« Siebente Vorlesung Adolf von Harnack
Das Wesen des Christentums
Neunte Vorlesung »
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[84]
Achte Vorlesung.




Die messianischen Lehren im jüdischen Volke im Zeitalter Jesu waren keine „Dogmatik“, auch waren sie nicht mit den streng ausgebildeten gesetzlichen Vorschriften verknüpft, sondern sie bildeten einen wesentlichen Bestandteil der religiösen und politischen Zukunftshoffnungen des Volkes. Nur in allgemeinen Grundlinien standen sie fest; darüber hinaus herrschten große Verschiedenheiten. Die alten Propheten hatten in eine herrliche Zukunft ausgeblickt, in welcher Gott selbst erscheinen, die Feinde Israels vernichten und Gerechtigkeit, Friede und Freude schaffen werde. Gleichzeitig hatten sie aber auch das Auftreten eines weisen und mächtigen Königs aus Davids Hause verheißen, der den herrlichen Zustand heraufführen werde. Endlich hatten sie das Volk Israel selbst als den aus der Völkerwelt erwählten Sohn Gottes bezeichnet. Diese drei Momente sind für die Ausbildung der messianischen Ideen in der Folgezeit maßgebend geworden. Die Hoffnung auf eine herrliche Zukunft des Volkes Israel blieb der Rahmen für alle Erwartungen, aber folgendes trat in den beiden Jahrhunderten vor Christus noch hinzu: 1. Mit der Erweiterung des geschichtlichen Horizontes wurde das Interesse der Juden für die Völkerwelt immer lebendiger, die Idee der gesamten „Menschheit“ stellt sich ein, und das Ende, also auch das Wirken des Messias wird auf sie bezogen; das Gericht wird Weltgericht und der Messias Weltherrscher und -richter. 2. An eine sittliche Läuterung des Volkes hatte man schon früher im Hinblick auf die herrliche Zukunft gedacht; aber die Vernichtung der Feinde Israels erschien doch als die Hauptsache; nun aber wurde in vielen das Gefühl der sittlichen Verantwortlichkeit und die Er-[85] kenntnis Gottes als des Heiligen lebendiger; die messianische Zeit verlangt ein heiliges Volk, und das Gericht wird daher notwendig auch ein Gericht über einen Teil von Israel selbst sein müssen. 3. Der Individualismus wurde kräftiger, und demgemäß trat die Beziehung Gottes auf den einzelnen in den Vordergrund: der einzelne Israelit empfindet sich inmitten seines Volkes, und er beginnt sein Volk als eine Summe von einzelnen zu beurteilen; der individuelle Vorsehungsglaube tritt neben den politischen, verbindet sich mit dem Wert- und Verantwortungsgefühl, und es dämmert die Hoffnung auf ein ewiges Leben und die Furcht vor ewiger Strafe im Zusammenhang mit den endgeschichtlichen Erwartungen auf – das persönliche Heilsinteresse und der Auferstehungsglaube sind die Ergebnisse dieser inneren Entwicklung, und das geschärfte Gewissen vermag bei der offenbaren Unheiligkeit des Volkes und der Macht der Sünde auf eine herrliche Zukunft für alle nicht mehr zu hoffen; nur ein Rest wird gerettet; 4. die Zukunftserwartungen werden immer mehr transcendent; sie werden immer stärker ins Übernatürliche und Überweltliche umgesetzt; vom Himmel kommt etwas ganz Neues auf die Erde, und ein völlig neuer Weltlauf löst den alten ab; ja selbst die verklärte Erde ist nicht mehr das letzte Ziel; die Idee einer absoluten Seligkeit, deren Stätte nur der Himmel selbst sein kann, taucht auf; 5. die Persönlichkeit des erwarteten Messias grenzt sich schärfer wie gegen die Idee eines irdischen Königs, so gegen die des Volkes als ganzen und gegen die Gottes ab: der Messias behält kaum noch irdische Züge, obgleich er als Mensch unter Menschen erscheint: seit den Tagen der Urzeit ist er bei Gott, kommt vom Himmel hernieder und richtet mit übermenschlichen Mitteln sein Werk aus; die sittlichen Züge in seinem Bilde treten hervor: er ist der vollkommene Gerechte, der alle Gebote erfüllt, ja selbst die Vorstellung dringt ein, daß seine Verdienste den andern zu gute kommen; allein die Idee eines leidenden Messias – durch Jesaias 53, wie man denken sollte, nahe gelegt – wird nicht gewonnen.

