CCCCIX. Das Chelsea-Hospital bei London Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band (1842) von Joseph Meyer
CCCCX. Cambridge
CCCCXI. Aachen
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CAMBRIDGE IN ENGLAND

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CCCCX. Cambridge.




Von einem der beiden alten Musensitze Englands habe ich in einem frühern Bande dieses Werks schon gesprochen. (Vergl. Oxford, im 1. B.). Cambridge ist die Schwesterstadt von Oxford, ist eben so ehrwürdig durch ihr Alter (die Universität bestand schon um das Jahr 1200), eben so besucht (die Anzahl der Studirenden wechselt zwischen 5- und 6000) und der Wohlthätigkeitssinn der alten Zeit hat sich hier, wie dort, durch die reich begabten Stiftungen von Colleges, Halls und Conviktorien Denkmäler errichtet. Cambridge [103] liegt 10 deutsche Meilen nördlich von London in einer Ebene. Obsthaine umgeben die Stadt, hundertjährige Rüstern und Linden ragen gruppenweise aus den zahlreichen Höfen der Colleges und Halls hervor und die Stadt erhält dadurch von weitem das Ansehn eines Parks, aus dessen Laubdach hie und da ein Thurm oder ein hoher Giebel sich emporstreckt. Die Stadt war sonst klein und häßlich; in neuerer Zeit aber hat sie außerordentlich gewonnen an Schönheit, Größe und Bevölkerung. Sie hatte im J. 1800 nur 10,000 Einwohner; jetzt über 40,000. Neben den Musen haben die Industrie und der Handel sich Wohnsitze hier aufgeschlagen. Die Gegend liefert namentlich jetzt die beste Butter für den Verbrauch Londons, und täglich gehen viele tausend Pfund auf der Eisenbahn frisch zur Hauptstadt. Seit dem Bestehen der Eisenbahn beträgt dieser Geschäftszweig jährlich Millionen. Ehemals war auch die Cambridger Messe (die Stourbridge-fair) fast so berühmt, als seine Universität. Sie dauerte vierzehn Tage; doch gegenwärtig ist sie nur für Landes-Produkte: Talg, Käse, Eisen, Wolle, Vieh etc. ein bedeutender Markt, zu dem die Produzenten weit und breit herkommen.

Die Universität ist selbst nicht reich; denn ihr gesammtes Einkommen beträgt kaum 16,000 Pfd. Sterling jährlich. Aber die Stiftungen haben unermeßliche Einkünfte, welche bei allem Luxus in der Administration und aller Freigebigkeit doch nicht ganz absorbirt werden können und immer neue Capitalien zu den alten häufen. Diese Stiftungen sind etwas Eigenthümliches im englischen Universitätswesen und es herrscht darüber viel Unklarheit der Begriffe. Sie entstanden folgendermaßen. In den frühern Zeiten des Mittelalters war das Streben nach Gelehrsamkeit ausschließlich in den Klöstern und unter der Geistlichkeit zu suchen. Die Klöster hatten den Gebrauch, die jüngern Konventualen abwechselnd auf die Universitäten zu schicken, um sich mit den Fortschritten der Wissenschaften vertraut zu machen. Damit nun die Mönche auch da ein den Vorschriften ihres Ordens oder Standes angemessenes klösterliches Leben führen möchten, so vereinten sich mehre Klöster zur Gründung von Hospitien auf jenen Hochschulen, welche vorzugsweise besucht wurden. Sie bauten für die studirenden Klosterbrüder Wohnungen, und setzten einen Profoß, oder Aufseher darüber, der die regelmäßige Lebensweise der Studiosen überwachen und den Abteien darüber berichten mußte u. s. w. Später erweiterten sich diese Anstalten, und, als die adelichen und bürgerlichen Stände, die Laien, anfingen, Theil an dem gelehrten Wissen zu nehmen, da wurde die Einrichtung nachgeahmt. Ritterschaftliche und städtische Vereine stifteten solche Hospitien mit klösterlicher Zucht für die Scholaren aus ihrer Mitte, ein Verfahren, das zu jener Zeit um so angemessener war, da die meisten für den geistlichen Stand bestimmt waren, der bis in das sechzehnte Jahrhundert neun Zehntel der Gesammtmasse der Studirenden absorbirte. Der Wohlthätigkeitssinn knüpfte Anstalten für solche Arme daran, welche der Durst nach Wissen zu den Universitäten führte, ohne die Mittel zu besitzen, sich in der [104] Fremde Unterhalt zu verschaffen und später, unter veränderten Verhältnissen, wurden mehre der Einzelstiftungen vereinigt, und in dem Maße, als sich der Kreis der Wissenschaft selbst erweiterte und ihr Baum verzweigte, auf ihre Kosten neue Lehrstühle (Collegien) gegründet. So sind nach und nach aus unscheinlichen Anfängen jene großartigen Anstalten im Schooße der englischen Hochschulen hervorgegangen, die denselben ein ganz eigenthümliches Leben verleihen, ein Leben, das sich unter den mittelalterlichen Formen gar wunderlich ausnimmt. Die Universitäten neuerer Gründung, sowohl in Schottland und Ireland, als auf dem festen Lande, haben diese Einrichtungen nicht; denn das Motiv lag in den frühmittelalterlichen Zuständen, nicht in den spätern. In Paris, und auf den italienischen Universitäten, wo Gleiches früher bestand, da ist es untergegangen in den Stürmen der Revolutionen und Kriege, oder ein Raub geworden der Fürsten, welche ihre Gier nach den Stiftungsfonds gemeinlich geschickt genug unter der Hülle reformirender, verbessernder Einrichtungen zu verbergen verstanden. Cambridge besitzt 18 dieser Colleges und Halls, wo die Studirenden unter einer mehr oder weniger klösterlichen Regel großentheils wohnen und speisen. Die vorzüglichsten sind: Trinity-College (es hat jetzt 1660 Zöglinge), St. Johns College (1100), Queens-, Cajus-, Christi- und Emmanuel-College. Verschiedene Grade bezeichnen die Qualität der Insassen. Die Häupter (Vorstände) sind die Profoße und Meister (Prevosts and Masters). Der 2te Rang ist der Fellows. Alle Colleges zusammen haben 30 Fellows. Sodann folgen die adelichen Graduirten, Doktoren und Magister. Diese, so wie 4) die bürgerlichen Doktoren, 5) die Baccalauren des Rechts und der Medizin, und 6) die Magister der freien Künste haben im Universitätssenate (der über allgemeine Angelegenheiten berathet), das Stimmrecht; 7) die Fellow Commonors sind junge, vornehme Studiosen, welche der klösterlichen Regel nicht strikt unterworfen sind, aber das Recht haben, an den Tafeln der höhern Grade zu speisen; 8) die Pensioners und Scholars sind Studenten ohne weitere Auszeichnung, die gegen Zahlung einer mäßigen Summe Wohnung und Kost in dem Collegium haben und 9) die Besitzer der Freistellen, die Armen, mit dem legalen Nicknamen Sizars. Letztere verrichten gegen Bezahlung nicht selten untergeordnete Dienstleistungen für die Vornehmen und höher Graduirten; Fleiß und Demuth haben in der That eine Menge Mittel zum Erwerb, und mancher ganz arme Student schafft sich in wenigen Jahren die Mittel, sich für immer seiner gedrückten Lage zu entziehen und höhere Laufbahnen zu betreten.