ADB:Rautenberg, Johann Wilhelm

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Artikel „Rautenberg, Johann Wilhelm“ von l. u. in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 457–459, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Rautenberg,_Johann_Wilhelm&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 23:16 Uhr UTC)
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Rautenberg: Johann Wilhelm R., lutherischer Pastor zu Hamburg, wurde am 1. März 1791 zu Moorfleth, einem Dorfe in den Elbmarschen östlich von Hamburg und zum hamburger Gebiet gehörig, geboren. Sein Vater, der aus der Altmark eingewandert war, war Bäckermeister; die Mutter stammte aus dem benachbarten Curslack, einem Dorfe in den Vierlanden. Der Knabe besuchte zuerst die heimathliche Dorfschule und zeichnete sich von früh an durch tiefes Gemüthsleben und reiche Geistesgaben, besonders auch durch musikalische Anlagen aus; gegen den Sinn des Vaters wollte er Lehrer oder Organist werden, da der frühere Herzenswunsch, es zum Geistlichen zu bringen, unerreichbar erschien. Er arbeitete einige Jahre als Schulgehülfe in St. Pauli und dann in Altona, und machte sich in dieser Zeit besonders auch mit dem Französischen und Englischen bekannt. Doch befriedigte ihn diese Thätigkeit nicht; ein Freund gab den Anstoß, das Studium der Theologie wieder ins Auge zu fassen und mit Bewilligung seiner damals schon verwittweten Mutter ließ sich gegen Weihnacht 1810 der bald zwanzigjährige in die Quarta des Johanneums aufnehmen, um namentlich die classischen Sprachen zu lernen. Aufs kräftigste förderte seine Studien der Director Gurlitt (s. A. D. B. X, 182 ff.), ein Mann, dem es die größte Freude war, Bedürftige zu unterstützen, und der sich Rautenberg’s auch auf der Universität und noch später in der uneigennützigsten und liebreichsten Weise angenommen hat und seine Wohlthaten noch nicht einschränkte, als R. aus dem von Gurlitt bis an sein Ende festgehaltenen alten Rationalismus sich schon mit voller Begeisterung zum positiven Christenthum gewandt hatte. R. muß die Classen schnell durchlaufen haben; schon im Sommer 1811 trieb er hebräisch und als er im Juni 1813 sich nach Kiel begab, weil er vor den [458] Franzosen, welche Hamburg wieder eingenommen hatten, fliehen mußte, da war er schon ein Jahr Primaner gewesen. In Kiel hatte R. zunächst eine Zeit äußerer und innerer Nöthe durchzumachen; für weitere philologische Studien hatte Gurlitt ihn dem Professor Karl Friedrich Heinrich (s. A. D. B. XI, 647 f.) warm empfohlen, der sich seiner auch nach Kräften wird angenommen haben; aber die Sorge ums tägliche Brot, der Druck der politischen Verhältnisse, böse Nachrichten aus der Heimath, dazu dann die Oede des Rationalismus, der die officielle Theologie beherrschte, nahmen ihm allen Muth und hatten auf seine Stimmung und seine Gesundheit einen üblen Einfluß. Doch kamen bessere Zeiten, als Twesten nach Kiel kam; daß R. sodann die Sommermonate der Jahre 1814 und 1815 als Hauslehrer in der Familie Schleiden auf Ascheberg verleben konnte, brachte ihm dann auch leibliche und geistige Erholung. Von Ostern 1816 bis Michaelis 1817 hat R. darauf noch in Berlin studirt und ist ein begeisterter Schüler von Schleiermacher, mit dem er auch in persönlichen Verkehr trat, gewesen. Unter seinen Freunden in Berlin ist außer August Pauli (später in Bremen), der ihn besonders nach Berlin gezogen hatte, und Johann Martin Lappenberg (s. A. D. B. XVII, 707 ff.) vor allem Gustav Adolph Sieveking, der Bruder von Amalie Sieveking, zu nennen, der am 1. Mai 1817 starb; seine Pflege brachte R. in Verbindung mit der Schwester, deren Freund und Seelsorger