Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/192

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

dies mit Erfolg in Bezug auf die konkrete Situation zu thun, dazu bedürfte es mehr Zeit, als ein paar flüchtige Stunden; in Bezug auf den Kern der Sache aber ist das Nötige gesagt; denn in der Geschichte der christlichen Religion haben wir seit der Reformation keine neue Stufe erlebt.[AU 1] Ungeheure Wandlungen hat unsere Welterkenntnis erfahren – jedes Jahrhundert seit der Reformation bedeutet einen Fortschritt, den wichtigsten die beiden letzten –, aber die Kräfte und Prinzipien der Reformation sind, religiös und ethisch betrachtet, nicht überholt und abgelöst worden. Wir brauchen sie nur rein zu erfassen und mutig anzuwenden, so setzen ihnen die modernen Erkenntnisse keine neuen Schwierigkeiten entgegen. Die wirklichen Schwierigkeiten, welche der Religion des Evangeliums entgegen stehen, sind immer die alten. Ihnen gegenüber vermögen wir nichts zu „beweisen“; denn unsere Beweise sind hier nur Variationen unsrer Überzeugungen. Wohl aber hat sich durch den Gang, den die Geschichte genommen hat, ein weites Gebiet aufgethan, auf welchem sich der christliche Brudersinn noch ganz anders bewähren muß, als er es in den früheren Jahrhunderten erkannt und vermocht hat – das soziale. Hier liegt eine gewaltige Aufgabe, und in dem Maße, als wir sie erfüllen, werden wir die tiefste Frage, die Frage nach dem Sinn des Lebens, freudiger beantworten können.


Meine Herren! Die Religion, nämlich die Gottes- und Nächstenliebe, ist es, die dem Leben einen Sinn giebt; die Wissenschaft vermag das nicht. Daß ich einmal von meiner eigenen Erfahrung spreche, als einer, der sich dreißig Jahre um diese Dinge ernsthaft bemüht hat. Es ist eine herrliche Sache um die reine Wissenschaft, und wehe dem, der sie gering schützt oder den Sinn für die Erkenntnis in sich abstumpft! Aber auf die Fragen nach dem Woher, Wohin und Wozu giebt sie heute so wenig eine Antwort wie vor zwei- oder dreitausend Jahren. Wohl belehrt sie uns über Thatsächliches, deckt Widersprüche auf, verkettet Erscheinungen und berichtigt die Täuschungen unserer Sinne und Vorstellungen. Aber wo und wie die Kurve der Welt und die Kurve unseres eigenen Lebens beginnt – jene Kurve, von der sie uns nur ein Stück zeigt – und wohin diese Kurve führt, darüber belehrt uns die Wissenschaft nicht. Wenn wir aber mit festem Willen die Kräfte und Werte bejahen, die auf den Höhe-

Anmerkung des Autors (1908)

  1. „In der Geschichte der christlichen Religion haben wir seit der Reformation keine neue Stufe erlebt“ – das Wort ist paradox und daher bestritten worden. Es wäre nicht paradox, sondern falsch, wenn es in Abrede stellen würde, daß wir seit fast zwei Jahrhunderten in steigendem Maße unter ganz neuen Bedingungen stehen, die uns zu einer durchgreifenden Revision des kirchlich evangelischen Lehrbegriffes nötigen und ihn, wir wollen oder nicht, bereits vollziehen. Aber es bleibt dabei, daß wir den Reformator noch zu erwarten haben, der die lutherische Reformation nach ihren Prinzipien und Grundkräften ablöst, und ich zweifle, daß er kommen wird. Doch ist die Aufgabe zu eng gefaßt, wenn im folgenden nur das soziale Gebiet genannt ist, auf dem sich die christliche Religion heute neu einzurichten hat; das Gebiet des Erkenntnis – das religionsphilosophische und religionsgeschichtliche – wäre auch zu nennen gewesen.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/192&oldid=- (Version vom 30.6.2018)