ADB:Zitelmann, Konrad (Schriftsteller)

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Artikel „Zitelmann, Konrad“ von Ludwig Julius Fränkel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 45 (1900), S. 361–368, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Zitelmann,_Konrad_(Schriftsteller)&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 11:30 Uhr UTC)
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Zitelmann: Ernst Otto Konrad Z. ist der gesetzliche Geburtsname des Dichters und Schriftstellers Konrad Telmann, und obwol er selbst an zwei Jahrzehnte – eben die, da er reif und bekannt ward, die zweite Hälfte seines Lebens, da er fertig in diesem darinstand – nur das Pseudonym geführt und ihm sogar schließlich auch civile Geltung verschafft hat, kann ihn ein biographisches Compendium wol nur unter Z. aufnehmen; denn hier, wo es in erster Linie auf die Ereignisse des äußeren Daseins und die Daten der litterarischen Wirksamkeit ankommt, wiegt sein eigener Aerger über die Fortdauer des Namens Z., „der ihm mit Convention und Tradition gleichbedeutend war“ (so die Wittwe an den Unterz.), ebenso wenig als die unleugbare Thatsache, daß die Litteraturgeschichte ihn natürlich als Telmann einreiht. Letzteren Namen wählen wir drum auch da allein, wo der Schriftsteller gemeint ist.

Geboren wurde er am 26. November 1854 zu Stettin aus einer dortigen altpatricischen Juristenfamilie, als Sohn des Generallandschaftssyndikus Justizrath [362] Zitelmann. Schon die väterlichen Familienglieder, selbst die männlichen sind neben der Fachwissenschaft nicht selten auch als Poeten aufgetreten: der Onkel unseres Mannes, Geh. Regierungsrath Otto Konrad Z. (1814–89), schrieb „Norddeutsche Bauerngeschichten“ (2. Aufl. 1854), „Der Pfarrer von Buchendorf“, Roman (1857), „Bilder aus der Beamtenwelt“ (1859), das Oratorium „Otto der Große“ (1877, componirt von Ad. Lorenz), dessen Tochter Katharina (geb. 1844) seit 1884 etliche Novellen und Romane, sein Sohn Ernst (geb. 1852), jetzt Professor des römischen Rechts in Bonn, außer Fachwerken „Gedichte“ (1881) und die sinnige Dichtung „Memento vivere“ (1894). Unmittelbar verbunden war Telmann jedoch mit der Muse durch den Vater seiner Mutter, den bedeutenden pommerschen Lyriker H. Ludwig Th. Giesebrecht (s. d.; 1792 bis 1873), der noch 1870 die vor Paris kämpfenden Enkel poetisch apostrophirte wie 1813 seine Kameraden im Freiheitskriege: 1885 wurden „Ausgewählte Gedichte von Ludwig Giesebrecht herausgegeben von Konrad Telmann“ mit einer pietät- und gerecht verständnißvollen Einleitung. Ob von diesem Großvater auch durch die Mutter poetisches Talent vererbt bezw. geweckt worden ist? Auf den ersten Ausflügen in eine weitere Welt, die der Dichter Telmann nach dem Bruche mit dem unlieben Berufe unternahm, um die Gesundheit zu festigen und das Auge für Menschen- und Scenenwiedergabe zu erproben, hat sie ihn begleitet; als jedoch am ersten Jahrestage seines Todes hervorragende Schriftsteller ihm am Vaterhause eine Gedenktafel stiften wollten, verhinderte sie es als Eigenthümerin. Allerdings war Telmann längst in das entschieden-moderne Lager abgeschwenkt, so daß sich die Mutter nicht mehr ihres Verständnisses wie dereinst rühmen mochte, vielmehr durch eine Kluft von ihm getrennt war wie des Dichters Bruder, der Consistorialrath Z. im Geburtsort.

