Das Wesen des Christentums/Sechzehnte Vorlesung

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[177]
Sechzehnte Vorlesung.




Es ist oftmals die Frage aufgeworfen worden, ob und in welchem Maße die Reformation ein Werk des deutschen Geistes gewesen ist. Ich vermag hier auf dieses komplizierte Problem nicht einzugehen; soviel aber scheint mir gewiß, das zwar Luther’s entscheidendes religiöses Erlebnis mit seiner Nationalität nicht zusammenzustellen ist, daß aber die Folgen, die er ihm gegeben hat, sowohl die positiven als die negativen, den deutschen Mann zeigen – den deutschen Mann und die deutsche Geschichte. Von dem Momente an, in welchem sich die Deutschen in der ihnen überlieferten Religion wirklich heimisch zu machen versuchten – erst vom 13. Jahrhundert an ist das geschehen –, haben sie auch die Reformation vorbereitet. Und wie man das morgenländische Christentum mit Recht das griechische, das mittelalterlich-abendländische das römische nennt, so darf man auch das reformatorische als das germanische bezeichnen, trotz Calvin, denn er ist Luther’s Schüler gewesen, und er hat nicht unter den Romanen, sondern unter den Engländern, Schotten und Niederländern am nachhaltigsten gewirkt. Die Deutschen bezeichnen durch die Reformation eine Stufe in der allgemeinen Kirchengeschichte; von den Slaven läßt sich Ähnliches nicht behaupten.

Die Abkehr von der Askese, die den Deutschen niemals ein so durchschlagendes Ideal gewesen ist wie den anderen Völkern, und der Protest gegen die Religion als äußere Autorität sind sowohl aus dem paulinischen Evangelium als auch aus dem deutschen Geiste zu erklären. Auch die Wärme und Herzlichkeit in der Predigt und der Freimut in der polemischen Aussprache hat die[178] deutsche Nation an Luther wie eine Erschließung ihrer eigenen Seele empfunden.


Wir haben in der letzten Vorlesung die Hauptgebiete berührt, auf denen Luther einen nachdrücklichen und fortwirkenden Protest erhoben hat. Ich könnte noch manches hinzufügen, so den Widerspruch, den er, namentlich am Anfang seiner reformatorischen Wirksamkeit, gegen die ganze dogmatische Terminologie, ihre Formeln und Lehrausdrücke, gerichtet hat. Alles in allem – er hat protestiert, weil er die christliche Religion in ihrer Reinheit zurückführen wollte, ohne Priester und Opfer, ohne äußere Autoritäten und Gesetze, ohne heilige Zeremonien, ohne alle die Ketten, mit denen das Jenseits an das Diesseits gebunden sein sollte. Bei dieser Revision ist die Reformation zurückgegangen, nicht nur hinter das elfte Jahrhundert, auch nicht nur hinter das vierte oder zweite, sondern bis auf die Anfänge der Religion selbst. Ja sie hat, ohne es zu ahnen, sogar Formen modifiziert oder beseitigt, die schon im apostolischen Zeitalter bestanden haben, so in der Disziplin das Fasten, in der Verfassung die Bischöfe und Diakonen, in der Lehre den Chiliasmus u. a.


