Textdaten
<<< >>>
Autor: Max Ring
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Börne’s Jugendliebe
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 31, S. 437–440
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[437]
Börne’s Jugendliebe.
Von Max Ring.

Mit einem offenen Briefe in der Hand trat der praktische Arzt Marcus Herz in das Zimmer seiner Frau, welche wegen ihrer auffallenden Schönheit in Berlin bekannt war und allgemein gefeiert wurde. Auch in diesem Augenblicke, wo sie bereits ihr dreißigstes Jahr überschritten, gehörte sie noch zu den reizendsten Erscheinungen der Residenz. Die Zeit schien spurlos an ihr vergangen zu sein, und wenn man ihren schlanken, elastischen Wuchs, diese classischen Formen, die rosig angehauchten Wangen, das üppig dunkle Haar und besonders die hell wie Sterne leuchtenden Augen sah, so war man versucht, sie für weit jünger zu halten, als sie in der Wirklichkeit war. Trotz der Gewohnheit des Anblicks konnte der weit ältere Gatte sich dem überwältigenden Eindrucke dieser unvergänglichen Schönheit nicht entziehen, seine geistreichen, aber nichts weniger als schönen Züge belebten sich und über die gefurchte Denkerstirn glitt ein Strahl der Freude, welche jedes vollendete Werk der Kunst oder Natur in uns hervorzurufen pflegt. Wie gebannt blieb Herz in der geöffneten Thüre stehen, um sie nicht zu stören. Sie las und schien ganz versenkt in das Buch, welches sie in ihren Händen hielt. Es war dies „Werther’s Leiden“, das Evangelium der empfindsamen Herzen in jener Zeit. Ein Seufzer entrang sich der Brust der schönen Frau und in ihren strahlenden Augen schimmerte eine schnell wieder unterdrückte Thräne. Wer hätte sagen können, ob diese Zeichen der Trauer dem Helden des berühmten Romans oder ihrem eigenen Schicksale galten?

Henriette war die Tochter des jüdischen Arztes de Lemos und als ein Kind von zwölf Jahren nach der damaligen Sitte ihres Volkes mit dem fast dreifach so alten Doctor Herz verlobt. Ein Kind an Geist und Bildung, aber bereits in frühreifer Entwickelung des Körpers eine Jungfrau, reizend durch Schönheit und angeborene Anmuth kannte sie keinen anderen Willen, als den ihrer Eltern, die in patriarchalischer Weise über die Hand der unmündigen Tochter verfügten. Ihr genügte der Gedanke, daß sie jetzt geputzt an dem Arme ihres Bräutigams spazieren gehen und nicht mehr so früh aufzustehen genöthigt sein würde, um sie mit dieser Verbindung auszusöhnen. Sie hätte um diesen Preis den ältesten und auch häßlichsten Mann unter ihren Glaubensgenossen auf den Wunsch ihres Vaters geheirathet, wenn sie dadurch nur die Erlaubniß erkaufte, sich von einem Friseur ihr volles Haar ordnen zu lassen und ein neues, nach der letzten Mode gearbeitetes Kleid zu tragen; denn Henriette war, wie alle Töchter Eva’s, ein wenig eitel auf ihr hübsches Gesichtchen, dem nicht blos der Spiegel täglich Schmeicheleien sagte. Für ihren Verlobten empfand sie anfänglich weit mehr Respect, als Liebe; er galt für einen sehr gebildeten und sehr gelehrten Arzt, der sich bereits einer einträglichen Praxis zu erfreuen hatte. Wenn er mit seinen Krankenbesuchen fertig war, kam er jeden Abend in das Haus seiner Verlobten. Nie erschien er, ohne Henrietten ein interessantes Buch mitzubringen; er hatte dabei die Absicht, sich an ihr eine gebildete und für seine Stellung passende Frau zu erziehen. Dies gelang ihm auch ganz nach seinem Wunsche, da das junge Mädchen eben so geistreich und lernbegierig, als schön und liebenswürdig war. Sie machte die wunderbarsten Fortschritte, und der Lehrer durfte stolz auf seine talentvolle Schülerin sein.