Und doch hing Telmann stets eng an der Heimath mit ihren ungewöhnlichen Reizen von Natur- und Menschenindividualität. Seine elegischen Verse „Aus der Heimath, die ich nie besessen, kommt mir selten noch verwehte Kunde, rührend an des Herzens alter Wunde –, lange, lange bin ich dort vergessen“ dürfen nicht irreleiten. In der Heimathlandschaft am Ostseestrande wurzelten seine Gedanken und Gestalten, mit denen er zuerst und auch am glücklichsten den Parnaß bevölkert hat. Bereits als Stettiner Gymnasiast, da er Gedichte und kleine Prosaarbeiten unter verschiedenen Decknamen in unansehnlichen Journalen, z. B. einer damals in Leipzig erscheinenden Zeitschrift für Schüler höherer Lehranstalten, unterbrachte, hat Telmann die Novellen „In Pommern“ geschrieben, die er 1875, zwei Jahre nach dem Uebergange zur Universität, drucken ließ: diese mit Ansätzen zu Stimmungsmalerei durchsetzten Skizzen dünkten ihn später „völlig werthloses Zeug“. Das als „Arabesken“ bezeichnete Büchlein „Sonnenblicke“, etwa gleichzeitig vor die Oeffentlichkeit getreten, war dagegen eine Frucht des Heidelberger Studienaufenthalts, der den Frühling 1874 umfaßte und dem Berliner Sommer von 1873, dem Anfange des juristischen Studiums, einem gesundheitshalber nöthigen Besuche der französischen Schweiz und einem anregenden Leipziger Wintersemester gefolgt war. Aus der lieblichen Musenstadt am Neckar vertrieb den Leidenden der August nach Oberbaiern, der Herbst sah ihn in Meran, wo die poetischen Skizzen „Meraner Herbsttage“ (1876) entstanden, und über Oberitalien kam er wieder nach Berlin. Aber auch diese zweite unstete Wanderfahrt führte ihn wieder heim: im Frühjahr 1875 nahm er in Greifswald die unlieben juristischen Studien auf, beendigte sie mit erstaunlichem Fleiße 1876 trotz der unaufhörlichen Unterbrechungen durch das ihn seit dem Knabenalter plagende Lungenleiden nach dem akad. Triennium und übersiedelte 1876 nach Stettin als Gerichtsreferendar und Dr. iuris. Das Schwanken seines Zustandes, daneben sichtlich auch der Widerwillen gegen die eingeschlagene Laufbahn, [363] veranlaßte ihn schon mit Neujahr 1878 aus dem Dienste und damit für immer von Justiz und Brotberuf zu scheiden. Seine Krankheit verlangte südliches Klima, und so bereiste er während der nächsten Jahre die Schweiz, Südfrankreich, Italien, ließ sich dann erst auf Sicilien, 1883 ständig in Mentone nieder. So wohnte er zwar „fern dem geliebten Heimathlande“, aber noch als er 1891 die bekannte Malerin und Dichterin Hermine Freiin von Preuschen, geschiedene Dr. med. Schmidt heirathete und nun in glücklicher Ehe, die auch zwei Töchter segneten, und traulichem Heime, an der via Gregoriana in Rom Ruhe und Frieden fand, kehrte er allsommerlich ins deutsche Vaterland zurück, an dem er mit schwärmerischer Hingabe hing, und nahm da in Höckendorf bei Altdamm nahe bei Stettin regelmäßig längeren Aufenthalt. Wie der Primaner, so entnahm nun der erfahrene Weltkenner und Schriftsteller dem Boden der Heimathprovinz Motive zu ernstem Schaffen. Die Dorfgeschichte „Unterm Strohdach“ (1892), an realistischer Treue und Kraft mehrfach mit Emile Zola’s Problemen der Bauernsphäre, besonders „La terre“, verglichen, wie das letzte Hauptwerk „Unter römischem Himmel“ (1896), schon im Titel ein Pendant zu des französischen Sittenschilderers „Oeuvre“, der Roman „Auf eigener Scholle“ (1894), auch „Schiefmund“ (1892), direct „Dorfgeschichten“ mitbenannt, spiegeln deutlich Telmann’s Neigung und Verständniß für den Erdgeruch Pommerns und die Leute, die darin gedeihen. Trüber Ahnungen aber auch wie immer neuer Pläne voll besuchte er im Sommer 1896 wie üblich Deutschland, dessen Geschehnisse politischer und geistiger Art er mit wärmstem Antheile begleitete, auch die gewohnte Sommerfrische sowie im September den internationalen Frauencongreß in Berlin mit seiner Gattin. Er erlag, nachdem neben der Tücke des andauernden organischen Leidens ihn mehrere Monate eine qualvolle Kopfneuralgie niedergedrückt hatte, einem plötzlichen Schlaganfalle am 24. (nicht 23.) Januar 1897 zu Rom.

