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rität, welche der Katholik an dem Papste besitzt, vermag weder der Bibelbuchstabe noch das in Symbolen gefaßte Bekenntnis zu schaffen, und bis zum Mönchspriester kann der Protestantismus nicht mehr zurückschreiten. Er behält sein Landeskirchentum und seine verheirateten Geistlichen; beides nimmt sich neben dem Katholizismus nicht sehr stattlich aus, wenn die evangelischen Kirchen hier mit ihm rivalisieren wollen.

Meine Herren! Der Protestantismus ist, Gott sei Dank, noch nicht so schlimm daran, daß die Unvollkommenheiten und Verwirrungen, in denen er begonnen hat, die Oberhand gewannen und sein eigentliches Wesen gänzlich verkümmert oder erstickt hätten. Auch diejenigen unter uns, welche davon überzeugt sind, daß die Reformation des 16. Jahrhunderts etwas Abgeschlossenes und Fertiges ist, wollen doch die entscheidenden Grundgedanken der Reformation keineswegs preisgeben, und es giebt ein großes Feld, auf welchem alle ernsten evangelischen Christen einmütig zusammenstehen. Aber wenn Jene es nicht einzusehen vermögen, daß die Fortsetzung der Reformation im Sinne des reinen Verstandes des Wortes Gottes eine Lebensfrage für den Protestantismus ist – diese Fortsetzung hat bereits in der evangelischen Union reiche Früchte getragen –, so mögen sie wenigstens der Freiheit Raum geben, die Luther in seinen besten Tagen vertreten hat: „Man lasse die Geister aufeinander platzen und treffen; werden etliche indes verführet, wohlan, so gehts nach rechtem Kriegsbrauch; wo ein Streit und Schlacht ist, da müssen etliche fallen und wund werden; wer aber redlich ficht, wird gekrönet werden.“[WS 1]

Die Katholisierung der evangelischen Kirchen – ich meine nicht, daß sie päpstlich, sondern daß sie Gesetzes-, Lehr- und Zeremonienkirchen werden – ist deshalb eine so brennende Gefahr, weil drei gewaltige Mächte mitarbeiten, diesen Entwicklungsprozeß zu befördern. Da ist erstens die Indifferenz der Massen. Alle Indifferenz schiebt die Religion auf die Linie, auf welcher die Autorität und das Herkommen, aber auch der Priester, die Hierarchie und der Zeremonienkultus stehen. Dorthin schiebt sie die Religion, um sich dann über ihre Äußerlichkeit, ihre Rückständigkeit und über die „Anmaßungen“ der Geistlichen zu beklagen; ja sie kann wohl in einem und demselben Moment jene Klagen unter Schmähungen erheben und zugleich verächtlich jede lebendige Äußerung der Religion bespötteln und jeder Zeremonie huldigen. Diese In-

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Ein Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührischen Geist (1524), in: WA 15, 199-221.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 185. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/189&oldid=- (Version vom 30.6.2018)