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Artikel „Wolters, Otto“ von Wilhelm Sillem in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 122–124, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wolters,_Otto&oldid=- (Version vom 23. November 2024, 15:37 Uhr UTC)
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Wolters: Otto Ludwig Siegmund W., Doctor der Theologie und Hauptpastor an St. Catharinen in Hamburg, daselbst am 17. December 1796 geboren und am 14. Mai 1874 gestorben, war der Sohn des Predigers Michael W. an derselben Kirche. Häusliche Verhältnisse hatten diesen tüchtigen und sehr gelehrten Geistlichen, der in Kiel schon die akademische Laufbahn betreten hatte, genöthigt, sie zu verlassen. Als er im 50. Lebensjahre 1803 gestorben war, lag der Wittwe, einer Tochter des hamburgischen Senators Johann Siegmund Westphalen, die Erziehung der sechs Kinder ob. Otto W. besuchte bis zu seinem 14. Lebensjahre die treffliche Knabenschule des Dr. Runge und trat 1810 in die Gelehrtenschule des Johanneums über, damals unter Gurlitt’s (s. A. D. B. X, 182) Leitung. Der Einzug der Russen unter Tettenborn und die baldige Wiederkehr der Franzosen 1813 verursachten sowohl eine vielfache Unterbrechung des Unterrichts als auch eine Abnahme der Schüler in den oberen Classen, da mancher von ihnen die Feder mit den Waffen vertauscht hatte. Um so größere Ansprüche stellte Gurlitt, bestrebt, mit seiner Prima den Franzosen Achtung abzunöthigen, an die wenigen Schüler der Classe, zu denen auch W. gehörte. In dieser Zeit schloß W. namentlich mit dem nachmaligen Bürgermeister H. Kellinghusen (s. A. D. B. XV, 586) und dem späteren Pastor J. John (a. a. O. XIV, 489) eine Freundschaft, die die Schulzeit lange überdauerte; ja mit John blieb W. zeitlebens so innig verbunden, in ähnlicher geistlicher Entwicklung und kirchlicher Stellung, daß die Biographie des Einen auf die des Anderen öfter zurückgreifen muß. W. nahm um Ostern 1815 als primus omnium von der Schule in einer Rede Abschied, in der er die Nachahmung guter Beispiele als ein wichtiges Beförderungsmittel sowohl der sittlichen als der wissenschaftlichen Bildung darzustellen suchte. Mit den beiden Freunden besuchte darauf W. das Akademische Gymnasium, um nach einem Jahre die Universität Göttingen zu beziehen. Um Michaelis 1817 gingen John und W. nach Leipzig, wodurch W. das Versprechen erfüllte, was er einst Gurlitt gegeben hatte, diese Universität zu besuchen. Nach einem halben Jahre trennten sich Beider Wege, indem John in Leipzig blieb, W. sich aber nach Jena wandte, angezogen durch das neue burschenschaftliche Leben daselbst, das durch die Wartburgfeier am Reformationsfeste in noch größeren Ruf gekommen war. Zwar wurde W. nicht Mitglied der Burschenschaft, verkehrte aber viel in ihren Kreisen und war auch persönlich mit K. L. Sand (a. a. O. XXX, 338) bekannt, war aber entsetzt, als er vernahm, daß dieser Jena 1819 verlassen habe, um Kotzebue aus dem Wege zu räumen. Unter den Professoren hatte erst Planck in Göttingen ihn angezogen; in Leipzig hatte er ein Privatissimum bei dem damals noch jungen Privatdocenten Wiener gehört; über eine Vorlesung über Dogmatik in Jena äußerte er aber später, daß sie nur etwas mehr als dürren Deismus enthalten hätte. Während demnach die Vorträge auf der Universität ihn nur wenig in seiner wissenschaftlichen Entwicklung gefördert zu haben scheinen, verdankte er dem Studium von Schleiermacher und Neander, „besonders aber der eindringenden Beschäftigung mit der heiligen Schrift und den Kirchenvätern eine tiefere Erkenntniß des religiösen Lebens“.