Der Mann, der niemals die Bahnen der großen Welt suchte und trotz offensten Freimuths directe Conflicte mit Vertretern anderer Anschauungen oder wirklichen Gegnern – die er gewiß nie heraufbeschworen hat – vermied, sollte der fürs irdische Dasein erlangten Ruhe im Tode nicht ohne weiteres theilhaftig werden. Die evangelische Capelle auf dem Kirchhofe an der Cestiuspyramide, dessen Stimmung im Roman „Unter römischem Himmel“ reproducirt ist, blieb geschlossen, als am 26. Januar die Leiche, von einer kleinen Gefolgschaft begleitet, dahinkam, und, nachdem ein Freund, Prof. Dr. R. Schöner, eine ergreifende Trauerrede gehalten, dem, auch poetisch ergreifend ausgesprochenen Wunsche des Dichters gemäß, verbrannt wurde; das Verbot der kirchlichen Beerdigung, vom Oberconsistorium zu Berlin auf eingeholten Bescheid ergangen, erregte großes Aufsehen. In den letzten Jahren seines Lebens hatte Telmann zwei Mal viel besprochene Zusammenstöße mit Gesellschaft und Gericht durchgemacht, die er ebensowenig provocirt gehabt hatte. Der Roman „Unter den Dolomiten“ (1893) wurde auf Anlaß katholischer Kirchenbehörden Westfalens verfolgt, weil er religiöse Einrichtungen verächtlich mache, nach der Verhandlung zu Dortmund zwar außer Anklage gesetzt, aber nur aus formalen Gründen – und doch steht darin der lapidare Satz: „ich glaube sogar, daß der Katholicismus, so wie er ist, unentbehrlich und von millionenfachem Segen für Einzelne wie für ganze Völker bleibt“; trotzdem wurde das socialistische Centralorgan „Acanti“ in Rom am 31. März 1897 sequestrirt, als es das Erscheinen einer Uebertragung in seinem Feuilleton ankündigte. Und 1896 lehnte der „deutsche Künstlerverein“ zu Rom die vorgeschlagene Aufnahme Telmann’s ab, weil sich in mehreren Figuren seines kürzlich erschienenen Romans „Unter römischem Himmel“ Angehörige der dortigen deutschen Künstlercolonie wie in einem [364] Pasquill getroffen fühlten: wie sehr auch hier nicht nur das äußere Recht des gestaltenden Dichters auf seiner Seite war, beweist der daraufhin erfolgte Austritt der litterarischen Mitglieder. So rastlos auch in Telmann die Kämpfernatur sich regte, er blieb doch persönlich stets umgänglich und ritterlich in seiner Feder gerade wie in Erscheinung und Auftreten. Er war überaus beliebt bei den verschiedensten Jüngern der Poesie, verehrt von jedem, der dem aufrichtigen und durchaus ideal gestimmten Charakter näher getreten ist.

Konrad Telmann hat es unternommen, die im Leben gewonnenen Ansichten über die verschiedensten Fragen des Alltags, die unser Zeitalter aufrühren, in erzählender Prosa zu behandeln. Er ist ganz vorwiegend Romancier und war es von Anfang an. Mit der ungewöhnlich langen Reihe von Romanen und Novellen, die er veröffentlichte – in 24 Jahren 69 Werke in 93 Bänden rechnet Brümmer für sämmtliche Erzeugnisse aus, wobei den paar lyrischen oder vereinzelten dramatischen die aus dem Nachlasse gedruckten Erzählungen ziffermäßig reichlich das Gleichgewicht halten – steht er mit im Vordergrunde der zeitgenössischen Production. Ein halbes Decennium nach jenen obgenannten Jugendversuchen debütirte er schon mit dem dreibändigen Werke „Im Frühroth“ (1880) in der seither festgehaltenen Gattung des Zeitromans. Er bewegt sich hier auf den Bahnen, die namentlich Friedrich Spielhagen verständig und glücklich gewandelt war. „Götter und Götzen“ (1884), „Dunkle Existenzen“ (1886) und „Moderne Ideale“ (1886) schlossen sich jenem ersten größeren Romane von 1880 zu einer, von vornherein kaum beabsichtigten Tetralogie an. In ihr discutirt Telmann Streitfragen der Neuzeit, die sociale, die ethische, die politische und die religiöse, von entschieden modernem Standpunkte aus, und er bestrebt sich sichtlich, von vorgefaßten Maximen immer mehr dazu vorzudringen, Probleme, die er stellt und beantwortet, voll zu entwickeln, die halb schematischen Gestalten, die nur Incarnationen sind, mit greifbaren Personen zu vertauschen. Die längeren Weltspaziergänge des Dichters, zu denen sein Gesundheitszustand und die bei den meisten Lungenkranken vorhandene Unruhe zwangen, trugen ihr Theil bei, ihn an Kenntniß des realen Lebens, an Einblick in seltsame und doch dabei typische Verhältnisse in mancher Herren Länder, an Urtheil über die Evolution des ‚fin de siècle‘ aus den Strömungen, die unsere Gesellschaft seit 1789 durchflutheten, stetig und beträchtlich zu bereichern. Als Schauplatz wählte er auch nur Gegenden, deren ‚milieu‘ ihm völlig geläufig war: entweder die geliebten Striche des pommerschen Haide- und Waldreviers oder Rom und Unteritalien, wohin den Kranken jahrelanges Exil für die Wintermonate verbannt hatte, während er sich nach deutscher Eichen Rauschen sehnte, oder er wählte auch die dazwischen gelegenen Territorien des Uebergangs zwischen germanischem und romanischem Mitteleuropa.

