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Artikel „Vorster, Pankraz“ von Johannes Dierauer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 40 (1896), S. 312–319, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Vorster,_Pankraz&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 18:38 Uhr UTC)
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Vorster: Pankratius, nach seinem Taufnamen: Franz Anton Ignaz Eduard Aloys V., letzter Fürstabt von St. Gallen, geboren am 31. Juli 1753 in Neapel, † am 9. Juli 1829 in Muri. Er war der Sohn eines in neapolitanischen Diensten stehenden Brigadiers, Josef Zacharias V., aus dem St. Gallischen Städtchen Wil, und einer vornehmen Italienerin, Anna Maria Rosa Bernis, aus Ferrara. Noch als Knabe kam er in die Heimath seines Vaters zurück, wurde 1770 von einem Oheim geistlichen Standes der Stiftsschule in St. Gallen zugeführt und trat dort 1771 in den Benedictinerorden ein, wobei er sich für den Namen des Wiler Schutzheiligen, Pankratius, entschied. Während der folgenden Jahre eignete sich der fähige und energische junge Mann eine umfassende Bildung an, so weit sie die Klosterschule bieten konnte. Er studirte Philosophie, Theologie und Jurisprudenz, aber auch Mathematik und Physik, widmete sich dann nach vollendeten Studien der Lehrthätigkeit und übernahm nach einander, 1780 und 1793, die Professuren der Philosophie und der praktischen Theologie. Inzwischen schärfte er seinen Blick für die Mißstände in der klösterlichen Verwaltung und Disciplin. Damals (1767–1796) leitete Beda Angehrn von Hagenwil im Thurgau die Abtei, ein Mann von höchst milder, gütiger Gesinnung, der durch verschiedene, im Geiste der Zeit liegende Reformen seinen Unterthanen aufzuhelfen suchte, der aber nicht die nöthige Kraft besaß, die schon unter seinem baulustigen Vorgänger Cölestin Gugger von Staudach zerrütteten Finanzen wieder in Ordnung zu bringen und der auch in der Handhabung der mönchischen Zucht lieber Nachsicht als Strenge walten ließ. Mit P. Ildefons von Arx (s. A.D.B. I, 615) und einigen andern jüngern Mönchen trat V. in Opposition gegen den schwachen Lenker des Stifts, gerieth aber bei seinem Ungestüm selbst in Conflict mit der Klosterordnung und mußte sich im September 1788 nach der St. Gallischen Herrschaft Ebringen im Breisgau verfügen. Dort hatte er sich zunächst in der Stellung eines Unterstatthalters mit wirthschaftlichen Angelegenheiten zu beschäftigen; doch verfolgte er aufmerksam die politische Bewegung, die im Laufe der 90er Jahre unter den Bewohnern des zwischen Wil und Rorschach sich ausbreitenden St. Gallischen „Fürstenlandes“ oder der „Alten Landschaft“ unaufhaltsam um sich griff und diese ältesten Angehörigen des Stiftes einer allmählichen Ablösung von der geistlichen Herrschaft [313] entgegentrieb. Bald nachdem Abt Beda das Volk in freundlichem und ohne Frage verständigem Entgegenkommen durch den „gütlichen Vertrag“ vom 23. November 1795 für einmal beschwichtigt hatte, erschien er um Ostern 1796, wol auf die Nachricht, daß der Tod des kränklichen Abtes bevorstehe, unvermuthet wieder in St. Gallen. Er wußte durch sein ganzes Wesen die Capitularen, die das Bedürfniß nach einem kräftigen Oberhaupte empfanden, zu gewinnen, und kaum war Beda am 19. Mai gestorben, als