Alle diese Spekulationen vermochten aber die älteren einfacheren Auffassungen nicht zu verdrängen und den ursprünglichen patriotisch-politischen Orientierungspunkt bei der großen Mehrzahl des Volkes nicht zu verrücken. Gott selbst nimmt das Scepter in die Hand, vernichtet seine Gegner und begründet das israelitische Weltreich; er bedient sich dazu eines königlichen Helden; man sitzt nun unter[86] seinem Feigenbaum und seinem Weinstock und genießt den Frieden, indem man den Fuß auf den Nacken seiner Feinde hält – daß war doch wohl noch immer die populärste Vorstellung, und sie wurde auch von solchen festgehalten, die daneben höheren Anschauungen nachgingen. Aber in einem Teil des Volkes war unzweifelhaft der Sinn dafür geweckt, daß das Reich Gottes eine entsprechende sittliche Verfassung voraussetze, und daß es nur zu einem gerechten Volke kommen könne. Die einen suchten diese Gerechtigkeit auf dem Wege der pünktlichsten Gesetzesbeobachtung zu erwerben und konnten sich in dem Eifer um sie nicht genug thun; andere, von tieferer Selbsterkenntnis bewegt, begannen etwas davon zu ahnen, daß jene heiß ersehnte Gerechtigkeit selbst nur aus Gottes Hand kommen könne, daß man göttlicher Hülfe, göttlicher Gnade und Barmherzigkeit bedürfe, um die Last der Sünde – denn ein inneres Sündengefühl wurde in ihnen qualvoll lebendig – los zu werden.

So wogten im Zeitalter Christi sowohl ganz disparate Stimmungen als konträre theoretische Vorstellungen, auf einen Punkt bezogen, wild durcheinander. Vielleicht niemals in der Geschichte wieder und bei keinem anderen Volke lagen die äußersten Gegensätze, von der Religion zusammengehalten, so nahe bei einander. Bald erscheint der Horizont so eng wie der Kreis der Berge, die Jerusalem umgeben, bald umfaßt er die ganze Menschheit. Hier ist alles auf die Höhe einer geistigen und sittlichen Anschauung erhoben, und dort, dicht daneben, scheint das ganze Drama mit einem politischen Siege des Volkes schließen zu sollen. Hier entbinden sich alle Kräfte des Gottvertrauens, der Zuversicht, und der Fromme ringt sich zu einem heiligen „Dennoch“ durch, dort halt ein sittlich stumpfer patriotischer Fanatismus jede religiöse Regung nieder.

Das Bild, welches man sich vom Messias machte, mußte so widerspruchsvoll sein wie die Hoffnungen, denen es entsprechen sollte. Nicht nur die formalen Vorstellungen von ihm schwankten unsicher hin und her – wie wird seine Natur beschaffen sein? –, sondern vor allem sein inneres Wesen und sein Beruf erschienen in ganz verschiedenem Lichte. Aber bei allen denen, in welchen die sittlichen und wahrhaft religiösen Elemente die Oberhand zu gewinnen begannen, mußte das Bild des politischen und des kriegerischen Königs zurückweichen und das Bild des Propheten, welches immer schon leise auf die Vorstellungen eingewirkt hatte, an die Stelle treten. Daß der Messias Gott nahe bringen, daß er irgendwie[87] Gerechtigkeit schaffen, daß er von den quälenden inneren Lasten befreien werde, wurde erhofft. Daß es im jüdischen Volke damals Gläubige gegeben hat, die einen solchen Messias erwarteten oder doch nicht von vornherein ablehnten, zeigt uns bereits die Geschichte Johannes’ des Täufers, wie wir sie in unseren Evangelien lesen. Wir erfahren aus ihr, daß einige geneigt gewesen sind, diesen Johannes für den Messias zu halten. Wie elastisch müssen die messianischen Vorstellungen gewesen sein und wie stark müssen sie sich in gewissen Kreisen von ihren Ursprüngen entfernt haben, wenn man diesen ganz unköniglichen Bußprediger im Mantel von Kamelshaaren, ihn, der dem entarteten Volke lediglich das nahe Gericht ankündigte, für den Messias selbst halten konnte! Und wenn wir weiter in den Evangelien lesen, daß nicht wenige im Volke Jesus für den Messias gehalten haben, nur weil er gewaltig predigte und durch Wunderthaten heilte – wie gründlich erscheint da das messianische Bild geändert! Freilich, sie sahen in diesem Heilandswirken nur den Anfang, sie erwarteten, daß dieser Wunderthäter nun bald die letzte Hülle abwerfen und „das Reich aufrichten“[WS 1] werde; aber schon dies genügt hier, daß sie einen Mann, dessen Herkunft und bisheriges Leben sie kannten und der noch nichts gethan hatte als Buße zu predigen, die Nähe des Himmelreichs zu verkündigen und zu heilen, als den Verheißenen zu begrüßen vermochten. Niemals werden wir ergründen, durch welche innere Entwicklung Jesus von der Gewißheit, der Sohn Gottes zu sein, übergegangen ist zu der anderen, der verheißene Messias zu sein. Aber die Einsicht, daß damals auch bei anderen die Vorstellung vom Messias durch eine langsame Umwandlung ganz neue Züge erhalten hatte und sich aus einer politisch-religiösen Idee in eine geistig-religiöse umsetzte – diese Einsicht befreit doch das Problem aus seiner völligen Isolierung. Daß Johannes der Täufer, daß die zwölf Jünger Jesus als den Messias anerkannt haben, daß sie nicht diese Form für die absolute Wertschätzung seiner Person verworfen, sondern sie sich vielmehr in eben dieser Form fixiert haben, ist ein Beweis dafür, wie beweglich die messianische Idee damals gewesen ist, und erklärt es daher auch, daß Jesus selbst sie aufnehmen konnte. Robur in infirmitate perficitur[WS 2]: daß es eine göttliche Kraft und Herrlichkeit giebt, die keiner irdischen Macht und keines irdischen Glanzes bedarf, ja sie ausschließt, daß es eine Majestät des Heiligen und der Liebe giebt, die diejenigen, welche sie ergreift,[88] rettet und beseligt – das hat der gewußt, der sich trotz seiner Niedrigkeit den Messias, genannt hat, und das müssen die empfunden haben, die ihn als den von Gott gesalbten König Israels anerkannten.