Wie stellt sich nun aber bei dieser Umbildung durch Reformation und Revolution die neue Schöpfung als ganze in ihrem Verhältnis zum Evangelium dar? Man darf sagen, daß in den vier Hauptpunkten, die wir in der vorigen Vorlesung hervorgehoben haben, das Evangelium wirklich wieder erreicht ist – in der Innerlichkeit und Geistigkeit, in dem Grundgedanken von dem gnädigen Gott, in dem Gottesdienst im Geist und in der Wahrheit, und in der Vorstellung von der Kirche als der Gemeinschaft des Glaubens. Brauche ich das im einzelnen nachzuweisen, oder sollen wir uns in dieser Überzeugung irre machen lassen, weil doch ein Christ im sechzehnten und neunzehnten Jahrhundert anders aussieht als im ersten? Daß die Innerlichkeit und der Individualismus, welche die Reformation entbunden hat, der Eigenart des Evangeliums entsprechen, ist gewiß. Ferner, Luther’s Verkündigung der Rechtfertigung giebt nicht nur den Gedanken des Paulus, mögen immerhin Unterschiede bestehen, in der Hauptsache wieder, sondern trifft auch in dem Ziele genau mit der Predigt Jesu zusammen. Gott als den Vater wissen, einen gnädigen Gott haben, sich seiner Vor-[179] sehung und Gnade getrösten, die Vergebung der Sünden glauben – das ist dort und hier das Entscheidende. Und noch in der trüben Zeit der lutherischen Orthodoxie hat ein Paul Gerhardt diese evangelische Grundüberzeugung in seinen Liedern – „Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich“, „Befiehl du deine Wege“[WS 1] u. a. – so herrlich auszudrücken vermocht, daß man erkennt, wie sicher sie den Protestantismus durchdrungen hat. Weiter, daß der rechte Gottesdienst nichts anderes sein darf, als die Anerkennung Gottes im Lob und im Gebet, daß aber auch der Dienst am Nächsten Gottesdienst ist, ist direkt dem Evangelium und den ihm entsprechenden Anweisungen des Paulus entnommen. Endlich, daß die wahre Kirche durch den heiligen Geist und den Glauben zusammengehalten wird, daß sie eine geistige Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern ist – diese Überzeugung liegt auf der Linie des Evangeliums und ist von Paulus mit aller Klarheit ausgesprochen worden. Sofern die Reformation dies alles wiederhergestellt und auch Christus als den einzigen Erlöser anerkannt hat, darf sie im strengsten Sinn des Worts evangelisch genannt werden, und sofern diese Überzeugungen trotz aller Verkümmerungen und Belastungen in den protestantischen Kirchen noch immer die leitenden sind, dürfen sie sich mit allem Fuge als evangelische bezeichnen.


Aber das, was hier erreicht worden ist, hat auch seine Schatten. Wenn wir fragen, was uns die Reformation gekostet und in welchem Maße sie ihre Prinzipien durchgesetzt hat, treten sie uns deutlich entgegen.

1. Umsonst erhält man nichts in der Geschichte, und eine gewaltsame Bewegung muß doppelt bezahlt werden – was hat uns die Reformation gekostet? Ich will nicht davon reden, daß die Einheit der abendländischen Kultur, da sich die Reformation doch nur in einem Teile Westeuropa’s durchgesetzt hat, zerstört worden ist; denn die Mannigfaltigkeit und Freiheit der nun folgenden Entwicklung hat uns größeren Gewinn gebracht. Aber die Notwendigkeit, die neuen Kirchen als Staatskirchen zu etablieren, hat schwere Nachteile zur Folge gehabt. Freilich, das Kirchenstaatstum ist schlimmer, und seine Anhänger haben wahrlich keinen Grund, es gegenüber den Staatskirchen zu rühmen. Allein diese – sie sind nicht nur eine Folge des Bruchs mit der kirchlichen Obrigkeit, sondern haben sich bereits im 15. Jahrhundert vorbereitet – haben[180] doch Verkümmerungen heraufgeführt. Sie haben das Gefühl der Verantwortlichkeit und die Aktivität der evangelischen Gemeinden geschwächt und dazu den nicht unbegründeten Argwohn geweckt, daß die Kirche eine Anstalt des Staates sei und sich nach ihm zu richten habe. In den letzten Jahrzehnten ist wohl manches geschehen, um durch größere Selbständigkeit der Kirchen jenem Argwohn zu steuern, aber weitere Fortschritte in dieser Richtung sind notwendig, namentlich in Bezug auf die Freiheit der einzelnen Gemeinden. Gewaltsam soll das Band mit dem Staate nicht durchschnitten werden; denn die Kirchen verdanken ihm auch manches Gute; aber die Entwicklung, in die wir getreten sind, muß befördert werden. Dabei ist die Mannigfaltigkeit der kirchlichen Bildungen kein Schade; sie erinnert vielmehr in kräftiger Weise daran, das alle diese Formen arbiträr sind.[AU 1]

