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gebracht, die Ziele gesetzt und die Kräfte entbunden. Bis zum 14. Jahrhundert – von da ab sieht man, wie die selbständig werden, die sie erzogen hat, und nun Wege einschlagen, die sie nicht gewiesen hat und auf denen sie nicht folgen will und kann. Aber auch dann noch, in dem Zeitraum der letzten sechshundert Jahre, ist sie nicht so zurückgeblieben wie die griechische Kirche. Der ganzen politischen Bewegung hat sie sich, mit verhältnismäßig kurzen Unterbrechungen, vollkommen gewachsen gezeigt – wir in Deutschland spüren das hinreichend! – und auch an der geistigen Bewegung nimmt sie noch immer einen bedeutenden Anteil. Sie ist freilich längst nicht mehr die Führerin, im Gegenteil, sie hemmt; aber gegenüber den Fehlern und Überstürzungen in den Fortschritten der Modernen ist ihr Hemmen nicht immer ein Unsegen.

Zweitens aber, diese Kirche hat in Westeuropa den Gedanken der Selbständigkeit der Religion und der Kirche aufrecht erhalten gegenüber den auch hier nicht fehlenden Ansätzen zur Staatsomnipotenz auf geistigem Gebiet. In der griechischen Kirche hat sich die Religion, wie wir gesehen haben, so sehr mit dem Volkstum und dem Staat verschwistert, daß sie außer in dem Kultus und der Weltflucht keinen selbständigen Spielraum mehr besitzt. Auf dem Boden des Abendlandes ist das anders; das Religiöse und das mit ihm verbundene Sittliche hat sein selbständiges Gebiet und läßt es sich nicht rauben. Das verdanken wir vornehmlich der römischen Kirche.

In diesen beiden Thatsachen liegt das wichtigste Stück Arbeit beschlossen, welches diese Kirche geleistet hat und zum Teil noch leistet. Die Schranke in Bezug auf die erste haben wir angegeben; auch die zweite hat eine empfindliche Schranke; wir werden sie im Lauf unserer Darstellung kennen lernen.


Wodurch charakterisiert sich die römische Kirche? Das war die zweite Frage. Sehe ich recht, so läßt sie sich, so kompliziert sie ist, doch auf drei Hauptelemente zurückführen. Das erste teilt sie mit der griechischen Kirche; es ist der Katholizismus. Das zweite ist der lateinische Geist und das in der römischen Kirche sich fortsetzende römische Weltreich. Das dritte ist der Geist und die Frömmigkeit Augustin’s. Augustin hat das innere Leben dieser Kirche, sofern es religiöses Leben und religiöses Denken ist, in maßgebender Weise bestimmt. Nicht nur in vielen Nachfolgern

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/158&oldid=- (Version vom 30.6.2018)