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sehung und Gnade getrösten, die Vergebung der Sünden glauben – das ist dort und hier das Entscheidende. Und noch in der trüben Zeit der lutherischen Orthodoxie hat ein Paul Gerhardt diese evangelische Grundüberzeugung in seinen Liedern – „Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich“, „Befiehl du deine Wege“[WS 1] u. a. – so herrlich auszudrücken vermocht, daß man erkennt, wie sicher sie den Protestantismus durchdrungen hat. Weiter, daß der rechte Gottesdienst nichts anderes sein darf, als die Anerkennung Gottes im Lob und im Gebet, daß aber auch der Dienst am Nächsten Gottesdienst ist, ist direkt dem Evangelium und den ihm entsprechenden Anweisungen des Paulus entnommen. Endlich, daß die wahre Kirche durch den heiligen Geist und den Glauben zusammengehalten wird, daß sie eine geistige Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern ist – diese Überzeugung liegt auf der Linie des Evangeliums und ist von Paulus mit aller Klarheit ausgesprochen worden. Sofern die Reformation dies alles wiederhergestellt und auch Christus als den einzigen Erlöser anerkannt hat, darf sie im strengsten Sinn des Worts evangelisch genannt werden, und sofern diese Überzeugungen trotz aller Verkümmerungen und Belastungen in den protestantischen Kirchen noch immer die leitenden sind, dürfen sie sich mit allem Fuge als evangelische bezeichnen.


Aber das, was hier erreicht worden ist, hat auch seine Schatten. Wenn wir fragen, was uns die Reformation gekostet und in welchem Maße sie ihre Prinzipien durchgesetzt hat, treten sie uns deutlich entgegen.

1. Umsonst erhält man nichts in der Geschichte, und eine gewaltsame Bewegung muß doppelt bezahlt werden – was hat uns die Reformation gekostet? Ich will nicht davon reden, daß die Einheit der abendländischen Kultur, da sich die Reformation doch nur in einem Teile Westeuropa’s durchgesetzt hat, zerstört worden ist; denn die Mannigfaltigkeit und Freiheit der nun folgenden Entwicklung hat uns größeren Gewinn gebracht. Aber die Notwendigkeit, die neuen Kirchen als Staatskirchen zu etablieren, hat schwere Nachteile zur Folge gehabt. Freilich, das Kirchenstaatstum ist schlimmer, und seine Anhänger haben wahrlich keinen Grund, es gegenüber den Staatskirchen zu rühmen. Allein diese – sie sind nicht nur eine Folge des Bruchs mit der kirchlichen Obrigkeit, sondern haben sich bereits im 15. Jahrhundert vorbereitet – haben

Anmerkungen (Wikisource)

  1. EG 351 und EG 361.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/183&oldid=- (Version vom 30.6.2018)