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eine Kräftigkeit des Glaubens wie Paulus und durch sie eine ungeheure Macht über die Gemüter, aber auf der Höhe der Erkenntnisse, wie sie schon in seiner Zeit zugänglich waren, hat er nicht gestanden. Es war kein naives Zeitalter mehr, sondern ein tief bewegtes und fortgeschrittenes, in welchem die Religion darauf angewiesen war, Fühlung mit allen geistigen Mächten zu nehmen. In diesem Zeitalter fiel es ihm zu, nicht nur Reformator, sondern auch geistiger Führer und Lehrer sein zu müssen: die Weltanschauung und das Geschichtsbild hat er neu für Generationen entwerfen müssen; denn es war keiner da, der ihm half, und man wollte niemanden hören als ihn. Er aber hat nicht mit allen hellen Erkenntnissen im Bunde gestanden. Endlich, er wollte überall auf das Ursprüngliche, auf das Evangelium selbst zurückgehen, und soweit das durch Intuition und innere Erfahrung möglich war, hat er es geleistet; dazu, er hat auch treffliche geschichtliche Studien gemacht und ist siegreich an vielen Stellen durch die Schlachtlinie der überlieferten Dogmen hindurchgedrungen. Aber eine gesicherte Kenntnis ihrer Geschichte war damals noch eine Unmöglichkeit, und noch unerreichbarer war eine geschichtliche Erkenntnis des Neuen Testaments und des Urchristentums. Bewunderungswürdig ist es, wie Luther trotzdem so vieles durchschaut und richtig gewertet hat. Man lese nur seine Vorreden zu den neutestamentlichen Büchern oder seine Schrift „Von Kirchen und Conciliis“[WS 1]. Aber zahllose Probleme hat er gar nicht erkannt, geschweige lösen können, und war daher unvermögend, Kern und Schale, Ursprüngliches und Fremdes zu unterscheiden. Wie kann man sich daher wundern, daß die Reformation als Lehre und Geschichtsbetrachtung noch etwas ganz Unfertiges gewesen ist, und daß, wo sie keine Probleme sah, Verwirrungen in ihren eigenen Gedanken entstehen mußten? Nicht wie Pallas Athene konnte sie fertig aus dem Haupte des Jupiter entspringen – als Lehre vermochte sie nur einen Anfang zu bezeichnen und mußte auf Weiterführung rechnen. Aber indem sie sich rasch zu festen Landeskirchen formierte, war sie nahe daran, sich selbst ihre weitere Entwicklung für immer abzuschneiden.

In Bezug auf die Verwirrungen und die Hemmungen, die sie sich selbst auferlegte, muß es genügen, auf einige Hauptpunkte zu verweisen. Erstlich, Luther wollte nur das Evangelium gelten lassen, nur das, was wirklich die Gewissen befreit und bindet, was

Anmerkungen (Wikisource)

  1. 1539, in: WA 50, 488-653.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/186&oldid=- (Version vom 30.6.2018)