Wie Jesus zu dem Bewußtsein, der Messias zu sein, gelangt ist, das vermögen wir nicht zu ergründen, aber einiges, was im Zusammenhang mit dieser Frage steht, können wir doch feststellen. Die älteste Überlieferung[AU 1] sah in einem inneren Erlebnis Jesu bei der Taufe die Grundlegung seines messianischen Bewußtseins. Wir können das nicht kontrollieren, aber wir sind noch weniger imstande zu widersprechen; es ist vielmehr durchaus wahrscheinlich, daß er, als er öffentlich auftrat, bereits in sich abgeschlossen war.[AU 2]Die Evangelien stellen eine merkwürdige Versuchungsgeschichte Jesu vor den Beginn seines öffentlichen Wirkens.[AU 3] Sie setzt voraus, daß er sich bereits als der Sohn Gottes und als der mit dem entscheidenden Werke für das Volk Gottes Betraute gewußt und die Versuchungen bestanden hat, die an dieses Bewußtsein geknüpft waren. Als Johannes aus dem Gefängnis ihn fragen läßt: „Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines anderen warten“[WS 3], da antwortet er so, daß der Fragende verstehen mußte: Er ist der Messias, daß er aber zugleich erfuhr, wie Jesus das messianische Amt auffaßte. Dann kam der Tag von Cäsarea Philippi, an welchem ihn Petrus als den erwarteten Christus anerkannte und Jesus es ihm freudig bestätigte. Dann folgte die Frage an die Pharisäer: „Wie dünket euch um Christo, wes Sohn ist er?“[WS 4] jene Scene, die mit der neuen Frage schloß: „So David den Messias einen Herrn nennt, wie ist er denn sein Sohn?“[WS 5] Es folgte endlich der Einzug in Jerusalem vor allem Volk samt der Tempelreinigung; sie kamen der öffentlichen Erklärung gleich, daß er der Messias sei. Aber seine erste unzweideutige messianische Handlung war auch seine letzte – die Dornenkrone und das Kreuz folgten ihr.