Weiter, der Protestantismus hat im Gegensatz zum Katholizismus die Innerlichkeit der Religion und das sola fide ausschließlich betonen müssen; aber eine Lehre in scharfem Gegensatz zu einer anderen zu formulieren, ist immer gefährlich. Der „gemeine Mann“ hörte es nicht ungern, daß „gute Werke“ unnötig, ja seelengefährlich seien. Luther ist für das bequeme Mißverständnis, das sich daran anschloß, nicht verantwortlich; aber von Anfang an mußte in den deutschen Reformationskirchen über sittliche Laxheit und mangelnden Ernst in der Heiligung geklagt werden. Das Wort: „Liebet ihr mich, so haltet meine Gebote“[WS 2] trat ungebührlich zurück. Erst der Pietismus hat wieder seine zentrale Bedeutung erkannt. Bis dahin war im Gegensatz zu der katholischen „Werkgerechtigkeit“ der Pendel der Lebensführung bedenklich auf die entgegengesetzte Seite hinübergeschwenkt. Aber die Religion ist nicht nur Gesinnung, sondern Gesinnung und That, Glaube, der in der Heiligung und in der Liebe thätig ist: das müssen die evangelischen Christen noch viel sicherer lernen, um nicht beschämt zu werden.

Noch etwas anderes hängt mit dem eben Ausgesprochenen eng zusammen. Die Reformation hat das Mönchtum abgethan und abthun müssen. Mit Recht hat sie es für eine Vermessenheit erklärt, sich durch ein für das ganze Leben abgelegtes Gelübde zur Askese zu verpflichten; mit Recht hat sie jeden weltlichen Beruf, gewissenhaft vor den Augen Gottes geführt, dem Mönchsstande gleich, ja überlegen erachtet. Aber es trat nun etwas ein, was Luther so nicht vorausgesehen und gewollt hat – das „Mönchtum“, wie es[181] evangelisch denkbar und notwendig ist, verschwand überhaupt. Eine jede Gemeinschaft aber braucht Persönlichkeiten, die ausschließlich ihrem Zwecke leben; so braucht auch die Kirche Freiwillige, die jeden anderen Beruf fahren lassen, auf die „Welt“ verzichten und sich ganz dem Dienst des Nächsten widmen, nicht weil dieser Beruf ein „höherer“ ist, sondern weil er notwendig ist, und weil aus einer lebendigen Kirche auch dieser Antrieb hervorgehen muß. Er ist aber in den evangelischen Kirchen gehemmt worden durch die decidierte Haltung, die sie gegen den Katholizismus einnehmen mußten. Das ist ein teurer Preis, den wir gezahlt haben; die Erwägung, wieviel schlichte und ungefärbte Frömmigkeit dagegen in Haus und Familie entzündet worden ist, kann ihm nichts abziehen! Aber wir dürfen uns freuen, daß in unserm Jahrhundert ein Anfang gemacht worden ist, den Verlust wieder einzubringen. In den Diakonissen und manchen verwandten Erscheinungen erhalten die evangelischen Kirchen das zurück, was sie einst von sich gestoßen haben, weil sie es in seiner damaligen Gestalt nicht anzuerkennen vermochten. Aber es muß sich noch viel reicher und mannigfaltiger ausgestalten!

