliehen, es sei „salus legitima“; in der Feststellung dieser Bedingungen habe die Gottheit ihre Barmherzigkeit und Nachsicht bekundet, aber um so eifersüchtiger wache sie über ihre Befolgung. Ferner, der ganze Offenbarungsinhalt ist „lex“, die Bibel sowohl als die Tradition. Weiter, diese Tradition hängt an einem Beamtenstand und an der richtigen Succession dieser Beamten. Die „Mysterien“ aber sind „Sakramente“, d. h. einerseits sind sie verpflichtende Handlungen, andererseits enthalten sie bestimmte Gnadenstücke in genau umschriebener Form und in präzisierter Anwendung. Weiter, die Bußdisziplin ist ein rechtlich geordnetes Verfahren, welches sich an die Prozesse im Zivilrecht und bei der Beleidigungsklage anlehnt. Endlich, die Kirche ist Rechtsanstalt; sie ist das nicht nur neben ihrer Funktion, das Heil zu bewahren und auszuspenden, sondern um dieser Funktion willen ist sie Rechtsanstalt.

Rechtsanstalt aber ist sie als verfaßte Kirche. Wir müssen uns über diese Verfassung kurz orientieren; ihre Grundlagen sind der östlichen und westlichen Kirche gemeinsam. Nachdem sich der monarchische Episkopat entwickelt hatte, begann die Kirche ihre Verfassung an die staatliche Administration anzulehnen. Der Metropolitanverband, an dessen Spitze in der Regel der Bischof der Provinzialhauptstadt stand, entsprach der provinzialen Einteilung des Reichs. Darüber hinaus entwickelte sich im Orient die kirchliche Verfassung noch um eine weitere Stufe, indem sie sich an die diokletianische Reichseinteilung, die große Gruppen von Provinzen zusammenfaßte, anschloß. So entstand die Patriarchatsverfassung, die jedoch nicht ganz streng durchgeführt und durch andere Rücksichten teilweise durchkreuzt worden ist.

Im Abendland kam es nicht zu einer Einteilung in Patriarchate; dagegen trat etwas ganz anderes ein: das weströmische Reich ging im fünften Jahrhundert an innerer Schwäche und durch die Einfälle der Barbaren zu Grunde. Was vom Römischen nachblieb, das rettete sich in die römische Kirche – der orthodoxe Glaube gegenüber dem arianischen, die Kultur, das Recht. Sich zum römischen Kaiser aufzuwerfen und in das leer gewordene Gehäuse des Imperiums einzuziehen, das wagten aber die Barbarenhäuptlinge nicht; sie gründeten ihre eigenen Reiche in den Provinzen. Unter diesen Umständen erschien der römische Bischof als der Hüter der

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/160&oldid=- (Version vom 30.6.2018)