ADB:Steiger, Niklaus Friedrich von
[585] „Schultheißen des Aeußern Standes“ erwählt wurde, das heißt zum Oberhaupte einer der bernischen Aristokratie eigenthümlichen halbamtlichen Körperschaft, die als Abbild und zugleich Vorbereitungsschule für die staatsmännische Laufbahn betrachtet worden ist. Hier lernte er Menschenkenntniß und republikanische Beredsamkeit und wurde, sobald das Gesetz dies gestattete, 1766, Mitglied des Großen Rathes, des „souveränen Standes“, wie man es nannte. Seine Anlage zur Behandlung politischer Geschäfte hatte sich zuerst in den Angelegenheiten des Fürstenthums Neuenburg zu bewähren. Die Bürger des seit 1707 dem preußischen Königshause zugehörenden, aber mit der Schweiz und namentlich eng mit Bern verbündeten Landes beklagten sich über ihren Gouverneur; es kam 1767 und 1768 zu Tumulten, welche die Einmischung der eidgenössischen Regierungen nothwendig machten; St. erhielt als Mitglied der bernischen Abordnung den schwierigen Auftrag, die Herstellung des Friedens zu vermitteln, und hatte die Befriedigung, daß dies am 8. August 1768 glücklich gelang. Im J. 1772 unterzog er sich der Prüfung als öffentlicher Notar, welche als Bedingung zu den höhern Staatsämtern galt, und sah sich noch im gleichen Jahre zum „Schultheißen“, d. h. Landvogt, von Thun, erwählt. Allein schon 1774 berief ihn das allgemeine Vertrauen in den „Kleinen Rath“ oder die eigentliche Regierungsbehörde. Als es sich nach der Thronbesteigung Ludwig’s XVI. um die Erneuerung des alten eidgenössischen Bündnisses mit Frankreich handelte, wurde St. wieder, obwol kein Freund dieses Bundes, sogar als das Haupt der „antigallischen“ Partei angesehen, mit der Führung der bezüglichen Unterhandlungen beauftragt, war bald in Aarau oder Baden, wo die Tagsatzungen sich versammelten, bald in Solothurn, wo der Gesandte Frankreichs residirte, und am 25. August 1777 hatte er dann auch als einer der Vertreter Berns der überaus großartigen Beschwörungsfeier beizuwohnen. Zu Ostern 1777 von seinen Zunftgenossen zum „Venner“ erwählt, erhielt St. am 20. Januar 1780 das wichtige Amt des Deutschen Sekelmeisters oder Vorstehers des bernischen Finanzwesens, und zugleich den Vorsitz in der Appellationskammer oder dem obersten Gerichtshof der Republik. Die Jahre 1781 und 1782 hatte St. fast ganz in Genf zuzubringen. In den ersten Tagen des Februar 1781 kam es in der Vaterstadt Rousseau’s neuerdings, wie schon 1734–38 und 1766–78, zu argen Zwistigkeiten zwischen der Bürgerschaft und dem Rathe. Der letztere erbat sich Beistand von den verbündeten Kantonen Zürich und Bern, und St. wurde als Vermittler abgesendet. Am 13. Februar zog er in Genf ein und am 19. gelang es ihm, ein Friedenswerk zu Stande zu bringen; allein nun machte Frankreich Schwierigkeiten, welches als Schutzmacht mitzusprechen verlangte und schließlich sogar Truppen in die Nähe rücken ließ. Gegen Steiger’s eigenen Rath wurde die Gesandtschaft im November zurückgerufen und die aufgeregte Stadt sich selbst überlassen. Am 8. April 1782 brach der Aufstand wieder los, und auch diesmal war es St., der die Ruhe wiederherstellen sollte. Nachdem sowol Frankreich von der einen Seite, als die Schweizer-Kantone von der anderen, mit Waffengewalt einzuschreiten sich anschickten, erfolgte nach langen Verhandlungen am 3. Juli eine gemeinschaftliche Besetzung Genfs und die Annahme der vereinbarten Vermittlungsvorschläge. Am 16. October wurden dieselben auch im Großen Rathe von Bern gutgeheißen und den Gesandten