sie sich in ihrer großen Mehrheit für seine Wahl entschieden. Am 1. Juni 1796 wurde Pankratius V. Fürstabt von St. Gallen. Er stand nun in seinen besten Jahren und erschien als ein ernster, würdiger Prälat, mit großer Stirn und brennenden, schwarzen Augen, tadellos in seiner Lebensführung, streng gegen sich selbst und gegen andere, gewandt und unermüdlich in der Arbeit. Aber er hatte eine herbe und einseitig mönchische Richtung angenommen. Er pflegte alle Dinge vom Standpunkte des Ordensmannes zu betrachten, und was er demgemäß als sein Recht und seine Pflicht erkannt hatte, das verfolgte er ohne Rücksicht auf die unabweisbaren Forderungen einer neuen Zeit mit starrsinniger, ihm selbst und dem Kloster verderblicher Beharrlichkeit. Sogar ein österreichischer Erzherzog fand ihn „entêté comme un cheval de carrosse.“

Seine Regierung eröffnete sich nicht unter glücklichen Auspicien. Die Finanznoth war drückend, und seine Versuche, sie durch die Aufnahme von Anleihen zu mildern, hatten nur vorübergehenden Erfolg. Zugleich trat neue Mißstimmung unter den von einem Volksmanne in Goßau, Johannes Künzle, geleiteten Gotteshausleuten hervor, und auch in der dem Stifte gehörenden Grafschaft Toggenburg machte sich trotz der klugen Verwaltung des Landvogtes Karl Müller von Friedberg (s. A.D.B. XXII, 694) die politische Bewegung immer stärker fühlbar. Im Sommer 1797 führten heftige Auftritte in der Alten Landschaft zur Intervention der vier äbtischen Schirmorte (Zürich, Luzern, Schwyz und Glarus) und zu einer dem Volke günstigen Erläuterung des „gütlichen Vertrages“, nach welcher die Landschaft sich im wesentlichen selbständig organisiren konnte. Nur mit großem Widerstreben und mit ausdrücklichem Vorbehalt der landesherrlichen Rechte gab der Fürst auf das Drängen des geängstigten Capitels zu diesen Abmachungen seine Zustimmung (26. September). Aber schon bald nach dem Beginne des Jahres 1798 mündeten die St. Gallischen Bewegungen in die allgemeine Revolutionirung der alten Eidgenossenschaft hinüber, und das Kloster wurde unversehens in den Umsturz der überlieferten staatlichen Formen hineingerissen. Das Toggenburg und die Alte Landschaft constituirten sich anfangs Februar vorerst als souveräne Republiken und gingen dann nach kurzem Bestande mit den übrigen ostschweizerischen Territorien in dem von den Franzosen durchgeführten helvetischen Einheitsstaate auf. Abt Pankratius begab sich beim Ausbruch der Revolution nach Wil. Unter verschiedenen Vorbehalten, deren wichtigster die Sicherheit des klösterlichen Eigenthums war, willigte er in die von dem verwaisten Capitel zugestandene Abtretung der Regierung an die Alte Landschaft, und auch dem Landvogt Müller von Friedberg ließ er – freilich nicht ohne Rückgedanken – die Vollmacht geben, die toggenburgischen Hoheitsrechte im äußersten Nothfalle dem Landrath zu übertragen. Dann verließ er das Land, wo ihm nur noch übrig geblieben wäre, „den Untergang des Klosters unterschreiben zu müssen“, und als er bei seinen ohnehin rathlosen Schirmorten keinen Rückhalt fand, zog er sich nach Neu-Ravensburg jenseit des Bodensees zurück, um von nun an gegen alle Umgestaltungen in den St. Gallischen Landen, so weit sie dem Kloster zum Nachtheile gereichen mochten, Verwahrung einzulegen. Von der