2. Die Reformation hat nicht nur einen hohen Preis zahlen müssen, sie hat auch nicht vermocht, ihre neuen Erkenntnisse in allen Konsequenzen zu überschauen und rein durchzuführen. Nicht davon ist die Rede, daß sie nicht überall schlechthin Gültiges und Bleibendes geschaffen hat – wie wäre das möglich, und wer könnte das wünschen! Nein, ihre Ausgestaltung ist auch dort rückständig geblieben, wo man nach dem ersten, grundlegenden Anfang Höheres erwarten durfte. Verschiedene Ursachen haben hier zusammengewirkt. Hals über Kopf mußten seit dem Jahre 1526 evangelische Landeskirchen gegründet werden; sie mußten abgeschlossen und „fertig“ sein, als noch so vieles im Flusse war. Dazu kam, daß das Mißtrauen nach links, nach Seite der „Schwarmgeister“, sie bestimmte, Richtungen, mit denen sie noch ein gutes Stück Wegs hätte zusammengehen können, energisch zu bekämpfen. Daß Luther von ihnen schlechterdings nichts lernen wollte, ja daß er gegen seine eigenen Erkenntnisse, wenn sie mit denen der „Schwarmgeister“ zusammentrafen, argwöhnisch wurde, hat sich bitter gerächt und wurde den evangelischen Kirchen in der Aufklärungsepoche heimgezahlt. Man muß noch mehr sagen auf die Gefahr hin, zu den Verkleinerern Luther’s gerechnet zu werden: dieser Genius hatte[182] eine Kräftigkeit des Glaubens wie Paulus und durch sie eine ungeheure Macht über die Gemüter, aber auf der Höhe der Erkenntnisse, wie sie schon in seiner Zeit zugänglich waren, hat er nicht gestanden. Es war kein naives Zeitalter mehr, sondern ein tief bewegtes und fortgeschrittenes, in welchem die Religion darauf angewiesen war, Fühlung mit allen geistigen Mächten zu nehmen. In diesem Zeitalter fiel es ihm zu, nicht nur Reformator, sondern auch geistiger Führer und Lehrer sein zu müssen: die Weltanschauung und das Geschichtsbild hat er neu für Generationen entwerfen müssen; denn es war keiner da, der ihm half, und man wollte niemanden hören als ihn. Er aber hat nicht mit allen hellen Erkenntnissen im Bunde gestanden. Endlich, er wollte überall auf das Ursprüngliche, auf das Evangelium selbst zurückgehen, und soweit das durch Intuition und innere Erfahrung möglich war, hat er es geleistet; dazu, er hat auch treffliche geschichtliche Studien gemacht und ist siegreich an vielen Stellen durch die Schlachtlinie der überlieferten Dogmen hindurchgedrungen. Aber eine gesicherte Kenntnis ihrer Geschichte war damals noch eine Unmöglichkeit, und noch unerreichbarer war eine geschichtliche Erkenntnis des Neuen Testaments und des Urchristentums. Bewunderungswürdig ist es, wie Luther trotzdem so vieles durchschaut und richtig gewertet hat. Man lese nur seine Vorreden zu den neutestamentlichen Büchern oder seine Schrift „Von Kirchen und Conciliis“[WS 3]. Aber zahllose Probleme hat er gar nicht erkannt, geschweige lösen können, und war daher unvermögend, Kern und Schale, Ursprüngliches und Fremdes zu unterscheiden. Wie kann man sich daher wundern, daß die Reformation als Lehre und Geschichtsbetrachtung noch etwas ganz Unfertiges gewesen ist, und daß, wo sie keine Probleme sah, Verwirrungen in ihren eigenen Gedanken entstehen mußten? Nicht wie Pallas Athene konnte sie fertig aus dem Haupte des Jupiter entspringen – als Lehre vermochte sie nur einen Anfang zu bezeichnen und mußte auf Weiterführung rechnen. Aber indem sie sich rasch zu festen Landeskirchen formierte, war sie nahe daran, sich selbst ihre weitere Entwicklung für immer abzuschneiden.

In Bezug auf die Verwirrungen und die Hemmungen, die sie sich selbst auferlegte, muß es genügen, auf einige Hauptpunkte zu verweisen. Erstlich, Luther wollte nur das Evangelium gelten lassen, nur das, was wirklich die Gewissen befreit und bindet, was[183] ein jeder verstehen kann, auch der Knecht und die Magd. Aber dann nahm er doch nicht nur die alten Dogmen von der Trinität und den zwei Naturen in das Evangelium hinein – er war auch außer stande, sie geschichtlich zu prüfen – und bildete sogar neue, sondern er vermochte überhaupt nicht sicher zwischen „Lehre“ und „Evangelium“ zu scheiden, in diesem Punkte weit hinter Paulus zurückbleibend. Die notwendige Folge war, daß der Intellektualismus nicht überwunden wurde, daß sich aufs neue eine scholastische Lehre als heilsnotwendig bildete, und daß wiederum zwei Klassen unter den Christen entstanden – solche, welche die Doktrin verstehen, und solche, welche an das Verständnis jener gebunden und daher unmündig sind.

Zweitens, Luther war überzeugt, daß „Wort Gottes“ nur das ist, wodurch der Mensch innerlich neu geschaffen wird – die Verkündigung der freien Gnade Gottes in Christus. Auf den Höhepunkten seines Lebens war er frei von jeglicher Knechtschaft des Buchstabens, und wie vermochte er zu unterscheiden zwischen Gesetz und Evangelium, zwischen Altem und Neuem Testament, ja wie vermochte er im Neuen Testament selbst zu unterscheiden! Er wollte nichts anderes als die Hauptsache gelten lassen, die aus diesen Büchern hervorleuchtet und ihre Kraft an den Seelen bewährt. Aber er hat nicht reinen Tisch gemacht. Er forderte doch in Fällen, wo ihm ein Buchstabe wichtig geworden war, Unterwerfung unter das: „Es steht geschrieben“; er forderte sie peremptorisch, ohne sich zu erinnern, daß er selbst anderen Sprüchen der h. Schrift gegenüber jenes „Es steht geschrieben“ für unverbindlich erklärt hatte.