am 11. December in feierlicher Weise der Dank des Staates ausgesprochen. Es war fast selbstverständlich, daß zu Ostern 1787, als der eine der beiden Schultheißen, der 91jährige Albrecht v. Erlach, sein Amt niederlegte, auf St. die Wahl zum Nachfolger fiel, eine Würde, die damals derjenigen eines Herzogs gleichgeachtet wurde. Der preußische König ertheilte ihm „aus besonderer Achtung vor dem Rathe von Bern“ den Schwarzen Adlerorden, und die Behörde gab die Erlaubniß zur Annahme dieser [586] Auszeichnung. Die ersten friedlichen Jahre von Steiger’s Amtsführung zeigen, ohne daß sein persönlicher Antheil nachgewiesen werden könnte, ein unverkennbares Streben, durch Verbesserungen in der inneren Verwaltung den Anforderungen des philosophischen Jahrhunderts entgegenzukommen, namentlich auf dem Gebiete der Jugenderziehung; es entstanden kurz nach einander das sogenannte „Politische Institut“, an welchem Johannes v. Müller lehrte, eine „Kunstakademie“, ein „Medicinisches Institut“; eine staatliche Leihbank zur Erleichterung des Geldverkehrs wurde begründet, und Steiger’s eifrigstes Bemühen ging jedenfalls dahin, das Urtheil zu rechtfertigen, das späterhin der eben genannte schweizerische Geschichtschreiber Joh. v. Müller ausgesprochen hat: „Gewiß gab es nie eine väterlichere Regierung als die Berner, und nirgends eine größere Masse öffentlicher Wohlfahrt, als deren sich Bern und die übrige Schweiz freuten.“ St. konnte freilich nicht verhindern, daß das aristokratische Regierungssystem nach 500jährigem ehrenvollen Bestande allmählich tiefe Schäden offenbar werden ließ und die Abneigung dagegen zunahm. Das Princip der Erblichkeit aller Regierungsvorrechte im engen Kreise einiger Familien war nicht mehr so selbstverständlich wie früher, und es bedurfte nur noch eines äußern Anstoßes, um den im Innern morsch gewordenen Baum zu Boden zu werfen. Dieser Anstoß blieb nicht aus. Dem abstracten Freiheitsbegriff der Franzosen waren die althistorischen Einrichtungen der schweizerischen Republiken unbegreiflich, und die ausgebildeten städtischen Geschlechterregierungen, noch mehr als die monarchische Staatsform, ein Greuel. Der unversöhnliche Gegensatz des revolutionären Frankreich und der alten Eidgenossenschaft wurde auf beiden Seiten wenn nicht erkannt, so doch empfunden. Den Angriffspunkt bildete einerseits das Waadtland, 1536 von Bern erobert und seither verwaltet, aber von französisch redendem Volke bewohnt und nie vollständig einverleibt, seinen deutschen Herren wenig geneigt und jetzt äußerst empfänglich für die neuen Ideen, andererseits das Fürstbisthum Basel, eine staatsrechtliche Zwitterbildung, ebenfalls französisch sprechend, aber halb zum deutschen Reiche, halb zur Schweiz gerechnet. Im Waadtlande machten sich seit Anfang der 90er Jahre die Umtriebe von Leuten bemerkbar, welche auf die Losreißung von Bern hinarbeiteten. Verbannte Waadtländer in Paris und französische Aussendlinge in der Waadt arbeiteten sich in die Hände. Unter den ersteren ist namentlich Friedrich Caesar de Laharpe bekannt geworden. Schon im J. 1791 kam es zu einem kleinen Aufstand, der indessen rasch unterdrückt werden konnte. Die vor der Schreckenszeit fliehenden Franzosen, die sogenannten „Emigranten“, vergrößerten die Gefahr. Der Schultheiß St. glaubte dieser Lage nur im entschiedenen Anschluß an die europäischen Fürstenhöfe begegnen zu können und setzte sich mit Kaunitz in Wien, mit Hertzberg in Berlin, aber auch mit der englischen Regierung in