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Autor: Adolf Loos
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Titel: Architektur (Loos)
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aus: Adolf Loos: Sämtliche Schriften in zwei Bänden – Erster Band, herausgegeben von Franz Glück, Wien, München: Herold 1962, S. 302–318
Herausgeber: Franz Glück
Auflage:
Entstehungsdatum: 1910
Erscheinungsdatum: 1962
Verlag: Herold
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Erscheinungsort: Wien
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Originalherkunft: Erstdruck noch nicht festgestellt.
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Zur Publikation siehe die Anmerkungen des Herausgebers
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[302]
ARCHITEKTUR
(1910)

Darf ich sie an die gestade eines bergsees führen? Der himmel ist blau, das wasser grün, und alles liegt in tiefem frieden. Die berge und wolken spiegeln sich im see und die häuser, höfe und kapellen tun es auch. Nicht wie von menschenhand gebaut stehen sie da. Wie aus gottes werkstatt hervorgegangen sind sie, gleich den bergen und bäumen, den wolken und dem blauen himmel. Und alles atmet schönheit und ruhe ...

Da, was ist das? Ein mißton in diesem frieden. Wie ein gekreisch, das nicht notwendig ist. Mitten unter den häusern der bauern, die nicht von ihnen, sondern von gott gemacht wurden, steht eine villa. Das gebilde eines guten oder eines schlechten architekten? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß friede, ruhe und schönheit dahin sind.

Denn vor gott gibt es keine guten oder schlechten architekten. In der nähe seines thrones sind alle architekten gleich. In den städten, in dem reiche Belials, da gibt es feine nuancen, wie das eben in der art des lasters liegt. Und ich frage daher: Wie kommt es, daß ein jeder architekt, ob schlecht oder gut, den see schändet?

Der bauer tut das nicht. Auch nicht der ingenieur, der eine eisenbahn ans ufer baut oder mit seinem schiffe tiefe furchen in den klaren seespiegel zieht. Die schaffen anders. Der bauer hat auf dem grünen rasen den fleck, auf dem das neue haus sich erheben soll, ausgesteckt und die erde für die grundmauern ausgegraben. Nun erscheint der maurer. Ist lehmboden in der nähe, dann gibt es eine ziegelei, die ziegel herbeiführt. Wenn nicht, tuts

[Abb]


Erste seite des manuskripts des aufsatzes „architektur“

[303] der stein auch, der die ufer bildet. Und während der maurer ziegel auf ziegel, stein auf stein fügt, hat der zimmermann seinen platz daneben aufgeschlagen. Lustig klingen die axthiebe. Er macht das dach. Was für ein dach? Ein schönes oder ein häßliches? Er weiß es nicht. Das dach.

Und dann nimmt der tischler das maß für türen und fenster, und es erscheinen alle die anderen und messen und gehen in ihre werkstatt und arbeiten. Und dann rührt der bauer ein großes schaff mit kalkfarbe an und macht das haus schön weiß. Den pinsel aber hebt er auf, denn zu ostern übers jahr wird er wieder gebraucht werden.

Er hat für sich und die seinen und sein vieh ein haus errichten wollen, und das ist ihm gelungen. Genau so wie es seinem nachbarn oder seinem urahn gelang. Wie es jedem tier gelingt, das sich von seinen instinkten leiten läßt. Ist das haus schön? Ja, genau so schön ist es, wie es die rose oder die distel, das pferd oder die kuh sind.

Und ich frage wieder: Warum schändet ein architekt, der gute wie der schlechte, den see? Der architekt hat wie fast jeder stadtbewohner keine kultur. Ihm fehlt die sicherheit des bauern, der kultur besitzt. Der stadtbewohner ist ein entwurzelter.

Ich nenne kultur jene ausgeglichenheit des inneren und äußeren menschen, die allein ein vernünftiges denken und handeln verbürgt. Ich werde demnächst einen vortrag halten: Warum haben die papuas eine kultur und die deutschen keine?

