Aachen (Meyer’s Universum)

CCCCX. Cambridge Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band (1842) von Joseph Meyer
CCCCXI. Aachen
CCCCXII. Abbotsford
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AACHEN

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CCCCXI. Aachen.




Ich setze gern die Welt dem engen Vaterlande gegenüber. Doch wenn auch im Lichte jenes Sonnenmeers das Heimathliche erbleicht, wenn auch vor jenem glänzenden Ocean des Lebens, vor diesem unergründlichen All, die kleine trübe Erde mit ihren Völkerkammern und Kämmerchen in einen Punkt zusammen schwindet, den das geistige Auge verliert, so hat doch die ewige Liebe darum meine Gefühle nicht in die Wüste des Universums hinausgestoßen zur pfadlosen Irrfahrt, sie hat auch um mich das Band geschlungen, welches den Menschen lebenswarm an die Scholle knüpft, wo sein Volk wohnt. Mein Wirkungsstreben möchte die Welt umfassen; aber der Grund und Boden, aus dem es hervorgeht, ist deutsch, und entfernt es sich auch noch so weit, so findet es doch die höchste Freudigkeit nur im Vaterlande.

Aus diesem eigenthümlichen, anscheinend zwiespaltigen und doch einigen Wesen meines Geistes erklärt sich auch meine Liebe für die heimathliche Vergangenheit, meine Theilnahme für die geschichtlichen Ueberlieferungen meines Volks und für die blassen Nacherinnerungen seiner Herrlichkeit.


Aachen! Ich brauche blos dein Bild zu sehen und die Stromkarte der deutschen Geschichte ist vor mir aufgerollt, mit allen ihren Windungen, Erweiterungen, Schnellen und Stürzen, von den Carolingern an bis zu dem heutigen Tag. Welche deutsche Stadt könnte das Maß des Ruhmes messen mit dem deinigen und welcher Schicksal käme dem Wechsel deines Geschickes gleich? Dein Ruhm reicht bis in der deutschen Zeiten Ursprung, in der Zeiten Mitte warst du ihr Haupt, von dir kam alle Herrlichkeit des deutschen Königthums, und als der Königsmantel zur Mumiendecke geworden war, zur Hülle für den bloßen Schein des Lebens – da verschwandst du von der Karte des deutschen Landes. Es gab kein deutsches Aachen mehr, als die lange Nacht der deutschen Schmach hereinbrach. Erst in der Wiedergeburtsstunde des Vaterlandes wurdest auch du zum Zweitenmale deutsch geboren, und seitdem erhobst du dein deutsches Antlitz wie eine Sybille, deren Mund die große Zukunft des deutschen Alls verkündigt; jenes Alls, das die zerstreuten Elemente unseres Volksthums einigen soll, und wieder zuführen wird dem Haupte alle durch Schwert und Zwiespalt von ihm getrennten Glieder. Mit dieser Vereinigung hebt alsdann das große Epos der Neu-Geschichte an, welches, wenn die Zeichen nicht trügen, die ganze Erde in seinen Kreis ziehen wird.