Drittens, Gnade ist Sündenvergebung und darum die Gewißheit des gnädigen Gottes, Leben und Seligkeit: wie oft hat Luther das wiederholt und stets hinzugefügt, daß das Wort dabei das Wirksame ist – der Zusammenschluß der Seele mit Gott in Vertrauen und kindlicher Ehrfurcht, am Worte Gottes gewonnen; um ein persönliches Verhältnis handelt es sich. Aber derselbe Mann hat sich in die peinlichsten Streitigkeiten verstricken lassen über die Gnadenmittel, über das Abendmahl und die Kindertaufe, in Kämpfe, in denen er in Gefahr stand, sowohl seinen hohen Begriff von Gnade wieder gegen den katholischen einzutauschen, als die grundlegende Einsicht einzubüßen, daß er sich um etwas rein Geistiges handelt und daß neben Wort und Glaube[184] alles andere gleichgültig ist. Die Hinterlassenschaft, die er hier seiner Kirche zurückgelassen hat, ist ein verhängnisvolles Erbe geworden!

Viertens, die Gegenkirche, die sich rasch gegenüber der römischen und unter ihrem Druck bilden mußte, erkannte nicht ohne Grund ihre Wahrheit und ihr Recht in der Wiederaufrichtung des Evangeliums. Aber indem sie dieses unter der Hand mit dem gesamten Inhalt ihrer Lehre identifizierte, schlich sich ebenfalls unter der Hand der Gedanke ein: Wir, d. h. die Partikularkirchen, die nun entstanden waren, sind die wahre Kirche. Luther selbst hat freilich nie vergessen können, daß die wahre Kirche die heilige Gemeinde der Gläubigen sei, aber in Unklarheiten darüber, wie sich zu ihr die sichtbare neue Kirche verhalte, die nun entstanden war, geriet er doch, und in der Folgezeit bürgerte sich das schlimme Mißverständnis immer mehr ein: Wir sind die wahre Kirche, weil wir die rechte „Lehre“ haben. Von hier aus ist, neben den bösen Folgen der Selbstverblendung und Intoleranz, auch jene schlimme Unterscheidung von Theologen und Pastoren einerseits und Taten andererseits, über die wir bereits gesprochen haben, noch weiter verstärkt worden. Nicht in der Theorie, wohl aber in der Praxis bildete sich wieder, wie im Katholizismus, ein doppeltes Christentum aus, und trotz der Anstrengungen, die der Pietismus dagegen gemacht hat, ist es bis heute nicht überwunden: der Theologe und Pastor muß die ganze Lehre vertreten, muß orthodox sein; für den Laien genügt es, daß er einige Hauptstücke festhält und die Orthodoxie nicht angreift. Noch jüngst ist mit erzählt worden, ein sehr bekannter Mann habe über einen unbequemen Theologen geäußert, er wünsche, derselbe möge in die philosophische Fakultät übergehen, „dann hätten wir statt eines ungläubigen Theologen einen gläubigen Philosophen“. Das ist ganz konsequent gedacht von dem Standpunkt aus, daß die Lehre auch in den evangelischen Kirchen etwas ein für allemal Festgelegtes und trotz ihrer allgemeinen Verbindlichkeit etwas so Schweres ist, daß ihre Vertretung den Laien gar nicht zugemutet zu werden braucht. Aber auf diesem Wege, und wenn die andern Verwirrungen sich auch noch steigern oder verfestigen, droht der Protestantismus zu einer kümmerlichen Doublette des Katholizismus zu werden. Kümmerlich nenne ich sie; denn zweierlei wird er doch nicht erreichen können, nämlich den Papst und den Mönchspriester. Die unbedingte Auto-[185] rität, welche der Katholik an dem Papste besitzt, vermag weder der Bibelbuchstabe noch das in Symbolen gefaßte Bekenntnis zu schaffen, und bis zum Mönchspriester kann der Protestantismus nicht mehr zurückschreiten. Er behält sein Landeskirchentum und seine verheirateten Geistlichen; beides nimmt sich neben dem Katholizismus nicht sehr stattlich aus, wenn die evangelischen Kirchen hier mit ihm rivalisieren wollen.