Wir haben gesagt, es sei wahrscheinlich, daß Jesus, als er öffentlich auftrat, bereits in sich abgeschlossen und darum auch über seine Mission klar gewesen ist. Aber damit ist nicht behauptet, daß ihm selbst jene Mission nichts mehr gebracht hätte. Nicht nur zu leiden hat er lernen müssen und dem Kreuze mit Gottvertrauen entgegenzusehen – das Bewußtsein seiner Sohnschaft hatte sich nun zu bewähren, und die Erkenntnis des „Werkes“, mit dem ihn der Vater erst betraut hatte, konnte sich erst in der Arbeit und in der[89] Besiegung jeglichen Widerstandes entwickeln. Welch eine Stunde muß es gewesen sein, in der er sich als den erkannte, von dem die Propheten geredet hatten, als er die ganze Geschichte seines Volkes von Abraham und Moses an im Lichte seiner eigenen Sendung sah, als er der Erkenntnis nicht mehr auszuweichen vermochte, er sei der verheißene Messias! Nicht mehr auszuweichen vermochte – denn wie läßt es sich anders vorstellen, als daß diese Erkenntnis zunächst als die furchtbarste Last von ihm empfunden werden mußte? Doch, wir sind schon zu weit gegangen: wir vermögen nichts mehr zu sagen. Nur das verstehen wir von hier aus, daß Johannes recht hat, wenn er Jesus immer wieder bezeugen läßt: „Ich habe nicht von mir selber geredet, sondern der Vater, der mich gesandt hat, hat mir ein Gebot gegeben, was ich thun und reden soll,“[WS 6] und: „Ich bin nicht allein; denn der Vater ist bei mir.“[WS 7]


Wie wir immer über den Begriff „Messias“ denken mögen – er war doch die schlechthin notwendige Voraussetzung, damit der innerlich Berufene innerhalb der jüdischen Religionsgeschichte – der tiefsten und reifsten, die ein Volk erlebt hat, ja wie die Zukunft zeigen sollte, der eigentlichen Religionsgeschichte der Menschheit – die absolute Anerkennung zu gewinnen vermochte. Diese Idee ist das Mittel geworden, um den, der sich als den Sohn Gottes wußte und das Werk Gottes trieb, wirklich auf den Thron der Geschichte, zunächst für die Gläubigen seines Volkes, zu setzen. Aber eben darin, daß sie dies leistete, war auch ihre Aufgabe erschöpft. Der „Messias“ war Jesus und war es nicht, und zwar deshalb nicht, weil er diesen Begriff weit hinter sich ließ, weil er ihn mit einem Inhalt erfüllt hatte, der ihn sprengte. Wohl vermögen wir heute noch an diesem uns so fremden Begriff einzelnes nachzuempfinden – eine Idee, die ein ganzes Volk Jahrhunderte lang gefesselt und in der es alle seine Ideale niedergelegt hat, kann nicht ganz unverständlich sein. Wir erkennen in dem Ausblick auf die messianische Zeit die alte Hoffnung auf ein goldenes Zeitalter wieder, jene Hoffnung, die, versittlicht, das Ziel jeder kräftigen Lebensbewegung sein muß und ein unveräußerliches Stück jeder religiösen Geschichtsbetrachtung bildet; wir sehen in der Erwartung eines persönlichen Messias den Ausdruck der Erkenntnis, daß das Heil in der Geschichte in den Personen liegt und daß, wenn eine Einheit der Menschheit in der Übereinstimmung ihrer[90] tiefsten Kräfte und höchsten Ziele zustande kommen soll, eben diese Menschheit in der Anerkennung eines Herrn und Meisters geeinigt sein muß. Aber darüber hinaus vermögen wir der messianischen Idee einen Sinn und eine Geltung nicht mehr zu geben; Jesus selbst hat sie ihr genommen.


In der Anerkennung Jesu als des Messias war für jeden gläubigen Juden die innigste Verbindung der Botschaft Jesu mit seiner Person gegeben: in dem Wirken des Messias kommt Gott selbst zu seinem Volke; dem Messias, der Gottes Werk treibt und der zur Rechten Gottes auf den Wolken des Himmels sitzt, gebührt Anbetung. Aber wie hat sich Jesus selbst zu seinem Evangelium gestellt; nimmt er eine Stellung in ihm ein? Wir haben hier eine negative und eine positive Antwort zu geben.