Die geschichte der menschheit hatte bisher noch keine periode der kulturlosigkeit zu verzeichnen. Diese periode zu schaffen war dem stadtmenschen in der zweiten hälfte [304] des neunzehnten jahrhunderts vorbehalten. Bis dahin blieb die entwicklung unserer kultur in schönem, gleichmäßigem fluß. Man gehorchte der stunde und sah nicht vorwärts und nicht rückwärts.

Aber da tauchten falsche propheten auf. Sie sagten: Wie ist doch unser leben so häßlich und freudlos. Und sie trugen alles aus allen kulturen zusammen, stellten es in museen auf und sagten: Sehet, das ist schönheit. Ihr aber habt in erbärmlicher häßlichkeit gelebt.

Da gab es hausrat, der wie häuser mit säulen und gesimsen versehen war, da gab es samt und seide. Da gab es vor allem ornamente. Und da der handwerker, weil er ein moderner, kultivierter mann war, nicht im stande war, ornamente zu zeichnen, gründete man schulen, in denen gesunde junge menschen so lange verbogen wurden, bis sie es konnten. Wie man in China kinder in eine vase steckt und sie jahrelang füttert, bis sie als greuliche mißgeburten ihren käfig sprengen. Diese greulichen geistigen mißgeburten wurden nun genau so wie ihre chinesischen brüder gebührend angestaunt und konnten dank ihrer defekte leicht ihr brot verdienen.

Es war nämlich damals niemand da, der den menschen zugerufen hätte: Bedenkt doch, der weg der kultur ist ein weg vom ornament weg zur ornamentlosigkeit! Evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornamentes aus dem gebrauchsgegenstande. Der papua bedeckt alles, was ihm erreichhar ist, mit ornamenten, von seinem antlitz und körper bis zu seinem bogen und ruderboot. Aber heute ist die tätowierung ein degenerationszeichen und nur mehr bei verbrechern und degenerierten aristokraten im gebrauch. Und der kultivierte mensch findet, zum unterschied vom papuaneger, [305] ein untätowiertes antlitz schöner als ein tätowiertes, und wenn die tätowierung von Michelangelo oder Kolo Moser selbst herrühren sollte. Und der mensch des neunzehnten jahrhunderts will nicht nur sein antlitz, sondern auch seinen koffer, sein kleid, seinen hausrat, seine häuser vor den künstlich erzeugten neuen papuas geschützt wissen. Die gotik? Wir stehen höher als die menschen der gotik. Die renaissance? Wir stehn höher. Wir sind feiner und edler geworden. Uns fehlen die robusten nerven, die dazu gehören, um aus einem elfenbeinhumpen zu trinken, in den eine amazonenschlacht eingeschnitten ist. Alte techniken sind uns verloren gegangen? Gott sei dank! Wir haben dafür die sphärenklänge Beethovens eingetauscht. Unsere tempel sind nicht mehr wie der Parthenon blau, rot, grün und weiß angestrichen. Nein, wir haben gelernt, die schönheit des nackten steines zu empfinden.

Aber es war – ich sagte es schon – damals niemand da, und die feinde unserer kultur und die lobredner alter kulturen hatten leichtes spiel. Sie befanden sich überdies in einem irrtum. Sie mißverstanden die vergangenen epochen. Da nämlich nur jene gegenstände aufbewahrt wurden, die sich dank ihrer zwecklosen ornamentik wenig zum gebrauch eigneten und daher nicht aufgebraucht wurden, kamen nur die ornamentierten dinge auf uns, und da nahm man an, daß es früher nur ornamentierte dinge gegeben hätte. Außerdem waren die dinge durch ihre ornamente leicht nach alter und herkunft zu bestimmen, und das katalogisieren war eine der erbaulichsten vergnügungen jener gottverdammten zeit.