Im December 1819 bestand W. das Hamburger Candidatenexamen „mit großer Auszeichnung“. Gurlitt zog ihn bald zum Unterricht an die Gelehrtenschule heran, an der er zum Collaborator ernannt wurde; Gurlitt empfand [123] es aber schmerzlich, daß W. die Stunden nicht in dem rationalistischen Sinne gab, den er seinen Schülern so warm empfohlen hatte. 1823 wurde W. zum Pastor (damals Diakonus genannt) an der Catharinenkirche erwählt. Er gehörte mit John und Rautenberg (a. a. O. XXVII, 457) zu den Geistlichen, die mit aller Entschiedenheit das biblische Christenthum verkündigten. Als Diakonus hatte er auch die sogenannte Mittagspredigt zu halten, in der er der kirchlichen Ordnung gemäß über zusammenhängende Abschnitte der Bibel predigte, die nicht in den Perikopen enthalten sind. Einige dieser Predigten sind im Druck erschienen. Auch an dem „Friedensboten“ hat er mit gearbeitet, einer Zeitschrift, „die den Zweck hatte, über die Heilswahrheiten des Christenthumis auf Grund der heiligen Schrift und der Kirchengeschichte zu belehren“. Aber an häufigerer schriftstellerischer Thätigkeit sah er sich durch seine zarte Gesundheit gehindert. Dagegen gehörte er zu der kleinen Zahl derer, die seit 1821 sich dem Missionsverein angeschlossen hatten. Wolters’ Stellung zu seinen Specialcollegen an der Catharinenkirche war nicht leicht. Stand doch bei seinem Amtsantritt als Hauptpastor neben ihm ein Geistlicher, der „im Namen des Staates“ copulirte, dessen Nachfolger noch im J. 1840 ein Buch herausgab, worin er den Propsten Klaus Harms (a. a. O. X, 607) nicht anders bezeichnen wollte, als einen, „der sich von einem Müllergesellen zu geistlichen Aemtern aufgeschwungen und sich als der Klügste von unzähligen Dummköpfen an die Spitze einer die Vernunft verleugnenden Partei gestellt habe“. W. ließ sich indeß nie verleiten, die Kanzel durch unwürdiges Gezänke zu entweihen. Von Natur milde und friedfertig, mit scharfem Verstande begabt und reich an Gelehrsamkeit, gewann er auch seinen Gegnern Achtung ab, die, ohne seinen Standpunkt zu theilen, „mit Bewunderung von der Form sprachen, in der er katechesirte“. Leider hat er den Antrag, einen neuen Katechismus für Hamburg zu verfassen, wohl aus Gesundheitsrücksichten abgelehnt.

Im J. 1844 wurde W. zum Hauptpastor erwählt. Zu seinen Obliegenheiten gehörte nun u. a. auch die Prüfung der theologischen Candidaten. Die Exegese, welche er als Examinator vorzutragen Gelegenheit hatte, erregte auch hier die Bewunderung seiner Collegen. Neben der theologischen Wissenschaft bildeten die Classiker, besonders Plato, seine Lieblingsbeschäftigung; mit Gymnasiasten pflegte er wohl Horaz zu lesen; indeß die Alten veranlaßten ihn nicht, sich von der neuen Litteratur abzuwenden. Während eines Menschenalters war im Sommer sein Gartenhaus in dem damals noch ganz ländlichen Barmbeck eine Stätte edler und anregender Gastlichkeit, zu der er neben seinen älteren Freunden auch namentlich jüngere Candidaten hinzuzog. Bei seinem 40jähr. Predigerjubiläum am 28. September 1863 ernannte ihn die theologische Facultät in Göttingen zum Doctor der Theologie, eine Ehrung, die ihm von dem Decan Consistorialrath Duncker, einem ehemaligen Schüler Wolters’, überbracht wurde. Schmerzlich traf ihn nach zwei Jahren der Tod des Pastors John, seines treuesten Freundes. Auch Wolters’ schwacher Körper, den er jahraus, jahrein durch regelmäßige Spaziergänge, oft schon im Morgengrauen, zu stärken sich bemüht hatte, wurde im J. 1869 von einer Lungenlähmung betroffen, die der Vorbote von Schlaganfällen war. Zwar gelähmt, aber geistig anfangs noch rüstig, mußte er seine Tage im Lehnstuhl zubringen. Noch an seinem 50jährigen Amtsjubiläum 1873 konnte er mit Dank und Freude die vielen Beweise der Liebe und Hochachtung von seinen Freunden und den Behörden in Empfang nehmen. Dann schwanden seine Kräfte, und am Abend des Himmelfahrtstages, am 14. Mai 1874 endete ein sanfter Tod die Leiden des schwer geprüften Mannes.

[124] Familiennachrichten. – Das Verzeichniß seiner Schriften ist im Hamb. Schriftsteller-Lexikon Bd. 8, Nr. 4505.– Am ausführlichsten ist Wolters’ Leben von Pastor C. Mönckeberg dargestellt im Hamburger illustrirten Almanach auf das Jahr 1875.