[106] Aachens Hauptschicksale deuten wenige Worte an. Die Römer hatten hier ein Bad; Karl der Große, der hier geboren und gestorben ist, seine Residenz; dann war es Krönungsort der deutschen Könige, Glied des Hansabundes, freie Reichsstadt, endlich, als Aix la Chapelle, Departementsstadt des französischen Kaiserthums. Seit dem pariser Frieden ist es Hauptstadt eines Regierungsbezirks der preußischen Rheinprovinz und einer der gewerbreichsten Orte der deutschen Lande. Die Stadt liegt in einer ebnen, fruchtbaren Gegend, nahe an der belgischen Grenze, etwa 8 deutsche Meilen westlich von Cöln, mit dem sie durch eine Eisenbahn verknüpft ist. Das freundliche Aachen hat etwa 3000 Häuser und 40,000 Einwohner, und, mit Ausnahme des ältesten Stadtkerns, breite, sonnige Straßen, große öffentliche Plätze und einen breiten Kranz der schönsten Anlagen, welche die Stelle der ehemaligen Wälle einnehmen. Der Ort ist reich und der Sitz großartiger Industrien. Obenan steht die Tuchfabrikation, welche, berühmt seit langer Zeit, ihrem Erzeugnisse den Ruf der Trefflichkeit Jahrhunderte hindurch ungeschmälert bewahrt hat. Sie allein beschäftigt in Stadt und Umgegend 25,000 Arbeiter und über 20 Millionen Thaler Kapital. Die Verfertigung aller Arten von Maschinen geschieht in mehren Etablissements in eben so großer Ausdehnung als Vollkommenheit. Ein einziges Haus hat über 600 Arbeiter. Große Nahrungszweige sind auch die Fabriken chemischer Präparate, von Papier, Handschuhen, Spitzen etc. etc.; sodann die warmen Bäder, die schon zur Römerzeit unter die Heilquellen ersten Ranges gerechnet wurden. Man benutzt mehre Quellen, welche, in verschiedenen Abstufungen, eine Temperatur von 100 bis 130 Grad Fahrenheit haben. Die älteste und kräftigste ist die Kaiserquelle, mit Trümmern römischer Thermen. Karl der Große ließ sie restauriren. Ihr folgen: das Quirinusbad, das neue, daß Rosen-, Herren- und das Armenbad, letzteres mit den Spitaleinrichtungen für unvermögende Kranke und 2 großen Bassins zu Gemeinbädern. Versenden lassen sich die Aachener Wasser nicht. Ihre vorzüglichste Anwendung finden sie in hartnäckigen Gichtbeschwerden, veralteten rheumatischen, syphilitischen und Hautübeln, Unterleibskrankheiten und in chronischen Leiden der Brust. Die Anstalten für die Badegäste sind vortrefflich und die eigenthümlichen Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten einer großen Stadt tragen dazu bei, die Frequenz der Bäder zu begünstigen. Sie werden jährlich von einigen tausend Kranken aus allen Welttheilen besucht. Eine ganz besondere Erwerbsquelle Aachens fließt nur alle sieben Jahre: nämlich durch die Ausstellung der sogenannten großen Reliquien im Dome. Diese Heiligthümer bilden eine wunderliche Versammlung der verschiedenartigsten Dinge: man sieht eine Haarlocke der Maria, ein Stück vom Stabe Aarons, eine Portion Manna, womit der Himmel die Juden in der arabischen Wüste speisete, Blut und Knochen vom gesteinigten Stephan, ein Stück vom wahren Kreuz Christi, die Nägel, womit der Heiland an’s Kreuz geheftet worden, den Schwamm, der ihn in der Sterbestunde tränkte u. s. w.; ferner, und dies sind die Hauptartikel der Verehrung: Joseph’s bockslederne Hosen, das Kleid, welches die [107] heilige Jungfrau bei ihrer Niederkunft an hatte, die Windeln, in welche sie das neugeborne Christuskind wickelte, das Tuch, auf welchem das Haupt Johannes des Täufers kredenzt wurde, und den Gürtel, den Jesus am Kreuze trug. Die Ausstellungszeit ist vom 15. bis 27. Juli, und für die Verehrer der Reliquien wird zugleich Vergebung aller Sünden verkündigt. In den finstern Zeiten des Mittelalters lockte sie nicht weniger als 200,000 Pilgrime aus allen Ländern des christlichen Europa’s herbei, und noch im 16ten Jahrhundert betrug die Zahl der Wallfahrer gemeinlich 150,000. Dem lichten, humanen Geiste eines Joseph II. war dies arge Spiel mit der gläubigen Einfalt ein Gräuel; er untersagte daher die Ausstellung, und unter französischer Herrschaft dachte man nicht daran, sie zu erneuern. Erst Preußen hat dies gethan und den grassen Widerspruch nicht gescheut, in welchem diese Thatsache mit seinem so gepriesenen Streben für Volksbefreiung aus den Fesseln des Irrthums, des Aberglaubens und der Dummheit steht.

Alle diese Reliquien liegen in silbernen Kästen. Sie stammen von Karl dem Großen her, dem sie vom Patriarchen von Jerusalem verehrt wurden. Wie es mit ihrer Authentizität beschaffen sey, steht dahin; ein bedenklicher Umstand ist es aber, daß an der Fertigung aller als ächt ausgegebenen Nägel vom Kreuze Christi ein fleißiger Nagelschmied manchen Tag zu thun hatte, und vom wahren Kreuze sieben Exemplare vorhanden sind, der unzähligen Bruchstücke nicht zu gedenken.

