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Paulus ist alles individuell erlebt und alles innerlich gedacht. Wenn Sie seine Konfessionen lesen, so werden Sie trotz aller Rhetorik, die nicht fehlt, erkennen, daß hier ein Genius spricht, der Gott, den geistigen Gott, empfunden hat als den Fels und als das Ziel seines Lebens, der nach ihm dürstet und außer ihm nichts begehrt. Und weiter, all das, was er Trübes und Furchtbares an sich erlebt hat, alle Zerspaltung mit sich selbst und den ganzen Dienst des vergänglichen Wesens, das „stückweise Zerfallen an die Welt“ und die mit dem Verlust der Freiheit und Kraft bezahlte Eigensucht – das führte er auf eine Wurzel zurück: Sünde, d. h. Mangel an Gottesgemeinschaft, Gottlosigkeit. Wiederum aber das, was ihn losgerissen hat aus der Verflechtung mit der Welt, aus der Eigensucht und dem inneren Verfall, was ihm Kraft, Freiheit und ein Ewigkeitsbewußtsein gegeben hat, das nennt er mit Paulus Gnade. Mit ihm empfindet er auch, daß sie ganz und gar Gottes Werk ist, daß er sie aber durch und an Christus gewonnen hat und als Sündenvergebung und Geist der Liebe besitzt. Viel unfreier und skrupulöser jedoch als der große Apostel achtet er auf die Sünde – das giebt seiner religiösen Sprache und allem, was von ihm ausgegangen ist, eine ganz besondere Färbung. „Ich lasse, was dahinten ist, und strecke mich nach dem, was vor mir liegt“[WS 1] – diese apostolische Maxime ist nicht die Augustin’s. Getröstetes Sündenelend – diese Farbe behält sein ganzes Christentum. Zum Gefühl der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes hat er sich nur selten aufzuschwingen vermocht, und wo er es vermochte, von ihr nicht so zeugen können wie Paulus. Aber die Empfindung des getrösteten Sündenelends hat er mit solcher Kräftigkeit des Gefühls und in so hinreißenden Worten ausdrücken können wie keiner vor ihm; noch mehr – er hat mit dieser Aussage die Seelen von Millionen so sicher zu treffen, ihre innere Verfassung so genau zu beschreiben und den Trost so eindrucksvoll, ja überwältigend vorzustellen vermocht, daß seit nun 1500 Jahren das immer wieder erlebt wird, was er erlebt hat. Bis auf den heutigen Tag ist im Katholizismus die innere, lebendige Frömmigkeit und ihre Aussprache ganz wesentlich augustinisch. Von seinen Empfindungen entzündet, empfinden sie wie er und denken mit seinen Gedanken. Bei vielen Protestanten, und nicht den schlechtesten, ist es nicht anders. Dieses Gefüge von Sünde und Gnade, dieses Ineinander von Gefühl und Lehre scheint eine

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Phil 3,13.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/165&oldid=- (Version vom 30.6.2018)