Ansicht ausgehend, daß er nicht Eigenthümer, sondern nur Verwalter der stiftischen Rechte sei, daß er keine Befugniß habe, [314] irgend eines dieser Rechte freizugeben, und das die unter dem Zwang der Umstände erfolgten Zugeständnisse ihn nicht binden könnten, protestirte er am 3. März in einem Schreiben an die Schirmstände gegen die Abtretung der landesherrlichen Gewalt im Toggenburg und im Fürstenland. Hierauf reiste er nach Wien und suchte beim Kaiser auf Grund des alten, praktisch längst bedeutungslosen Lehensverhältnisses zwischen der Abtei und dem deutschen Reiche Hülfe zu erlangen. Er fand freundliche Aufnahme beim Hofe, auch bei dem Hofrath Johann v. Müller, dem Geschichtschreiber, und scheute sich infolge dessen nicht, den Kaiser um bewaffnetes Einschreiten zur Herstellung der Ordnung im St. Gallischen anzugehen. Er mußte sich vorerst mit allgemeinen Vertröstungen begnügen, wandte sich aber nur um so heftiger gegen alles, was in der Schweiz vorging. Auf die Nachricht, daß ein helvetisches Gesetz vom 8. Mai alle Klostergüter mit Sequester belegt habe, erließ er am 9. Juni eine Proclamation an das St. Gallische Volk, in welcher er sich in den schroffsten Widerspruch mit der neuen Ordnung stellte. Er führte aus: da die Verbindung des Stiftes St. Gallen mit den vier Schirmorten durch die Umwälzung aufgehoben sei, so trete es als ein exemter Reichsstand wieder in seine alten staatsrechtlichen Verhältnisse zum Reich und sei von der Schweiz bis zur Herstellung ihrer früheren Verfassung als Theil des Reiches anzusehen und gleich einem ausländischen Stifte zu behandeln. Er verwahrte sich gegen jede Jurisdiction der helvetischen Regierung in seinen Landen und gegen jede Verfügung über das Stiftsvermögen. Erst als er bemerkte, daß auf dem Rastatter Congreß eine Säcularisation der deutschen Stifte zu Gunsten der weltlichen Fürsten in Betracht gezogen wurde, sah er sich veranlaßt, die beim Reichstag eifrig eingeleitete Anerkennung der Abtei als Reichsstand etwas weniger lebhaft zu betreiben. Die helvetischen Räthe aber kümmerten sich begreiflich nicht um seine Protestationen und sprachen durch ein Gesetz vom 17. September, das alles Klostervermögen als Nationaleigenthum erklärte, die thatsächliche Vernichtung St. Gallens aus. Es war ein Glück, daß die getreuen Conventualen Ildefons v. Arx und Nepomuk Hauntinger die unschätzbaren Archivalien und Manuscripte den gierigen Händen französischer und helvetischer Commissäre rechtzeitig entzogen und auf österreichischem Boden in Sicherheit gebracht hatten.

Am 2. November verließ Abt Pankratius Wien in der guten Zuversicht, daß ihn der Kaiser früher oder später wieder einsetzen werde, und wandte sich über München und Neu-Ravensburg nach dem Kloster Mehrerau bei Bregenz. Dort verkündete er, er habe die helvetische Constitution nie angenommen, er sei Fürst von St. Gallen nach wie vor und werde somit wieder vollen Besitz von seinem Lande nehmen. Wie eine kriegführende Partei betrachtete er sich, und als nach allen Anzeichen der Ausbruch eines neuen Kampfes zwischen Oesterreich und Frankreich bevorstand, betrieb er in Verbindung mit dem Feldmarschalllieutenant Hotze (s. A.D.B. XIII, 201) und mit den Führern der schweizerischen Emigranten, dem Berner Schultheißen Steiger (s. A.D.B. XXXV, 