Endlich, nach dreijährigem Unterricht, führte Herz seine Braut als Gattin heim; erst unter dem Trauhimmel und beim Wechseln der Ringe fühlte Henriette das ganze Gewicht des bedeutungsvollen Schrittes. Sie war die Frau eines weit älteren Mannes, den sie nur – achtete. – Aus der Beschränkung des elterlichen Hauses trat sie jetzt in eine ihr unbekannte und gefahrvolle Welt. Das Haus ihres Gatten wurde bald der Sammelplatz vieler geistreichen Männer, mit denen Herz durch ein gleiches Streben schon früher verbunden war. Berliner Notabilitäten, wie der Odendichter Rammler, der Professor Engel, der geniale Moritz, gehörten zu den Freunden des Hauses. Von dem Geiste des kenntnißreichen Arztes und der Schönheit seiner Frau angezogen, erweiterte sich dieser Kreis durch die Brüder Wilhelm und Alexander v. Humboldt, den verführerischen Gentz, den ritterlichen Grafen Dohna-Schlobitten, Friedrich Schlegel, den schon damals berühmten Schleiermacher und den liebenswürdigen Karl Laroche, den Sohn der bekannten Schriftstellerin, ein Apoll an jugendlicher Anmuth. – Es konnte nicht fehlen, daß diese meist jüngeren Männer nicht ungestraft sich der reizenden Herrin näherten; so Mancher von ihnen wurde von einer tieferen Leidenschaft ergriffen, unfähig, seine Flammen zu verbergen. Henriette war an derartige Huldigungen schon gewöhnt, und vielleicht schützte sie gerade das Bewußtsein ihrer siegreichen Persönlichkeit vor den vielfachen Versuchungen, denen sie ausgesetzt war. Einen besseren Anhalt fand sie jedoch in der patriarchalischen Sitte ihres Volkes, bei dem derartige Verirrungen der ehelichen Treue zu den Seltenheiten gehören, in der Achtung vor sich selbst und in dem rücksichtslosen Vertrauen ihres Gatten, der ihr in jeder Beziehung die vollste Freiheit gestattete.

Einen Ersatz für die Liebe, welche sie nur dadurch kennen lernte, daß sie Anderen diese Leidenschaft einflößte, bot ihr die Freundschaft mit den edelsten Geistern. Vor Allem knüpfte sie mit dem berühmten Schleiermacher einen Seelenbund, der erst mit seinem Tode endete und unter allen Verhältnissen sich ungetrübt erhielt, als ein Beweis, daß auch zwischen Mann und Weib diese [438] reinste aller Verbindungen bestehen kann, ohne die Grenzen der geschlechtlichen Sphäre zu berühren. – Aber die Bestimmung der Frauen und ihr eigentlicher Lebensberuf wurzelt in der Liebe zu dem Manne ihrer Wahl und zu ihren Kindern; kein anderes, noch so geistiges Verhältniß liefert ihnen einen Ersatz für dies wahre Glück. Henriette mußte Beides entbehren; der Himmel hatte ihr die Mutterfreuden versagt, und wenn sie auch ihrem Manne mit aufrichtiger Neigung zugethan war, seinen edlen Sinn und seine hohe Bildung achtete, so konnte ihr dieses einseitige Gefühl nicht genügen. Der Abstand der Jahre und die Verschiedenheit der Lebensanschauung mußten sich mit der Zeit immer mehr geltend machen. Herz gehörte vermöge seines Standes und seiner ganzen Erziehung jener älteren aufgeklärten Richtung an, welche in Lessing ihren großen Vertreter fand. Klar in Worten und Gedanken, Feind jeder Ueberschwenglichkeit und Schwärmerei der Sturm- und Drangperiode, wie der schon hier und da auftauchenden Romantik, geißelte er mit scharfem Spott und sarkastischer Schärfe diese neueren Erscheinungen, für die Henriette sich um so lebhafter erklärte, je verwandter sie sich ihnen im Gefühl einer unbefriedigten Sehnsucht fühlte.

Einer solchen Empfindung galt daher wahrscheinlich der Seufzer, mit dem sie jetzt „Werther’s Leiden“ aus der Hand legte, als sie Herz, noch immer an der Thür stehend, bemerkte.

„Warum kommst Du nicht näher?“ fragte sie im ruhigen Tone.

„Ich wollte Dich nicht stören. Du warst vertieft.“

„Ich habe wieder einmal den „Werther“ gelesen.“

„Auch ein Buch, für das ich kein Verständniß habe. Der schwächliche Charakter ist mir in der Seele zuwider. Ich stimme ganz Lessing bei, daß kein Grieche oder Römer sich aus so erbärmlichen Gründen das Leben genommen hätte.“

„Die Griechen kannten keine Liebe im Sinne unserer Zeit, – Doch wir wollen nicht wieder den alten Streit anfangen. Was bringst Du mir?“

„Einen Brief aus Frankfurt. – Lies und sage mir, wie Du über den Vorschlag denkst. – Mir scheint die Sache annehmbar, aber Dir gebührt um so mehr die Entscheidung, da die ganze Angelegenheit zu dem Ressort der Hausfrau gehört.“

Henriette nahm den Brief, welcher von einem Bankier aus Frankfurt am Main herrührte und die Anfrage enthielt, ob der Doctor Herz wohl geneigt wäre, gegen ansehnliche Bezahlung den Sohn desselben bei sich aufzunehmen und ihn während seiner medicinischen Studien in Berlin zu beaufsichtigen.

„Nun?“ fragte der Arzt, nachdem sie gelesen hatte.