Meine Herren! Der Protestantismus ist, Gott sei Dank, noch nicht so schlimm daran, daß die Unvollkommenheiten und Verwirrungen, in denen er begonnen hat, die Oberhand gewannen und sein eigentliches Wesen gänzlich verkümmert oder erstickt hätten. Auch diejenigen unter uns, welche davon überzeugt sind, daß die Reformation des 16. Jahrhunderts etwas Abgeschlossenes und Fertiges ist, wollen doch die entscheidenden Grundgedanken der Reformation keineswegs preisgeben, und es giebt ein großes Feld, auf welchem alle ernsten evangelischen Christen einmütig zusammenstehen. Aber wenn Jene es nicht einzusehen vermögen, daß die Fortsetzung der Reformation im Sinne des reinen Verstandes des Wortes Gottes eine Lebensfrage für den Protestantismus ist – diese Fortsetzung hat bereits in der evangelischen Union reiche Früchte getragen –, so mögen sie wenigstens der Freiheit Raum geben, die Luther in seinen besten Tagen vertreten hat: „Man lasse die Geister aufeinander platzen und treffen; werden etliche indes verführet, wohlan, so gehts nach rechtem Kriegsbrauch; wo ein Streit und Schlacht ist, da müssen etliche fallen und wund werden; wer aber redlich ficht, wird gekrönet werden.“[WS 4]

Die Katholisierung der evangelischen Kirchen – ich meine nicht, daß sie päpstlich, sondern daß sie Gesetzes-, Lehr- und Zeremonienkirchen werden – ist deshalb eine so brennende Gefahr, weil drei gewaltige Mächte mitarbeiten, diesen Entwicklungsprozeß zu befördern. Da ist erstens die Indifferenz der Massen. Alle Indifferenz schiebt die Religion auf die Linie, auf welcher die Autorität und das Herkommen, aber auch der Priester, die Hierarchie und der Zeremonienkultus stehen. Dorthin schiebt sie die Religion, um sich dann über ihre Äußerlichkeit, ihre Rückständigkeit und über die „Anmaßungen“ der Geistlichen zu beklagen; ja sie kann wohl in einem und demselben Moment jene Klagen unter Schmähungen erheben und zugleich verächtlich jede lebendige Äußerung der Religion bespötteln und jeder Zeremonie huldigen. Diese In-[186] differenz hat für evangelisches Christentum gar kein Verständnis, sucht es instinktiv zu unterdrücken und rühmt ihm gegenüber wohl den Katholizismus. Zweitens kommt hier in Betracht, was ich die „natürliche Religion“ nennen möchte: die, welche von Furcht und Hoffnung leben, die, welche vor allem nach Autorität in der Religion suchen, die, welche die eigene Verantwortlichkeit los sein wollen und eine Rückversicherung begehren, die, welche eine „Beigabe“ zum Leben, sei es in seinen Feierstunden, sei es in seinen schlimmsten Nöten suchen, eine ästhetische Verklärung oder eine akute Hülfe, bis die Zeit hilft – sie alle schieben ebenfalls, ohne daß sie es wissen, die Religion auf die katholische Linie; sie wollen „etwas Festes“, sie wollen dazu noch seht viel anderes, Anregungen und Hülfen aller Art; aber evangelisches Christentum wollen sie nicht; dieses aber wird, wenn es solchen Wünschen nachgiebt, katholisches Christentum. Die dritte Macht nenne ich ungern, und doch darf sie nicht verschwiegen werden – es ist der Staat. Es ist ihm nicht zu verdenken, daß er an der Religion und den Kirchen vor allem das Konservative und die Nebenwirkungen schätzt, die sie in Hinsicht auf Pietät, Gehorsam und Ordnung leisten. Eben deshalb aber übt er einen Druck in dieser Richtung aus, schützt alles Stabile in den Kirchen und sucht sie von jeder inneren Bewegung abzuhalten, welche ihre Einheit und ihren „öffentlichen Nutzen“ in Frage stellen könnte; ja er hat oft genug darnach getrachtet, die Kirche der Polizei nahe zu rücken und sie als Mittel für die Aufrechterhaltung der Staatsordnung zu benutzen. Man kann das entschuldigen – der Staat mag versuchen, Machtmittel zu nehmen, wo er sie findet; aber die Kirche darf sich nicht zu einem gefügigen Werkzeug hergeben; denn neben allen den verwüstenden Folgen, die das für ihren Beruf und ihr Ansehen hat, wird sie auch auf diesem Wege zu einer äußeren Anstalt, in der die Ordnung wichtiger ist als der Geist, die Form wichtiger als die Sache, der Gehorsam wertvoller als die Wahrheit.