564) und dem Obersten Rovéréa, aufs eifrigste die Vorkehrungen zu bewaffnetem Einschreiten gegen die helvetische Republik. Wirklich gingen seine Hoffnungen für kurze Zeit in Erfüllung. Im Frühjahr 1799 bahnten ihm die Siege der Oesterreicher über die Franzosen den Weg zur Rückkehr in sein Kloster. Am 26. Mai hielt er mit kirchlichem Gepränge seinen Einzug in St. Gallen. Schon einige Tage vorher hatte er das Volk durch eine Proclamation auf seine Ankunft vorbereitet und ihm die Herstellung der alten gesetzlichen Ordnung in Aussicht gestellt. Nun richtete er sich so gut als möglich in dem öde gewordenen Kloster ein und ergriff die Zügel der Regierung über seine Lande. Nach den vorhandenen kargen Nachrichten muß es unentschieden bleiben, ob er dabei auf seinem schroff abweisenden [315] Standpunkt verharren, oder doch einige der in den vorhergehenden Jahren gemachten Zugeständnisse anerkennen wollte. Aber die Thatsache, daß er sich nicht zu unbedingter Amnestie für alles Geschehene verstehen konnte und daß er sofort die vorhandenen „Befreiungsurkunden“ einziehen ließ, war wenig geeignet ihm das Vertrauen des Volkes zu erhalten. Im Toggenburg wollte man überhaupt von der geistlichen Herrschaft nichts mehr wissen. Indessen bevor es noch zu entschiedenen Auseinandersetzungen zwischen dem Abte und den durch die Noth des Krieges doppelt aufgeregten Gebieten gekommen war, trat infolge der Niederlagen, welche die Oesterreicher und die Russen am 25. und 26. September bei Schänis und bei Zürich erlitten, eine jähe Wendung ein. Nach wenigen Tagen wurden in der ganzen östlichen Schweiz die seit dem Frühjahr sistirten Formen der helvetischen Republik durch die Franzosen wieder hergestellt. Fürst Pankratius getraute sich nicht, die Sieger in St. Gallen abzuwarten. Am 27. September, nach einer Regierung von 124 Tagen, eilte er unter dem Schutze der abziehenden Oesterreicher wieder nach Mehrerau: er kam nie mehr in sein Stift zurück.

Aber dieses Mißgeschick vermochte seine Zuversicht auf eine Restauration nicht zu erschüttern. In den folgenden fünf Jahren arbeitete er unermüdlich an der Wiederherstellung des Klosters und seiner Herrschaft. Da auf Oesterreich nicht mehr zu bauen war, am allerwenigsten in schweizerischen Fragen, so vollzog er rasch eine gänzliche Schwenkung, um sein Heil bei den Franzosen zu suchen. Er sandte einen eigenen Agenten nach Paris, der seine Sache bei den maßgebenden Persönlichkeiten fördern sollte; daneben rief er auch die Hülfe des Papstes und des Cardinalstaatssecretärs Consalvi an. Dem Ersten Consul stellte er in einem Schreiben vom 24. Mai 1801 bedeutende Opfer der schweizerischen Klöster in Aussicht, falls er zu ihren Gunsten einschreite. Nach dem Abschluß des Luneviller Friedens, der mit Preisgebung der helvetischen Verfassung von 1798 der Schweiz in der Theorie die freie Selbstbestimmung wieder einräumte, nahm er sowohl bei den französischen als bei den helvetischen Behörden neuerdings als ein „unabhängiger Reichsfürst“ seine Souveränetätsrechte über das ganze Stiftsgebiet in Anspruch. Er fand mit seinen Forderungen hier wie dort entschiedene Zurückweisung. Aber nur um so lauter und zudringlicher reclamirte und protestirte der Abt, sodaß sogar ein so conservativer und gut katholisch gesinnter