Da konnte aber der handwerker nicht mit. Er sollte nämlich alles, was durch jahrtausende bei allen völkern [306] gemacht wurde, an einem tage machen und neu erfinden können. Diese dinge waren jeweils ausdruck ihrer kultur und wurden von den meistern so gefertigt, wie der bauer sein haus baut. Der meister von heute konnte arbeiten wie der meister von eh und je. Aber ornamente konnte der zeitgenosse Goethes nicht mehr machen. Da wurden die verbogenen geholt und dem meister als vormünder vorgesetzt.

Der maurermeister, der baumeister erhielt einen vormund. Der baumeister konnte nur häuser bauen: im stile seiner zeit. Aber der, der in jedem vergangenen stile bauen konnte, der, der aus dem kontakt mit seiner zeit gekommen war, der entwurzelte und verbogene, er wurde der herrschende mann, er, der architekt.

Der handwerker konnte sich nicht viel um bücher kümmern. Der architekt bezog alles aus büchern. Eine ungeheure literatur versorgte ihn mit allem wissenswerten. Man ahnt nicht, wie vergiftend diese unzahl von geschickten verlegerpublikationen auf unsere stadtkultur gewirkt, wie sie jede selbstbesinnung verhindert hat. Ob der architekt sich die formen so eingeprägt hatte, daß er sie aus dem gedächtnisse nachzeichnen konnte, oder ob er das vorlagewerk während seines „künstlerischen schaffens“ vor sich liegen haben mußte, kam auf eins heraus. Der effekt war immer derselbe. Es war immer ein greuel. Und dieser greuel wuchs ins unendliche. Ein jeder war bestrebt, seine sache in neuen publikationen verewigt zu sehen, und eine große zahl architektonischer blätter kam dem eitelkeitsbedürfnis der architekten entgegen. Und so ist es geblieben bis zum heutigen tage.

Aber der architekt hat den bauhandwerker auch aus einem anderen grunde verdrängt. Er lernte zeichnen, und [307] da er nichts anderes lernte, so konnte er es. Das kann der handwerker nicht. Seine hand ist schwer geworden. Die risse der alten meister sind schwerfällig, jeder baugewerbeschüler kann das besser. Und erst der sogenannte flotte darsteller, der von jedem architektenbüro gesuchte und hoch bezahlte mann!

Die baukunst ist durch den architekten zur graphischen kunst herabgesunken. Nicht der erhält die meisten aufträge, der am besten bauen kann, sondern der, dessen arbeiten sich auf dem papier am besten ausnehmen. Und diese bei den sind antipoden.

Wenn man die künste in eine reihe stellt und mit der graphik beginnt, so finden wir, daß es von ihr übergänge zur malerei gibt. Von dieser kann man durch die farbige skulptur zur plastik, von der plastik zur architektur gelangen. Graphik und architektur sind anfang und ende einer reihe.

Der beste zeichner kann ein schlechter architekt, der beste architekt kann ein schlechter zeichner sein. Schon bei der berufswahl zum architekten wird das talent zur graphischen kunst verlangt. Unsere ganze neue architektur ist am reißbrett erfunden, und die so entstandenen zeichnungen werden plastisch dargestellt, ähnlich wie man im panoptikum gemälde stellt.

Den alten meistern aber war die zeichnung nur ein mittel, um sich dem ausführenden handwerker verständlich zu machen. Wie sich der dichter durch die schrift verständlich machen muß. Aber wir sind noch nicht so kulturlos, daß wir einen knaben mit kalligraphischer handschrift die dichterei erlernen ließen.

Nun ist dies wohl bekannt: ein jedes kunstwerk hat [308] so starke innere gesetze, daß es nur in einer einzigen form erscheinen kann.