1. Das Evangelium ist in den Merkmalen, die wir in den früheren Vorlesungen angegeben haben, erschöpft, und nichts Fremdes soll sich eindrängen: Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott. Jesus hat darüber keinen Zweifel gelassen, daß Gott im Gesetz und den Propheten gefunden werden kann und gefunden worden ist. „Es ist dir gesagt, Mensch, was dir gut ist und was dein Gott von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“[WS 8] Der Zöllner im Tempel, das Weib am Gotteskasten, der verlorene Sohn sind seine Paradigmen; sie alle wissen nichts von einer „Christologie“, und doch hat der Zöllner die Demut gewonnen, der die Gerechtsprechung folgt. Wer daran dreht und deutelt, der verwundet die Schlichtheit und Größe der Predigt Jesu an einer ihrer wichtigsten Stellen. Es ist eine verzweifelte Annahme, zu behaupten, im Sinne Jesu sei seine ganze Predigt nur etwas Vorläufiges gewesen, alles in ihr müsse nach seinem Tode und seiner Auferstehung anders verstanden, ja einiges gleichsam als ungültig beseitigt werden. Nein – diese Verkündigung ist einfacher, als die Kirchen es wahr haben wollten, einfacher, aber darum auch universaler und ernster. Man kann ihr nicht mit der Ausflucht entrinnen: Ich vermag mich in die „Christologie“ nicht zu finden; darum ist diese Predigt nicht für mich. Jesus hat den Menschen die großen Fragen nahe gebracht, Gottes Gnade und Barmherzigkeit verheißen und eine Entscheidung verlangt: Gott oder der Mammon, ewiges oder irdisches Leben, Seele oder Leib, Demut oder Selbstgerechtigkeit, Liebe oder Selbstsucht, Wahrheit oder Lüge. In[91] dem Ring dieser Fragen ist alles beschlossen; der einzelne soll die frohe Botschaft von der Barmherzigkeit und der Kindschaft hören und sich entscheiden, ob er auf die Seite Gottes und der Ewigkeit tritt oder auf die Seite der Welt und der Zeit. Es ist keine Paradoxie und wiederum auch nicht „Rationalismus“ sondern der einfache Ausdruck des Thatbestandes, wie er in den Evangelien vorliegt: Nicht der Sohn, sondern allein der Vater gehört in das Evangelium, wie es Jesus verkündigt hat, hinein.[AU 4]

2. Aber so, wie er den Vater kennt, hat ihn noch niemand erkannt, und er bringt den andern diese Erkenntnis; er leistet damit „den vielen“[WS 9] einen unvergleichlichen Dienst. Er führt sie zu Gott, nicht nur durch sein Wort, sondern noch mehr durch das, was er ist und thut, und letztlich durch das, was er leidet. In diesem Sinn hat er sowohl das Wort gesprochen: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken“[WS 10], als auch das andere: „Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben zur Lösung für viele.“[WS 11] Er weiß, daß eine neue Zeit jetzt durch ihn beginnt, in der die „Kleinsten“ durch ihre Gotteserkenntnis größer sein werden als die Größten der Vorzeit; er weiß, daß Tausende an ihm den Vater finden und das Leben gewinnen werden – eben die Mühseligen und Beladenen –; er weiß sich als den Säemann, der den guten Samen streut: sein ist das Ackerfeld, sein der Same, sein die Frucht. Das sind keine dogmatischen Lehren, noch weniger Transformationen des Evangeliums selbst oder gar drückende Forderungen – es ist die Aussprache eines Thatbestandes, den er schon werden sieht und mit prophetischer Sicherheit vorausschaut. Die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die Tauben hören, den Armen wird das Evangelium gepredigt – durch Ihn: an dieser Erfahrung geht ihm unter der furchtbaren Last seines Berufs, mitten im Kampfe, die Herrlichkeit auf, die ihm der Vater gegeben hat. Und was er jetzt persönlich leistet, wird durch sein mit dem Tode gekröntes Leben eine entscheidende, fortwirkende Thatsache bleiben auch für die Zukunft: Er ist der Weg zum Vater, und er ist, als der vom Vater Eingesetzte, auch der Richter.

Hat er sich geirrt? Weder die nächste Folgezeit noch die Geschichte hat ihm unrecht gegeben. Nicht wie ein Bestandteil gehört er in das Evangelium hinein, sondern er ist die persönliche Verwirklichung und die Kraft des Evangeliums gewesen und[92] wird noch immer als solche empfunden. Feuer entzündet sich nur an Feuer, persönliches Leben nur an persönlichen Kräften. Wir lassen alles dogmatische Klügeln beiseite und überlassen es andern, exklusive Urteile zu fällen; das Evangelium behauptet nicht, daß Gottes Barmherzigkeit auf die Sendung Jesu beschränkt sei; das aber lehrt die Geschichte: die Mühseligen und Beladenen führt Er zu Gott, und wiederum – die Menschheit hat Er auf die neue Stufe gehoben, und seine Predigt ist noch immer das kritische Zeichen: sie beseligt und richtet.