Jedoch darf man nicht etwa den localen Unterschied als maßgebend betrachten, um danach Rubriken oder Perioden zu constatiren. Vielmehr stütze man sich auf den schon hervorgehobenen Aufstieg von gleichsam anthropomorphischer Ideenverkörperung zu psychologischer Vertiefung der auftretenden Menschen, deren Schicksale mehr und mehr ihre Gemüths- und Verstandesäußerungen überwiegen. Anfangs noch ziemlich in der Schablone des Familienblatt-Stils, rang er sich allmählich zu selbständiger Manier empor. Freilich eine gewisse Weitschweifigkeit, die die Situationen bis in jeden Winkel durchleuchten und die Begebenheiten breit, die Gesammthandlung nach allen Stadien darstellen ließ, hat Telmann nie besiegt, was vermuthlich der nervöse Drang verschuldete, auf seiner kurz bemessenen irdischen Pilgerstraße sämmtliche ihm erlangbare Blüthen, bevor sie richtig aufgeblüht, zu pflücken. Deshalb entgleisen ihm oft geschickt angelegte Scenen, und Wesentliches tritt in den Schatten neben Episoden, Schilderungen u. Aehnlichem, was wol angenehm unterbrechendes Beiwerk, aber in der [365] Composition ohne Werth ist. Er versteht es selten, sich zusammenzuhalten, seine Kraft auf die Hauptmomente aufzusparen. Insbesondere bleibt sehr häufig neben der moralischen Tendenz der ästhetische Gesichtspunkt zurück, und der Künstler erliegt dem begeisterten Socialreformator in ihm. Telmann ist nämlich ein glühender Freiheitsapostel, ein rastloser Streiter für die unantastbaren Rechte der Gefühle, die in der Menschenbrust wogen und zünden. Kein Wunder also, daß er sich oft in Rhetorik verliert und an vielen Stellen als Schönredner erscheint, der er doch seinem ganzen Wesen nach, dem es mit allen Idealen, Schwärmereien, Plänen und Hoffnungen heiligster Ernst war, in Wahrheit nicht ist. Als Ausfluß dieses starken Pathos gilt uns die sprachliche Fülle der Telmannschen Darstellung, die überall Schönheit und Angemessenheit der Form anstrebt, ein in seiner Lyrik noch schärfer ausgeprägtes Element. Allerdings verhinderte die erstaunliche Schnelle und Quantität seines Schaffens beim sprachlichen Gewande die nöthige Feile in der Regel sogar dann, wenn Telmann, wie meistens, erst nach dem Journalabdruck eine sorgfältige Revision des Aeußern vornahm. Zwar legte er auf diese Toilette großes Gewicht, aber, scheint’s, nicht so sehr um die Harmonie zwischen Inhalt und Wiedergabe sowie die Erfordernisse des Klangs zu befriedigen, als um für die vorgetragenen Welt- und Lebensanschauungen ein Ferment, den agirenden Figuren ein haltbares Piedestal zu bieten. Wo der Ausdruck wirkungsvollere Lichter aufsetzt, da verlockt nicht etwa die Sucht nach raffinirteren Tönen, wie sie aus den mitunter pikanten Stoffen erklärlich wären, sondern die Leidenschaftlichkeit in des Dichters Temperament, der Partei ergreift für alles Edle der Gesinnung, für Wahrheit und Unabhängigkeit in Denken und Handeln geräth ins Feuer des Agitators, und manches Wortgefecht lautet stürmischer, manches Capitel liest sich wie die Anklageschrift eines Pamphletisten.