Verbindung, um ihnen die Gemeinsamkeit der Interessen, die Nothwendigkeit übereinstimmenden kräftigen Handelns nahezulegen. Sein Berichterstatter in Paris war der unermüdliche Genfer Schriftsteller Mallet du Pan. Die Coalition kam zu Stande, der Krieg wurde eröffnet, aber die Folge für die Schweiz war keine andere, als der Einzug der französischen Truppen in das Bisthum Basel, wo sie von einem Theil der Bewohner als Befreier aufgenommen wurden, und die Errichtung der „Raurachischen Republik“ am 17. December 1792, welche freilich nicht lange dauern sollte, sondern schon am 7. März 1793 als Departement „du Mont Terrible“ der größeren Schwester einverleibt wurde. Wenn es den monarchischen Staaten an der nöthigen Entschiedenheit fehlte, um nach den Gedanken Steiger’s mit voller Kraft in dem Schutz der Eidgenossenschaft sich selbst zu schützen, so sah sich derselbe im eigenen Lande nicht minder gehemmt. Nicht nur schreckten manche der Verbündeten vor allen energischen Maßregeln zurück, auch in Bern selbst hatte [587] St. in seinem Nachfolger im Sekelmeisteramte, Karl Albrecht v. Frisching (s. A. D. B. VIII, 95), einen feinen und gewandten Gegner, welcher die Erhaltung des Friedens und kluge Nachgiebigkeit als die einzig richtige Politik erklärte und dabei nicht wenige Anhänger fand. Die grauenhafte Niedermetzelung der Schweizergarden in Paris am 10. August 1792 hatte die Gemüther so heftig gegen Frankreich erregt, daß die kriegerische Stimmung allgemein schien; allein die Einmüthigkeit in der außerordentlichen Tagsatzung im September in Aarau scheiterte am Widerstande von Zürich, und trotz aller Anstrengungen Steiger’s wurde umgekehrt am 22. Februar 1793 durch die Anerkennung des französischen Gesandten Barthélémy der Friede mit der neuen Republik geschlossen. Inconsequenz und Wankelmuth, je nachdem die eine oder die andere Meinung für Augenblicke überwog, zerstörten alles Selbstvertrauen. „Den Krallen des Teufels entgeht man nicht dadurch, daß man ihn streichelt“, war Steiger’s Grundsatz, aber er sah sich damit immer mehr vereinzelt. Daß 1794 auch Holland an Frankreich zur Beute fiel, konnte wol die Schweiz erschrecken, vermochte aber nicht, sie aufzurütteln und den Friedensfreunden die Augen zu öffnen. Eine Erneuerung des bernischen Rathes zu Ostern 1795 vermehrte noch die Zahl dieser letzteren so sehr, daß man sich im April 1796 sogar herbeiließ, auf das gebieterische Verlangen Frankreichs alle Emigranten – es waren deren bei 400 nur im Kanton Bern – aus dem Lande zu weisen. Allein auch damit wurde die Lage keineswegs besser. Im Mai wurde der gemäßigte und der Schweiz freundlich gesinnte Barthélémy in das Directorium gewählt und in der Schweiz durch den ganz anders gearteten Mengaud ersetzt; jetzt erfolgte die weitere Forderung, daß auch dem englischen Gesandten Wickham der Aufenthalt in der Schweiz untersagt werden sollte. Allerdings hatte dieser im Sinne der Gegenrevolution eine Thätigkeit entwickelt, welche auf die Sicherheit der Schweiz sehr wenig Rücksicht nahm und selbst dem ihm befreundeten St. Bedenken einflößen mußte. Nachdem zuerst Bern, dann auch die übrigen Stände den französischen „Befehl“ mit Stolz zurückgewiesen (11. October 1796), bewog St. persönlich nach einer längeren vertrauten Unterredung über die gesammte politische Lage Europas (s. Wickham’s Corresp.) den gefährlich gewordenen Mann zur Abreise. Wie wenig freilich das Pariser Directorium durch solche Nachgiebigkeiten versöhnt werden konnte, zeigte