BLKÖ:Scherer, Wilhelm
Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich | |||
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Band: 29 (1875), ab Seite: 210. (Quelle) | |||
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[211] Doctorwürde. Zu Ostern 1864 habilitirte sich S. an der Wiener Universität für altdeutsche Sprache und Exegese, später auch für deutsche Literaturgeschichte und Alterthumskunde. Seine geistvollen Vorträge erweckten bald die Aufmerksamkeit in den maßgebenden Kreisen, und nach Franz Pfeiffer’s [Bd. XXII, S. 169] im Mai 1868 erfolgten Tode wurde S. – in einer gelehrten Frage sein entschiedener Gegner [vergleiche das Nähere in S.’s wissenschaftlicher Charakteristik] – bereits mit allerhöchster Entschließung vom 3. Juli 1868 zum o. ö. Professor der deutschen Sprache und Literatur an der Wiener Hochschule ernannt. Diese bekleidete er bis zum Jahre 1872, in welchem er nach einer von Seite der deutschen Regierung an ihn ergangenen Berufung an die Straßburger Hochschule, welche er annahm, mit ah. Entschließung vom 24. October 1872 seiner amtlichen Stellung an der Wiener Hochschule enthoben wurde und an seinen Bestimmungsort Straßburg sich begab. Am 24. Juli 1869 war seine Wahl zum correspondirenden Mitgliede der philosophisch-historischen Classe der kais. Akademie der Wissenschaften genehmigt worden. Sowohl in Wien wie in Berlin hatte S. seiner wissenschaftlichen Ausbildung eine umfassende Ausdehnung gegeben und sich in Berlin einer besonderen Anleitung Müllenhoff’s, Haupt’s und Homeyer’s erfreut. Bei Professor Weber hatte er eingehende Studien des Sanskrit und der vergleichenden Sprachforschung getrieben. In Gemeinschaft mit Müllenhoff gab S. im Jahre 1864 (Berlin, bei Weidmann) die „Denkmäler der deutschen Poesie und Prosa aus dem VIII. bis XII. Jahrhundert“ heraus. Die Anerkennung, welche darin liegt, daß S. als Mitarbeiter eines hervorragenden Fachmannes in die Literatur eingeführt wurde, wird durch den Werth seiner Leistung im vollen Maße bestätigt. Müllenhoff selbst erklärt in der Vorrede zu dem genannten Werke, daß die Ausführung des ganzen Werkes wohl unterblieben wäre, hätte er Doctor Scherer aus Wien nicht zum Mitarbeiter, wie er ihn nur hätte wünschen können, gehabt. Von Scherer rührt die kritische Ausgabe des Textes und die eingehende Besprechung sämmtlicher prosaischer und eines Theiles der poetischen Stücke – also die größere Hälfte des Buches her. Auch an einem anderen Werke Müllenhoff’s, an den „Altdeutschen Sprachproben“ (Berlin 1864, Weidmann) hat S. nicht unerheblichen Antheil. Im nämlichen Jahre erschien dann sein Habilitationsvortrag: „Ueber den Ursprung der deutschen Literatur“ und im darauffolgenden die Abhandlung über Jacob Grimm. An die genannten Arbeiten reihen sich noch ein paar, in den Sitzungsberichten der philosophisch-historischen Classe der Wiener kais. Akademie der Wissenschaften erschienene, u. z.: „Leben Williams, Abtes von Ebersberg in Bayern. Beitrag zur Geschichte des XI. Jahrhunderts“ (1866) und „Deutsche Studien, I. Spervogel“ (1870), von welchen beiden ziemlich umfangreichen Abhandlungen auch Separatabdrücke veranstaltet wurden. Im Jahre 1868 veröffentlichte S. ein selbstständiges großes Werk: „Zur Geschichte der deutschen Sprache“, welches von Fachmännern als eines der bedeutenderen erklärt wird, die seit Jacob Grimm’s Grundlagen der Arbeiten auf dem Gebiete der deutschen Sprachgeschichte erschienen sind. In neuester Zeit aber erschienen seine „Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Oesterreich“ (Berlin 1874, gr. 8°.), welche eine Sammlung der bedeutenderen, [212] in Feuilletons größerer Journale enthaltenen Aufsätze S.’s bilden. Richard Heinzel hat in der „Deutschen Zeitung“ (Wien) vom 22. November 1874, Nr. 1068, eine bemerkenswerthe Kritik über dieses Werk in gleichzeitiger Abfertigung eines Kritikers – g geschrieben, welcher in der „Wiener Abendpost“ den wissenschaftlichen Werth des Buches bei Seite setzend. gegen den politischen Standpunct Scherer’s zu Felde gezogen ist. Noch sei eines Umstandes Erwähnung gethan, der einerseits S.’s wissenschaftlichen Standpunct in einer noch unerledigten Frage präcisirt und andererseits Zeugniß gibt von der keine Rücksicht kennenden Unabhängigkeit des jungen Gelehrten, der sich durch Autoritätsschwindel ganz und gar nicht beirren läßt. Als Scherer noch Privatdocent in Wien war, lehrte daselbst Franz Pfeiffer, der berühmte Germanist, dessen Nachfolger, wie schon erwähnt, Scherer wurde. Es war eben die Frage wegen der Autorschaft des Nibelungenliedes an der Tagesordnung. Scherer schlug sich auf Lachmann’s Seite – war er ja doch selbst ein Schüler Müllenhoff’s, der wieder ein Schüler Lachmann’s gewesen. Scherer lehrte und begründete Lachmann’s Ansicht: das Nibelungenlied bestehe aus einzelnen, im Munde des Volkes befindlichen, von unbekannten Verfassern herrührenden Gedichten. die dann von einem Schreiber zusammengestellt wurden, der die schreiendsten Widersprüche ausglich. Scherer bediente sich, seine Gedanken über die großen Nationalepen zu präcisiren, der Worte des slavischen Forschers Miklosich [Bd. XVIII, S. 269]: „Die Entstehung der großen Epen sei Buchbinderarbeit“. Pfeiffer vertritt bekanntlich die Ansicht: wir verdanken das Nibelungenlied Einem Verfasser, und als solchen bezeichnete er den Oesterreicher Kürnberger, welche er auch mit großem Scharfsinne in seiner Denkrede in der feierlichen Sitzung der Wiener kais. Akademie der Wissenschaften vom 30. Mai 1862 darzuthun gesucht hat. Obwohl Scherer nicht Prüfungscommissär war, eine Eigenschaft, welche es ermöglicht, daß die langweiligsten Vorträge geistloser Professoren, welche eben Prüfungscommissäre sind, zahlreich besucht werden, so versammelte er doch immer einen ansehnlichen Zuhörerkreis um seine Vorträge, mit welchem er in dem von ihm geleiteten Seminar auch in persönlichen Verkehr trat. Ohne auf Scherer’s politische Ansichten einzugehen und ungeachtet einer gewissen, nicht wegzuläugnenden norddeutschen Schroffheit, übte doch sein geistvoller Vortrag – wie Schreiber dieses selbst erfahren hat – eine seltene Anziehungskraft auf seine Zuhörer, so daß man ihm seine politischen Excurse, die sich an ihm als einem mit österreichischem Gelde besoldeten Professor curios ausnahmen, zu Gute halten mochte: entsprangen sie zuletzt doch nur aus dem Feuereifer deutschen Bewußtseins, dessen sich auch kein wahrer Oesterreicher entschlagen kann, wenn er die Capriolen der anderen mit ihm verbundenen Volksstämme nüchternen Auges betrachtet. Vereinigten sich in Scherer’s Vorträgen neben gründlichen philologischen, historischen und national-ökonomischen Kenntnissen ein wunderbarer Blick und ein sicheres Treffen, so setzte man gern über alles Ungehörige sich hinweg, was ihm bei der gegnerischen Partei so sehr schadete und seine ungewöhnliche Tüchtigkeit vergessen ließ. In politischer Hinsicht war und ist Scherer ein entschiedener [213] Gegner allen Schlendrians und unsicheren Tappens. Von Natur energisch angelegt, später