Ein roman, der ein gutes drama ergibt, ist sowohl als roman wie auch als drama schlecht. Ein weit ärgerer fall ist es noch, wenn zwei verschiedene künste, weisen sie auch sonst berührungspunkte auf, vermischt werden können. Ein bild, das zur panoptikumgruppe taugt, ist ein schlechtes bild. Den salontiroler kann man wohl bei Kastan zu sehen bekommen, nicht aber einen sonnenaufgang von Monet oder eine radierung von Whistler. Fürchterlich aber ist es, wenn eine architekturzeichnung, die man durch die art ihrer darstellung schon als graphisches kunstwerk gelten lassen muß – und es gibt wirkliche graphische künstler unter den architekten –, in stein, eisen und glas ausgeführt wird. Denn das zeichen des echt empfundenen bauwerkes ist: daß es wirkungslos in der fläche bleibt. Könnte ich das stärkste architektonische ereignis, den palazzo Pitti, aus dem gedächtnis der zeitgenossen löschen und vom besten zeichner gezeichnet als konkurrenzprojekt einreichen lassen: das preisgericht würde mich ins irrenhaus sperren.

Heute aber herrscht der flotte darsteller. Nicht mehr das handwerkszeug schafft die formen, sondern der bleistift. Aus der profilierung eines bauwerkes, aus der art seiner ornamentierung kann der beschauer entnehmen, ob der architekt mit bleistift nummer 1 oder mit bleistift nummer 5 arbeitet. Und welche fürchterliche geschmacksverheerung hat der zirkel auf dem gewissen! Das punktieren mit der reißfeder hat die quadratseuche erzeugt. Keine fensterumrahmung, keine marmorplatte bleibt im maßstab 1:100 unpunktiert, und maurer und steinmetz müssen den graphischen unsinn im schweiße ihres angesichts [309] auskratzen und abstocken. Ist dem künstler zufällig tusche in die reißfeder gekommen, so wird auch der vergolder bemüht.

Ich aber sage: Ein rechtes bauwerk macht im bilde, auf die fläche gebracht, keinen eindruck. Es ist mein größter stolz, daß die innenräume, die ich geschaffen habe, in der photographie vollständig wirkungslos sind. Daß die bewohner meiner räume im photographischen bilde ihre eigene wohnung nicht erkennen, genau wie der besitzer eines bildes von Monet das werk bei Kastan nicht erkennen würde. Auf die ehre, in den verschiedenen architektonischen zeitschriften veröffentlicht zu werden, muß ich verzichten. Die befriedigung meiner eitelkeit ist mir versagt.

Und so ist mein wirken vielleicht wirkungslos. Man kennt nichts von mir. Da aber zeigt sich die kraft meiner ideen und die richtigkeit meiner lehre. Ich, der unveröffentlichte, ich, dessen wirken man nicht kennt, ich bin der einzige von den tausenden, der wirklichen einfluß besitzt. Ich kann mit einem beispiel dienen. Als es mir zum ersten male vergönnt war, etwas zu schaffen – es war schwer genug, da, wie ich sagte, arbeiten in meinem sinne graphisch nicht dargestellt werden können –, da wurde ich arg angefeindet. Es war vor zwölf jahren: das Café Museum in Wien. Die architekten nannten es das „Café nihilismus“. Aber das Café Museum besteht heute noch, während alle die modernen tischlerarbeiten der tausend anderen schon längst in die rumpelkammer geworfen wurden. Oder sie haben sich dieser arbeiten zu schämen. Und daß das Café Museum mehr einfluß auf unsere heutige tischlerarbeit gehabt hat, als alle vorherigen arbeiten zusammen, das kann ihnen ein blick in den jahrgang [310] 1899 der münchner „Dekorativen Kunst“ zeigen, in welcher zeitschrift dieser innenraum – ich glaube, er gelangte durch ein versehen der redaktion hinein – reproduziert wurde. Aber diese beiden photographischen reproduktionen waren es nicht, die damals den einfluß ausmachten – sie blieben vollständig unbeachtet. Nur die kraft des beispieles hat einfluß gehabt. Jene kraft, mit der auch die alten meister gewirkt haben, schneller und rascher bis in die entferntesten erdenwinkel, obgleich oder vielmehr weil es noch keine post, keine telegraphen und zeitungen gab.