Diesen drei so verschiedenen Mächten gegenüber gilt es den Ernst und die Freiheit des evangelischen Christentums aufrecht zu erhalten. Die Theologie allein vermag das nicht; Festigkeit des christlichen Charakters ist gefordert. Die evangelischen Kirchen werden rückwärts geschoben, wenn sie nicht standhalten. Aus so freien Schöpfungen, wie die paulinischen Gemeinden es waren, ist[187] einst die katholische Kirche entstanden – wer bürgt dafür, daß nicht auch die Kirchen „katholisch“ werden, welche an der „Freiheit eines Christenmenschen“ ihren Ursprung gehabt haben?

Aber das Evangelium würde deßhalb nicht untergehen: das bezeugt die Geschichte. Es würde als ein roter Faden im Innern des Gewebes immer noch zu finden sein, und es würde an irgend einer Stelle aufs neue hervortreten und sich aus den verstrickenden Verknüpfungen befreien. Auch in den äußerlich geschmückten, innerlich verfallenen Tempeln der griechischen und römischen Kirche ist es nicht verlöscht. „Wage dich vorwärts! unten tief in einem Gewölbe wirst du noch den Altar und seine heilige, ewig brennende Lampe finden!“[AU 2] Dieses Evangelium hat sich mit der Spekulation und der Kultusmystik der Griechen verbunden und ist in ihnen doch nicht untergegangen; es ist mit dem römischen Weltreich vereinigt worden und hat sich sogar in dieser Verschmelzung erhalten, ja noch die Reformation hervorgehen lassen! Seine dogmatischen Lehren, seine Kultusordnungen haben gewechselt, noch viel mehr – es ist von der reinsten Einfalt und von den tiefsten Denkern ergriffen worden; es ist einem Franziskus und einem Newton teuer gewesen. Es hat den Wandel der Weltanschauungen überdauert; es hat Gedanken und Formen, die einst heilig waren, abgestreift wie ein Gewand; es hat an dem gesamten Fortschritt der Kultur teilgenommen; er hat sich vergeistigt und im Laufe der Geschichte seine sittlichen Grundsätze sicherer anzuwenden gelernt. In seinem ursprünglichen Ernst und Trost ist es zu allen Zeiten Tausenden aufgegangen und hat in ihnen alle Belastungen abgeworfen und alle Verzäunungen durchbrochen. Wenn wir ein Recht hatten zu sagen, dass Evangelium sei die Erkenntnis und Anerkennung Gottes als des Vaters, die Gewißheit der Erlösung, die Demut und Freude in Gott, die Thatkraft und die Bruderliebe, wenn es dieser Religion wesentlich ist, daß der Stifter nicht über seiner Botschaft, die Botschaft nicht über dem Stifter vergessen wird – so zeigt die Geschichte, daß das wirklich in Kraft geblieben ist und sich immer wieder durchringt.


Sie werden vielleicht vermißt haben, daß ich auf unsere gegenwärtige Lage, nämlich auf das Verhältnis des Evangeliums zu unserem gegenwärtigen geistigen Zustand, unserer ganzen Welterkenntnis und Weltaufgabe, nicht eingegangen bin. Aber um[188] dies mit Erfolg in Bezug auf die konkrete Situation zu thun, dazu bedürfte es mehr Zeit, als ein paar flüchtige Stunden; in Bezug auf den Kern der Sache aber ist das Nötige gesagt; denn in der Geschichte der christlichen Religion haben wir seit der Reformation keine neue Stufe erlebt.[AU 3] Ungeheure Wandlungen hat unsere Welterkenntnis erfahren – jedes Jahrhundert seit der Reformation bedeutet einen Fortschritt, den wichtigsten die beiden letzten –, aber die Kräfte und Prinzipien der Reformation sind, religiös und ethisch betrachtet, nicht überholt und abgelöst worden. Wir brauchen sie nur rein zu erfassen und mutig anzuwenden, so setzen ihnen die modernen Erkenntnisse keine neuen Schwierigkeiten entgegen. Die wirklichen Schwierigkeiten, welche der Religion des Evangeliums entgegen stehen, sind immer die alten. Ihnen gegenüber vermögen wir nichts zu „beweisen“; denn unsere Beweise sind hier nur Variationen unsrer Überzeugungen. Wohl aber hat sich durch den Gang, den die Geschichte genommen hat, ein weites Gebiet aufgethan, auf welchem sich der christliche Brudersinn noch ganz anders bewähren muß, als er es in den früheren Jahrhunderten erkannt und vermocht hat – das soziale. Hier liegt eine gewaltige Aufgabe, und in dem Maße, als wir sie erfüllen, werden wir die tiefste Frage, die Frage nach dem Sinn des Lebens, freudiger beantworten können.