Der Satz: „Ich bin der Sohn Gottes“[WS 12], ist von Jesu selbst nicht in sein Evangelium eingerückt worden, und wer ihn als einen Satz neben anderen dort einstellt, fügt dem Evangelium etwas hinzu. Aber wer dieses aufnimmt und den zu erkennen strebt, der es gebracht hat, wird bezeugen, daß hier das Göttliche so rein erschienen ist, wie es auf Erden nur erscheinen kann, und wird empfinden, daß Jesus selbst für die Seinen die Kraft des Evangeliums gewesen ist. Was sie aber an ihm erlebt und erkannt haben, das haben sie verkündigt, und diese Verkündigung ist noch lebendig.

6. Das Evangelium und die Lehre, oder die Frage nach dem Bekenntnis.

Wir können uns hier kurz fassen, da das Wesentlichste bereits in den bisherigen Betrachtungen erschöpft ist.

Das Evangelium ist keine theoretische Lehre, keine Weltweisheit; Lehre ist es nur insofern, als es die Wirklichkeit Gottes des Vaters lehrt. Es ist eine frohe Botschaft, die uns des ewigen Lebens versichert und uns sagt, was die Dinge und die Kräfte wert sind, mit denen wir es zu thun haben. Indem es vom ewigen Leben handelt, giebt es die Anweisung für die rechte Lebensführung. Welchen Wert die menschliche Seele, die Demut, die Barmherzigkeit, die Reinheit, das Kreuz haben, das sagt es, und welchen Unwert die weltlichen Güter und die ängstliche Sorge um den Bestand des irdischen Lebens. Und es giebt die Zusage, daß trotz alles Kampfes Friede, Gewißheit und innere Unzerstörbarkeit die rechte Lebensführung krönen werden. Was kann unter solchen Bedingungen „Bekennen“ anders heißen, als den Willen Gottes thun in der Gewißheit, daß er der Vater und der Vergelter ist? Von keinem anderen „Bekenntnis“ hat Jesus jemals gesprochen.[93] Auch wenn er sagt: „Wer mich bekennet vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater“[WS 13], denkt er an die Nachfolge und meint das Bekenntnis in der Gesinnung und in der That. Wie weit entfernt man sich also von seinen Gedanken und von seiner Anweisung, wenn man ein „christologisches“ Bekenntnis dem Evangelium voranstellt und lehrt, erst müsse man über Christus richtig denken, dann erst könne man an das Evangelium herantreten! Das ist eine Verkehrung. Über Christus vermag man nur dann und in dem Maße „richtig“ zu denken und zu lehren, als man nach seinem Evangelium zu leben begonnen hat. Kein Vorbau steht vor seiner Predigt, den man erst zu durchschreiten, kein Joch, das man allem zuvor auf sich zu nehmen hätte: die Gedanken und Zusagen des Evangeliums sind die ersten und sind die letzten; jede Seele ist unmittelbar vor sie gestellt.

Noch weniger aber setzt das Evangelium eine bestimmte Naturerkenntnis voraus oder ist mit ihr verknüpft – nicht einmal im negativen Sinn läßt sich das behaupten. Es handelt sich um Religion und um das Sittliche; das Evangelium bringt den lebendigen Gott. Das Bekenntnis zu ihm – im Glauben und in der Erfüllung seines Willens – ist auch hier das einzige Bekenntnis: so hat es Jesus Christus gemeint. Was sich an Erkenntnissen auf Grund dieses Glaubens ergiebt – und es sind gewaltige –, das bleibt doch immer verschieden nach Maßgabe der inneren Entwicklung und des subjektiven Verständnisses. An das Erlebnis, den Herrn Himmels und der Erde zum Vater zu haben, reicht nichts heran, und die ärmste Seele kann diese Erfahrung erleben und bezeugen.

Erleben – nur die selbst erlebte Religion soll bekannt werden; jedes andere Bekenntnis ist im Sinne Jesu heuchlerisch und verderblich. Wie sich in dem Evangelium keine breite „Religionslehre“ findet, so noch viel weniger die Anweisung, eine fertige Lehre allem zuvor anzunehmen und zu bekennen. Entstehen und wachsen sollen Glaube und Bekenntnis aus dem entscheidenden Punkt der Abkehr von der Welt und der Zukehr zu Gott heraus, und das Bekenntnis soll nichts anderes sein als der Thaterweis des Glaubens. „Der Glaube ist nicht jedermanns Ding“[WS 14], sagt der Apostel Paulus, aber jedermanns Ding sollte es sein, wahrhaftig zu bleiben und sich in der Religion vor dem Geschwätz der Lippen und dem leichtfertigen Bekennen und Zustimmen zu hüten. „Es hatte ein Mann zwei Söhne und ging zu dem ersten und sprach: Mein Sohn, gehe[94] hin und arbeite heute in meinem Weinberg. Er antwortete: Herr, ja, und ging nicht hin. Und er sprach zum Anderen gleich also, und er antwortete: Ich will es nicht thun; darnach reuete es ihn, und ging hin.“[WS 15] –