Bei solcher Richtung seines Talents war Telmann eben im Zeitroman am ehesten zu Hause. Aber er hat meist die Grenze gewahrt, bis wohin er am intimsten Bescheid wußte. „Vom Stamm der Ikariden“ (1891) und „Bohémiens“ (1895) bieten Bilder aus der neudeutschen Litteratenexistenz, die ein gutes Kaleidoskop auffing. Irrthümer bezüglich der örtlichen Farbe laufen ihm nicht unter, denn das Pflaster der Reichshauptstadt an der Spree war ihm bekannt, wol aber kleine Unwahrscheinlichkeiten; über sie trägt der Strom der Erzählung dahin, erst nach Schluß wird man der Mängel inne. Aus der Bahn geworfene oder schiffbrüchige Charaktere, im Felde der Kunst, das sind seine Bohémiens, seine Ikariden, strebsame Strudelköpfe, die mit wächsernen Flügeln himmelan sich wagen, ohne die innere oder materielle Kraft. Unbeschadet seiner, übrigens etwas nebelhaften Freigeisterei war Telmann weder Naturalist in poetischen Dingen, noch Materialist als Philosoph; er würde auch, wofern politische Praxis ihn auf die Bühne gerufen hätte, bei keiner bestehenden Organisation sein idealistisches Phantasma des ungezügelten Sichauslebens der Individualität unter fortwährender Rücksicht auf die allgemeinen Gesetze der Sittlichkeit und des Gemüthsadels haben pflegen können. Seit dem Jünglingsalter vom regelmäßigen Ticktack der Werkeltagsuhr entwöhnt, entbehrte er der völlig begründeten Einsicht in die gewaltigen Gefüge, wie sie unsre staatliche und gesellschaftliche Ordnung für öffentliches Leben und die Cultur aufgebaut hat. So packt er denn mit Vorliebe die Ausnahmen unter den Zeitgenossen und entfaltet ihre seelischen Vorgänge, weshalb ihm gerade die Novelle vortrefflich gelang, und zwar mit verschiedenartigster Coulisse, vom baltischen Meere über das Gletscherpanorama zu dem lachenden Lenz der Riviera mit dem Todesathmen der Brustkranken und mit dem moralisch-socialen Elend am Roulette zu Monaco bis zu Capris und Siciliens sonnigen Gestaden. Der Wille, der Boden sind es nie, [366] die seine Entwürfe unter den Tisch fallen lassen, sondern das Fieber, das am Keime brütet, die Hast, die kein normales Abspinnen des Fadens erlaubt, der nimmermüde Wunsch, zu predigen, zu bessern. Und diese hohe Aufgabe, die sich Telmann überall, selbst die objectivere Reinheit der Poesie vernachlässigend, setzte und redlich durchzuführen suchte, hat ehrliche Gegner seiner unverhüllten Meinungen mit ihm versöhnt, ihm viele Freunde erworben und er ist bei Lebzeiten wie im Tode warm, sympathisch gefeiert worden als Märtyrer der schleichenden Phthisis, von näherstehenden Berufsgenossen auch als subjectiv durchgebildeter Dichter, dessen Ohr den Stimmen der Gegenwart begierig gelauscht, der dem Fortschritte des Menschengeschlechts ernst und eifrig gedient hat.