Meine Herren! Die Religion, nämlich die Gottes- und Nächstenliebe, ist es, die dem Leben einen Sinn giebt; die Wissenschaft vermag das nicht. Daß ich einmal von meiner eigenen Erfahrung spreche, als einer, der sich dreißig Jahre um diese Dinge ernsthaft bemüht hat. Es ist eine herrliche Sache um die reine Wissenschaft, und wehe dem, der sie gering schützt oder den Sinn für die Erkenntnis in sich abstumpft! Aber auf die Fragen nach dem Woher, Wohin und Wozu giebt sie heute so wenig eine Antwort wie vor zwei- oder dreitausend Jahren. Wohl belehrt sie uns über Thatsächliches, deckt Widersprüche auf, verkettet Erscheinungen und berichtigt die Täuschungen unserer Sinne und Vorstellungen. Aber wo und wie die Kurve der Welt und die Kurve unseres eigenen Lebens beginnt – jene Kurve, von der sie uns nur ein Stück zeigt – und wohin diese Kurve führt, darüber belehrt uns die Wissenschaft nicht. Wenn wir aber mit festem Willen die Kräfte und Werte bejahen, die auf den Höhe-[189] punkten unseres inneren Lebens als unser höchstes Gut, ja als unser eigentliches Selbst aufstrahlen, wenn wir den Ernst und den Mut haben, sie als das Wirkliche gelten zu lassen und nach ihnen das Leben einzurichten, und wenn wir dann auf den Gang der Geschichte der Menschheit blicken, ihre aufwärts sich bewegende Entwicklung verfolgen und strebend und dienend die Gemeinschaft der Geister in ihr aufsuchen – so werden wir nicht in Überdruß und Kleinmut versinken, sondern wir werden Gottes gewiß werden, des Gottes, den Jesus Christus seinen Vater genannt hat, und der auch unser Vater ist.




Anmerkungen des Autors (1908)

  1. An diesem, aber auch in den folgenden Abschnitten wäre des Unterschieds zwischen Kalvin und Luther, der großen selbständigen Aktivität der kalvinischen Kirchen und des Bruchs zu gedenken gewesen, den erst sie in bezug auf die mittelalterliche Kirche, den Staat, ja die ganze mittelalterliche Kultur vollkommen herbeigeführt haben. Die Kürze der Zeit erlaubte es leider nicht, auf diese Erscheinungen einzugehen.
  2. Das Wort stammt von Carlyle.
  3. „In der Geschichte der christlichen Religion haben wir seit der Reformation keine neue Stufe erlebt“ – das Wort ist paradox und daher bestritten worden. Es wäre nicht paradox, sondern falsch, wenn es in Abrede stellen würde, daß wir seit fast zwei Jahrhunderten in steigendem Maße unter ganz neuen Bedingungen stehen, die uns zu einer durchgreifenden Revision des kirchlich evangelischen Lehrbegriffes nötigen und ihn, wir wollen oder nicht, bereits vollziehen. Aber es bleibt dabei, daß wir den Reformator noch zu erwarten haben, der die lutherische Reformation nach ihren Prinzipien und Grundkräften ablöst, und ich zweifle, daß er kommen wird. Doch ist die Aufgabe zu eng gefaßt, wenn im folgenden nur das soziale Gebiet genannt ist, auf dem sich die christliche Religion heute neu einzurichten hat; das Gebiet des Erkenntnis – das religionsphilosophische und religionsgeschichtliche – wäre auch zu nennen gewesen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. EG 351 und EG 361.
  2. Joh 14,15.
  3. 1539, in: WA 50, 488-653.
  4. Ein Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührischen Geist (1524), in: WA 15, 199-221.


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