„Es gibt da Manches zu bedenken,“ antwortete Henriette. „Wir wollen uns nicht übereilen,“

„Der Vater ist mir als ein respectabler Mann bekannt und das gebotene Geld nicht zu verachten. Die Summe würde Dein Wirthschaftsgeld ansehnlich vermehren und unserem ganzen Hauswesen zu statten kommen. Du weißt, daß wir leider genöthigt sind, einen großen Aufwand zu machen, da wir viel Leute bei uns sehen. Der Zuschuß wäre darum angenehm.“

„Aber der junge Mensch? Wir kennen ihn nicht, wissen nicht, ob er zu unseren Anschauungen, zu dem Kreise paßt, in dem wir leben. Ein Fremder kann die ganze schöne Harmonie stören. Auch dürfte ein so nahes und inniges Zusammenleben besonders für mich mit manchen Inconvenienzen verbunden sein.“

„Der junge Baruch, wie er heißt, ist höchstens sechzehn Jahre alt. Er könnte Dein Sohn sein, und einen solchen hast Du Dir ja oft gewünscht. Du wirst Mutterpflichten an ihm üben; das wird Dich beschäftigen und vielleicht Dir besser thun, als – im „Werther“ lesen.“

„Du hast Recht,“ entgegnete Henriette, keineswegs durch seinen Spott beleidigt. „Ich werde mich bemühen, dem jungen Manne die abwesende Mutter zu ersetzen. In diesem Lichte gesehen, erhält das Anerbieten für mich eine hohe Bedeutung. Ein neues, nie gekanntes Gefühl durchströmt mich jetzt, und je mehr ich dem Gedanken nachhänge, desto inniger befreunde ich mich damit. Kaum kann ich den Augenblick erwarten, wo „unser Sohn“ eintreffen wird.“

„Halt!“ spottete Herz in gutmüthigem Tone. „Deine lebhafte Phantasie geht mit Dir durch und ich kann ihr nicht nachkommen, um sie am Flügel zu ergreifen und sie wieder zur nüchternen Alltäglichkeit zurückzuführen. So seid Ihr Weiber, immer zwischen den Extremen schwebend, die geborenen Romantiker.“

Henriette lächelte selbst über den Eifer, mit dem sie sich in die neue Mutterrolle hineingedacht, nichtsdestoweniger war es ihr ganz Ernst damit. Ihr Gefühl war einmal lebhaft angeregt und unwillkürlich hoffte sie, in dem ihr noch völlig unbekannten Jünglinge einen Sohn zu finden, wie sie ihn sich schon lange gewünscht. Mit reizenden Farben malte sie sich das Bild im Stillen aus, um nicht von Neuem die Spottlust ihres Mannes hervorzurufen, welcher sich sogleich niedersetzte, um dem Bankier Baruch in Frankfurt zu schreiben, daß dessen Sohn ihm und seiner Frau willkommen sei.

Einige Wochen später langte der erwartete Pflegebefohlene wohlbehalten in dem Hause des Doctor Herz an. Mit neugieriger Theilnahme empfing Henriette „ihren Sohn“, wie sie ihn bereits halb im Scherz und halb im Ernst nannte. Ihre Erwartungen wurden allerdings einigermaßen enttäuscht; statt eines schönen Jünglings mit offenen und gewinnenden Zügen, sah sie eine kleine, magere Gestalt in nachlässiger Haltung. Das Gesicht trug nur zu sehr das scharfe, orientalische Gepräge, aber in den dunkeln, glänzenden Augen verrieth sich dem Beobachter kein gewöhnlicher Geist. Dazu kamen noch linkische Manieren, eine gewisse Schüchternheit, hinter der sich jedoch ein stolzes Selbstgefühl zu verbergen schien. Louis Baruch gehörte nicht zu jenen glücklichen Menschen, welche gleich beim ersten Anblick für sich einnehmen, man mußte ihn erst genauer kennen lernen, um ihn lieb zu gewinnen. Henriette war zu verständig, um sich von dem äußeren Eindrucke bestimmen zu lassen; sie nahm sich vor, den Ankömmling genauer zu beobachten, ehe sie über ihn ein entscheidendes Urtheil fällen wollte.

