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Auch wenn er sagt: „Wer mich bekennet vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater“[WS 1], denkt er an die Nachfolge und meint das Bekenntnis in der Gesinnung und in der That. Wie weit entfernt man sich also von seinen Gedanken und von seiner Anweisung, wenn man ein „christologisches“ Bekenntnis dem Evangelium voranstellt und lehrt, erst müsse man über Christus richtig denken, dann erst könne man an das Evangelium herantreten! Das ist eine Verkehrung. Über Christus vermag man nur dann und in dem Maße „richtig“ zu denken und zu lehren, als man nach seinem Evangelium zu leben begonnen hat. Kein Vorbau steht vor seiner Predigt, den man erst zu durchschreiten, kein Joch, das man allem zuvor auf sich zu nehmen hätte: die Gedanken und Zusagen des Evangeliums sind die ersten und sind die letzten; jede Seele ist unmittelbar vor sie gestellt.

Noch weniger aber setzt das Evangelium eine bestimmte Naturerkenntnis voraus oder ist mit ihr verknüpft – nicht einmal im negativen Sinn läßt sich das behaupten. Es handelt sich um Religion und um das Sittliche; das Evangelium bringt den lebendigen Gott. Das Bekenntnis zu ihm – im Glauben und in der Erfüllung seines Willens – ist auch hier das einzige Bekenntnis: so hat es Jesus Christus gemeint. Was sich an Erkenntnissen auf Grund dieses Glaubens ergiebt – und es sind gewaltige –, das bleibt doch immer verschieden nach Maßgabe der inneren Entwicklung und des subjektiven Verständnisses. An das Erlebnis, den Herrn Himmels und der Erde zum Vater zu haben, reicht nichts heran, und die ärmste Seele kann diese Erfahrung erleben und bezeugen.

Erleben – nur die selbst erlebte Religion soll bekannt werden; jedes andere Bekenntnis ist im Sinne Jesu heuchlerisch und verderblich. Wie sich in dem Evangelium keine breite „Religionslehre“ findet, so noch viel weniger die Anweisung, eine fertige Lehre allem zuvor anzunehmen und zu bekennen. Entstehen und wachsen sollen Glaube und Bekenntnis aus dem entscheidenden Punkt der Abkehr von der Welt und der Zukehr zu Gott heraus, und das Bekenntnis soll nichts anderes sein als der Thaterweis des Glaubens. „Der Glaube ist nicht jedermanns Ding“[WS 2], sagt der Apostel Paulus, aber jedermanns Ding sollte es sein, wahrhaftig zu bleiben und sich in der Religion vor dem Geschwätz der Lippen und dem leichtfertigen Bekennen und Zustimmen zu hüten. „Es hatte ein Mann zwei Söhne und ging zu dem ersten und sprach: Mein Sohn, gehe

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Mt 10,32.
  2. 2. Thess 3,2.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 093. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/097&oldid=- (Version vom 30.6.2018)