schweizerischer Staatsmann, wie der infolge des Staatsstreiches vom 27./28. October 1801 an die Spitze der helvetischen Vollziehungsbehörde berufene Alois Reding (s. A.D.B. XXVII, 528), Stellung gegen ihn nehmen mußte und sich veranlaßt sah, seinem Gesandten für Wien die Instruction zu geben: „würde von kaiserlicher Seite die Wiedereinsetzung des Fürstabts in seine vormaligen landesherrlichen Rechte begehrt werden, so sei die Unvereinbarlichkeit dieses Begehrens mit der gegenwärtigen Verfassung darzustellen; dagegen möge die Rückgabe der liegenden Güter, Häuser, Gefälle, Zehnten und Grundzinse angeboten werden, insoweit sie als eigentliches Stiftsgut und nicht als Staatsgut anzusehen seien.“ In der That war damals die Stimmung in der Schweiz gegen die klösterlichen Corporationen weniger ungünstig als in der ersten Zeit der helvetischen Republik, und bei raschem Verzicht auf alle hoheitlichen Rechte hätte Abt Pankratius wohl ebenso friedlich in sein Kloster wieder einziehen können, wie die Prälaten von Einsiedeln und von Pfävers, die unhaltbare Ansprüche entschlossen fallen ließen. Zu einem solchen Schritte aber war er niemals zu bewegen. Bei jeder neuen Wendung der Dinge trat er mit dem Grundsatze hervor: entweder alles oder nichts! Kaum war im Sommer 1802 die föderalistische Gegenrevolution gegen die helvetische Centralregierung ausgebrochen, als er eine Proclamation an seine „lieben Angehörigen“ zu erlassen [316] gedachte, in welcher er ihnen „den Genuß ehevoriger väterlicher Regierungsweise“ zusicherte und alles bewilligte, „was mit der Würde des Landesherrn und den Rechtsamen des Kaisers als Lehensherrn“ vereinbar wäre. Er wiederholte seinen Satz: nie habe er auf seine und des Stiftes Rechte verzichtet. In diesem Sinne instruirte er trotz des Widerspruchs der verständigsten Capitularen einen Abgeordneten an die Tagsatzung der demokratischen Kantone in Schwyz und ließ dort seine Souveränetät zurückfordern. Der Eingriff des Ersten Consuls in die schweizerischen Parteikämpfe und die Wiedereinsetzung der nach Lausanne entflohenen helvetischen Regierung (Octbr. 1802) hemmten seine Schritte. Aber unmittelbar nach der Eröffnung der helvetischen Consulta war er wieder zur Hand. Er ertheilte seinem Bevollmächtigten in Paris, einem Hofrath Müller, neue Instructionen und schrieb an den Senator Démeunier, an Talleyrand und an den Ersten Consul, um sie für die Errichtung eines unter seiner Leitung stehenden St. Gallischen Staates zu interessiren, der in ein Allianzverhältniß zur Schweiz und zu Frankreich treten sollte. Allein seine Bemühungen in Paris konnten unmöglich von Erfolg begleitet sein. Ihm arbeitete an Ort und Stelle Karl Müller von Friedberg entgegen, der ehemalige Landvogt von Toggenburg, der, geschmeidiger als der Abt, sich längst mit den neuen politischen Strömungen abgefunden hatte, im helvetischen Staatsdienst bis zum Senator emporgestiegen war und nun im Einverständniß mit dem Ersten Consul eben daran ging, aus den rings um den Kanton Appenzell liegenden Gebieten einen neuen Kanton St. Gallen als Schauplatz für seine künftige Thätigkeit zu schaffen. Die Mediationsacte vom 19. Februar 1803 sanctionirte diese Bestrebungen: die frühern Territorien der Abtei gingen größtentheils im Kanton St. Gallen auf.