Die zweite hälfte des neunzehnten jahrhunderts war erfüllt von dem ruf der kulturlosen: Wir haben keinen baustil! Wie falsch, wie unrichtig! Gerade diese zeit hatte einen stärker akzentuierten, einen stärker von jeder früheren periode unterscheidbaren stil als je eine zuvor; es war ein wechsel, der in der kulturgeschichte ohne beispiel dasteht. Da aber die falschen propheten ein produkt nur an dem verschieden gearteten ornament erkennen konnten, wurde ihnen das ornament zum fetisch, sie unterschoben diesen wechselbalg, indem sie ihn stil nannten. Wahren stil hatten wir schon, aber wir hatten kein ornament. Wenn ich sämtliche ornamente unserer alten und neuen häuser herunterschlagen könnte, daß nur die nackten mauern zurückblieben, wäre es allerdings schwer, das haus des fünfzehnten jahrhunderts vom hause des siebzehnten jahrhunderts zu unterscheiden. Aber die häuser des neunzehnten jahrhunderts fände jeder laie auf den ersten blick heraus. Wir hatten kein ornament, und sie jammerten, daß wir keinen stil hätten. Und sie kopierten solange vergangene ornamente, bis sie es selbst lächerlich fanden, und als das nicht mehr weiter ging, erfanden sie [311] neue ornamente, das heißt, sie waren kulturell so tief gesunken, daß sie es konnten. Und sie freuen sich nun, daß sie den stil des zwanzigsten jahrhunderts gefunden hätten.

Aber der stil des zwanzigsten jahrhunderts ist das nicht. Es gibt gar viele dinge, die den stil des zwanzigsten jahrhunderts in reiner form zeigen. Das sind jene, deren erzeugern die verbogenen nicht als vormünder eingesetzt wurden. Solche erzeuger sind vor allem die schneider. Solche sind die schuhmacher, die taschner und sattler, solche sind die wagenbauer, die instrumentenmacher und alle, alle jene, die nur darum der allgemeinen entwurzelung entgingen, weil ihr handwerk den kulturlosen nicht vornehm genug erschien, es ihrer reformen teilhaftig werden zu lassen. Welches glück! Aus diesen resten, die mir die architekten gelassen haben, konnte ich vor zwölf jahren die moderne tischlerei rekonstruieren, jene tischlerei, die wir besäßen, wenn die architekten nie ihre nase in die tischlerwerkstätte hineingesteckt hätten. Denn nicht wie ein künstler bin ich an die aufgabe getreten, frei schaffend, der phantasie freien spielraum lassend. So ähnlich drückt man sich wohl in künstlerkreisen aus. Nein. Sondern zaghaft wie ein lehrling ging ich in die werkstätten, ehrfürchtig sah ich zu dem mann mit der blauen schürze empor. Und bat: Laß mich deines geheimnisses teilhaftig werden! Denn schamhaft vor den blicken der architekten verborgen lag noch manches stück werkstatt-tradition. Und als sie meinen sinn erkannten, als sie sahen, daß ich nicht einer bin, der ihr geliebtes holz auf grund von reißbrettphantasien verunstalten will, als sie sahen, daß ich die edle farbe ihres ehrfürchtig verehrten materials nicht mit grünen oder violetten beizen schänden wollte, da kam ihr stolzes werkstattbewußtsein an [312] die oberfläche und ihre sorgsam verborgene tradition kam zum vorschein und ihr haß gegen ihre bedrücker machte sich luft. Und ich fand die moderne wandverkleidung in den paneelen, die den wasserkasten des alten waterclosets verbergen, ich fand die moderne ecklösung bei den kassetten, in denen die silberbestecke aufbewahrt wurden, ich fand schloß und beschläge beim koffer- und klaviermacher. Und ich fand das wichtigste: daß der stil vom jahre 1900 sich vom stile des jahres 1800 nur so weit unterscheidet, als sich der frack vom jahre 1900 vom frack des jahres 1800 unterscheidet.