er hernach wurde. So kam R. im Herbst 1817 in seine Vaterstadt zurück, als einer, der von Twesten das Christenthum kennen gelernt hatte und von Schleiermacher mit glühendem Eifer, das Evangelium zu verkündigen, erfüllt war. Er galt in Hamburg schon nach kurzer Zeit für einen entschiedenen Vertreter der lutherischen Orthodoxie, was nach der Ausdrucksweise jener Zeit von Andersgesinnten bald als Mysticismus, bald als Neigung zum Katholicismus bezeichnet ward; er selbst war und blieb bei immer vollerer Zustimmung zu den Lehren der lutherischen Kirche ein innerlich freier Mann, der sich über jede Erscheinung echten Glaubens freuen konnte und bei Uebereinstimmung in der Hauptsache verschiedene Ansichten über Nebensachen gern duldete. Seine Begabung für das Volksthümliche machte ihn dabei zum geborenen Seelsorger und sein sprudelnder Geist und seine gewaltige Beredsamkeit haben in seinen besten Jahren eine außerordentliche Anziehungskraft ausgeübt. Nachdem er am 28. Februar 1818 sein theologisches Examen in Hamburg in verhältnißmäßig schon vorgerücktem Alter gemacht, sah er sich zunächst aufs Unterrichten angewiesen; bei einer Bewerbung um eine Collaboratur am Johanneum erhielt er Gurlitt’s Unterstützung nicht mehr, „weil ich Christum höher halte als Sokrates“, wie er seiner Mutter schreibt. Am 3. September 1820 wurde er darauf zum Pastor in der damaligen Vorstadt St. Georg (jetzt zur Stadt gezogen) gewählt und am 12. October eingeführt; in diesem Amte ist er bis zu seinem Tode geblieben. Wollte man seine Wirksamkeit als Pastor genügend schildern, so müßte man eine Kirchengeschichte Hamburgs für die folgenden 40 bis 50 Jahre schreiben, und doch bliebe dann noch das Beste, was er als Seelsorger vielen Tausenden in allen Ständen gewesen ist, unausgesprochen. Es sei deshalb nur gesagt, daß nicht leicht ein Geistlicher wie er im Stande war, bei fast unerfüllbaren Ansprüchen, die in der stets und schnell wachsenden Gemeinde an seine Leistungsfähigkeit gemacht wurden, sich stets geistig frisch zu halten und jedem einzelnen gegenüber das rechte Wort zu finden, und daß er leitend oder helfend Antheil genommen hat an allen Unternehmungen und Thätigkeiien, die in dieser Zeit Hebung und Förderung des kirchlichen Lebens sich zur Aufgabe setzten. Dabei übte er durch seine Predigt namentlich in den mittleren Jahren seines amtlichen Wirkens einen außerordentlichen Einfluß aus. Auch als Dichter geistlicher Lieder verdient er genannt zu werden, wenn auch während seines Lebens außer Gelegenheitsgedichten [459] nur die kleinen Lieder oder Verse bekannt wurden, mit denen er seine Predigten häufig anfing oder schloß und die mit seinen Denkblättern, d. h. wöchentlich erscheinenden Auszügen aus seinen Predigten, herauskamen. Um seines Glaubens willen hat er manchen Strauß ausfechten müssen; besonders schmerzlich war es ihm aber, daß er es noch erleben mußte, daß in seiner eigenen Gemeinde solche gegen ihn auftraten, denen seine Weise nicht entschieden, sein Bekenntniß nicht kirchlich genug war. Das waren Nägel zu seinem Sarge. Er starb an seinem 74. Geburtstage am 1. März 1865.

Gurlitt im Michaelisprogramm des Johanneums vom Jahre 1814, S. 31 f. – H. Sengelmann, Zum Gedächtniß Johann Wilhelm Rautenberg’s, Hamburg (1865). – F. A. Löwe, Denkwürdigkeiten aus dem Leben und Wirken des Johann Wilhelm Rautenberg, Hamburg (1866). – Koch, Geschichte des Kirchenlieds u. s. f., 3. Aufl., Bd. VII, S. 292 f. – Aus Rautenberg’s Denkblättern, sowie aus seinem Nachlaß gab H. Sengelmann unter dem Titel „Festliche Nachklänge aus dem Leben eines Heimgegangenen“ eine größere Anzahl geistlicher Lieder Rautenberg’s heraus, Hamburg 1865.