Diese Entscheidung des französischen Machthabers war für den Abt ein schwerer Schlag und doch wäre es wohl möglich gewesen, wenigstens das Kloster als solches zu retten, wenn er jetzt die neuen Verhältnisse rückhaltlos anerkannt hätte. Aber indem er in Zuschriften an Müller von Friedberg und an den Landammann der Schweiz (5. und 25. März) die Wiederherstellung des Stifts als klösterlicher Corporation verlangte, konnte er sich doch nicht dazu herbeilassen, mit klaren Worten auf seine Herrschaftsrechte zu verzichten, sodaß der politische Führer St. Gallens zur Ueberzeugung kam, die Wiedereinsetzung des streitbaren Abtes sei unter allen Umständen eine Gefahr für die ruhige Entwicklung des neuen Kantons. Er faßte den festen Entschluß, den Abt nicht mehr in das Land, das Kloster nicht mehr aufkommen zu lassen und seinem unversöhnlichen frühern Herrn die Spitze zu bieten. Durch zwei Jahre hindurch wurde der in seinen Einzelnheiten höchst bemerkenswerthe diplomatische Kampf mit steigender Erbitterung im Kanton, an der Tagsatzung, in Paris und in Rom geführt. Der Abt fand Unterstützung bei den ehemaligen Capitularen des Stiftes, bei einer starken katholischen Partei des Großen Rathes, bei der Mehrzahl der katholischen Kantone und, wenn auch nicht immer zuverlässig, bei der römischen Curie; Müller von Friedberg dagegen hielt sich an die französische Gesandtschaft in der Schweiz und durch diese an Talleyrand und Napoleon. Gegenüber der Mediationsacte, welche die Rückerstattung der Klostergüter verfügte, erklärte er von Anfang, daß das Stift St. Gallen überhaupt nicht mehr existire und das demnach jene Bestimmung hier keine Anwendung finden könne. Mit überlegener Gewandtheit wußte er alle Schritte seines Gegners zu vereiteln, und als er endlich im Frühjahr 1805 sich der Zustimmung Napoleon’s versichert halten konnte, gewann er den Großen Rath des Kantons am 8. Mai für die Annahme des entscheidenden Gesetzes, das der Regierung die Liquidation des noch vorhandenen, immerhin beträchtlichen Klostergutes übertrug. Dieses Gesetz wurde in den folgenden Jahren durchgeführt und theils der ganze Kanton, [317] theils die „katholische Religionspartei“ traten in das Erbe des ehrwürdigen Stiftes ein. Umsonst wandte sich der Abt an die eidgenössische Tagsatzung und verlangte von ihr Aufhebung des Liquidationsbeschlusses. Der päpstliche Nuntius und der Landammann der Schweiz eröffneten seinem Abgesandten, daß angesichts der Stellung Frankreichs nichts mehr zu machen sei, und gaben ihm den Rath, auf die Erfüllung seiner Mission gänzlich zu verzichten.

Vom Spätjahr 1805 an wechselte Abt Pankratius wiederholt seinen Aufenthalt. Beim Ausbruch des Krieges flüchtete er sich über Innsbruck nach Slavonien; dann reiste er, zu Anfang des Jahres 1806, nach Wien und fand dort Unterkunft in dem Schottenkloster. In seiner gedrückten Lage verwendete er sich wol bei dem Landammann der Schweiz, um durch seine Vermittlung eine Pension zu erhalten, sofern es ohne eine förmliche Verzichtleistung auf seine Rechte geschehen könnte. Da aber die St. Gallische Regierung nur dann auf ein Gesuch eintreten wollte, wenn es „in einfacher reservationsloser Sprache“ vorgelegt würde, so hatte sein Begehren keine Folge. Im J. 1809, beim Vordringen der Franzosen begab sich der ruhelose Mann nach Ungarn und kehrte erst im folgenden Jahre über Schlesien und Böhmen nach Wien zurück.