Das ist nicht viel. Der eine war aus blauem tuch und hatte goldene knöpfe, der andere ist aus schwarzem und hat schwarze knöpfe. Der schwarze frack ist im stile unserer zeit. Das kann niemand leugnen. Die verbogenen waren in ihrem hochmut an der reformierung unserer kleidung vorbeigegangen. Sie waren nämlich alle ernste männer, die es unter ihrer würde fanden, sich mit solchen dingen abzugeben. Und so blieb unsere kleidung im stile ihrer zeit. Dem würdigen ernsten manne ziemte nur das erfinden von ornamenten.

Als mir nun endlich die aufgabe zuteil wurde, ein haus zu bauen, sagte ich mir: Ein haus kann sich in der äußeren erscheinung höchstens wie der frack verändert haben. Also nicht viel. Und ich sah, wie die alten bauten, und sah, wie sie sich von jahrhundert zu jahrhundert, von jahr zu jahr vom ornamente emanzipierten. Ich mußte daher dort anknüpfen, wo die kette der entwicklung zerrissen wurde. Eines wußte ich: ich mußte, um in der linie der entwicklung zu bleiben, noch bedeutend einfacher werden. Die goldenen knöpfe mußte ich durch schwarze ersetzen. Unauffällig muß das haus aussehen. [313] Hatte ich nicht einmal den satz geprägt: modern gekleidet ist der, der am wenigsten auffällt. Das klang paradox. Aber es fanden sich brave menschen, die diesen wie so viele andere meiner paradoxen einfälle sorgfältig aufhoben und von neuem drucken ließen. Das geschah so oft, daß die leute sie schließlich für wahr hielten.

Was jedoch die unauffälligkeit angeht, da hatte ich eines nicht ins kalkül gezogen. Nämlich: was von der kleidung galt, das galt nicht in der architektur. Ja, wäre die architektur von den verbogenen in ruhe gelassen worden, und die kleidung im sinne alten theaterplunders oder secessionistisch – versuche dazu hatte es wohl gegeben – reformiert worden, dann wäre es umgekehrt gewesen.

Denken sie sich die situation so: Ein jeder trägt eine kleidung, die einer vergangenen zeit angehört oder einer imaginären, fernen zukunft. Da sähe man männer aus dem grauen altertum, frauen in hochgetürmten frisuren und reifrock, zierliche herren in burgundischer hose. Und dazwischen ein paar neckische moderne mit violetten escarpins und apfelgrünen seidenen wämsern mit applikationen von professor Walter Scherbel. Und nun träte ein mann in schlichtem gehrock unter sie. Würde der nicht auffallen? Ja, viel mehr, würde er nicht ärgernis erregen? Und würde nicht die polizei gerufen werden. die dazu da ist, alles zu entfernen, was ärgernis erregt?

Die sache ist aber umgekehrt. Die kleidung ist richtig, die harlekinade auf dem gebiete der architektur. Mein haus (gemeint ist das „Looshaus“ auf dem Michaelerplatz in Wien, das im selben jahre erbaut wurde, in dem dieser artikel entstand) erregte richtig ärgernis und die polizei war prompt zur stelle. Solche dinge könne ich [314] wohl zwischen vier wänden abtun, aber auf die straße gehöre so etwas nicht!

*

Vielen werden während meiner letzten ausführungen bedenken aufgestiegen sein, bedenken, die sich gegen den vergleich richten, den ich zwischen schneiderei und architektur mache. Die architektur ist doch eine kunst. Zugegeben, einstweilen zugegeben. Aber ist ihnen noch nie die merkwürdige übereinstimmung im äußeren der menschen und im äußeren der häuser aufgefallen? Paßte nicht der gotische stil zur zatteltracht, die allongeperücke zum barock? Aber passen sich unsere heutigen häuser unserer tracht an? Man befürchtet die einförmigkeit? Ja, waren die alten bauten innerhalb einer epoche und innerhalb eines landes nicht auch einförmig? So einförmig, daß es uns möglich ist, sie dank ihrer einförmigkeit nach stilen und ländern, nach völkern und städten zu sichten? Die nervöse eitelkeit war den alten meistern fremd. Die formen hatte die tradition bestimmt. Nicht die formen änderten sie. Sondern die meister waren nicht imstande, die feste, geheiligte, traditionelle form unter allen umständen treu zu verwenden. Neue aufgaben änderten die form, und so wurden die regeln durchbrochen, neue formen entstanden. Aber die menschen der zeit waren einig mit der architektur ihrer zeit. Das neuerstandene haus gefiel allen. Heute gefallen die meisten häuser nur zwei menschen: dem bauherrn und dem architekten.