Um so mächtiger war aber die Gewalt, welche ihre Schönheit auf den siebzehnjährigen Jüngling ausübte; er stand vor ihr, geblendet und verwirrt von den Reizen, denen sich nicht so leicht ein Mann ungestraft nähern durfte. Wie vor einer Göttin wäre er am liebsten knieend hingesunken, um sie anzubeten. In dem unbedeutenden Körper lebte eine Feuerseele, und die schwache, eingesunkene Brust verbarg ein großes Herz. Diese plötzlich auflodernde Neigung, die vorläufig unbewußt in Louis schlummerte, sog die reichste Nahrung aus dem näheren Umgange mit ihr; hier lernte er erst ihre sich gleich bleibende Freundlichkeit, ihre Herzensgüte, mit Geist und Bildung wundersam gepaart, näher kennen. – Kein Wunder, daß er darüber zum Träumer wurde und zum Aerger des gelehrten Doctor Herz seine medicinischen Studien, welche dieser überwachen sollte, gänzlich vernachlässigte. Nicht diesem allein, sondern auch den übrigen Freunden des Hauses galt bald Louis als ein kleiner Faulenzer, der nichts lernen wollte und noch dazu bei gewissen Gelegenheiten einen entschiedenen Hochmuth zur Schau trug. Aber Henriette hatte sich einmal mit dem Gedanken vertraut gemacht, die Rolle einer Mutter zu übernehmen, und ihr Mutterauge glaubte da noch Tugenden zu sehen, wo die strengen Männer ihrer Umgebung nur Fehler entdeckten. Je genauer sie „ihren Sohn“ beobachtete, desto mehr wurde sie von dem plötzlichen Aufblitzen eines Geistes überrascht, der sich absichtlich vor Fremden zu verbergen schien. Es gab Momente, wo sie über die scharfe Beobachtungsgabe, den treffenden Humor und das tiefe Gemüth des jungen Baruch erstaunen mußte. Sie allein ahnte den Genius, der in ihm schlummerte, in der unscheinbaren Knospenhülle die Blüthe der Zukunft. Manche Aeußerung von ihm verrieth nicht nur seine geistige Begabung, sondern auch den festen, unbeugsamen Charakter eines Mannes in dem gebrechlich zarten Körper eines Jünglings. Um so mehr hielt sie es für ihre Pflicht, offen gegen ihn zu sein und ihm aufrichtige Vorstellungen über seine vermeintliche Trägheit zu machen.

„Warum studiren Sie nicht fleißiger?“ fragte sie ihn mit mütterlicher Freundlichkeit.

„Um nicht dumm zu werden,“ antwortete er mit dem ihm eigenthümlichen Lächeln.

„Ich räume Ihnen ein, daß die Wissenschaft ihren Ballast hat, aber auch dieser ist nothwendig. Wenn Sie erst am Ziele Ihres Weges und im sicheren Hafen sind, so können Sie getrost die unnöthige Ladung über Bord werfen. Ihr Vater wünscht, daß Sie etwas Tüchtiges lernen, um einmal ein guter Arzt zu werden.“

„Ein guter Arzt ist, wie Ihnen Herr Doctor Herz sagen wird, derjenige, der nichts thut. Ich bin also auf dem besten Wege.“

„Louis!“ drohte sie, unwillkürlich lächelnd. „Ich fürchte, daß meine Freunde Recht haben, die Sie für einen unverbesserlichen Faulenzer halten. Ich habe Ihnen mehr Ehrgeiz zugetraut. Wenn Ihnen die praktische Medicin nicht gefällt, so schlagen Sie die wissenschaftliche Laufbahn ein. Sie können Lehrer an einer Universität, Professor werden.“

[439] „Dazu muß ich mich erst taufen, Sie vergessen, daß wir Juden nicht einmal Privatdocenten werden, nicht einmal verhungern dürfen.“

Es lag eine so tiefe und schmerzliche Ironie in seinen Worten, daß Henriette betroffen schwieg und das Gespräch fallen ließ. Nichtsdestoweniger bekümmerte sie der Gedanke, daß ein so herrliches Talent durch eigene Schuld zu Grunde gehen sollte. Was ihr nicht geglückt, hoffte sie durch die Ueberredungskraft ihres Freundes Schleiermacher zu bewirken. Sie bat denselben, mit Louis ernsthaft zu sprechen und ihm seine bisherigen Abwege zwar schonend, aber eindringlich vorzustellen. Schleiermacher wies jedoch diesmal ihre Bitten mit sonst nicht gewohnter Strenge zurück. Dem thätigen, unermüdlich fleißigen Manne mußte diese träumerische Trägheit des jungen Baruch um so mehr zuwider sein, da er zugleich an ihm eine gewisse selbstgefällige Arroganz bemerkt zu haben glaubte.

„Wie soll man,“[1] sagte er ablehnend, „mehr Interesse an einem Menschen nehmen, als er selbst an sich nimmt? Er fängt gar nichts mit sich an, vertändelt seine Zeit, versäumt seine Studien, ruinirt sich mit Faulheit und sieht dies selbst mit der größten Gelassenheit an, und sagt immer: es wäre ihm nun einmal so, und wenn er sich zu etwas Anderem zwingen wollte, so wäre es ja dann doch nicht besser.“

„Sie urtheilen zu streng,“ antwortete Henriette begütigend. „Ich halte es für unsere Pflicht, den Irrenden auf den richtigen Weg zu führen. Wir müßten uns den größten Vorwurf machen, wenn er unterginge.“

„Ich weiß nicht, ob er untergehen wird; Mancher rettet sich aus diesem Zustande, aber in diesem Zustande ist nicht auf ihn zu wirken und kein Theil an ihm zu nehmen. – Schade ist es um ihn,“ setzte Schleiermacher milder hinzu, „wenn er in dem Gange bleibt, aber helfen kann ihm Niemand, wenn er sich nicht selbst hilft.“