Noch einmal wachten seine Hoffnungen auf, als im Frühjahr 1814, nach dem Umsturz der Mediation, über die Schweiz und den Kanton St. Gallen neue Wirren hereinbrachen. Am 3. Februar traf er in Zürich ein und verlangte in einer Zuschrift an die 13 alten Kantone der Eidgenossenschaft die Wiedereinsetzung des Stiftes in seine „nie erloschenen ehevorigen Rechte“. Landammann Reinhard (s. A.D.B. XXXVIII, 39) trat ihm aber sofort mit Entschiedenheit entgegen, und von dem österreichischen Abgesandten Lebzeltern erhielt er die trockene Erklärung, daß nach dem Willen der alliirten Mächte an dem territorialen Bestande der 19 Kantone nicht gerüttelt werden dürfe. Nicht besser erging es ihm im Hauptquartier zu Chaumont. Kaiser Alexander weigerte sich, ihn zu empfangen, und Kaiser Franz wies sein Begehren in bündiger Form zurück, da er sich nicht in fremde Sachen mischen wolle. Etwas günstiger schienen sich seine Aussichten bei den alten Kantonen zu gestalten, denen er am 30. März von Muri aus sein Anliegen in einem Schreiben unterbreitete. Und auch in St. Gallen selbst hatte er Freunde, die für ihn eintreten wollten. Im Juni sandte der Administrationsrath, der die besondern Angelegenheiten der Katholiken des Kantons mit dem ihnen zugefallenen Vermögen verwaltete, eine Abordnung nach Muri, die ihm die Wiederaufnahme des Klosters zusicherte, wenn er nur den Administrationsrath mit seinen Befugnissen und die vollzogene Ausscheidung zwischen Staats- und Stiftsgut anerkenne. Aber er wies auch diese Vorschläge von der Hand und forderte alles Klostergut, in wessen Besitz es auch übergegangen sei, mit allen frühern Rechten des Stiftes feierlich zurück. Dann reiste der unversöhnliche Priesterfürst nach Wien, um vor dem Congreß seine Reclamationen aufzunehmen, nachdem er noch einen seiner Anhänger vorsorglich mit der Besitznahme der stiftischen Lande bevollmächtigt hatte. Solcher Starrsinn entfremdete ihm schließlich auch seine treuesten Freunde und diente seinem unausgesetzt auf der Wache stehenden Gegner, Müller von Friedberg, als erwünschte Waffe zur Abwehr des erneuerten Restaurationsversuches.

In Wien fanden die Bestrebungen des Abtes nicht den geringsten Anklang. Der Congreß lehnte es ab, auf eine Wiederherstellung des Stiftes einzutreten; dagegen bestimmte er am 20. März 1815, im Zusammenhang mit den die Schweiz betreffenden Artikeln, der Kanton St. Gallen habe dem Abt einen lebenslänglichen Jahrgehalt von 6000 Reichsgulden zu bezahlen. Es ließ sich erwarten, daß er auch gegen diese Verfügung protestirte und die Annahme der Pension verweigerte. Er wandte sich im Spätjahr 1815 persönlich an den [318] Papst und machte durch diesen noch einmal seine ganze Angelegenheit bei der eidgenössischen Tagsatzung anhängig. Pius VII. begehrte die Wiederherstellung des Stiftes als kirchlicher oder Ordensanstalt mit Umwandlung der Abtei zu einem Bisthum mit Regularconvent. Allein für solche Pläne war kein Boden mehr vorhanden. Vergeblich erschien Abt Pankratius in Zürich, um die dort versammelten Vertreter der Kantone zu bearbeiten: er fand hier seinen bekannten Gegner aus St. Gallen mit den alten immer noch schneidigen Waffen kampfbereit. Am 16. Juli 1816 lehnte die Mehrheit der Tagsatzung das Ansinnen der römischen Curie ab. Sieben Jahre später endlich sprach der Papst selber das letzte Wort über das Kloster, indem er durch die Bulle „Ecclesias quae antiquitate ac dignitate praestant“ vom 2. Juli 1823 seine Zustimmung zur Errichtung eines Doppelbisthums Chur-St. Gallen gab und in bündiger Form erklärte: die ehemalige Abtei St. Gallen solle gänzlich aufgehoben und erloschen sein.