Das haus hat allen zu gefallen. Zum unterschiede vom kunstwerk, das niemandem zu gefallen hat. Das kunstwerk ist eine privatangelegenheit des künstlers. Das haus ist es nicht. Das kunstwerk wird in die welt gesetzt, ohne daß [315] ein bedürfnis dafür vorhanden wäre. Das haus deckt ein bedürfnis. Das kunstwerk ist niemandem verantwortlich, das haus einem jeden. Das kunstwerk will die menschen aus ihrer bequemlichkeit reißen. Das haus hat der bequemlichkeit zu dienen. Das kunstwerk ist revolutionär, das haus konservativ. Das kunstwerk weist der menschheit neue wege und denkt an die zukunft. Das haus denkt an die gegenwart. Der mensch liebt alles, was seiner bequemlichkeit dient. Er haßt alles, was ihn aus seiner gewonnenen und gesicherten position reißen will und belästigt. Und so liebt er das haus und haßt die kunst.

So hätte also das haus nichts mit kunst zu tun und wäre die architektur nicht unter die künste einzureihen? Es ist so. Nur ein ganz kleiner teil der architektur gehört der kunst an: das grabmal und das denkmal. Alles andere, alles, was einem zweck dient, ist aus dem reiche der kunst auszuschließen.

Erst wenn das große mißverständnis, daß die kunst etwas ist, was einem zwecke angepaßt werden kann, überwunden sein wird, erst wenn das lügnerische schlagwort „angewandte kunst“ aus dem sprachschatz der völker verschwunden sein wird, erst dann werden wir die architektur unserer zeit haben. Der künstler hat nur sich selbst zu dienen, der architekt der allgemeinheit. Aber die verquickung von kunst und handwerk hat beiden, hat der menschheit unendlichen schaden zugefügt. Die menschheit weiß dadurch nicht mehr, was kunst ist. In sinnloser wut verfolgt sie den künstler und vereitelt dadurch das schaffen des kunstwerkes. Die menschheit begeht stündlich die ungeheure sünde, die nicht vergeben werden kann, die sünde wider den heiligen geist. Mord und raub, alles kann vergeben werden. Aber die vielen neunten [316] symphonien, die die menschheit in ihrer verblendung durch verfolgung des künstlers – nein, schon durch unterlassungssünden – verhindert hat, die werden ihr nicht vergeben. Die durchkreuzung der pläne gottes wird ihr nicht vergeben.

Die menschheit weiß nicht mehr, was kunst ist. „Die kunst im dienste des kaufmannes“ hieß neulich eine ausstellung in München, und keine hand fand sich, die das freche wort gezüchtigt hätte. Und niemand lacht bei dem schönen wort „angewandte kunst“.

Wer aber weiß, daß die kunst dazu da ist, um die menschen immer weiter und weiter, immer höher und höher zu führen, sie gottähnlicher zu machen, der empfindet die verquickung von materiellem zweck mit kunst als profanation des höchsten. Die menschen lassen den künstler nicht gewähren, weil sie keine scheu vor ihm haben, und das handwerk kann sich, mit den zentnergewichten idealer forderungen belastet, nicht frei entfalten. Der künstler hat bei den lebenden keine majorität hinter sich zu haben. Sein reich ist die zukunft.