im norddeutschen Gedankenkreise so zu sagen soldatisch stramm auferzogen, war sein Auftreten gegenüber der süddeutschen Gefühlsduselei befremdend, ja abstoßend, und zumal dann, als er die Lehrkanzel zu politischen Demonstrationen benützte, wozu er namentlich nach den siegreichen Erfolgen der deutschen Waffen in den Jahren 1870 und 1871 hingerissen wurde. So geschah es denn auch, daß er nicht nur bei Commersen deutscher Verbindungen erschien und dann gewöhnlich als Redner auftrat, indem er die unnatürliche Gehässigkeit des sogenannten wehrhaften Oesterreicherthums gegen Preußen zu bekämpfen suchte, sondern daß er auch Ehrenmitglied der von der Polizei viel gemaßregelten Wiener akademischen Burschenschaft „Silesia“ wurde. Sein Gegenstand aber, deutsche Sprache und Literatur, welche letztere von der politischen Entwickelung des deutschen Volkes, wie überhaupt eines jeden Volkes, unzertrennlich ist, gab ihm eben bei seinen wissenschaftlichen Vorträgen genug Gelegenheit zu politischen Abschweifungen, die nicht zur Sache zu gehören scheinen, aber in einer so politisch erregten Zeit, wie es die unsere ist, sich wie von selbst dazu finden. Bemerkenswerth ist nach dieser Richtung eben die Eröffnungsrede seiner Vorträge über die deutsche Literatur im Wintersemester 1870, worin er seinen von den Ferien zurückgekehrten Schülern die unglaublichen Erfolge der deutschen Waffen in eben dieser Zeit in zündenden Worten schilderte und dem Hochgefühle, einer solchen, in den Waffen und in den Wissenschaften sich gleich ausgezeichnet bewegenden Nation anzugehören, begeisterten Ausdruck leiht. So hatten sich denn die Verhältnisse bereits in etwas bedenklicher Weise zugespitzt und der specifisch deutsche Professor an einer österreichischen Hochschule stand eben daran, Object amtlicher Maßregelungen zu werden, als seine Berufung an die neugeschaffene Reichs-Universität Straßburg S. aus der nicht angenehmen Lage befreite, Oesterreich aber um einen genialen Gelehrten brachte, der trotz aller politischen Querköpfigkeit ein guter Oesterreicher und ein Mann ist, auf den die Wissenschaft mit Stolz hinblicken kann. Schließlich sei noch bemerkt, daß S. im Vereine mit Professor Ottocar Lorenz [Bd. XVI, S. 41] die Gelegenheitsschrift: „Elsass und Lothringen“ herausgegeben hat. Vor seinem Abgange überreichten ihm mehrere seiner Freunde und Verehrer ein prächtig ausgestattetes Album mit einem von dem Architekten Camillo Sitte in Miniatur ausgeführten allegorischen Widmungsblatte und den Photographien aller seiner Freunde und Verehrer.
Scherer, Wilhelm (deutscher Sprachforscher, geb. zu Schönborn in Niederösterreich um das Jahr 1840). Erhielt seine erste Ausbildung am Wiener akademischen Gymnasium und zeigte schon als Zögling desselben vorherrschende Anlage für historische und philologische Studien. Indem er dann in den Jahren 1858–1860 die Vorträge an der Wiener philosophischen Facultät hörte, begab er sich im letztgenannten Jahre nach Berlin und erlangte darauf im Mai 1862 zu Wien die philosophische- Presse (Wiener polit. Blatt) 1872, Nr. 308: „Ovation für Professor Scherer“. – Neues Wiener Tagblatt 1870, Nr. 137: „Ein Trinkspruch“. – Fremden-Blatt. Von Gustav Heine (Wien, 4°.) 1868, Nr. 335, in den „Tagesneuigkeiten“. – Neue freie Presse (Wiener polit. Blatt) 1870, Nr. 2056, in der „Kleinen Chronik“: „Akademisches“; – dieselbe, Nr. 2057, in den „Mittheilungen aus dem Publikum“. – Blätter für literarische Unterhaltung (Leipzig, Brockhaus, 4°.) Jahrg. 1869, S. 50, S. 788.