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heilige Jungfrau bei ihrer Niederkunft an hatte, die Windeln, in welche sie das neugeborne Christuskind wickelte, das Tuch, auf welchem das Haupt Johannes des Täufers kredenzt wurde, und den Gürtel, den Jesus am Kreuze trug. Die Ausstellungszeit ist vom 15. bis 27. Juli, und für die Verehrer der Reliquien wird zugleich Vergebung aller Sünden verkündigt. In den finstern Zeiten des Mittelalters lockte sie nicht weniger als 200,000 Pilgrime aus allen Ländern des christlichen Europa’s herbei, und noch im 16ten Jahrhundert betrug die Zahl der Wallfahrer gemeinlich 150,000. Dem lichten, humanen Geiste eines Joseph II. war dies arge Spiel mit der gläubigen Einfalt ein Gräuel; er untersagte daher die Ausstellung, und unter französischer Herrschaft dachte man nicht daran, sie zu erneuern. Erst Preußen hat dies gethan und den grassen Widerspruch nicht gescheut, in welchem diese Thatsache mit seinem so gepriesenen Streben für Volksbefreiung aus den Fesseln des Irrthums, des Aberglaubens und der Dummheit steht.

Alle diese Reliquien liegen in silbernen Kästen. Sie stammen von Karl dem Großen her, dem sie vom Patriarchen von Jerusalem verehrt wurden. Wie es mit ihrer Authentizität beschaffen sey, steht dahin; ein bedenklicher Umstand ist es aber, daß an der Fertigung aller als ächt ausgegebenen Nägel vom Kreuze Christi ein fleißiger Nagelschmied manchen Tag zu thun hatte, und vom wahren Kreuze sieben Exemplare vorhanden sind, der unzähligen Bruchstücke nicht zu gedenken.

Aachen besitzt noch manches wohlerhaltene Bauwerk des Mittelalters aus seiner großen Zeit. Aus Karls des Großen Residenz (der Pfalz) ward später das Rathhaus (der Umbau geschah im vierzehnten Jahrhundert), und vor demselben prangt der herrliche Springbrunnen, (aus der nämlichen Bauzeit), mit der Colossalstatue des Reichsbegründers. – Der Dom ist zwar nicht so großartig, als der Cölner, aber historisch von um so größerer Bedeutung. Von Karl dem Großen gegründet, von seinen Nachfolgern erweitert und ausgebaut, zeigt er zwar ein Gemisch der Baustyle verschiedener Epochen; doch eben so reiht sich an ihn ein bedeutender Theil der Geschichte unseres Volks. Dreißig Kaiser sind in diesen heiligen Räumen gekrönt worden, und die mächtigsten Fürstenhäuser Deutschlands haben hier ihre Lehen von dem Reichsoberhaupt empfangen. Es macht die Kathedrale immer noch einen imposanten Eindruck, so viel auch die Geschmacklosigkeit späterer Jahrhunderte dazu geholfen hat, das Großartige zu verkleinern und die architektonische Einheit zu zerstören. Die innere Ausschmückung ist widersinnig; die antiken Porphyrsäulen, welche Karl der Große dem Kaiserpalaste zu Ravenna entnahm, um das Innere des Doms zu schmücken, sind abgebrochen und zum Theil verschleppt worden; von den Glasmalereien der Fenster sind, außer im Chore, nur Fragmente übrig; der Thurm ist unvollendet, das Aeußere durch angeflickte Häuser und Buden entstellt. Dies welthistorische Gebäude in seiner Reinheit und Großartigkeit wieder herzustellen, wäre eine würdige Aufgabe für die Zeit, in welcher in den deutschen Stämmen der Einheitsdrang