Da es geschmackvolle und geschmacklose gebäude gibt, so nehmen die menschen an, daß die einen von künstlern herrühren, die anderen von nichtkünstlern. Aber geschmackvoll bauen ist noch kein verdienst, wie es kein verdienst ist, das messer nicht in den mund zu stecken oder sich des morgens die zähne zu putzen. Man verwechselt hier kunst und kultur. Wer kann mir aus vergangenen epochen, also aus kultivierten zeiten, eine geschmacklosigkeit nachweisen? Die häuser des kleinsten maurermeisters in der provinzstadt hatten geschmack. Freilich gab es große und kleine meister. Den großen meistern waren die großen arbeiten vorbehalten. Die [317] großen meister hatten dank ihrer hervorragenden bildung einen innigeren kontakt mit dem weltgeist als die andern.

Die architektur erweckt stimmungen im menschen. Die aufgabe des architekten ist es daher, die stimmung zu präzisieren. Das zimmer muß gemütlich, das haus wohnlich aussehen. Das justizgebäude muß dem heimlichen laster wie eine drohende gebärde erscheinen. Das bankhaus muß sagen: hier ist dein geld bei ehrlichen leuten fest und gut verwahrt.

Der architekt kann das nur erreichen, wenn er bei jenen gebäuden anknüpft, die bisher im menschen diese stimmung erzeugt haben. Bei den chinesen ist die farbe der trauer weiß, bei uns schwarz. Unseren baukünstlern wäre es daher unmöglich, mit schwarzer farbe freudige stimmung zu erregen.

Wenn wir im walde einen hügel finden, sechs schuh lang und drei schuh breit, mit der schaufel pyramidenförmilg aufgerichtet, dann werden wir ernst, und es sagt etwas in uns: Hier liegt jemand begraben. Das ist architektur.

Unsere kultur baut sich auf der erkenntnis von der alles überragenden größe des klassischen altertums auf. Die technik unseres denkens und fühlens haben wir von den römern übernommen. Von den römern haben wir unser soziales empfinden und die zucht der seele.

Es ist kein zufall, daß die römer nicht im stande waren, eine neue säulenordnung, ein neues ornament zu erfinden. Dazu waren sie schon zu weit vorgeschritten. Sie haben das alles von den griechen übernommen und haben es für ihre zwecke adaptiert. Die griechen waren individualisten. Jedes bauwerk mußte seine eigene profilierung, seine eigene ornamentierung haben. Die römer [318] aber dachten sozial. Die griechen konnten kaum ihre städte verwalten, die römer den erdball. Die griechen verschwendeten ihre erfindungskraft in der säulenordnung, die römer verwendeten sie auf den grundriß. Und wer den großen grundriß lösen kann, der denkt nicht an neue profilierungen.

Seitdem die menschheit die größe des klassischen altertums empfindet, verbindet die großen baumeister ein gemeinsamer gedanke. Sie denken: so wie ich baue, hätten die alten römer auch gebaut. Wir wissen, daß sie unrecht haben. Zeit, ort, zweck und klima, das milieu machen ihnen einen strich durch diese rechnung.

Aber jedesmal wenn sich die baukunst immer und immer wieder durch die kleinen, durch die ornamentiker, von ihrem großen vorbilde entfernt, ist der große baukünstler nahe, der sie wieder zur antike zurückführt. Fischer von Erlach im süden, Schlüter im norden waren mit recht die großen meister des achtzehnten jahrhunderts. Und an der schwelle des neunzehnten stand Schinkel. Wir haben ihn vergessen. Möge das licht dieser überragenden gestalt auf unsere kommende baukünstlergeneration fallen!

Anmerkungen des Herausgebers

[459] Ursprünglich gleichfalls ein vortrag. In der zeitschrift „der sturm“, 1910, nr. 42 vom 15. dezember 1910 bluemountain.princeton, ist ein kleines stück aus dem vortrag, den Adolf Loos im „verein für kunst“ hielt, mitgeteilt. Das erhaltene manuskript beginnt mit den worten: „Meine verehrten zuhörer …“ In französischer übersetzung gedruckt in „cahiers d’aujourd’hui“, 1913.