Hätte Henriette oder ihr Freund nur die entfernteste Ahnung von dem eigentlichen Grunde dieser scheinbaren Trägheit des Jünglings gehabt, so würden sie gewiß auch das rechte Mittel gefunden haben; aber wie sollten sie bei dem siebzehnjährigen Baruch eine so glühende Leidenschaft für eine Frau voraussetzen, die mindestens seine Mutter sein konnte! Und doch liebte Louis seine reizende Wirthin mit der ganzen Gluth eines so jungen und empfänglichen Herzens. Alles Uebrige war ihm gleichgültig, wo nicht widerwärtig; er hatte nur Sinn für diese verzehrende Neigung, die um so heftiger wurde, je hoffnungsloser sie ihm selbst erscheinen mußte. Es ist aber eine bekannte Erfahrung, daß gerade auf die jüngsten Männer ältere und gereiftere Frauen eine unwiderstehliche Anziehungskraft auszuüben pflegen. Dazu kam noch die sentimentale Stimmung jener Zeit und die für die Gegenwart fast unbegreifliche Wirkung, welche Goethe mit seinem „Werther“ hervorgebracht; es gab damals eben so viel unglücklich Liebende, die über Selbstmord brüteten, wie jetzt „Unbefriedigte“ und „Zerrissene“.

Auch Louis Baruch wurde von der allgemeinen Krankheit jener Periode nicht verschont; er war schwermüthig und mit der Welt zerfallen, wie Werther, und sehnte sich nach dem Tode, welcher der Jugend so leicht und dem Alter so schwer erscheint. Seine Lage wurde mit jedem Tage drückender und unerträglicher für ihn. Zu jeder Stunde lebte er in der Nähe der geliebten Frau, die ihn mit immer sich gleichbleibender Freundlichkeit behandelte, und dennoch mußte er seine Leidenschaft sorgfältig verbergen, aus Furcht, sich lächerlich zu machen und durch ein vorschnelles Geständniß für immer ihres ihm unentbehrlichen Anblickes beraubt zu werden. Die glühendste Eifersucht bemächtigte sich seines Herzens, wenn er sie umschwärmt von jenen Männern sah, mit denen er sich in keiner Beziehung zu vergleichen wagte. War auch Henriettens Lebenswandel über jeden Verdacht erhaben, so konnte sie sich doch von Huldigungen nicht entziehen, die ihr von allen Seiten dargebracht wurden. Aber wie durfte er hoffen, neben dem geistreichen Wilhelm Humboldt, dem herrlichen Karl Laroche nur beachtet zu werden? Der bloße Gedanke jedoch, daß diese glücklicher sein könnten, brachte ihn zur Verzweiflung. Er hatte keinen Vertrauten seiner Leiden, als sein sorgfältig geführtes Tagebuch, das ebenfalls im Geiste jener Zeit der einzige Zeuge dieser wahnsinnigen Liebe war.

Ein neuer Unfall drohte ihm selbst die letzte Hoffnung zu rauben. Henriettens Mann, der Doctor Herz, begann zu kränkeln. Sein Zustand verschlimmerte sich von Tag zu Tag, bis er endlich seinen Leiden erlag. Seine Frau betrauerte aufrichtig den Verlust des edlen Gatten, dessen vollen Werth sie vollkommen zu würdigen wußte. Die noch immer reizende Wittwe hatte Rücksichten zu nehmen, und der junge Baruch befürchtete nicht ohne Grund, daß er nicht länger in ihrem Hause verweilen dürfte; aber er bat so dringend und zeigte ihr eine so treue Anhänglichkeit, daß sie gegen den Rath der Vorsicht in sein ferneres Bleiben willigte. Abgesehen von diesen Gründen mochte es ihr unter den keineswegs günstigen Umstanden, in denen Herz sie zurückgelassen, wünschenswert erscheinen, den wohlhabenden Pensionär zu behalten, da sie aus Pietät ihre Mutter und eine jüngere Schwester, Namens Brenna, noch zu sich genommen hatte, für die sie jetzt ebenfalls zu sorgen hatte. – Nach wie vor blieben ihr die Freunde treu; nur Schleiermacher lebte jetzt von ihr getrennt, da er einem Rufe als Prediger und Lehrer an der Universität zu Halle gefolgt war.

