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Sechzehnte Vorlesung.




Es ist oftmals die Frage aufgeworfen worden, ob und in welchem Maße die Reformation ein Werk des deutschen Geistes gewesen ist. Ich vermag hier auf dieses komplizierte Problem nicht einzugehen; soviel aber scheint mir gewiß, das zwar Luther’s entscheidendes religiöses Erlebnis mit seiner Nationalität nicht zusammenzustellen ist, daß aber die Folgen, die er ihm gegeben hat, sowohl die positiven als die negativen, den deutschen Mann zeigen – den deutschen Mann und die deutsche Geschichte. Von dem Momente an, in welchem sich die Deutschen in der ihnen überlieferten Religion wirklich heimisch zu machen versuchten – erst vom 13. Jahrhundert an ist das geschehen –, haben sie auch die Reformation vorbereitet. Und wie man das morgenländische Christentum mit Recht das griechische, das mittelalterlich-abendländische das römische nennt, so darf man auch das reformatorische als das germanische bezeichnen, trotz Calvin, denn er ist Luther’s Schüler gewesen, und er hat nicht unter den Romanen, sondern unter den Engländern, Schotten und Niederländern am nachhaltigsten gewirkt. Die Deutschen bezeichnen durch die Reformation eine Stufe in der allgemeinen Kirchengeschichte; von den Slaven läßt sich Ähnliches nicht behaupten.

Die Abkehr von der Askese, die den Deutschen niemals ein so durchschlagendes Ideal gewesen ist wie den anderen Völkern, und der Protest gegen die Religion als äußere Autorität sind sowohl aus dem paulinischen Evangelium als auch aus dem deutschen Geiste zu erklären. Auch die Wärme und Herzlichkeit in der Predigt und der Freimut in der polemischen Aussprache hat die

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/181&oldid=- (Version vom 30.6.2018)