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seinem Feigenbaum und seinem Weinstock und genießt den Frieden, indem man den Fuß auf den Nacken seiner Feinde hält – daß war doch wohl noch immer die populärste Vorstellung, und sie wurde auch von solchen festgehalten, die daneben höheren Anschauungen nachgingen. Aber in einem Teil des Volkes war unzweifelhaft der Sinn dafür geweckt, daß das Reich Gottes eine entsprechende sittliche Verfassung voraussetze, und daß es nur zu einem gerechten Volke kommen könne. Die einen suchten diese Gerechtigkeit auf dem Wege der pünktlichsten Gesetzesbeobachtung zu erwerben und konnten sich in dem Eifer um sie nicht genug thun; andere, von tieferer Selbsterkenntnis bewegt, begannen etwas davon zu ahnen, daß jene heiß ersehnte Gerechtigkeit selbst nur aus Gottes Hand kommen könne, daß man göttlicher Hülfe, göttlicher Gnade und Barmherzigkeit bedürfe, um die Last der Sünde – denn ein inneres Sündengefühl wurde in ihnen qualvoll lebendig – los zu werden.

So wogten im Zeitalter Christi sowohl ganz disparate Stimmungen als konträre theoretische Vorstellungen, auf einen Punkt bezogen, wild durcheinander. Vielleicht niemals in der Geschichte wieder und bei keinem anderen Volke lagen die äußersten Gegensätze, von der Religion zusammengehalten, so nahe bei einander. Bald erscheint der Horizont so eng wie der Kreis der Berge, die Jerusalem umgeben, bald umfaßt er die ganze Menschheit. Hier ist alles auf die Höhe einer geistigen und sittlichen Anschauung erhoben, und dort, dicht daneben, scheint das ganze Drama mit einem politischen Siege des Volkes schließen zu sollen. Hier entbinden sich alle Kräfte des Gottvertrauens, der Zuversicht, und der Fromme ringt sich zu einem heiligen „Dennoch“ durch, dort halt ein sittlich stumpfer patriotischer Fanatismus jede religiöse Regung nieder.

Das Bild, welches man sich vom Messias machte, mußte so widerspruchsvoll sein wie die Hoffnungen, denen es entsprechen sollte. Nicht nur die formalen Vorstellungen von ihm schwankten unsicher hin und her – wie wird seine Natur beschaffen sein? –, sondern vor allem sein inneres Wesen und sein Beruf erschienen in ganz verschiedenem Lichte. Aber bei allen denen, in welchen die sittlichen und wahrhaft religiösen Elemente die Oberhand zu gewinnen begannen, mußte das Bild des politischen und des kriegerischen Königs zurückweichen und das Bild des Propheten, welches immer schon leise auf die Vorstellungen eingewirkt hatte, an die Stelle treten. Daß der Messias Gott nahe bringen, daß er irgendwie

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 086. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/090&oldid=- (Version vom 30.6.2018)