Der liebenswürdigen Wittwe fehlte es nicht an eben so ehrenvollen als vortheilhaften Anträgen von Seiten hochgestellter Männer, aber vorläufig wies sie dieselben zurück, indem sie entschlossen schien, keine zweite Ehe einzugehen. Unter den eifrigsten Bewerbern um ihre Hand befand sich auch der edle Graf Alexander von Dohna-Schlobitten. Weder sein hoher Rang, noch das Vorurtheil, da Henriette aus Rücksicht auf ihre strenggläubige Mutter noch immer Jüdin war und sich nicht taufen lassen wollte, hielten ihn zurück, ihr sein Herz und sein bedeutendes Vermögen anzubieten. Er ließ sich von ihrer wiederholten Weigerung nicht zurückschrecken und setzte mit unermüdlichem Eifer seine Bemühungen fort, in der Hoffnung, endlich durch seine Standhaftigkeit ihre Gegenliebe zu gewinnen. Dem armen Louis waren die Besuche des vornehmen Grafen nicht entgangen, und er zweifelte kaum an dem Erfolge. Sie in den Armen eines andern Mannes zu wissen, das überstieg seine Kraft. Seine Leiden hatten den höchsten Grad erreicht; das Leben war ihn, zur Last geworden, und nur im Tode hoffte er die Erlösung von seinen Qualen zu finden. Er wollte sterben wie Werther.

Zu diesem Zwecke suchte er sich Gift zu verschaffen; unter dem Vorwande, die Ratten und Mäuse in seinem Zimmer vertreiben zu wollen, ließ er sich aus der benachbarten Apotheke durch Henriettens Mädchen, eine Quantität Arsenik ausbitten. Zugleich überschickte er zehn Louisd’or, um eine frühere Rechnung für entnommene Arzneien zu bezahlen, obgleich dieselbe weit weniger betrug. Diese verdächtigen Umstände mußten dem klugen Mädchen um so mehr auffallen, da das verstörte Wesen des jungen Baruch ihr dabei nicht entgangen war. Sie hielt es daher für ihre Pflicht, zunächst Fräulein Brenna aufmerksam zu machen, die sogleich zu ihrer Schwester eilte, um sie von dem unerklärlichen Vorfall zu unterrichten. Henriette erschrak nicht wenig; vorläufig aber beobachtete sie ein tiefes Schweigen, indem sie sich vornahm, Louis genauer zu beobachten und nach dem Grunde dieses Selbstmordversuchs zu forschen. Einen Augenblick durchzuckte sie wohl der Gedanke, daß sie die Ursache sein könnte. Ehe sie aber einen entscheidenden Schritt thun konnte, mußte sie sich erst Gewißheit verschaffen. Auch diese wurde ihr bald zu Theil.

Eines Tages überbrachte ihr Brenna einen Brief von der Hand des jungen Baruch, den das Dienstmädchen beim Aufräumen seines Zimmers gefunden hatte. In glühenden Worten gestand darin der Unglückliche seine Liebe zu ihr; zugleich auch den festen Entschluß, seinem Leben auf gewaltsame Weise ein Ende zu machen. Was sollte sie thun?

Erschüttert las sie dies leidenschaftliche Geständniß; sie mußte ihn um jeden Preis zu retten suchen. Um ihn von jedem gewaltsamen Schritte zurückzuhalten, beschloß sie, ihn für diesen Abend nicht von ihrer Seite zu lassen; sie ersuchte ihn deshalb, sie in das Theater zu begleiten. Hier wohnten Beide der Vorstellung von Schiller’s „Don Carlos“ mit verschiedenartiger Bewegung bei. Unwillkürlich drängte sich ihnen die Aehnlichkeit ihrer eigenen Verhältnisse mit den Vorgängen der Bühnendichtung auf. Zu ergriffen, um darüber zu sprechen, verließen sie das Theater; so gelangten sie stillschweigend in ihre Wohnung. Hier wollte Baruch von seiner Begleiterin Abschied nehmen, um sich auf das ihm eingeräumte Zimmer zu begeben. Sie lud ihn ein, ihr zu folgen und noch eine Tasse Thee mit ihr zu trinken. Diese Aufforderung in später Nacht mußte ihn befremden; sein Herz pochte so stark, daß es ihm die Brust zu zersprengen drohte, sein Kopf schwindelte und nur mühsam behauptete er noch die nöthige Fassung. Sie hatte Mantel und Hut abgeworfen und stand nun vor ihm, beleuchtet von dem milden Lichte der Lampe, wie eine überirdische Erscheinung. [440] Die Aufregung, deren sie sich nicht zu erwehren vermochte, röthete ihre Wangen und verlieh ihren Augen einen höheren Glanz. Ihre Blicke ruhten voll Mitleid und weiblicher Theilnahme auf dem verirrten Jünglinge. Eine feierliche Würde schien sie zu umschweben und verlieh ihren sonst so freundlichen Zügen einen neuen, ungekannten Reiz. Nachdem sie den Thee nach ihrer Gewohnheit selbst bereitet und eingeschenkt, gab sie ihrer Schwester Brenna, welche zugegen war, einen Wink, worauf sich diese entfernte. Sie blieb mit dem Jüngling allein, der, von leisem Zittern ergriffen, kaum zu athmen wagte.

Tiefe Stille herrschte in dem Zimmer; sie selbst mußte erst nach Fassung ringen, ehe sie das wichtige Gespräch beginnen konnte.