sich kurz darauf, da eine bernische Gesandtschaft in wenig höflichen, ja schnöden Formen zur Rückkehr gezwungen wurde. So kam die Katastrophe unverkennbar immer näher. Am 23. November reiste der General Bonaparte durch die Schweiz, wobei er in der absichtlichsten Weise seine Abneigung gegen Bern kund zu geben für gut fand, indem er ohne Aufenthalt im Wagen die Stadt durchfuhr und nur seinen Adjutanten Junot zu dem seiner harrenden Schultheißen sandte, nachdem er umgekehrt in Lausanne die Hoffnung auf das befreiende Frankreich ebenso geflissentlich genährt hatte. War Bonaparte als Sturmvogel erschienen, so war der Verlauf des Rastatter Congresses, zu welchem er sich begab, nichts weniger als beruhigend für die Schweiz. Die revolutionären Gelüste hatten sich unterdessen aus dem Fürstbisthum Basel ansteckend weiter verbreitet in die Thäler des Jura, und diesen Kundgebungen folgten französische Truppen auf dem Fuße nach. Am 15. December brachen sie in das mit Bern im engsten Bunde stehende Thal von Münster ein. Die Ansicht Steiger’s, daß dieser Ueberfall nur durch Krieg zu beantworten sei, wurde verworfen, ein Antrag auf Einsetzung einer dictatorischen Gewalt zuerst angenommen, dann aber wieder beseitigt und nur, am 18. December, ein militärischer Befehlshaber ernannt, der Generallieutenant Karl Ludwig v. Erlach (s. A. D. B. VI, 220). Die falsche Sicherheit, die blinde Zuversicht auf die Friedensliebe der Franzosen wollten nicht weichen. Im Waadtlande erhoben sich [588] drohende Zeichen, in Bern selbst wankte die Treue der unzufriedenen Bürger. Eine „Petition“ der Waadtländer verlangte Befreiung von Bern, und der französische Gesandte begleitete dieselbe mit der Erklärung, daß die Unterzeichner unter seinem Schutze stehen und die große Republik eine Verfolgung derselben nicht dulden werde (28. December). Der Versuch, durch eine neue Huldigung das Land an seine Regierung zu binden, gelang nur theilweise; der an die Spitze der Berner Truppen im Waadtlande gestellte „philosophische“ General Weiß schadete durch sein Auftreten mehr als er nützte, und im nämlichen Augenblicke, da die alte Eidgenossenschaft am 25. Januar 1798 in Aarau mit ungewohnter Feierlichkeit den Bundesschwur erneuerte, hatte in Wirklichkeit die Umwälzung bereits begonnen. Jetzt entschloß sich der bernische Rath, sich durch Abgeordnete des Landes zu verstärken. St. hatte erklärt: „Wenn dieser Vorschlag uns nicht rettet, wird er uns gewiß tödten!“ – Es war wirklich schon zu spät. Am 3. Februar wurde dem Kanton der Erlaß einer neuen Verfassung zugesagt, aber damit die Verwirrung nur noch vermehrt, die Einen gestachelt, die Andern entmuthigt, Niemand befriedigt. Die Waadt wurde preisgegeben. General Brune rückte mit seinen Truppen ein, immer noch unterhandelnd und den Schein erregend, daß es einzig um den Sturz der Aristokratie und die „Befreiung“ der Schweiz zu thun sei. Die bernische Kriegsmacht wurde deshalb aufgestellt, aber jeder Angriff ihr untersagt; die günstige Zeit zu einem solchen ging vorüber, die Franzosen verstärkten sich, die Berner Milizen wurden mißmuthig. Noch einmal schien ein Aufraffen möglich. Am 26. Februar trat General v. Erlach mit 72 seiner Officiere zu Bern vor den versammelten Rath und verlangte Vollmacht zur Eröffnung der Feindseligkeiten. Steiger’s eindringliche Beredsamkeit siegte, der Beschluß wurde fast einstimmig gefaßt; auch die Gegner der Aristokraten wollten ihr Vaterland retten vor dem frechen Einbruch der