Die überaus sensible Anlage Telmann’s, die ihn als Erzähler auszeichnet und vor dem Verflachen und der Langweile behütet, anderntheils auf dem Wege sich abzuklären, hemmt, stempelt seine lyrischen Erzeugnisse zu Offenbarungen innerster und innigster seelischer Empirie. Schon die Titel der beiden Cyklen, die auf seine Gymnasiastenjahre zurückgehen, „In der Einsamkeit“ (1876) und „Meereswellen“ (1884), verrathen, woher die Accorde seiner Lyrik erschallen. Der Band „Aus der Fremde“ (1889) bringt ein poetisches Bekenntnißbuch: meist elegisch gefärbte Poeme, die sich aus Resignation, aus trüber Sehnsucht nach Gesundheit und Lebensfreude zusammensetzen, dazu schöne Lieder, eindrucksvolle Naturgemälde, drastische poetische Erzählungen, alles aus anderthalb Jahrzehnten des Kampfes mit widerwärtigen Verhältnissen, mit Krankheit und Herzeleid geschöpft. In Wendungen und Bildern gar reich, vollendet in Rhythmus und technischer Structur, verdienten diese Gedichte weit größere Aufmerksamkeit unter der Hochfluth moderner Lyrik als ihnen geschenkt wurde. Theilweise gilt dies auch von der dem Nachlasse enthobenen Sammlung „Von jenseits des Grabes – Lebenslieder eines Toten!“ (1898), in der die Witwe im ersten Schmerz des Verlustes alles was sie an lyrischen Aehren vorfand, zu einem duftigen Strauß gebunden hat; daneben stellte sie gleichzeitig ihr lyrisches Bändchen „Noch einmal Mors Imperator. Ein Requiem für Konrad Telmann“, ein Denkmal ihrer treuen tief gebeugten Liebe, das uns als Spiegelbild der tragischen Vorgänge in dem Telmann seit 1891 verschwisterten Herzen einen willkommenen Begleitcommentar abgibt. Diese Telmannschen Ergüsse eines tief empfindenden Gemüthes, das mit allen Fasern an diesem tristen trüben Erdendasein hangt und dennoch vorbereitet ist zu sterben, rühren an jede verwandte Saite da wo man harten Kummer und echtes Weh begreift. Tiefere psychologische Fragen berühren diese Verse nicht gerade, ihre Philosophie ist handlicher wie sie knapper ist, die Sorge wählt nicht lange, analoge Wörter und Metten aufzuspüren. Manches Matte und Unausgegohrene ließ die naturgemäß in ihrem Falle incompetente Herausgeberin mitgehen; aber neben einer Anzahl duftigster lyrischer Rosen, zum Theil berauschenden Aromas, stehen vier vorzüglich sachgemäß ausgearbeitete Balladen „In Sanct Peter“, „Giovanna“, „Caterina Sforza“, „Mövenflug“. Daß Telmann auch ein feinsinniger Essayist, zumal über litterarische Erscheinungen mit Beziehung auf ihre Stellung innerhalb der modernen Entwicklung, sodann ein anmuthiger Plauderer war, der dem Durchschnittsfeuilletonleser nur zu wenig an der Oberfläche hinhuschte, das kann man sich leicht denken. Ein paar beliebige, leicht zugängliche Beispiele jüngsten Datums – gesammelt ist davon bis dato noch nichts – seien genannt: für ersteres drei Aufsätze über seines zweiten Wohn(-, nicht Heimath)landes heutige Litteratur im „Magazin für Literatur“ 1895 Nr. 45 (Der neue Carducci), 1896 Nr. 6 (Die Zukunft der italienischen Litteratur), 1898 Nr. 1 (Contesse Lara), für letzteres die glänzenden Berichte über das Erdbeben an der Riviera, die aus der „Frankfurter Zeitung“ (woselbst er auch litterarisch-kritische Artikel, zuletzt einen über Graf Schack, schrieb) die Runde durch die Presse machten. [367] Der Verbreitung der Kenntniß italienischer Poesie in Deutschland weihte Telmann seine Nachempfindung in gediegenen Uebersetzungen von Goldoni’s Komödie „Der Impresario“ (1881), Giacosa’s Schauspiel „Der rothe Graf“ (1882) und der Novelle „Cordelia“ (1888). An eigenem Dramatischen wurde von Telmann wol nur das Lustspiel „Schwerer Diebstahl“ (1877) gedruckt. Eine Reihe theatralischer Manuscripte (s. u.) harrte noch Weihnachten 1894 der Bühnenerprobung; das Drama „Der Väter Sünde“ bestand diese noch, während er die Erstaufführung des Schauspiels „Vaterrechte“, die für die Saison seines Todes angesetzt war, nicht mehr erlebt hat. Wenn Konrad Telmann ein Märtyrer des Lebens war – so nannte Herm. Sudermann den Freund, als er am 25. März 1897 als Vorsitzender des Vereins „Berliner Presse“ bei der Beisetzung der Asche auf dem deutschen Friedhofe in Rom sprach – so äußerte auch B. Björnson, einen Kranz spendend, damals mit Recht: Deutschland verliert in diesem Dichter ein großes Herz und einen der edelsten Vorkämpfer für Freiheit und Licht.