Abt Pankratius konnte nun doch nicht umhin, sich einem Spruche von dieser Stelle zu unterwerfen. Bereits im J. 1819 hatte er sich zum Bezuge der Pensionen entschlossen, die ihm die St. Gallische Regierung ausrichten mußte. Nun lebte er in stiller Zurückgezogenheit im Kloster Muri, ohne von den eingehenden Geldern persönlichen Gebrauch zu machen. Er stiftete eine Reihe von Anniversarien in St. Gallen und andern Kantonen, verwendete bedeutende Summen für die Abhaltung regelmäßiger Jesuitenmissionen in der Schweiz und setzte zahlreiche Legate für Kirchen-, Armen- und Erziehungszwecke aus. Im beinahe vollendeten 76. Lebensjahre starb er. Sein Secretär und Exilgenosse P. Columban Ferch widmete ihm in der Klosterkirche zu Muri eine einfache Gedenktafel, auf der er als der letzte in der Reihenfolge der Aebte, aber als einer der ersten an Verdiensten, als ein muthiger und beharrlicher Verfechter der Kirche und der Klöster bezeichnet wird. Gewiß ist an seiner ehrenhaften Gesinnung kein Zweifel zu erheben; jede unbefangene Betrachtung seiner starrsinnigen Handlungsweise muß aber zur Ueberzeugung führen, daß großentheils durch seine Schuld das ihm anvertraute Kloster vernichtet worden ist.

Vgl. Ild. v. Arx, Geschichten d. Kantons St. Gallen, 3. Bd. (St. Gallen 1813). – Briefe des hochwürd. Herrn Pankratius etc. (Briefe an Johann von Müller, herausgegeben von Maurer-Constant, 5. Bd., Schaffhausen 1840). – (Karl Wegelin,) Lebensgeschichte Pankratius Vorster’s, Fürstabts zu St. Gallen (St. Gallen 1830). – Franz Weidmann, Geschichte des ehemaligen Stiftes und der Landschaft St. Gallen unter den zween letzten Fürstäbten (St. Gallen 1834). – Müller von Friedberg, Schweizerische Annalen, 3. Bd. (Zürich 1835). – L. Snell, Geschichtliche Darstellung der kirchl. Vorgänge und Zustände in der katholischen Schweiz 1798–1830 (Mannheim 1850). – O. Henne-Amrhyn, Geschichte des Kantons St. Gallen (St. Gallen 1863). – G. J. Baumgartner, Geschichte des schweizer. Freistaates und Kantons St. Gallen, 1. u. 2. Bd. (Zürich u. Stuttgart 1868), wo die Tagebücher des Abtes benutzt sind, die dem Verfasser dieses Artikels nicht zugänglich waren. – H. Wartmann, G. J. Baumgartner’s Geschichte d. schweizer. Freistaates und Kantons St. Gallen (in dem von G. Meyer von Knonau herausgegebenen Jahrbuch für die Literatur der Schweizergeschichte, II, Zürich 1869), eine sehr eingehende und belehrende kritische Abhandlung, welche der einseitigen Auffassung Baumgartner’s in politischen Dingen und seiner überschwänglich panegyrischen Beurtheilung Vorster’s entgegentritt. – J. Dierauer, Die Entstehung des Kantons St. Gallen (1870). – G. Meyer v. Knonau, P. Ildefons von Arx, der Geschichtschreiber des Kantons St. Gallen (1874). – J. Dierauer, Der Kanton St. Gallen in der Mediationszeit (1877). – [319] Der Kanton St. Gallen in der Restaurationszeit, mit Briefen Vorster’s und Müller’s von Friedberg (1878, Neujahrsblätter des Historischen Vereins in St. Gallen). – J. Dierauer, Müller-Friedberg, Lebensbild eines schweizer. Staatsmannes (Mittheilungen zur vaterländischen Geschichte, herausgeg. vom Histor. Verein in St. Gallen, Bd. 21, St. Gallen 1884). – Das in Oel gemalte Bildniß des Abtes bewahrt die St. Galler Stiftsbibliothek.