Fremden. Allein nochmals lud Brune zu Unterhandlungen ein und versprach Erhaltung des Friedens; v. Erlach erhielt Gegenbefehl – im gleichen Augenblick, 1. März, da der französische Feldherr seinerseits, noch vor Ablauf des Waffenstillstandes, zum Angriffe schritt. Es war ein schändlich trügerisches Spiel, das mit der Schweiz getrieben wurde, hat doch der nämliche Bote, der Brune’s Aufforderung zu neuen Verhandlungen nach Bern brachte, seinen Weg fortgesetzt, um zum Führer der anderen, bei Solothurn stehenden Abtheilung, dem General Schauenburg, die Weisung zum Anmarsch zu tragen. Am 3. März übergaben sich Freiburg im Westen, Solothurn im Norden von Bern, die Truppen der verbündeten Kantone zogen nach Hause; die bernischen Bataillone selbst fingen an sich aufzulösen, und bei Vielen schlug die noch vorhandene Kampflust in rebellische Verzweiflung um. Am 4. März bestellte Bern eine provisorische Regierungsbehörde, an deren Spitze Frisching stand; St. legte seine Würde nieder, verließ, vom ganzen Rathe in unwillkürlicher, wehmüthiger Ehrerbietung begrüßt, den Saal und begab sich zu der Armee, wo er den Tod zu finden hoffte. Die Nacht hindurch erwartete er, wenig mehr als eine Stunde von der Stadt entfernt, den anrückenden Feind mit dem kleinen Ueberreste bernischer Soldaten; aber während vor den westlichen Thoren, bei Neuenegg die kräftige Wuth noch einen rühmlichen Sieg zu erringen vermochte, kam es auf der andern Seite der Stadt, im „Grauholz“, kaum mehr zu einem ernstlichen Kampfe. Im letzten Augenblicke wurde St. von seinen Freunden in den Wagen gehoben und fortgeführt, an der Stadt vorbei, die jetzt ihre Thore öffnen mußte, auf die Straße nach Thun, wo er unter mancherlei Gefahren und Bedrohungen – sein Freund, der General v. Erlach, war auf der nämlichen Straße als „Verräther“ schauerlich todtgeschlagen worden, und andere Officiere erlitten das nämliche Schicksal – todkrank und erschöpft endlich anlangte. „Ich hoffte beim Heere ein ehrenhaftes [589] Ende zu finden und mein unglückliches Vaterland nicht zu überleben, welches Verrath, Feigheit und Thorheit verderbt und entehrt hatten; die Vorsehung hat es anders geordnet, ich entging wie durch ein Wunder dem Tode, den ich für ein Glück für mich hielt“, schrieb St. bei späterem Rückblick. Seine Absicht war, nach Verlust der Hauptstadt im bernischen Oberlande den Widerstand zu organisiren; er mußte denselben aufgeben, da alle Ordnung sich aufgelöst hatte, und setzte seine Reise fort über den Brünig ins Ausland, nach Lindau und Ulm. Da es den Franzosen nicht gelungen war, den Schultheißen selbst im Triumph nach Paris zu führen, so nannten sie mit wenig würdigem Spotte den einen der aus dem „Graben“ gezogenen und in einem eisernen Käfige nach Paris gebrachten Bären mit dem Namen „Steiger“.
Steiger: Niklaus Friedrich v. St., geboren am 17. Mai 1729 in Bern, gehörte durch seine Abstammung dem bernischen Patriciate an, und zwar derjenigen Familie v. St., welche zum Unterschiede von einer anderen gleichnamigen einen „schwarzen Steinbock“ im Wappen führt. Er war der dritte unter den vier Söhnen des Niklaus Sigmund St. genannt v. Monnay, des damaligen bernischen Landvogtes zu Morsee am Genfersee und der Francisca Elisabeth Henriette Vuillermin. Seine Erziehung war anfangs die gewöhnliche, durch geistliche Hauslehrer geleitete, allein der Knabe zeigte schon früh eine solche geistige Lebendigkeit, bei einem weichen Herzen doch so starken Willen, in einem schwächlichen Körper so viel