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wird noch immer als solche empfunden. Feuer entzündet sich nur an Feuer, persönliches Leben nur an persönlichen Kräften. Wir lassen alles dogmatische Klügeln beiseite und überlassen es andern, exklusive Urteile zu fällen; das Evangelium behauptet nicht, daß Gottes Barmherzigkeit auf die Sendung Jesu beschränkt sei; das aber lehrt die Geschichte: die Mühseligen und Beladenen führt Er zu Gott, und wiederum – die Menschheit hat Er auf die neue Stufe gehoben, und seine Predigt ist noch immer das kritische Zeichen: sie beseligt und richtet.

Der Satz: „Ich bin der Sohn Gottes“[WS 1], ist von Jesu selbst nicht in sein Evangelium eingerückt worden, und wer ihn als einen Satz neben anderen dort einstellt, fügt dem Evangelium etwas hinzu. Aber wer dieses aufnimmt und den zu erkennen strebt, der es gebracht hat, wird bezeugen, daß hier das Göttliche so rein erschienen ist, wie es auf Erden nur erscheinen kann, und wird empfinden, daß Jesus selbst für die Seinen die Kraft des Evangeliums gewesen ist. Was sie aber an ihm erlebt und erkannt haben, das haben sie verkündigt, und diese Verkündigung ist noch lebendig.

6. Das Evangelium und die Lehre, oder die Frage nach dem Bekenntnis.

Wir können uns hier kurz fassen, da das Wesentlichste bereits in den bisherigen Betrachtungen erschöpft ist.

Das Evangelium ist keine theoretische Lehre, keine Weltweisheit; Lehre ist es nur insofern, als es die Wirklichkeit Gottes des Vaters lehrt. Es ist eine frohe Botschaft, die uns des ewigen Lebens versichert und uns sagt, was die Dinge und die Kräfte wert sind, mit denen wir es zu thun haben. Indem es vom ewigen Leben handelt, giebt es die Anweisung für die rechte Lebensführung. Welchen Wert die menschliche Seele, die Demut, die Barmherzigkeit, die Reinheit, das Kreuz haben, das sagt es, und welchen Unwert die weltlichen Güter und die ängstliche Sorge um den Bestand des irdischen Lebens. Und es giebt die Zusage, daß trotz alles Kampfes Friede, Gewißheit und innere Unzerstörbarkeit die rechte Lebensführung krönen werden. Was kann unter solchen Bedingungen „Bekennen“ anders heißen, als den Willen Gottes thun in der Gewißheit, daß er der Vater und der Vergelter ist? Von keinem anderen „Bekenntnis“ hat Jesus jemals gesprochen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Mt 27,43.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 092. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/096&oldid=- (Version vom 30.6.2018)