Hiermit könnte ich schließen; aber es drängt mich noch, auf einen Einwurf zu antworten. Man sagt wohl, das Evangelium sei erhaben und groß und sei gewiß eine heilsame Kraft in der Geschichte gewesen, aber es sei untrennbar verknüpft mit einem längst überwundenen Welt- und Geschichtsbilde; deshalb, so schmerzlich das sei und obgleich wir Besseres nicht an die Stelle zu setzen vermögen, habe es seine Gültigkeit eingebüßt und könne für uns nichts mehr bedeuten. Darauf möchte ich ein Doppeltes erwidern:

1. Gewiß, es ist ein ganz anderes Welt- und Geschichtsbild als das unsrige, mit welchem das Evangelium verbunden ist, und wir können und wollen dieses Bild nicht wieder zurückrufen; aber „untrennbar“ ist es nicht mit ihm verknüpft. Ich habe zu zeigen versucht, welches die wesentlichen Elemente im Evangelium sind, und diese Elemente sind „zeitlos“. Aber nicht nur sie sind es; auch der „Mensch“, an den sich das Evangelium richtet, ist „zeitlos“, d. h. es ist der Mensch, wie er, trotz allem Fortschritt der Entwicklung, in seiner inneren Verfassung und in seinen Grundbeziehungen zur Außenwelt immer derselbe bleibt. Weil dem so ist, darum bleibt dieses Evangelium auch für uns in Kraft.

2. Das Evangelium – und das ist das Entscheidende in seinem Welt- und Geschichtsbilde – ruht auf dem Gegensatze von Geist und Fleisch, Gott und Welt, dem Guten und dem Bösen. Nun, noch ist es den Denkern trotz heißem Bemühen nicht gelungen, eine befriedigende und den tiefsten Bedürfnissen entsprechende Ethik auf dem Boden des Monismus auszubilden. Es wird nicht gelingen. Dann aber ist es letztlich wesentlich gleichgültig, mit welchen Namen wir den Zwiespalt bezeichnen wollen, um den es sich für den sittlich empfindenden Menschen handelt: Gott und Welt, Diesseits und Jenseits, Sichtbares und Unsichtbares, Materie und Geist, Triebleben und Freiheit, Physik und Ethik. Die Einheit kann erlebt, eines dem anderen unterworfen werden; aber die Einheit kommt immer nur durch Kampf zustande in der Form einer unendlichen, nur annähernd zu lösenden Aufgabe, nicht aber durch Verfeinerung eines mechanischen Prozesses. „Von der Gewalt, die[95] alle Wesen bindet, befreit der Mensch sich, der sich überwindet“[WS 16], dieses herrliche Wort Goethe’s[AU 5] drückt die Sache aus, um die es sich hier handelt. Sie bleibt, und sie ist das Wesentliche in den dramatischen, zeitgeschichtlichen Bildern, in welchen das Evangelium den Gegensatz ausdrückt, dessen Überwindung es gilt. Ich weiß auch nicht, wie uns unsere fortgeschrittene Naturerkenntnis hindern sollte, die Wahrheit des Bekenntnisses zu bezeugen: „Die Welt vergehet mit ihrer Lust, wer aber den Willen Gottes thut, bleibet in Ewigkeit“[WS 17]? Um einen Dualismus handelt es sich, dessen Ursprung wir nicht kennen; aber als sittliche Wesen sind wir überzeugt, daß er, wie er uns gesetzt ist, damit wir ihn bei uns überwinden und zur Einheit führen, so auch auf eine ursprüngliche Einheit zurückweist und letztlich seinen Ausgleich im Großen – in der verwirklichten Herrschaft des Guten – finden wird.

Träume, sagt man; denn was wir vor Augen sehen, bietet uns ein ganz anderes Bild; nein, nicht Träume – wurzelt doch die Existenz unseres wahren Lebens hier –, wohl aber Stückwerk; denn wir vermögen unsere raumzeitlichen Erkenntnisse mit dem Inhalt unsers Innenlebens nicht in die Einheit einer Weltanschauung zu bringen. Nur in dem Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft, ahnen wir diese Einheit.