„Louis,“ sagte sie nach einer erwartungsvollen Pause. „Ich habe den Brief gelesen, den Sie an mich in grenzenloser Verblendung geschrieben haben.“

„Und Sie zürnen mir nicht?“ fragte er erschrocken mit bebender Stimme und niedergeschlagenen Augen. „Sie verstoßen mich nicht?“

„Ich hätte Ursache, Ihnen ernstlich zu zürnen, aber –“

Röthe und Blässe jagte über seine Wangen, wie Verzweiflung und Hoffnung in seinem Herzen mit Blitzesschnelle wechselten. Er war bei ihren Worten von seinem Stuhle aufgesprungen, bald aber wieder zurückgesunken, mit beiden Händen sein Gesicht bedeckend.

„Tödten Sie mich!“ rief er mit jugendlicher Schwärmerei. „Ich bin nicht mehr Werth, diese reine Atmosphäre mit Ihnen zu athmen!“

„Ich will Sie nicht tödten,“ antwortete Henriette mild, „sondern Sie heilen. Sie sind krank, mein junger Freund!“

„Zum Sterben krank!“ seufzte er tief.

„Glauben Sie mir, daß dies Uebel nicht unheilbar ist. Man stirbt nicht so schnell an gebrochenem Herzen, selbst wenn man auch ein Weib ist. Was ich aber einer Frau verzeihen kann, finde ich feig für einen Mann. Sie wollten Hand an sich legen. – Haben Sie auch daran gedacht, daß dieses Leben nicht Ihnen gehört?“

„Wem sonst?“

„Ihren Eltern, den Freunden, dem Staat und vor Allem der Menschheit.“

Bei diesen feierlichen Worten war Henriette aufgestanden; ihre schlanke Gestalt schien zu wachsen, ihre Züge leuchteten in überirdischer Glorie. Ihm war, da sie seine Hand ergriff, zu Muthe, als redete sein Schutzgeist mit ihm in dieser Stunde.

„Hören Sie mich ruhig an,“ fuhr sie mit gehobener Stimme fort. „Ich allein weiß, welch einen Geist Ihnen der Himmel verliehen. Ich glaube Sie richtiger zu kennen, als meine Freunde, als Sie selber sich kennen. Der Blick des Weibes sieht oft schärfer, als die meisten Männer; weil unser Horizont begrenzt ist und wir nicht in die Ferne schweifen, schauen wir klarer. Der Instinct des Herzens irrt oft weniger, als der sich überhebende Verstand, und die Liebe, ich meine jene göttliche Liebe, führt uns sicherer, als alle menschliche Klugheit. Darum hoffe ich mich nicht zu täuschen, wenn ich Ihnen eine große Zukunft prophezeie. Wollen Sie dieselbe einer thörichten Leidenschaft zum Opfer bringen, die noch dazu den Fluch des Lächerlichen an sich trägt? – Ihnen gegenüber bin ich eine alte Frau; ich könnte Ihre Mutter sein, wie ich eine solche Ihnen sein wollte. Sie selbst haben jenen Wahn mir benommen und das reine Verhältniß, von dem ich einst geträumt, zerstört. Sie haben mir einen großen Schmerz bereitet.“

„Können Sie mir verzeihen?“ fragte der Jüngling tief bewegt.

„Nur unter der einzigen Bedingung, daß Sie mir Ihr Wort geben, Ihrer thörichten Leidenschaft zu entsagen, daß Sie mir jetzt feierlich versprechen wollen, jeden ferneren Versuch gegen Ihr Leben für immer aufzugeben. Ich verachte den Selbstmord, weil er nur ein Beweis der moralischen Feigheit ist. Das Leben ist ein harter Kampf; nur erbärmliche Egoisten und Schwächlinge entziehen sich ihm, weil es ihnen an Muth gebricht. Ich habe Ihnen mehr Heroismus zugetraut.“

„Was soll aus mir werden?“ stöhnte Louis erschüttert, wenn auch noch nicht überzeugt.

„Ein Held des Geistes, der Kämpfer einer neuen Zeit. Sie werden diese Prüfung überstehen und als ein Mann daraus hervorgehen. Die Täuschung Ihres Herzens wird verschwinden und selbst der Schmerz, den Sie gewiß in diesem Augenblick empfinden, Ihnen zum Segen gereichen. Unter Leiden reift der Geist; er bedarf der Stürme, um festere Wurzeln zu schlagen. Ihr Talent wird sich entfalten, sobald Sie die träge Gefühlsschwärmerei von sich abstreifen; Ihr scharfer Witz wird, von der zurückbleibenden Wehmuth verklärt, sich zu einem milderen Humor gestalten, dessen weltbezwingende Macht Sie an sich selbst zunächst erproben sollen. Sie werden Ihre angeborene Kraft kennen, zu Ihrem eigenen und fremden Vortheil gebrauchen lernen. Dann kann die allgemeine Achtung und Anerkennung nicht ausbleiben. Mit Stolz werde ich mich selbst dieser großen Stunde erinnern, in der ich Sie der Welt erhalten und zurückgegeben habe.“

„Ich bin nicht ehrgeizig,“ antwortete der junge Mann mit trübem Lächeln.