Die Litteratur über Konrad Telmann ist sehr umfänglich, da die Zeitungskritik schon dem Lebenden volle Beachtung gewidmet hat, mehr als das wol dem gelobten Erzähler zulaufende, wenig nach dem tiefen Poeten und Menschen fragende Publicum. Die bibliographischen Daten nach Telmann’s eigener Controlle findet man zuletzt in Kürschner’s Litteraturkalender XVIII (1896), S. 1281 f. (ebd. X [1888] S. 464a noch s. v. Zitelmann, nach Selbstangabe). Die biographischen dazu auf Grund directer Notizen in Langenscheidt’s Literar. Abreißkalender 1897 sub 26. Novbr. (mit Porträt) und eingehender bei Brümmer, Lex. dtsch. Dchtr. u. Pros. d. 19. Jhs.4 IV, 194 f. (424, 455); äußerlicher Nachruf von demselben in Bettelheim’s Biograph. Jahrb. u. dtsch. Nekrolog II (1898), S. 400 f. Vgl. ferner Brockhaus’ Konversationslexikon14, XVI, 994 (vom Unterzeichneten) s. v. Zitelmann, und Meyer’s Konversationslexikon5 XVI, 748 s. v. Telmann. – Wichtigere sachliche Mittheilungen in vielgelesenen deutschen Tageszeitungen unmittelbar nach dem Tode: Frankf. Ztg. 25. Jan. 1897 Morgenbl. (Telegramm), 26. Jan. Abendbl. S. 1, 28. Jan. Abendbl. S. 1, 29. Jan. Abendbl. S. 1; Berl. Tagebl. 25. Jan. Montagsausg. S. 2 (F[ritz] E[ngel]); Voss. Ztg. v. 25. Jan., Abendausg. S. 3 u. v. 31. Jan. Morgenausg. S. 4 (in der Nr. vom 7.(?) Febr. S. 4 Originalnotiz der Wittwe, daß Konrad Telmann auch bürgerlicher Name war); betreffs der Verweigerung der Stettiner Telmann-Ehrung Frankf. Ztg. v. 9. März 1898 Abendausg. S. 2, Darmstädter Tägl. Anz. v. 3. März S. 1 (nach dem Ostpreuß. Generalanzgr.), einer Dessauer Feier (Münchn.) Allg. Ztg. v. 2. Novbr. 1898 Nr. 304 S. 2. – Ueber Telmann’s litterarischen Nachlaß gab (Hans Barth im) Berl. Tagebl. vom 4. Febr. 1897 Morgenausg. S. 3 Nachricht. Von den daselbst angeführten Romanen sind inzwischen die schon in Tagesblättern eingerückten Romane „Zwischen den Gletschern“, „Tod den Hüten!“, ein Sujet aus der letzten sicilianischen Revolution, und „Das Ende vom Lied“, dieser wol des Dichters letztes vollendetes Werk (bemerkenswerthe Referate z. B. von A[rnold] B[erger], Liter. Ctrlbl. 1898 Sp. 1048, von Kromer, Liter. Bulletin d. Schweiz VI 12, S. 1138, von H. Häfker, Mag. f. Liter. Nr. 44 S. 1047–49), und eine Sammlung von Novellen, falls als diese Nr. 47 von Kürschner’s Bücherschatz – „Der Wahn ist kurz“ und „In den Ruinen“ – (1897, mit des Verfassers Bildniß und einem Facsimile-Brief über ihn von der Witwe), anzusehen ist, gedruckt worden, desgleichen die große Anzahl „Neuer Gedichte“ (d. i. „Von jenseits des Grabes“, s. o.); völlig unveröffentlicht sind wol davon: die Romane „An der Engelsbucht“ (in der Nizzaer Fremdencolonie) und „Was ist Wahrheit?