Aachen besitzt noch manches wohlerhaltene Bauwerk des Mittelalters aus seiner großen Zeit. Aus Karls des Großen Residenz (der Pfalz) ward später das Rathhaus (der Umbau geschah im vierzehnten Jahrhundert), und vor demselben prangt der herrliche Springbrunnen, (aus der nämlichen Bauzeit), mit der Colossalstatue des Reichsbegründers. – Der Dom ist zwar nicht so großartig, als der Cölner, aber historisch von um so größerer Bedeutung. Von Karl dem Großen gegründet, von seinen Nachfolgern erweitert und ausgebaut, zeigt er zwar ein Gemisch der Baustyle verschiedener Epochen; doch eben so reiht sich an ihn ein bedeutender Theil der Geschichte unseres Volks. Dreißig Kaiser sind in diesen heiligen Räumen gekrönt worden, und die mächtigsten Fürstenhäuser Deutschlands haben hier ihre Lehen von dem Reichsoberhaupt empfangen. Es macht die Kathedrale immer noch einen imposanten Eindruck, so viel auch die Geschmacklosigkeit späterer Jahrhunderte dazu geholfen hat, das Großartige zu verkleinern und die architektonische Einheit zu zerstören. Die innere Ausschmückung ist widersinnig; die antiken Porphyrsäulen, welche Karl der Große dem Kaiserpalaste zu Ravenna entnahm, um das Innere des Doms zu schmücken, sind abgebrochen und zum Theil verschleppt worden; von den Glasmalereien der Fenster sind, außer im Chore, nur Fragmente übrig; der Thurm ist unvollendet, das Aeußere durch angeflickte Häuser und Buden entstellt. Dies welthistorische Gebäude in seiner Reinheit und Großartigkeit wieder herzustellen, wäre eine würdige Aufgabe für die Zeit, in welcher in den deutschen Stämmen der Einheitsdrang [108] mächtig erwacht und sich schnell zu klarem Bewußtseyn ausbildet. Unter dem Hochaltar ist Kaiser Otto III. begraben; in der Krypta unter dem Dom aber ruhete Karl der Große von seinen Weltmühen aus. Sie ist jetzt leer; aber ohne Gefühl von Ehrfurcht tritt Keiner in diese kleine Halle, die das letzte irdische Haus von Ihm war, dem die Erde zu klein schien. Bis zur Zeit Kaiser Otto’s III. war die Gruft vermauert. Dieser Fürst ließ sie 997 erbrechen. Er fand den Leichnam nicht in einem Sarge liegen, wie es gewöhnlich ist, sondern in sitzender Stellung auf demselben Throne, von dem er geherrscht hatte im Reiche des Lebens. Er war angethan mit dem Kaisergewande und trug in der Hand das Scepter; auf seinem Schooße lag der Reichsapfel, welcher der andern Hand entgleitet war, neben einer aufgeschlagenen Bibel. Auf seinem Kopfe saß noch die Krone, und der schwere kaiserliche Mantel fiel in majestätischen Falten um den gepanzerten Leib. Das kaiserliche Schwert war seiner Hüfte entfallen und lag am Boden; die Pilgertasche aber, die er im Leben stets getragen, hing noch an seinen Schultern. Alle diese Reliquien wurden dem Grabe entnommen und sie dienten später bei der Krönung deutscher Kaiser als Insignien der Macht. Jetzt befinden sie sich in der kaiserlichen Schatzkammer der Burg in Wien. Blos der marmorne Thronsessel ist noch in der Kirche. Er wird, nebst dem Schädel des großen Stifters des germanischen Reichs, vom Sakristan gezeigt; gezeigt – für ein paar Silbergroschen, wie etwa eine Meerkatze, oder ein Stachelschwein! – Wird, nach dem Wiederaufwachen des Nationalgefühls und der Ehrfurcht für deutsche Größe, wird jetzt, wo die nobeln Ideen von Freiheit, Bürgerthum, Verfassung und Volkshoheit Umlauf haben unter den Gebildeten, nicht auch das Gefühl des Schicklichen erwachen und solcher widerliche Spuk mit den Nationalheiligthümern abgestellt werden? So lange dergleichen Profanation nicht alle Herzen empört, dünkt mich die Begeisterung für deutsche Freiheit und Einheit fast hohl, kalt, abgestanden und seelenlos, und mehr ein künstliches Getriebe einzelner Menschen und Machthaber, als eine aus dem gesunden Instinkt des Volts erwachsene. – Oder wähnt man mit den Gebeinen des Carolus Magnus Nationalgefühl in die Herzen zu zaubern, indem man sie einem Pfaffen als Pfründe, einem Küster als Besoldungsstück zur Nutznießung überläßt? Die Schmach ist größer als der Spott in dieser Frage; – die Antwort höre ich aus allen deutschen Herzen! –