Doch bereits haben wir den Kreis unserer nächsten Aufgabe verlassen. Das Evangelium wollten wir in seinen Grundzügen und in seinen wichtigsten Beziehungen kennen lernen. Ich habe versucht, dieser Aufgabe zu entsprechen; der letzte Punkt führte uns über sie hinaus. Wir kehren zu ihr zurück, um im zweiten Teile den Gang der christlichen Religion durch die Geschichte zu verfolgen.


Anmerkungen des Autors (1908)

  1. Die älteste Überlieferung hat (vgl. Wellhausen) vielleicht nicht schon bei der Taufe durch Johannes, sondern erst bei der Verklärung die Einsetzung Jesu zum Messias (d. h. den Durchbruch seines messianischen Bewußtseins) angenommen. In diesem Fall gehört die Erzählung von einem besonderem messianischen Erlebnis Jesu bei der Taufe einer zwar sehr alten, aber doch nicht ursprünglichen Überlieferungsschicht an und ist also als Legende zu beurteilen, s. meine Schrift über die Sprüche und Reden Jesu, bes. S. 163ff.
  2. „Es ist vielmehr durchaus wahrscheinlich, daß Jesus, als er öffentlich auftrat, bereits in sich abgeschlossen war.“ – in bezug auf sein besonderes Verhältnis zu Gott (d. h. sein „Sohnes“bewußtsein) wird das angenommen werden dürfen, aber das messianische Bewußtsein kann doch erst während seiner Predigt- und Heilandstätigkeit in ihm erwacht sein – sonst bleibt das anfängliche Verhältnis zu seinen Jüngern und zum Volke unverständlich und bedenklich –, und es kann nie die Form gehabt haben: „Ich bin jetzt der Messias“, sondern „ich bin der ‚Messias designatus‘“. Das messianische Bewußtsein kann also in Jesus selbst stets nur in der Art einer in ihrer Gewißheit sich steigernden Hoffnung gelebt haben; denn der Messias ist der aus den Wolken des Himmels kommende König. Daß in dem Texte nicht scharf der Unterschied von „Messias“ und „Messias designatus“ gemacht ist, ist ein Fehler.
  3. Ist die Geschichte von der Vision bei der Taufe nicht ursprünglich, so muß auch die Versuchungsgeschichte apokryph sein oder in einem späteren Zusammenhang gehören.
  4. „Nicht der Sohn, sondern allein der Vater gehört in das Evangelium, wie es Jesus verkündigt hat, hinein.“ – Dieses Wort ist von vielen Seiten aufs schärfste bekämpft worden, aber nicht widerlegt worden. Ich habe nichts an ihm zu ändern. Nur sind die Worte „Wie es Jesus verkündigt hat“, hier gesperrt worden, weil sie von vielen Gegnern übersehen worden sind. Daß Jesus in das Evangelium, wie es Paulus und die Evangelisten verkündigt haben, nicht nur hineingehört, sondern den eigentlichen Inhalt dieses Evangeliums bildet, braucht nicht erst gesagt zu werden. Wie es zu diesem Übergang gekommen ist und inwiefern er zu Recht besteht, zeigen die folgenden Ausführungen, sowohl die sofort sich anschließenden als auch die der übrigen Vorlesungen.
  5. Das Wort Goethes ist an dieser Stelle mißverständlich. Es ist hierher gesetzt, nicht um die spontane Selbstüberwindung zu preisen, sondern um die Gewalt zu charakterisieren, um deren Überwindung es sich handelt, und um die Notwendigkeit dieses Kampfes zu bezeugen. Einsichtige Leser haben das auch richtig verstanden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vgl. Apg 1,6.
  2. Zu Deutsch etwa: „Die Kraft ist in den Schwachen mächtig“. Vgl. 2. Kor 12,9 nach der Vulgata: virtus in infirmitate perficitur.
  3. Mt 11,3.
  4. Mt 22,42.
  5. Mt 22,45.
  6. Joh 12,49.
  7. Joh 16,32.
  8. Mi 6,8.
  9. Vgl. Mt 20,28.
  10. Mt 11,28.
  11. Mt 20,28.
  12. Mt 27,43.
  13. Mt 10,32.
  14. 2. Thess 3,2.
  15. Mt 21,28-30 in anderer Versreihenfolge.
  16. Johann Wolfgang von Goethe, Die Geheimnisse, in: Sämtliche Werke, 1. Abt., Bd. 8.
  17. 1. Joh 2,17.


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