feuriges Temperament und so unbändigen Ehrgeiz, daß die Eltern einen ganz von den sonstigen bernischen Sitten abweichenden Entschluß faßten, indem sie ihren Sohn 1741 dem Pädagogium in Halle übergaben. Dort setzte St. denn auch seine Studien weiter fort, nachdem er schon 1743 seinen Vater verloren hatte und unter die Obhut eines Verwandten, des damaligen Schultheißen Christoph St., getreten war. Ausgedehnte Reisen durch Deutschland und ein längerer Aufenthalt in Holland, Utrecht, wirkten so vortheilhaft auf ihn ein, daß er sich nicht nur viele Kenntnisse, sondern auch alle Lebensformen der großen Welt aneignete, sein Selbstgefühl in die richtigen Schranken brachte und als ein eben so fein, als allseitig gebildeter junger Mann Ende 1754 nach Bern zurückkehrte, der nicht weniger durch Liebenswürdigkeit zu gewinnen, als durch geistige Ueberlegenheit sich bemerkbar zu machen verstand. Im J. 1756 verheirathete er sich mit Elisabeth v. Büren, nachdem durch seine Mutter die waadtländische Freiherrschaft Montrichier auf ihn übergegangen war. Sein Beruf zum Herrscher war so unverkennbar, daß er schon kurz nach seiner Heimkehr, von seinen Alters- und Standesgenossen als der Erste anerkannt, zumMit der in der Schweiz eingetretenen Wendung begann auch für St. eine Zeit ganz neuer Aufgaben und Ziele. Nun, im 70. Jahre stehend, spannte er alle seine Kräfte an, um eine Wiederherstellung des frühern politischen Zustandes zu erreichen. Mit einer Art von patriotischem Fanatismus setzte er alle Mittel in Bewegung, um dies zu Stande zu bringen. Er glaubte sich dabei auf die große Zahl derjenigen stützen zu können, welche in der Schweiz selbst die Fremdherrschaft nur unwillig duldeten, und auf die europäischen Fürstenhöfe, welche in dem Umsichgreifen der Revolution die größte Gefahr für sich selbst erblicken mußten, berechnete aber wohl zu wenig, daß nicht Alle, welche mit ihm eines Sinnes waren, darum auch so tief fühlten, so einseitig kraftvoll handeln konnten, wie er selbst; übersah auch zu sehr, daß Preußen und Oesterreich, Rußland und England ebensowenig gewillt sein konnten, sich nur als Werkzeug für die Herstellung der alten Eidgenossenschaft zu betrachten, als er, St. selbst, die Absicht hatte, die Schweiz nur als Schlachtfeld darzubieten für die Interessen der verbündeten Mächte. In Ulm wurde St. sofort von den Vertretern des Berliner und des Wiener Hofes empfangen und durch englische Agenten mit den nöthigen Geldmitteln versehen. In München traf er am 10. Mai einen der Sache treu gebliebenen Waadtländer, den Obersten de Rovéréa, mit dem er sich nun durch Eidschwur zur Rettung des Vaterlandes verband. Einer Einladung des Hofes folgend, begab er sich nach Wien, wo er am 4. Juni anlangte, mit seiner Gattin sich vereinigen konnte und nun eine fieberhafte Thätigkeit entwickelte, um Oesterreich zum Kriege gegen Frankreich zu treiben und gleichzeitig einen allgemeinen Aufstand in der Schweiz ins Werk zu setzen. Seine Verhandlungen mit dem Minister Thugut, seine Audienz beim Kaiser Franz, der ihn als legitimes Haupt seines Heimathstaates mit aller Achtung empfing, konnten die besten Erwartungen erregen. Andere Flüchtlinge aus der Schweiz sammelten sich um ihn, es bildete sich ein geheimer Ausschuß, bestehend aus dem österreichischen Generallieutenant v. Hotze, einem gebornen Schweizer, dem vertriebenen Fürstabt von St. Gallen, dem Generallieutenant v. Salis-Marschlins aus Graubünden, dem Grafen v. Courten aus Wallis, dem gewesenen