„Aber Sie denken groß genug von der Menschheit, um für ihr Wohl zu leben und zu wirken.“

„Was kann ich für sie thun?“

„Kein Mensch ist so unbedeutend, daß er nicht eine Aufgabe in dieser Welt zu erfüllen hätte. Jeder Sterbende hinterläßt eine Lücke, die freilich nur das Auge eines Gottes sieht. Deshalb darf Keiner von dem ihm anvertrauten Posten freiwillig weichen, bevor die Stunde der Ablösung geschlagen hat. Sie fragen, was Sie thun können? Sie sind Jude! – Wohlan! Kämpfen Sie gegen das Vorurtheil, womit seit Jahrhunderten der blinde Religionshaß unsere Glaubensgenossen verfolgt. Verbreiten Sie unter diesen selbst Bildung und Aufklärung, befreien Sie die doppelt Geknechteten von dem Joche der Tradition und der Sclaverei des Talmuds. Erwecken Sie den besseren Geist in ihnen, und öffnen Sie ihr am Schacher klebendes und nur den Gewinn suchendes Auge für die edleren Güter des Daseins. Als Deutscher fühlen Sie, wie ich, die Zerrissenheit des Vaterlandes, die Entartung und den Druck der Mächtigen, die dumpfe Verkommenheit des größten Volkes, das die Sonne je erblickt. Welch eine herrliche Aufgabe für den Mann, das Nationalbewußtsein zu erheben, den Despotismus zu bekämpfen, den Bürgersinn von Neuem zu beleben! – Die ganze Menschheit hat ein Recht auf Sie, und mahnt Sie durch meinen schwachen Mund, das Ihnen von Gott verliehene Pfund nicht zu verbergen, sondern in ihrem Dienste zu gebrauchen. Für Wahrheit, Recht und Freiheit werb’ ich Sie im Namen dieser Menschheit an!“

Unwillkürlich hatte sich der Jüngling auf ihre Hand gebeugt, welche sie segnend auf seinem Haupte ruhen ließ.

Als er sich erhob, war eine wunderbare Veränderung mit ihm vorgegangen. Er schien um Jahre älter geworden zu sein; diese Stunde hatte ihn zum Manne gereift. Unaufgefordert überreichte er ihr das Tagebuch, welches er auf seinem Herzen trug. Sie nahm es, und las nicht ohne tiefe Rührung die glühenden Geständnisse, die nach Henriettens eigenem Ausspruch an Innigkeit und wahrem Gefühl Alles übertrafen, was der später so berühmte Mann nachträglich geschrieben und veröffentlicht hat. Aus übertriebener Vorsicht übergab sie vor ihrem Tode diese kostbaren Blätter den Flammen, welche dieses unschätzbare Document unrettbar vernichteten.

Louis Baruch verließ nach jener nächtlichen Scene Henriette und Berlin, um seine Studien in Halle fortzusetzen. Sie selbst hatte ihn an den berühmten Reil dringend empfohlen, in dessen Hause er freundlich wie ein Verwandter aufgenommen wurde. Mit mütterlicher Zärtlichkeit sorgte sie auch aus der Ferne für ihn, wie ihr deshalb mit ihrem in Halle damals angestellten Freund Schleiermacher geführter Briefwechsel beweist. Fortwährend nahm sie den lebhaftesten Antheil an dem Schicksal des jungen Mannes, der in der That ihre Prophezeiungen zur Wahrheit machen sollte.

Erst nach einigen Jahren sah sie ihn in Frankfurt am Main wieder; er war indeß ein berühmter und allgemein bewunderter Schriftsteller, ein Kämpfer für Wahrheit, Recht und Freiheit geworden. Er hieß zwar nicht mehr Louis Baruch, da er zum Christenthum übergetreten war und bei der Taufe den Namen Ludwig Börne angenommen hatte; dieser Name aber hatte in Deutschland einen guten Klang und einen Ruf, der mit jedem Jahre immer höher und höher stieg.

Als Henriette ihm beim Wiedersehen die Hand reichte und ihm dabei einige schmeichelhafte Worte über sein Talent und seine Berühmtheit sagte, spielte ein eigenthümliches, halb wehmüthiges, halb scherzhaftes Lächeln um seine Lippen.

„Das Alles danke ich Ihnen,“ rief der große Humorist, „aber ich weiß nicht, ob ich Ihnen danken soll. Der Preis, den ich dafür bezahlt, steht doch in keinem Verhältnisse zu dem, was ich damit gewonnen habe.“

Dabei küßte er die noch immer schöne weiße Hand der mütterlichen Freundin. Als sie dieselbe zurückzog, fühlte sie, daß eine Thräne darauf gefallen war.


  1. Wörtliche Aeußerungen von Schleiermacher über den jungen Börne.