Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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mächtig erwacht und sich schnell zu klarem Bewußtseyn ausbildet. Unter dem Hochaltar ist Kaiser Otto III. begraben; in der Krypta unter dem Dom aber ruhete Karl der Große von seinen Weltmühen aus. Sie ist jetzt leer; aber ohne Gefühl von Ehrfurcht tritt Keiner in diese kleine Halle, die das letzte irdische Haus von Ihm war, dem die Erde zu klein schien. Bis zur Zeit Kaiser Otto’s III. war die Gruft vermauert. Dieser Fürst ließ sie 997 erbrechen. Er fand den Leichnam nicht in einem Sarge liegen, wie es gewöhnlich ist, sondern in sitzender Stellung auf demselben Throne, von dem er geherrscht hatte im Reiche des Lebens. Er war angethan mit dem Kaisergewande und trug in der Hand das Scepter; auf seinem Schooße lag der Reichsapfel, welcher der andern Hand entgleitet war, neben einer aufgeschlagenen Bibel. Auf seinem Kopfe saß noch die Krone, und der schwere kaiserliche Mantel fiel in majestätischen Falten um den gepanzerten Leib. Das kaiserliche Schwert war seiner Hüfte entfallen und lag am Boden; die Pilgertasche aber, die er im Leben stets getragen, hing noch an seinen Schultern. Alle diese Reliquien wurden dem Grabe entnommen und sie dienten später bei der Krönung deutscher Kaiser als Insignien der Macht. Jetzt befinden sie sich in der kaiserlichen Schatzkammer der Burg in Wien. Blos der marmorne Thronsessel ist noch in der Kirche. Er wird, nebst dem Schädel des großen Stifters des germanischen Reichs, vom Sakristan gezeigt; gezeigt – für ein paar Silbergroschen, wie etwa eine Meerkatze, oder ein Stachelschwein! – Wird, nach dem Wiederaufwachen des Nationalgefühls und der Ehrfurcht für deutsche Größe, wird jetzt, wo die nobeln Ideen von Freiheit, Bürgerthum, Verfassung und Volkshoheit Umlauf haben unter den Gebildeten, nicht auch das Gefühl des Schicklichen erwachen und solcher widerliche Spuk mit den Nationalheiligthümern abgestellt werden? So lange dergleichen Profanation nicht alle Herzen empört, dünkt mich die Begeisterung für deutsche Freiheit und Einheit fast hohl, kalt, abgestanden und seelenlos, und mehr ein künstliches Getriebe einzelner Menschen und Machthaber, als eine aus dem gesunden Instinkt des Volts erwachsene. – Oder wähnt man mit den Gebeinen des Carolus Magnus Nationalgefühl in die Herzen zu zaubern, indem man sie einem Pfaffen als Pfründe, einem Küster als Besoldungsstück zur Nutznießung überläßt? Die Schmach ist größer als der Spott in dieser Frage; – die Antwort höre ich aus allen deutschen Herzen! –
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/184&oldid=- (Version vom 3.1.2025)