solothurnischen Landvogt Gugger von Dornach, dem Basler Burkhardt v. Kirschgarten und dem schon genannten Rovéréa. St. selbst führte den Vorsitz. Die schweizerischen Freiwilligen sollten unter schweizerischer Fahne, aus englischem Gelde besoldet, als ein Bestandtheil des österreichischen Heeres in den Krieg ziehen. Mit dem 1. Juli begab sich St. nach Berlin, um auch dort persönlich thätig zu sein; er fand auch hier viel Wünsche, aber wenig ernstes Wollen. Die Stimmung in der Schweiz war günstig; der erste Hoffnungsrausch ging bereits in Ernüchterung über; durch das aufgezwungene Bündniß mit Frankreich hatte das Land auch den Schein der Selbständigkeit eingebüßt und war ein bloßer Vasallenstaat geworden. Soldatenaushebungen für Frankreichs Kriege nährten den Widerwillen gegen die angeblichen Befreier. Allein die Höfe zauderten, vereinzelte Erhebungen konnten nur [590] gewaltsamer Niederwerfung rufen; der verfrühte Aufstand der Inner-Schweiz führte zu der entsetzlichen Verwüstung von Nidwalden in den ersten Tagen des September. Die hier verübten Greuel mehrten nun freilich ihrerseits das Interesse des Auslandes für das unglückliche Volk, und zugleich die Zahl der Flüchtlinge, welche die Schweiz verließen und sich den Bestrebungen der Gegenrevolution zur Verfügung stellten. St., der sich nach Augsburg ins Hauptquartier des Erzherzogs Karl begeben, hatte wiederholt Besprechungen mit dem Feldherrn; aber immer noch zögerte die Kriegserklärung. Erst am 20. Februar 1799 erfolgte dieselbe, nachdem Oesterreich und Rußland endlich ihren Bund geschlossen hatten. In Neu-Ravensburg, einer Domäne des Abtes von St. Gallen, fand endlich am 8. April die feierliche Eidesleistung der Schweizertruppen statt, die sich in den Dienst ihres Landes stellten und auf englische Kosten ausgerüstet und nothdürftig eingeübt worden waren. Ungefähr 600 Mann bildeten diese freiwillige Schweizerlegion, die aus der Hand Steiger’s ihre Fahne erhielt und unter der Führung von Rovéréa stand. Die Schlacht bei Feldkirch am 23. April, der große Sieg bei Stockach, zwei Tage später, erweckten die größte Hoffnung auf das Gelingen. In der Schweiz selbst wagten sich die Zeichen der Abneigung gegen die Franzosenherrschaft wieder offen hervor. St. ging über die Grenze nach Schaffhausen und erließ einen begeisternden Aufruf. Am 9. Juni zogen die Verbündeten in Zürich ein, mit ihnen Steiger’s Schweizerlegion. Der Tag der Wiederaufrichtung der alten Staatsordnung schien ganz nahe zu sein. Schon wurden die Grundlinien der künftigen politischen Einrichtungen besprochen und das Maaß der unvermeidlichen Reformen in Berathung gezogen, welche St. als Repräsentant der verbündeten Mächte durchführen wollte und sollte – als unvermuthet der Erzherzog Karl von seinem Kriegsrathe an den Rhein gerufen und die Schweiz preisgegeben wurde. Die Schlacht bei Zürich am 25. September, in der Masséna die Russen unter Korsakow schlug, entschied den Feldzug plötzlich zu Gunsten der Franzosen. Beim Rückzug mußte St., der nicht weichen wollte, wiederum mit Gewalt fortgebracht werden. Mit gebrochenem Muth kam er wieder nach Augsburg, nochmals raffte er sich hier zu verzweifelten Versuchen neuer Thätigkeit auf, zum allgemeinen Widerstand gegen Frankreich; – allein ein Schlaganfall lähmte plötzlich seine Kräfte, er starb am 3. December 1799. „Sagt unsern Freunden, daß ich den Verlust des Lebens nur um ihretwillen bedaure, und wegen der Dienste, die ich unserem Vaterlande vielleicht noch hätte leisten können“, das war das Abschiedswort des Sterbenden. Am 6. December wurde er unter den militärischen Ehrenbezeigungen eines österreichischen Generallieutenants in Augsburg feierlich beerdigt.