“ (allmähliche Bekehrung eines zelotischen jungen Geistlichen [368] zu Freidenkerthum u. Socialdemokratie), die Schauspiele „Santi Pellegro“ (in Sicilien), „Der Väter Sünde“ und ein drittes, der Einacter „Aus der Schreckenszeit“ (der Cholera zu Neapel), „Spinngewebe“ (ein Ehepaar findet sich wieder) und „Klippen“ (modernes Eifersuchtsstück), das Lustspiel „Dein Herr“. Den herrlichen sechsstrophigen Gruß „Den Kommenden“, Telmann’s letzte Verse, ließ die Wittwe im Berl. Tagebl. v. 1. Febr. 1897 Abendausg. abdrucken, Theile daraus sind vielerorts citirt. Kürzere Novelletten hat Telmann bis zuletzt zu den verschiedensten Monatsschriften beigesteuert, die nicht alle gesammelt sein dürften: z. B. „Die Gattensucherin“, Westermanns Monatshefte 1894, Heft 456; „In der Hochzeitsnacht“, Nord und Süd 1895, Heft 223; „Die Kleine“, Neue litter. Blätter V, 1895, Heft 4, 5. Aus seiner angekündigten Betheiligung an dem großen Prachtwerke „Die Hauptstädte der Welt“, wo er jedenfalls bei Rom eingreifen sollte, ist gewiß nichts geworden. – Einige interessante Einzelbesprechungen s. Werke: „Lichter und Schatten. Novellen“ (1883), Blätter f. liter. Unterhaltung 1884, S. 362 (recht absprechend); „Götter und Götzen“ (1884), ebd. S. 759; „Lebensfragmente“ (1884) ebd. S. 763; „Bohémiens“, Köln. Ztg. 1896, Nr. 634, S. 1 (Analyse); „Unter römischem Himmel“, Berl. Tagebl. 1896, Zeitgeist Nr. 13 (Ferdinand Runkel); „Vox populi“ (1897), Voss. Ztg. 14. Mai 1897, Abendausg.; „Das Ende vom Lied“, s. oben; „Aus der Fremde“, Berl. Tagebl. 1897, Zeitgeist Nr. 24 (Theodor Wolff, „Aus K. T.’s Gedichten“); „Von jenseits des Grabes“, Leipz. Tagebl. 20. Febr. 1898, 5. Beil., ausführlich „Deutsches Dichterheim“ XVIII Nr. 8 S. 185–188, Wilh. Holzamer (ebd. XVII Nr. 4 S. 95 kurzer Nachruf, S. 73 Todesgedicht von der Wittwe, S. 77 von E. Stubenrauch, S. 78 von E. Dröscher); „Gottbegnadet“ (1898), Mag. f. Litt. 1898 Nr. 44, S. 1045–47, Häfker, s. o. – Aufsätze üb. Telmann: Ueber Telmann als Romancier (ganz kurz H. Mielke, „Der deutsche Roman“, 1890, S. 305; entsprechend die ebenfalls der „Raschheit der Production“ die Schuld zuschiebende Notiz bei K. Storck, Dtsch. Litteraturgesch., 1898, S. 469 f.) R. v. Gottschall, Die dtsch. Nationalliteratur d. 19. Jhs.6 IV, 495–498 (bis 1892, genau bis 1886); Ella Mensch, „C. T. u. der deutsche Roman“, Wochenschr. „Die Kritik“ IV (1897) Nr. 130, S. 605 bis 608; vgl. ferner Hans Benzmann, „K. T. als Lyriker“, Monatshefte f. neue Litt. u. Kunst II (1897/98) S. 128–133. Charakteristiken aus persönlicher Bekanntschaft: C. Mühling, in „Die Nation“ v. 30. Jan. 1897, N. 18, S. 279 f.; Reinh. Schöner (der Grabredner, s. o.), im Mag. f. Litter. v. 11. Febr. 1897, Nr. 6, S. 151–159; Ewald Müller, Dtsch. Dichterheim, XVII Nr. 5, S. 98–102 (mit Originalbriefen); eine ausführliche Würdigung von Telmann’s litterarischer Persönlichkeit versucht Gustav Zieler, Das lit. Echo hg. v. Ettlinger, II (1899), dessen Blätter mir vorher durch die Güte der Redaction im Mscr. vorlagen. Das weitschichtige Material, wie es hiermit nur angedeutet wird, im Sinne eines kritischen (von mir geplanten) Litteraturbildes zu verarbeiten, erscheint der Mühe werth; auch Litteraturgeschichte und Poetik können an diesem Dichter, der unter wenig günstigen Zeit- und den ungünstigsten Privatverhältnissen eine fast unerhörte andauernde Schaffenslust bethätigte, mancherlei lernen.