Tiefe Religiosität und große Einfachheit in den häuslichen Sitten, Herzensgüte und Willensstärke, Scharfsinn und Arbeitsamkeit sind die Eigenschaften, die ihm nachgerühmt werden. Sein blitzendes Auge ersetzte die mangelnde Kraft seiner Stimme; die Klarheit und Energie der Gedanken ließ die natürliche Beredsamkeit wenig vermissen. In seinem Aeußern soll er auffallend an Friedrich den Großen erinnert haben, der ihm wol auch als Vorbild galt. Sein Vermögen hat er den Interessen seines Landes vollständig zum Opfer gebracht; nach dem Tode noch, im Mai 1800, sollte über seinen Nachlaß der Concurs erklärt werden, nur mit Mühe wurde dies abgewendet. Johannes v. Müller nannte ihn „einen Mann von seltener Einsicht, seltenen Kenntnissen und einer großen Seele, der besten Zeit Berns oder größerer Wirkungskreise würdig“; sein leidenschaftlichster Gegner, de Laharpe, urtheilte nicht anders, wenn er gesagt hat: „Er war mein Feind, aber nur, wie es ein edler und großmüthiger Mann ist“, und auch Pitt soll St. für einen der ersten Staatsmänner seiner Zeit erklärt haben. Jedenfalls hat er schärfer gesehen, als die allermeisten seiner Zeitgenossen. [591] Als Besiegter ist er gestorben, aber die Geschichte hat die Richtigkeit seines Urtheils bewiesen.
Zwei Jahre nach dem Tode Steiger’s erwachte in Bern, unter einer gänzlich neugewordenen politischen Lage, der Wunsch, die Asche des edeln Patrioten nicht im Auslande zu lassen. Am 26. März 1802 fand die Ausgrabung der Leiche in Augsburg, und nach einer feierlichen Ueberführung am 17. April mit einem in republikanischem Lande sehr ungewöhnlichen Pomp die Beisetzung in der bernischen Hauptkirche statt. Im August 1806 wurde sodann das neue Grab durch ein einfach schönes Denkmal bezeichnet. Ein Bildniß des Schultheißen St. bewahrt die Berner Stadtbibliothek, Copien desselben sind sehr verbreitet. Der originelle, damals in Bern lebende Künstler Dunker hat eine Lebensgeschichte Steiger’s in einer Serie von kleinen Kupferstichen bearbeitet.
- Ein vollständiges Verzeichniß der bez. Litteratur gibt Lauterburg im Berner Taschenbuch, Jahrg. 1853. Wir heben aus demselben hervor: Mallet du Pan, Essai historique sur la destruction de la ligue helvétique, 1798, p. 2 u. 8. — De Rovéréa, Précis de la révolution de la Suisse, 1798, p. 109—111. — An neueren Quellen kommen dazu: De Rovéréa, Mémoires, Berne 1848, 4 vols. — Will. Wickham, The correspondence from 1794. London 1870. 2 vols. — Papiers de Barthélémy, ambass. de France en Suisse 1792—97, publ. par Kaulek, Paris 1886—88. 4 tom. – Karl Müller, Die letzten Tage des alten Bern. Bern 1886. – Eidgen. Abschiede. Sammlung Bd. VIII von 1778–98. Zürich 1856. – Der Nachlaß Steiger’s befindet sich, was die Zeit vor der Revolution anbetrifft, die Missionen nach Neuenburg und nach Genf, vollständig geordnet in der Berner Stadtbibliothek; die Correspondenzen der späteren Zeit dagegen scheinen verloren, wol eher absichtlich vernichtet worden zu sein. – Eine vollständige Biographie Steiger’s ist bis jetzt nicht erschienen; doch hat Hr. Berchtold Haller in Bern mit großer Mühe das Material handschriftlich gesammelt, und für die außerordentliche Liebenswürdigkeit, mit welcher er die Benützung dieser werthvollen Arbeit gestattet hat, gebührt ihm hier ganz besonderer Dank.